Silberpelz saß eines Abends oben auf dem Dachfirst und putzte sich mit seiner Pfote. Er saß dicht am Schornstein, wo ein warmer Winkel war. Wenn er den Kopf ein bisschen vorstreckte, konnte er den Rand vom Mond sehen, der gerade über den Berg gekrochen kam. Der Mond war heute Abend so blank und schön, jeder blieb stehen und sah ihn an. Aber Silberpelz war schlechter Laune, und der Mond war ihm äußerst gleichgültig. Er guckte gar nicht hoch, sondern blinzelte nur auf den Hof hinunter, um aufzupassen, ob sich Mons wieder ohne Erlaubnis hereinwagte, was in der letzten Zeit ziemlich oft geschehen war; denn an der Kellertür war ein feines Rattenloch, und das hatte Mons irgendwie aufgeschnuppert. Aber selbstverständlich wollte Silberpelz seine Ratten für sich behalten – denn ihm gehörte ja das Haus, der Keller, Hof und Garten! Er ließ nur aus Gutmütigkeit ein paar nette Menschen hier wohnen, weil er doch nicht alles allein gebrauchen konnte. Dafür mussten sie ihm aber jeden Tag einen großen Napf Milch als Miete bezahlen und außerdem Wursthäute und Speckschwarten. Die Menschen trugen ihn fast den ganzen Tag lang auf dem Arm herum, hielten ihn auf dem Schoß, kraulten ihn unterm Kinn und wussten gar nicht, was sie ihm alles Gutes antun sollten. Trotzdem also die Menschen um ihn herumwedelten, vor ihm dienerten und sich auf jede Weise gut mit ihm stellen wollten, trotzdem er der Herr im Hause und alles sein Eigentum war, kam doch dieser unverschämte Mons in einem fort und machte sich in seinem Hof wichtig, sagte nicht mal „Guten Tag“, sondern trottete, mir nichts dir nichts, nach dem Rattenloch und legte sich dort ganz einfach auf die Lauer. Hätte er ihn wenigstens noch um Erlaubnis gefragt oder zum mindesten gegrüßt – aber i wo! Mons ging an ihm vorbei, als sähe er ihn gar nicht, sein störriger, hässlicher Bart spreizte sich nach beiden Seiten, und seinen Schwanz schleppte er wie ein Fuchs nach. Es machte wirklich den Eindruck, als glaubte er, alles miteinander sei sein Eigentum! Das Allerärgerlichste aber war, dass, als Mons gestern eine Ratte fing, gerade die Leute aus Silberpelz’ Haus dazukamen, und, statt wütend zu werden, sagten:
„Nein, guck doch, so eine geschickte Katze – ja, so eine sollten wir auch haben!“
Gerade als ob er zu nichts zu gebrauchen wäre!
„… So eine sollten wir auch haben …“
Er musste in seiner Wut lachen – als ob Mons vielleicht geschickter wäre als er! Mons hatte ja solche Angst vor Hunden, dass er Telegrafenstangen und Zäune hinaufkrabbelte, sowie er nur in der Ferne einen Hundeschwanz erblickte. Fing er, Silberpelz, etwa nicht jeden Tag Ratten? Aber die dummen Menschen wollten natürlich, dass er sich vom Abend bis zum Morgen und vom Morgen bis zum Abend damit abgeben sollte. Fiel ihm ein! Die glaubten am Ende, ein Kater könne immerzu Ratten fressen! Konnten sie denn nicht begreifen, dass eine Ratte am Tage für ihn genau so viel war wie für einen von ihnen ein ganzer Hahn? Wieviel Hähne konnten sie wohl am Tage hinunterbringen? Außerdem aßen sie ja gar nicht ordentlich auf, ließen Kopf und Federn, Eingeweide und Knochen übrig, während er nicht so viel wie eine Bartstoppel unverzehrt ließ! Nein, die sollten nur hübsch ihren Mund halten. Was sollte denn übrigens daraus werden, wenn er die Ratten gänzlich vertilgte? Danke bestens! Jagd musste mit Mäßigkeit betrieben werden, wenn man den Bestand nicht vollständig ausrotten wollte. Und auf keinen Fall duldete er andere Jäger in seinem Revier, das wäre ja noch schöner!
Silberpelz hatte sich fertig geputzt.
Er streckte den Kopf vor, blinzelte mit den Augen und versuchte, ob er sich im Mond spiegeln könne. Aber der war unterdessen schon zu hoch hinaufgestiegen; er wollte lieber am Apfelbaum hinunterklettern und sich eine Pfütze suchen. Danach könnte er sich einen Gang ins Haus vornehmen und dabei seine Miete fordern.
Aber wie er gerade am äußersten Ende des Dachfirstes stand und in den Baum hinüberspringen wollte, kam aus einem Loch in der Steinmauer unter ihm ein haariger Kopf zum Vorschein. Wie ein Blitz war Silberpelz im Gezweige des Baumes, ließ sich am Stamm auf der andern Seite hinunter und legte sich dann hinter ein paar dicken Brennnesseln auf die Lauer. Ganz richtig – da kam Herr Mons angeschlichen, um sich bei ihm wieder einen Rattenbraten zu holen. Er setzte sich ohne weiteres vors Rattenloch und hielt die eine Pfote schlagbereit. Sein Bart glich zwei starren, struppigen Ruten, und der lange Schwanz hing ihm wie ein dicker Besenstiel nach. Gefährlich sah er aus, zu spaßen war mit dem nicht! Seine Augen funkelten wie zwei grüne Glaskugeln, aber Silberpelz hatte trotzdem keine Angst. Er biss nur die Zähne aufeinander und nahm seine ganze Kraft zusammen.
Ob er wohl jetzt gleich auf ihn lossetzen sollte?
Vielleicht war es das Beste, noch ein bisschen zu warten, dann konnte er den Dieb auf frischer Tat erwischen.
Der nächtliche Zweikampf
Die beiden lagen nun da und lauerten – Mons auf die Ratte und Silberpelz auf Mons. Sie lagen mucksmäuschenstill – daher dauerte es auch nicht lange, bis eine Ratte aus dem Loch vorkam. Sie schnüffelte mit ihrer Schnauze ein wenig umher, fand wohl, es roch nicht ganz einwandfrei, da sie aber keinen Laut vernahm, wagte sie sich noch einen Schritt weiter vor. Im selben Augenblick kam etwas Schwarzes durch die Luft gesaust und eine scharfe Kralle traf sie tief in den Nacken. Es ging so rasch, dass die Ratte schon tot war, noch ehe sie begriff, was eigentlich vorging. Freilich, geschickt war Mons, das musste man ihm lassen, aber ein Dieb blieb er trotz allem – darum sprang Silberpelz eilig hinter den Nesseln vor und hieb, gerade als Mons mit seiner Beute abziehen wollte, nach der Ratte.
„Wer hat dir erlaubt, hier zu jagen?“
Mons’ Fell sträubte sich.
„Was geht dich das an, du Struwwelpeter?“
„Was mich das angeht? Sehr viel geht es mich an! Ist das etwa nicht mein Haus und Keller, mein Hof und Garten und meine Ratte? Hier hat kein anderer was zu suchen, das kannst du dir merken, und ich verbitte mir, ohne meine Erlaubnis in meinem Revier zu jagen!“
„Dich frag’ ich doch nicht erst um Erlaubnis!“
„Das wollen wir doch mal sehen!“
„Ich jage, wo es mir passt!“
„Und ich sage dir, du hast hier nicht herzukommen und hast hier nichts zu suchen!“
Sie hatten die Ratte losgelassen und standen sich nun wie zwei große, haarige Muffen gegenüber, Mons fast ganz schwarz, und Silberpelz fast ganz weiß; beide waren so wütend, dass sie wie wild mit dem Schwanz um sich schlugen und die Ohren platt an den Kopf legten.
„Sieh dich vor“, sagte Mons, „oder es geht dir wie der Ratte, die hier liegt!“
„Sieh du dich nur vor“, entgegnete Silberpelz, „oder du kriegst eine gelangt, dass du nie mehr Ratten fängst!“
„Meintest du was, oder piepste eine Heuschrecke – – ?“
Da ging über ihnen ein Fenster auf.
„Pst“, rief eine Stimme, „seid mal ruhig da unten, wir wollen schlafen!“
„Ich bin’s bloß“, antwortete Silberpelz, „ich will nur den Mons ein wenig durchwichsen, weil er auf meinem Revier gejagt hat!“
Im selben Augenblick machte sich Mons die Gelegenheit zunutze und fuhr Silberpelz mitten ins Gesicht. Es ging so schnell, dass der den Angriff nicht gleich erwidern konnte – er purzelte um und blieb auf dem Rücken mit den Pfoten nach oben liegen, er biss und kratzte aber nach Leibeskräften und krallte sich an Mons fest. Und sie schwirrten beide wie ein großer, böser Kreisel im Sand herum. Surr, ging es – sssitt! Dazwischen stieß Mons ein kreischendes Gequietsche aus, das gellte doppelt in der Mondscheinstille. Kieselsteine stoben um sie, sie bumsten gegen die Kellertür, fauchten und prusteten sich an, dass es Funken sprühte. Sie hopsten wie Gummibälle und rasten rund herum, und der Staub wirbelte wie eine Wasserhose um sie …
Auf einmal riss sich Mons los, sprang hoch und fuhr am Apfelbaum hinauf. Wie ein Pfeil war Silberpelz hinterher, und als Mons aufs Dach hinübersetzte, war ihm Silberpelz dicht auf den Fersen. Und jetzt ging’s in Windeseile. Mons machte einen Riesensprung zum Holzschuppen hinüber und von da wieder hinunter auf die Steinmauer, über die setzte er flach hinweg, so scharf, dass die Steinplatten unter seinen Tatzen wackelten. Die ganze Zeit hatte er Silberpelz hinter sich, es war unmöglich, vor ihm auszurücken. Als Mons wieder auf dem Schuppendach war, hakte sich Silberpelz mit seinen Krallen in Mons’ Schwanz fest – hei, jetzt sollte er sein Fett kriegen! Mons musste sich umdrehen, so peinlich ihm dies auch war, und nun gerieten sie von neuem aneinander. Sie schrien so, dass das Echo vor Schreck verstummte, und rissen sich große Haarbüschel aus. Sie kratzten mit allen zwanzig Krallen auf einmal und rollten sich umher wie ein Knäuel; sie führten einen solchen Hexentanz auf dem Schuppendach auf, dass alle Bäume und Büsche ihre Zweige spreizten und zuguckten. In der Hitze des Gefechts hatte keiner von ihnen Zeit, achtzugeben. Bald waren sie am Rande des Daches angelangt, und – pardauz! lagen sie unten auf dem Hofplatz.
Sie blieben eine Weile still sitzen, sahen sich an und fühlten nach, ob sie auch noch heil und ganz waren, dann schlich sich Mons kleinlaut von dannen. Er hatte wahrscheinlich fürs erste genug! Und da trug Silberpelz die Nase hoch! Er sprang auf das Brunnendach und rief: „Ich hab’ gewonnen, ich hab’ gewonnen!“ Und zuletzt schrie er so laut, wie er nur konnte: „Hurra–a–au!“
„Das ist ja zum Auswachsen, dieser Radau!“, sagte eine Stimme oben aus dem Fenster, und im nächsten Augenblick ergoss sich eine Schüssel eiskaltes Wasser über Silberpelz. – „Willst du endlich ruhig sein, du Schreihals“, ertönte es, „oder du kriegst noch was anderes zu kosten!“
Wenn Silberpelz der Mond auf den Kopf gefallen wäre, hätte er keinen größeren Schrecken bekommen können. Er kugelte schluckend vom Brunnendach hinunter und konnte von Glück sagen, dass er sich dabei nicht das Genick brach. Das Wasser triefte ihm vom Pelz, und er konnte nicht aus den Augen gucken. Was fiel denn den unverschämten Leuten eigentlich ein? Wo sie noch dazu seine Mieter waren? Er schüttelte sich. Nein, eine derartige Frechheit war ihm bisher noch nicht vorgekommen! Das musste gehörig bestraft werden. – Er setzte sich hin und überlegte eine Weile – ja, nun hatte er’s heraus. Er ging unverzüglich, auf der Stelle seiner Wege, das geschah ihnen recht. Dann konnten sie zusehen, wie sie ohne ihn auskamen. Konnten zusehen, wie es ihnen erging, wenn die Ratten und Mäuse unbehindert ihre Freiheit genossen. Konnten ja versuchen, sie selbst zu fangen! – ha! – „Ich geh’ meiner Wege!“, schrie er, so laut er konnte. Dann sprang er über das Gartentor und begab sich mutig in die weite, weite Welt hinaus.
Das Abenteuer im Heuschober
Unterdessen war klarer Mondschein geworden. – Silberpelz traute sich nicht, die Landstraße entlangzugehen, er könnte dort leicht jemand treffen, der ihn kannte; deshalb marschierte er querfeldein und brauchte Augen und Ohren, so gut er konnte. Denn er wusste, Reineke strolchte nachts herum, besonders wenn der Mond schien, und Reineke verschmähte keinen Katzenbraten. Darum übereilte Silberpelz sich nicht weiter, und wenn er einen Stein oder ein Gebüsch sah, machte er einen großen Bogen herum. Man konnte ja nicht wissen, ob Reineke nicht dahinter saß.
Er war nicht lange gegangen, als er an einen Heuschober kam; er kroch durch ein Loch in der Wand hinein, um sich im Heu zu trocknen.
Aber, du liebe Güte, was entstand da für ein Gezeter, als er hereinkam! Ein Gepfeife und Gepiepse ertönte, und ein ganzer Schwarm Mäuse lief kopflos nach allen Ecken und Enden. Sie hatten gerade an einem alten Stiefel genagt, den jemand auf der Erde hatte stehen lassen, und eine von ihnen war in die Stiefelspitze hineingekrochen. Da saß sie nun ganz still und blinzelte durch einen Riss im Leder. Ach, wär’ ich doch in meinem Nest! dachte sie und traute sich fast nicht, Atem zu holen. Sie sah, wie Silberpelz ihrer Großmutter nachsetzte und sie, gerade wie sie in ihr Loch huschen wollte, erlegte. Sie war im Übrigen lecker und fett, und Silberpelz verspeiste sie sofort mit Haut und Haar, ließ nicht einmal ihren Schwanz übrig.
Nach der kalten Dusche schmeckte sie gar nicht übel – nur nach mehr schmeckte sie. Silberpelz sah sich daher um, und als er den Stiefel erblickte, ging er näher heran und beschnüffelte ihn.
Wenn das Mäuschen nun bloß hätte Stillschweigen können – aber nein, das konnte es nicht. Es bekam solche Angst, dass es laut zu piepsen anfing, und als Silberpelz dies hörte, wusste er natürlich gleich, was los war, und fuhr mit seiner Pfote in den Stiefel. Aber der war groß, und die Maus saß in der äußersten Spitze; wie sich Silberpelz auch streckte und wand, er konnte unmöglich so weit reichen. Das arme Mäuschen piepste und flehte, aber jetzt hatte Silberpelz Blut geleckt, auf keinen Fall wollte er sein Vorhaben aufgeben. Bald steckte er den Kopf in den Stiefelschaft und versuchte, ob er die Maus sehen könne, bald kugelte er den Stiefel hin und her, hob ihn hoch und klopfte damit auf die Erde. Und in allen Winkeln und Ecken ringsherum steckten die andern Mäuse ihre Köpfe vor, um zuzusehen; es war so spannend, dass manche von ihnen sich Knoten in den Schwanz machten, und allen fuhr es kalt über den Rücken. Durch eine Luke an der Decke fiel das Mondlicht herein. Es lag wie eine große, grüne Scheibe, auf der Erde, und mitten in dieser Scheibe saß Silberpelz mit dem Stiefel. Er drehte ihn und wendete ihn, versuchte ein Loch ins Leder zu beißen – schließlich kam eine solche Wut über ihn, dass er den Stiefel hoch in die Luft warf; der plumpste auf den Boden, dass die ganze Scheunendiele zitterte …
Aber mitten in diesem Treiben und Jagen mit dem Stiefel hörte er plötzlich etwas hinter sich kratzen. Und als er sich umdrehte, bekam er Reineke Fuchs zu Gesicht, der sich gerade durch das Loch in der Wand hereinschob. Er hatte das Spektakel aus weiter Ferne gehört und kam, um nachzusehen, was eigentlich los war. Und dass er da ebenfalls hineinwollte, war ihm nicht weiter zu verargen.
Silberpelz aber besann sich nicht lange.
Eins, zwei, drei warf er den Stiefel fort und klomm an der steilen Wand hoch, wo er sich ganz oben auf einen Deckenbalken setzte. Seine Pfoten brannten ihn ordentlich, als hätte er Frostbeulen an den Zehen, und er hatte sich Splitter eingetreten. Aber er war trotzdem froh. Er hatte sein Leben gerettet, da kam es auf ein bisschen Fell nicht an.
Unterdessen war Reineke vollends hereingekommen. Er ging herum, schnüffelte und witterte, ganz als wüsste er nichts von Silberpelz – in Wirklichkeit aber suchte er die ganze Zeit nur nach ihm. Da blieb er am Stiefel stehen.
Herr Reineke hatte keine üble Nase, er merkte auch gleich, welche Bewandtnis es mit dem Stiefel hatte, und säumte nicht lange, sich ans Werk zu machen. War aber Silberpelz zu klein gewesen, so war Reineke wieder zu groß – wie er sich auch bemühte, er konnte es nicht bewerkstelligen. Hätte er wenigstens noch Krallen wie Silberpelz gehabt! Aber Reinekes Krallen waren dick und stumpf wie Hundekrallen, mit denen war leider nichts anzufangen. Zwar sein Rüssel war lang und spitz, aber er konnte ihn ja nicht umbiegen, und die Maus blieb, wo sie war.
Aber je länger er sich abquälte, desto größeres Verlangen bekam Reineke nach der Maus. Und wenn Reineke auf etwas erpicht ist, lässt er es so leicht nicht fahren. Er tanzte mit dem Stiefel herum, stand auf beiden Hinterbeinen und wühlte und stöberte mit seiner Schnauze im Stiefel, er pustete und schnüffelte, und dazwischen schüttelte er den Stiefel wie einen nassen Lappen. Und ringsherum in Ecken und Winkeln saßen all die andern Mäuse, guckten und lugten, – es war so spannend, dass sie sich vor Aufregung kaum rühren konnten. Hätte Reineke nur gewollt, so hätt’ er sie alle miteinander fangen können. Aber sein Mausestiefel nahm ihn so in Anspruch, dass er alles andere um sich her vergaß. Zuletzt hüpfte er wie ein richtiggehender Tanzmeister, lag manchmal auf dem Rücken und drehte und wendete seinen Stiefel zwischen den Pfoten – –
Da wurde auf einmal das Loch in der Wand verdunkelt, und ein großer, schwarzer Kopf kam hindurch.
Diesmal besann Reineke sich nicht lange. Er konnte nicht wie Silberpelz klettern, stattdessen sauste er an den Wänden entlang und sah zu, ob er nicht ein Loch finden konnte. Aber nein, es gab nur das eine, und vor dem stand sein schlimmster Feind und rief und schrie, der Jäger solle doch kommen.
„Wau – wau – wau – – komm her – komm her – komm her!“
Reineke tat Silberpelz fast leid. Hätte er ihm irgendwie helfen können, hätte er es sicher getan; aber was sollte er wohl machen? Er hatte genug damit zu tun, sich selbst in acht zu nehmen. Jetzt kam draußen jemand angelaufen, und eine atemlose Stimme rief:
„Was ist denn los, Pan – warum bellst du denn so?“
Das konnte kein anderer als der Jäger sein. Silberpelz spähte durch einen Spalt – richtig, da stand ein Mann mit einer Flinte. Nun koppelte er den Hund und band ihn an die Wand. Silberpelz’ Herz fing an zu klopfen. Wie würde es Reineke wohl jetzt ergehen?
Aber Reineke war nicht zum ersten Mal in der Klemme, er gab seine Sache so schnell nicht verloren. Als er die Stimme des Jägers hörte, schoss er in einen Winkel, wo Heu lag, und grub sich dort, so schnell er konnte, ein. Da blieb er still wie eine tote Maus liegen. Gleich darauf machte der Jäger die Tür einen Ritz weit auf und kam mit einer Laterne in der Hand herein. Er leuchtete überall herum, während er sein Gewehr bereithielt.
Jetzt heißt es die Gelegenheit beim Schopfe fassen, dachte Silberpelz, und dann sagte er in den schönsten Tönen:
„Miau, ich bin’s ja bloß!“
„Bist du’s?“, antwortete der Jäger, und hing sein Gewehr auf den Rücken, „ich habe gedacht, es wär’ der Fuchs!“
Damit ging er zur Tür und hakte sie wieder ärgerlich auf, während Silberpelz durch das Loch in der Wand hinausschlüpfte und losrannte, was es hielt. Er hörte, wie der Jäger hinter ihm schimpfte, er hatte eine tüchtige Wut auf den Hund.
„Schäme dich was“, sagte er, „dich wegen einer Katze so anzustellen! Prügel verdientest du eigentlich, dass du mich so angeführt hast!“
Hinaus in die Ferne
Nun rannte Silberpelz und rannte eine Weile, bis er nicht mehr weiterkonnte. Da befand er sich mitten in einem tiefen, schwarzen Wald, wo er bisher noch nie gewesen war. Huh – hier war’s so dunkel und seltsam, manchmal knackte es so unheimlich in den Bäumen, und die Zweige bewegten sich im Mondschein wie lange Arme. Dazwischen raschelte es in einem Gebüsch oder wisperte unten im Moos und im Blaubeerkraut. Silberpelz wurde zuletzt ganz ängstlich und kletterte auf einen Baum.
Gut, dass hier so viel Äste waren, seine Zehen taten ihm immer noch weh; die Rinde hatte auch eine Menge Risse und Spalte, an denen er sich ordentlich festhalten konnte. Der Baum war entsetzlich hoch – sicher noch einmal so hoch wie die Fahnenstange zu Hause – aber Silberpelz kletterte wie ein alter Seemann. Bald war er fast ganz oben im Wipfel, wo ein altes Krähennest lag. Die Tür dazu stand weit offen, und als Silberpelz sah, dass niemand zu Hause war, ging er ohne weiteres hinein und legte sich drinnen hin. Er fand ein feines Bett mit Moosdecken und Federkissen und schlief sofort ein.
Es mochte wohl in der ersten Morgendämmerung sein, als Silberpelz von einem sonderbaren Geräusch geweckt wurde. Es hörte sich an, als ob jemand zwei trockene Stücke Holz aneinanderschlug, schneller und schneller, und zuletzt kam eine Art Knall, ungefähr wie wenn die Leute bei ihm zu Hause eine Flasche aufzogen.
„Nanu“, dachte Silberpelz, „was mag denn das bloß sein?“
Im selben Augenblick fing etwas an zu fauchen und zu sägen, dass der ganze Baum wackelte. Silberpelz, nicht faul, sprang aus dem Bett und steckte den Kopf zur Tür hinaus. Und nun erblickte er einen schwarzen Vogel, der noch größer war als der Hahn zu Hause. Er saß auf einem Zweig ein Stück unter ihm, wedelte mit den Flügeln und brüstete und zierte sich. Bald schlug er mit seinem Schwanz ein Rad, bald streckte er den Hals aus, verdrehte die Augen und schrie.
Dass du nur nicht runterpurzelst! dachte Silberpelz, aber das tat der Vogel nicht. Jedes Mal, wenn er mit seinem Liede fertig war, fing er wieder von vorne an. So einen komischen Vogel hatte Silberpelz noch nie gesehen, darum machte er seinen Hals immer länger und kam weiter aus dem Nest vorgekrochen.
Aber dabei sah er zufällig zur Seite – herrjeh! kam da nicht der Jäger mit seinem Gewehr in der Hand angeschlichen? Immer näher kam er heran, manchmal kroch er auf allen Vieren, und manchmal kauerte er sich nieder und wartete. Aber der Vogel sah und hörte nichts, er trieb es toller und toller.
„Pellepp – pellepp – pellepp –pellepp – klikopp!“, sagte er, und dann sägte und saugte er wie besessen. Nun war der Jäger dicht unterm Baum, nun hob er seine Flinte hoch und zielte – –
Du dummes Vieh, dachte Silberpelz, warum fliegst du nicht über alle Berge?
Und hierin hatte Silberpelz recht, denn im selben Augenblick knallte es, dass er entsetzt ins Nest zurückfuhr, und der große Vogel plumpste vom Baum hinab, Äste und Zweige brachen und knackten unter ihm. Mit einem Bums langte er unten auf der Erde an, und als Silberpelz nachsehen wollte, stand schon der Jäger am Fuß des Baumes und wog den Vogel in der Hand. Und dicker, graublauer Pulverrauch trieb über den Waldboden.
Gott sei Dank, dass es mir nicht galt, dachte Silberpelz, als der Jäger fort war. Er legte und streckte sich wieder in sein Bett und sah von dort aus zur Tür hinaus. Was er für eine feine Aussicht hatte! Er sah endlos weit über die Baumkronen hinweg bis zu den blauen Bergketten, die sicher über eine Meile weit entfernt waren. Es war etwas windig geworden, und Silberpelz spürte, wie der Baumwipfel schwankte. Ihm war, als säße er hoch oben in der Luft auf einer wunderschönen Schaukel. Er fing an zu schnurren und zu spinnen: so gut hatte ihm das Dasein bis jetzt noch nie gefallen. Nun wurde es auch allmählich heller, die Singvögel wachten auf und riefen sich gegenseitig Gutenmorgen zu, und die Krähen wurden munter und fingen gleich an zu schelten und sich zu zanken. Unten auf dem Waldesgrund kam der Hase, so schnell er konnte, angesprungen, die Schnauze voll von taufeuchtem Klee – jetzt galt’s für ihn ungesehen nach Hause zu kommen. Der machte lange Sätze! Da kam auch Reineke angeschlichen. Er drückte sich von Busch zu Busch und hetzte sich nicht weiter ab, es war ja nicht ausgeschlossen, dass er irgendwo ein Nest aufstöbern konnte, bevor er wieder in seine Höhle kroch, und wenn es auch nur eine kleine Waldmaus war. –
Nun war es bald tageshell, aber je heller es wurde, desto mehr kniff Silberpelz seine Augen zusammen. Und als schließlich die Sonne zum Vorschein kam, machte er sie ganz zu, legte sich auf die Seite und schlief wieder ein.
Ein feines Frühstück
Plötzlich wachte Silberpelz davon auf, dass sich jemand an der Tür seiner Herberge zu schaffen machte. So schnell es ging, öffnete er die Augen – da stand ein kleines, drolliges Kerlchen in der Tür und sah ihn an. Es hatte kleine, spitze Öhrchen, die hochstanden, und ein Paar Augen, die waren blank wie Steinkohlen.
„Tuck – tuck“, sagte es und schnalzte mit der Zunge, „teck – teck – tuck“. Es fühlte sich doch nicht ganz sicher.
„Miau“, fragte Silberpelz in den schönsten Tönen, „wer bist denn du?“
„Tuck – tuck – tuck“, antwortete der Kleine und zeigte seinen feinen Schwanz, „ich bin Eichhorn, wenn du’s noch nicht weißt, und ich kann die höchsten Bäume hinaufklettern.“
„Das kann ich auch“, meinte Silberpelz.
„Teck – teck, ich kann kleine Singvögel fangen!“
Das konnte Silberpelz ebenfalls.
„Tuck – tuck, ich kann auch Eier fressen!“
Das sei doch weiter keine Kunst, fand Silberpelz, wie oft hatte er nicht zu Hause Hühnereier gestohlen!
Da wurde das Eichhorn schließlich böse. „Tuck – tuck – tuck“, sagte es, „ich kann hier vom Wipfel in einem Satz bis auf die Erde springen. Und du? Kannst du das auch?“
Nein, das konnte Silberpelz nicht.
Nun bildete sich aber das Eichhorn ordentlich was ein. „Tuck– tuck–tuck“, sagte es so laut, dass es im Wald widerhallte. Dann riss es sich einen Tannenzapfen ab und zerpflückte ihn eins, zwei, drei, wobei es den Samen in sein Schnäuzchen pfropfte.
„Kannst du das auch nicht?“
„Nein“, musste Silberpelz ganz verdrießlich zugestehen. Er fühlte, dass er einen mörderlichen Hunger hatte, aber Tannenzapfen konnte er doch nicht essen.
„Dann bist du zu gar nichts zu gebrauchen“, schrie das Eichhorn, „tuck – tuck – teck – teck!“
Warte, wenn ich dich bloß kriegen könnte, dachte Silberpelz, dann wollte ich dir schon zeigen, wozu ich zu gebrauchen bin! Du bist ja im Grunde doch nichts anderes als eine Art Ratte, trotz deinem feinen Schwanz!
Damit krabbelte er aus dem Nest heraus und fing an, am Baum hinabzuklimmen.
Aber da legte das Eichhorn los! Es lachte, dass es auf dem Ast beinahe einen Purzelbaum schlug.
„Nennst du das etwa klettern?“, fragte es. „Du kriechst ja mit dem Schwanz vorneweg!“
Und dann sprang es hinterher von Zweig zu Zweig, nur um Silberpelz zuzusehen. „Tuck – tuck – tuck“, sagte es und lachte ihn aus. Der arme Silberpelz quälte sich ordentlich ab, aber es ging trotzdem langsam, und je mehr das Eichhorn lachte, desto schlechter machte er seine Sache. Zuletzt wollte er zeigen, dass er es doch könne, aber da ging es, wie es meist zu gehen pflegt, wenn man etwas so recht vorführen will. Er konnte sich nicht festhalten und purzelte pardauz auf die Erde, dass alle Knochen in ihm knackten. „Miau!“ sagte er, denn er hatte sich weh getan, und dann blieb er ganz still liegen.
Als das Eichhorn das sah, musste es natürlich hin und es sich genau angucken. „Teck – teck", sagte es und kam immer näher. Es war so neugierig, dass ihm sein Schwanz wie ein Flaschenputzer hochstand. Hatte sich das Unglückswurm mausetot geschlagen? Jetzt war es dicht neben ihm – da sprang Silberpelz blitzschnell in die Höhe und schlug mit der Kralle zu.
„Nun will ich dir zeigen, wer von uns beiden zu was zu gebrauchen ist?“
Und damit fraß er das Eichhorn zum Frühstück und schlenderte dann satt und vergnügt tiefer in den Wald hinein.
Durst tut weh!
Man sagt oft, der Mensch hat es nicht so leicht hier in der Welt, aber eine Katze hat es oft wirklich nicht leichter. Das merkte Silberpelz. Freilich konnte er gut Ratten und Mäuse fangen und, wenn’s drauf ankam, sich allein durchschlagen, aber er war auch daran gewöhnt, nach allen Richtungen hin gepflegt und verhätschelt zu werden. Jeden Tag bekam er einen großen Napf mit frischgemolkener Milch, auch Brot mit Belag darauf bekam er und kleine Stückchen Braten in brauner Soße. Er wurde gestreichelt, gebürstet, gebadet und gekämmt – für ihn war es wirklich nicht so leicht, auf einmal ganz allein in der Welt dazustehen. Aber Ph! dachte er, es wird schon gehen!
Nach einer Weile spürte er, dass er Durst hatte. Er hatte solch mächtiges Verlangen nach Milch, aber wo sollte er sich die mitten im dicksten Wald wohl verschaffen können? Er ging eine Zeitlang und suchte zwischen Bäumen und Steinen und dachte, vielleicht könnte er doch noch irgendwas Gutes finden, – aber nein, nichts war zu machen. Er stieß nur auf ein paar Pfützen mit abgestandenem Wasser; davon ekelte er sich unter furchtbarem Naserümpfen ein bisschen herunter.
Pfui, wie abscheulich das schmeckte – nein, er musste auf alle Fälle einen Ort ausfindig machen, wo er frische Milch bekommen konnte.
Silberpelz war, wie gesagt, bis dahin noch nie im Wald gewesen, aber da er seinen Verstand brauchte, fand er doch bald, was er suchte. Nach einer Weile schnupperte er, dass es nach Kühen roch, und als er dem Geruch etwas nachgegangen war, hörte er eine Kuhglocke läuten. Zuletzt kam er an einen kleinen, grauen Sommerkuhstall, der mitten im Wald lag; er sprang auf eine der Luken hinauf und sah mit seinen großen, gelben Augen hinein.
Drinnen standen sechs bis sieben Kühe, vollauf mit Fressen und Kauen beschäftigt. Sie drehten ihm alle den Rücken zu, aber Silberpelz grüßte trotzdem.
„Miau“, sagte er so recht einschmeichelnd.
Eine von den Kühen wandte ihren Kopf und sah ihn an.
„Muh“, sagte sie mit vollem Mund, „was willst du denn hier?“
„Ich möcht’ gern ein bisschen Milch haben, ich habe so grässlichen Durst.“
„Was sagt er?“, fragte eine von den andern und guckte mit einem Heubüschel im Mund hoch.
„Er bittet um ein bisschen Milch.“
Jetzt entspann sich ein reges Hin und Her von Stand zu Stand.
„Das ist ja gar nicht unser Kater“, sagte die eine.
„Nein, das ist ein wildfremder“, meinte eine andere.
„Na, wir könnten ihm doch trotzdem ein bisschen geben!“
„Er braucht ja nicht so viel!“
„Wenn nun aber die Magd was merkt?“
„Ach, das ist nicht so schlimm!“
„Zur Sicherheit könnte ja jede von uns ihm ein bisschen geben, dann merkt sie schon nichts!“
Schließlich drehte sich die erste wieder zu Silberpelz um.
„Kannst du melken?“
Nein, das konnte Silberpelz nicht. Ja, meinten die Kühe, da sei nichts anderes zu machen, als dass er warte, bis die Magd in den Stall käme. Und dann fingen sie wieder an weiterzukauen.
Zum Glück war die Magd heute frühzeitig auf, und Silberpelz brauchte nicht so lange zu warten. Aber sie kam nicht allein, ein mächtiger, scheckiger Kater begleitete sie, schmiegte sich an ihren Rock und versuchte sich derart bei ihr einzuschmeicheln, dass es schon rein eklig war.
„Miau“, sagte Silberpelz nun wieder und streckte seinen Schwanz hoch in die Luft, damit sie sehen sollten, dass er nicht böse war. Das war gleichsam seine Friedensfahne.
Aber die Magd sah ihn gar nicht mal an. „Weg!“, sagte sie und stampfte mit dem Fuße auf, „du hast hier nichts zu suchen!“ Und der Scheckige knurrte, fauchte und wollte ihn ebenfalls fortjagen. Sie waren alle beide recht unfreundlich zu ihm.
Nun, Silberpelz war keine Memme, er blieb ruhig in seiner Luke sitzen. Außerdem hatte er ein reines Gewissen, und das verleiht einem immer Mut. Aber er zog seinen Schwanz ein und hielt die Krallen bereit – man konnte ja nicht ohne weiteres von vornherein wissen, wie sich der Scheckige aufführen würde. Er sah ziemlich gefährlich aus.
Die Magd machte sich nun ans Melken. Die Milch spritzte und kluckerte in den Eimer; der Scheckige stand die ganze Zeit daneben, zierte sich, war zärtlich und schmeichelte. Die Magd mochte ihn scheinbar gut leiden, denn sie goss ihm einen ganzen Napf voll Milch ein und stellte ihm den hin. Du liebe Güte, wie der Scheckige soff! Er schlürfte wie ein Schwein und steckte seine ganze Schnauze bis zum Kinn in die Milch. Er schmatzte, schluckte und schwelgte mit solchem Genuss, dass er gar nicht wusste, auf welchem Bein er stehen sollte. „Ob er wohl die ganze Milch austrinkt?“, überlegte sich Silberpelz. „I wo, so viel kann er doch unmöglich herunterbringen!“ Aber tatsächlich! er kriegte alles auf und leckte sogar noch den Napf aus. Für Silberpelz blieb kein Tröpfchen übrig. Danach setzte er sich hin und putzte seinen Bart. Er spuckte auf seine Pfote und rieb sich sein Ohr und seine Backe, bis er auf der einen Seite ganz blank wurde – – aber, aber … Wie er so dasaß und seiner Eitelkeit frönte, kam eine Ratte aus einem Loch in der Erde hervor.
So eine große Ratte hatte Silberpelz noch nie gesehen. Sie war wie eine dicke, runde Leberwurst mit Kopf, Schwanz und Beinen daran. Und dann hatte sie einen mächtigen Schnurrbart und war beinahe ganz schwarz auf dem Rücken. Ihre Zähne leuchteten weithin. Die Magd kippte vor Schreck fast vom Schemel. Sie raffte ihre Röcke fest um sich zusammen, rief „Husch!“ und stampfte mit dem Fuß. Aber die Ratte kehrte sich an nichts, ging, mir nichts dir nichts, an ihr vorbei und geradewegs auf den Scheckigen zu. „Jetzt kommt’s zum Klappen“, dachte Silberpelz, aber weit gefehlt! Der Scheckige sträubte nur sein Fell, machte einen Buckel und fauchte etwas – das war alles. Die Ratte hatte nicht die Spur Angst, sie schnitt ihm eine Fratze und stellte sich auf die Hinterbeine. Sie wusste wohl von früher, dass sich der Scheckige nicht traute, auf sie loszugehen.
„Fang sie!“, rief die Magd und zeigte, „Miez, fang sie!“ Aber nicht daran zu denken, der Scheckige rückte und rührte sich nicht im Geringsten.
Der belohnte Held
Ha – du Milchbart! dachte Silberpelz, und eins, zwei, drei sprang er auf eine der Kühe und von da aus der Ratte gerade ins Gesicht. „Kratsch!“, ging es, und die Ratte lag stocksteif mit gebrochenem Genick und ein paar tiefen Wunden in der Seite da. Die Kuh hatte sich von ihrem Schreck noch gar nicht erholt und rief in einem fort um Hilfe: „Muh – muh!“
Silberpelz nahm die Ratte in die Schnauze und spazierte damit zur Magd.
„Miau“, sagte er und legte sie ihr hin, nun brauchte sie keine Angst mehr zu haben. Und dann streckte er seine Friedensfahne hoch in die Luft, schnurrte und mauzte und sah die Magd mit seinen hübschen, gelben Augen an.
„Herrjemine!“, sagte die Magd und hob die Ratte am Schwanz auf, „du bist wirklich ein Hauptkerl, dass du mit solchem Biest fertig werden kannst – dafür sollst du deinen Lohn bekommen!“
Und sie goss ihm den ganzen Napf voll Milch, dass er beinahe überfloss.
„Da hast du, mein Schatz“, sagte sie, „du bist mir doch ein anderer Kerl als die Schlafmütze da – wirklich, ich hätte Lust, dich zu behalten; du machst dich doch wenigstens nützlich. Und so hübsch wie du bist, und lieb siehst du auch aus. Ja, wenn du bei mir bleiben willst, von mir aus darfst du’s gern!“
Als Silberpelz getrunken hatte, nahm sie ihn auf den Schoß, streichelte ihn, glättete ihn und wusste gar nicht, was sie ihm alles Gutes antun sollte. Schließlich goss sie ihm den Napf noch einmal voll, dann nahm sie ihr Zopfband und knüpfte es ihm um den Hals.
„So“, sagte sie, „nun weiß ich doch, dass du’s bist, Miez, und erkenne dich!“
Darauf wurden die Kühe in den Wald hinausgelassen. Eine von ihnen hatte eine Glocke um, die ging die ganze Zeit voran und zeigte den andern den Weg. Silberpelz fand, er sei nun so gut Freund mit den Kühen geworden, dass er sie begleiten müsse. So ging er denn mit ihnen, lief zwischen ihnen hin und her und sonnte sich. Auch war die Magd mit der Milch nach Hause gegangen, und der Scheckige war wahrscheinlich bei ihr – da blieb also Silberpelz gar keine andere Gesellschaft übrig als die Kühe. Ab und zu biss er sich einen Halm ab oder fraß ein wenig Gras, wie es die Kühe taten, und wenn sie sich ausruhten, tat Silberpelz desgleichen. So vertrieb er sich ein paar Stunden und bemühte sich die ganze Zeit, zu ihnen freundlich und gefällig zu sein. Schließlich kamen sie an eine Lichtung, wo die Sonne schien. Hier legten sich die Kühe nieder, um in aller Ruhe wiederzukäuen, und faulenzten nach Herzenslust, und da Silberpelz nichts Besseres zu tun hatte, legte er sich auch hin. Eine Weile spielte er mit einer schönen, blauen Feder, die er gefunden hatte, aber bald wurde er schläfrig, machte die Augen zu und dusselte gleich darauf ein.
Als er aufwachte, waren alle Kühe verschwunden.
Herrje! dachte Silberpelz und sprang auf einen Baumstumpf, sind die einfach ohne mich losgezogen?
Sein kleiner Kopf nickte und wackelte, auf und ab, hin und her. Das war ja noch schöner, so ohne weiteres loszuziehen! Gemein fand er das! Er war so nett zu ihnen gewesen, hatte sie stundenlang begleitet und, so gut er konnte, auf sie aufgepasst – und dann ließen sie ihn, mir nichts dir nichts, allein. War das etwa der Dank? Nein, nie, nie wieder wollte er sich mit Kühen einlassen! Er stampfte mit seinen kleinen Pfoten auf dem Baumstamm herum und peitschte vor lauter Ärger mit dem Schwanz. Na, wenn er sie wieder traf, die sollten’s ja ordentlich kriegen! Die würden schon merken, was das hieß, einfach fortzulaufen und ihn im Wald allein zu lassen!
Ob er sie nicht vielleicht doch noch irgendwo finden konnte?
Er suchte eine kleine Weile. Ein paarmal blieb er stehen und lauschte – klang da nicht die Glocke? Ach nein, keine Glocke war zu hören, sie mussten schon weit, weit fort sein.
Wie er nun so dahintrollte, hörte er auf einmal einen Zweig knacken. Schwupp, war Silberpelz oben auf einem Baum, setzte sich dort hin und lugte durch die Zweige hindurch. Ja, ganz recht, da kam Meister Reineke durchs Heidekraut geschlichen, schnüffelte und witterte mit der Nase auf der Erde, und spitzte darauf, einen guten Braten zu ergattern. Huh, wie er sich wand und krümmte, damit ihn niemand sehen sollte! Manchmal legte er sich ganz platt hin und kroch auf dem Bauch, den buschigen Schwanz hinten nachschleifend – er machte sich ganz lang und schmal und sah aus wie eine rote Schlange …
Jetzt war er dicht unterm Baum.
Silberpelz machte einen Buckel und streckte seine Krallen weit vor. Es kribbelte in ihm, und am liebsten wollte er Reineke mitten auf den Nacken springen und aus allen Kräften zubeißen – konnte das wohl so gefährlich sein? Silberpelz’ Augen sprühten ordentlich Funken und seine Haare sträubten sich wie Igelborsten. Da guckte Reineke mit seinen verschlagenen Augen zum Baum hinauf, als wüsste er, dass Silberpelz dort saß. Pfui, der garstige Halunke! Aber schon schnüffelte er wieder auf der Erde und schlich wie vorher weiter. Ob er wohl etwas gemerkt hatte?
Sicherheitshalber blieb Silberpelz noch eine Weile sitzen, bis Reineke ein ganzes Ende weg war. Dann kam er vom Baum herunter und schoss, so schnell ihn die Füße trugen, ohne sich nach rechts und links umzusehen, von dannen. Du liebe Güte, gefährlich war’s im Wald, am Tag nicht weniger als bei Nacht. Er raste über Stumpf und Stein, flitzte durch das Blaubeerkraut, dass große Haarbüschel hängen blieben – keiner sollte ihn jetzt erwischen, beileibe nicht! Zuletzt prallte er unversehens gegen eine große Birkhenne, die auf ihren Eiern brütete. Aber das hätte er lieber nicht tun sollen, denn die Birkhenne fuhr auf ihn los und versetzte ihm ordentlich eins mit den Flügeln, dass ihm noch lange nachher sein Kopf schwirrte. Wahrscheinlich glaubte sie, er sei Reineke in leibeigener Gestalt!
Wer weiß, wie weit Silberpelz noch gerannt wäre, wenn er nicht an einen Teich gekommen wäre. Da musste er natürlich anhalten, wenn er nicht schwimmen wollte, und dazu verspürte er keine besondere Lust. Aber wie er anhielt, erblickte er einen Mann, der angelte. Da vergaß er Fuchs und Birkhenne und setzte sich hinter ein Gebüsch, um zuzusehen.
Der bestrafte Dieb
Der Mann hatte eine lange Stange in der Hand. Die schwang er, dann sauste die Angelschnur übers Wasser. An ihrem Ende war eine Fliege befestigt, und von Zeit zu Zeit sprang ein Fisch aus dem Wasser hoch und schnappte danach. Dann zuckte der Mann mit der Stange, und der Fisch blieb hängen. So ging es vier- oder fünfmal, und jedes Mal warf der Mann den Fisch in einen Korb, der ein Stück weit hinter ihm stand.
So etwas Komisches hatte Silberpelz noch nie gesehen. Er guckte sich den Mann an und guckte sich die Stange an – wie hing das eigentlich zusammen? Aber dann bekam er solchen Appetit auf die Fische – Fisch war nämlich sein Leibgericht –, dass er Mann und Stange vergaß und sich stattdessen hinsetzte und sein Augenmerk auf den Korb richtete. Zuletzt konnte er sich nicht mehr beherrschen, er steckte die Pfote hinein und langte sich den allergrößten heraus.
Der Mann merkte nichts; erst als Silberpelz noch einen gemaust hatte, sah er sich hastig nach allen Seiten um, räusperte sich, machte ein erstauntes Gesicht und putzte seine Brille. Er steckte seinen Kopf tief in den Korb und zählte laut:
„Eins – zwei – drei – –“
Er guckte auf den Boden und in die Luft – waren’s denn nicht fünf gewesen? Schließlich angelte er wieder weiter, stellte aber zuvor den Korb neben sich, damit er ihn nicht aus den Augen verlor, während er die Angel auswarf.
Silberpelz saß natürlich die ganze Zeit unbeweglich da. Ihm machte es großen Spaß, dem Manne zuzusehen – außerdem war er von den Fischen so wunderbar satt, und hatte ja auch nichts anderes zu tun.
Surr – da saß wieder ein Fisch fest und wurde ans Land befördert, wie er auch zappelte und sich wehrte. Silberpelz glotzte, stierte und blinzelte – wie konnte sich das bloß zusammenreimen? Besonders aus der kleinen Fliege am Schnürende konnte er nicht schlau werden. Was war bloß mit der los, dass der Fisch daran festhängen bleiben konnte? Es sah wirklich so aus, als ob die Fliege den Fisch fing – – ja, Silberpelz wunderte sich immer mehr. Sein kleiner Kopf wackelte und nickte, hin und her und auf und ab, wie er mit den Augen der Fliege nachfolgte. Ein paarmal hob er die Pfote, als wollte er zuschlagen. Er hatte selbst oft Fliegen gefangen, kleine und auch große, ohne daran festhängen zu bleiben, er hatte kein bisschen Angst vor ihr. Mit Wespen und Bienen war das etwas anderes, die stachen und konnten einem mächtig weh tun. Aber Fliegen – die summten nur ein bisschen, wenn man nach ihnen schlug …
Da zischte sie gerade über ihm –
Silberpelz sprang hoch und hieb mit der Pfote zu – – aber, o weh, o weh! die Fliege konnte wirklich stechen, und noch dazu kräftig, viel ärger als Wespen und Bienen. „Au!“, schrie Silberpelz ganz laut und wollte seine Pfote zurückziehen. Aber – o je – er saß damit fest, genau wie die Fische.
„Au – au!“, schrie er noch einmal, zog und zerrte und wollte sich losreißen, aber da wurde es immer schlimmer.
„Nanu?“, entfuhr es dem Mann, der seinen Augen nicht traute, „irr ich mich, oder sitzt da wirklich eine Katze am Haken?“
Aber unterdessen tat es Silberpelz so entsetzlich weh, dass er vor Schmerzen wie von Sinnen war. Er stellte sich im Gras auf den Kopf, schoss Purzelbäume, fauchte, pruschte und plusterte sich auf, bis er dreimal so dick wurde wie vorher – aber nichts half.
Der Mann wusste nicht recht, was er tun sollte, er sah ganz erschrocken aus.
„Du bist wohl auch der Dieb, der meine Fische gestohlen hat?“, sagte er. „Ja siehst du, Miez, so geht’s einem, wenn man stiehlt. Aber nun hast du deine Strafe bereits weg, ich will dir nichts weiter tun!“
Er legte die Stange beiseite und nahm die Schnur in die Hand.
„Komm her, Miez“, sagte er mitleidig, „ich will versuchen, ob ich dir helfen kann.“
Silberpelz wäre am liebsten fort und über alle Berge, aber er konnte ja nicht wegen der Schnur. Der Mann sprach außerdem so nett mit ihm, und da ließ er ihn mit sich tun, was er wollte. Es tat grässlich weh, wie ihm der Haken herausgezogen wurde, Silberpelz fauchte und schrie wieder, aber schließlich war ja alles gut überstanden, nur dass er in seiner Pfote eine tiefe Wunde behielt.
„Arme Miez“, sagte der Mann und streichelte ihn, „ich glaube, ich nehme dich mit nach Haus, dann wollen wir dir deine Pfote einschmieren, sonst wird sie dir noch schlimm!“
Damit stopfte er Silberpelz in den Korb, nahm die Angel über die Schulter und machte sich auf den Weg. Im Korb waren ein paar Ritzen, durch die konnte Silberpelz gucken – und nun lag er da drinnen und lugte und lugte. Er sah, sie kamen aus dem Wald heraus auf einen großen, breiten Weg. Sie trafen Pferde, Wagen, Menschen und Hunde, einmal kam ein schwarzer Pudel, der wie ein Löwe geschoren war, an seinen Korb heran und schnüffelte. Silberpelz bekam im ersten Augenblick Angst, aber dann machte er seinen Mund auf und prustete. Da kriegte der schwarze Pudel, trotzdem er wie ein Löwe geschoren war, solchen Schrecken, dass er mit ein paar Sätzen über den Weg sprang und, so schnell er konnte, fortschoss. Der glaubte wohl, im Korb läge eine Schlange – –
Nach einer Weile kamen sie an ein großes, hübsches Haus.
„Hast du was gefangen, Vater?“, fragte jemand, und drei kleine Kinder kamen ihnen entgegengesprungen. Sie hingen sich an den Armen des Mannes fest, und das größte wollte durchaus den Korb haben.
„Haben sie heute gut angebissen, du?“
„Hast du die neue Fliege probiert?“
„Wieviel hast du bekommen?“
„Hast du ein paar große gefangen?“
„Ja“, antwortete der Mann, „heute habe ich den größten und merkwürdigsten Fisch in meinem ganzen Leben gefangen!“ Und damit machte er den Deckel vom Korb auf und holte Silberpelz heraus.
„Na, ist das nicht ein feiner Fisch?“
„Ja, ja“, schrien sie alle miteinander und klatschten In die Hände, „wie wonnig, wie süß, und ein Haarband hat sie auch um – guck bloß mal!“ Aber das älteste schüttelte den Kopf und sagte ernsthaft:
„Du hast uns ja bloß zum besten, Vater, die kannst du unmöglich geangelt haben – Katzen leben ja nicht im Wasser!“
„Nein“, sagte der Mann, „das tun sie freilich nicht, aber sie saß trotzdem an meinem Angelhaken.“
Das konnte keins von den Kindern begreifen, und nun musste der Mann alles genau erzählen.
„Arme Miez!“, sagten alle drei, als sie die Geschichte vom Angelhaken gehört hatten, dem ältesten standen sogar Tränen in den Augen, „aber wie konntest du auch nur so dumm sein?“
Dann trug der Mann Silberpelz ins Haus hinein. Er wusch ihm die Pfote, goss Medizin darauf, wickelte sie vorsichtig in Watte und zog zuletzt einen Handschuhdäumling darüber.
„In drei Tagen bist du wieder gesund“, sagte er und legte Silberpelz auf einen weichen Stuhl, „dann kannst du bei uns wohnen bleiben, wenn du Lust hast; denn so ein nettes Kätzchen haben wir uns schon immer gewünscht!“
„Miau!“, antwortete Silberpelz und rollte sich in seinem Stuhl zusammen; das hieß natürlich „Dankeschön“. Gleich darauf schlief er ein.
Ein aufregender Kampf
Drei Tage lang hinkte Silberpelz auf drei Beinen herum. Dann war er wieder so weit hergestellt, dass man ihm den Däumling abnehmen konnte.
„Jetzt wird er uns wohl weglaufen“, meinte der Mann, aber nein; das fiel Silberpelz nicht ein. Ihm gefiel es herrlich bei den neuen Leuten, er bekam so viel Milch, wie er haben wollte, und durfte auf dem feinsten Sofa schlafen. Alle hatten ihn lieb, die Kinder teilten alles Gute, was sie bekamen, mit ihm und trugen ihn auf den Armen im Garten herum.
„Willst du was zu essen haben?“, fragten sie in einem fort, „oder willst du lieber mit uns spielen?“
Der Kleinste band eine Papierkugel an einen Faden und lief damit ein Stück den Weg entlang, und wenn Silberpelz hinterhersprang, lachte er so, dass er sich zwischendurch hinsetzen musste.
Zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten war ein kleines Mädchen; sie holte einen Kamm und kämmte ihn am ganzen Körper.
„Was du für lange Haare hast!“, sagte sie.
„Er ist ein Wildkater“, meinte der Älteste.
Und dann riefen sie ihm alle zu und streckten die Arme nach ihm aus: „Wildkater, Wildkater, komm mit uns zum Bach, dann darfst du auch Segelboot fahren!“
„Wildkater, Wildkater, komm mit uns zum Stall, dann zeigen wir dir auch unser Pferd!“
„Wildkater, Wildkater, wo hast du das schöne Halsband herbekommen?“
„Nun müsst ihr ihn nicht quälen“, sagte der Mann, „sonst mag er euch nicht mehr leiden!“
„Nein, nein“, antworteten alle, „wir spielen ja nur mit ihm, wir tun ihm nichts Böses, wir haben ihn ja so lieb, Vater!“
Und der Kleinste fügte hinzu:
„Er hat uns auch lieb!“
Sie baten, ob er am Abend nicht bei ihnen im Bett schlafen dürfe und machten so viel von ihm her; Silberpelz musste den geschlagenen Tag lang bei ihnen sein. Draußen und drinnen mussten sie ihn um sich haben, sie fuhren ihn in einem kleinen Puppenwagen spazieren mit einer roten Seidendecke und einem Kopfkissen, er brauchte keinen Schritt allein zu tun. Und gleich am Morgen, wenn sie aufwachten, setzten sie sich in ihren Betten auf und riefen:
„Ist Wildkater auch noch da?“
Nun stand Silberpelz natürlich viel früher auf als die andern, sie fanden ihn daher manchmal nicht sofort. Er war dann im Garten und schleckte Tau, oder er lag im Gras und lauerte Mäusen auf – irgendetwas hatte er immer vor. Und die Kinder liefen dann umher, riefen ihn und suchten ihn, hielten Butterbrot für ihn in der Hand und gaben ihm die zärtlichsten Namen, die sie sich ausdenken konnten, denn sie wussten ja nicht, wie er eigentlich hieß.
„Seidenkatzi, wo bist du?“
„Komm, komm, Sammetmiez!“
„Prinzlein, Prinzlein, komm, dann kriegst du Käse!“
Da konnte Silberpelz natürlich nicht widerstehen und kam zu ihnen angelaufen, den dicken Schwanz hoch in der Luft schwingend …
Einmal saß Silberpelz wieder so des Morgens im Garten und sonnte sich. Er saß unter einer großen Weide, in deren Wipfel sich ein Elsternnest befand, und sah den Fliegen zu, die um ihn her schwirrten. Da kam ihm auf einmal der Gedanke, ob nicht am Ende in dem Nest Eier oder Junge wären, und eins, zwei, drei hieb er seine Krallen in die Baumrinde und machte sich daran, am Stamm emporzuklettern.
Im Haus war noch niemand auf. Er hörte, dass eben im Nest gesprochen wurde, darum setzte er sich auf einen Zweig und wartete, bis Vater Elster und Mutter Elster fortgeflogen waren, um Frühstück einzuholen. Aber da wartete er auch keinen Augenblick länger, sondern kroch, so schnell er konnte, auf das Dach des Nestes hinauf.
Ob wohl jemand zu Hause war?
Es dauerte eine Weile, bis er die Tür fand. Sie stand zwar offen, war aber so klein, dass er nicht einmal seinen Kopf hindurchzwängen konnte. Aber deswegen gab Silberpelz seine Sache noch lange nicht auf. Er krallte sich außen am Nest fest und stocherte mit der einen Pfote wie mit einer Gabel drinnen herum – – bewegte sich da nicht etwas Weiches? Aber wie er gerade so im Nest wühlte und sich dehnte, um zuzupacken, hörte er über sich einen wütenden Schrei. Vater und Mutter Elster waren zurückgekehrt. Sie fuhren beide auf ihn los, hieben und kratzten mit Schnabel und Krallen und versuchten, ihn mit ihren Flügeln hinunterzufegen.
„Krie – krie – kräh – kräh – kräh!“, schrien sie so wütend, dass es zischte. Silberpelz konnte sich gerade noch auf den Rücken werfen und alle vier Beine nach oben strecken – so lag er nun auf dem Nest und focht, so gut er konnte, um sich. Zuerst ging es auch noch, solange er nur die beiden gegen sich hatte. Aber bald kam ein ganzes Heer von Elstern von allen Enden und Ecken her angeweht. Sie schrien, flatterten ihm um die Ohren und trafen ihn wie ein Pfeilregen mit ihren spitzen Schnäbeln. Jetzt wurde es Silberpelz doch ein bisschen warm, aber er war nicht derjenige, der sich so leicht ergab. Seine Tatzen rührten sich wie Trommelschlegel, er hieb und kratzte nach allen Seiten, biss und prustete aus Leibeskräften. Bald war er von einer ganzen Federnwolke umgeben, zwei Elstern lagen unten auf der Erde mausetot, und eine saß zerzaust auf einem Zweig und war kampfesunfähig. Aber trotzdem nützte alles nichts, es kamen ihnen immer mehr zu Hilfe; jetzt waren’s sicher schon ein Schock und Silberpelz fing bereits an, matt zu werden. Er hatte ein paar tüchtige Hacker an den Kopf und in die Seite bekommen und war einige Mal nahe daran, vom Nest herunterzukugeln – – da knallte plötzlich ein mächtiger Schuss aus einem Fenster im Haus, und drei Elstern plumpsten flatternd auf die Erde. Einen Augenblick darauf knallte es noch einmal, und da verloren die Elstern den Mut und flogen, so schnell sie konnten, fort.
„Jetzt kannst du runterkommen, Miez“, rief ihm der Mann aus dem Fenster zu, „nun brauchst du keine Angst mehr zu haben!“
Silberpelz erhob sich auf dem Nest und sah auf das Schlachtfeld hinunter.
„Miau“, sagte er mit wichtigem Ton und streckte seinen Schwanz empor. Das hieß mit anderen Worten:
„Seht ihr, das kommt davon, wenn ihr euch mit mir einlasst!“
Ein neuer Freund
Als sich Silberpelz nach einer Weile am Stamm herabließ, erblickte er eine große, weiße Katze, die eine von den Elstern beschnupperte. Ob die wohl wütend ist? überlegte sich Silberpelz; er hatte keine Lust, sich jetzt von neuem zu balgen, denn nun war er lahm und müde. Deshalb stieg er nicht ganz hinunter, sondern blieb auf dem untersten Zweig sitzen.
Die weiße Katze sah aus, als ob sie mächtige Kräfte hätte. Sie war noch größer als Silberpelz und hatte ganz grüne Augen. Ihre Tatzen waren dick und rund, man konnte ihnen ansehen, dass sie ein paar Krallen in sich hatten, die nicht ohne waren. Ihr Fell war kurzhaarig und glatt, und wenn sie sich nur ein klein wenig bewegte, sah man, wie die Muskeln unter ihrer Haut spielten. Aber trotz ihrer Größe und Stärke machte sie doch einen entsetzlich behänden Eindruck. Sie trat sehr vorsichtig auf dem Gras auf, sie hatte etwas so Leichtes und Geschmeidiges – es sah aus, als ob sie über den Boden glitte …
Nun hatte sie eine zweite Elster eräugt. Sie beschnupperte auch diese. Als sie aber gleich darauf noch eine dritte fand, setzte sie sich auf die Erde und sah zum Baum hinauf. Vielleicht war ihr das Elsternnest nicht unbekannt, vielleicht hatte sie Silberpelz gerochen – jedenfalls erblickte sie ihn sofort. Freilich machte Silberpelz die Augen zu und tat, als ob er schliefe, aber die weiße Katze merkte doch, dass er mit den Augen zwinkerte und blinzelte.
„Guten Morgen!“, grüßte sie ganz anständig.
„Guten Morgen!“, erwiderte Silberpelz und hielt die Pfote bereit. Aber die Weiße hatte weder Kampf noch Krieg im Sinn, sie blieb friedlich im Gras sitzen und schlug nur vergnügt mit ihrem Schwanz um sich.
„Hast du all die Elstern hier erlegt?“ „Ja, jede einzelne fiel durch meine Pfote!“
„Das nenne ich einen guten Fang, du musst ein tüchtiger Jäger sein!“
„Ach, das ist nicht der Rede wert –“
„Doch, so etwas ist mir bis jetzt noch nicht vorgekommen!“
„Ach, es war eine solche Unmasse Elstern da, ich hätte noch viel mehr bekommen können, wenn sie mir der Mann aus dem Hause nicht verscheucht hätte.“
Die Weiße leckte sich ihre Pfote und wusch sich hinter dem einen Ohr.
„Na, jedenfalls hast du mehr Glück gehabt als ich heute, ich habe nichts anderes erwischt als eine elende Eidechse.“
Das ist freilich nicht viel, dachte Silberpelz und stand von seinem Platz im Baum auf: „davon kannst du wahrhaftig nicht satt sein.“ Und dann rief er ihr zu: „Wenn du magst, kannst du gern eine von meinen Elstern zum Frühstück kriegen – ich kann sie ja sowieso nicht alle allein auffressen!“
Die Weiße sagte natürlich mit Freuden zu, und kurz darauf standen sie beide in einem Winkel des Gartens und knabberten aus Leibeskräften Elsternbraten.
„Fein schmeckt’s!“, sagte die Weiße.
„Ratten schmecken besser“, meinte Silberpelz.
„Aber hier gibt es so wenig Ratten.“
„Ja, woran mag das wohl liegen?“
„Da müssen die Menschen dran schuld sein.“
„Aber die Menschen essen doch keine Ratten?“
„Nein, das glaube ich nicht, aber sie stellen Fallen auf und fangen sie.“
„Warum tun sie denn das aber, wenn sie sie doch nicht aufessen?“
„Ja, das verstehe ich auch nicht.“
„Könnten sie die Ratten denn nicht uns überlassen?“
„Ja, das sollten sie von Rechts wegen.“
„Sie brauchen sie ja doch nicht –“
„Und trotzdem stellen sie massenhaft Fallen auf und fangen so viel, wie sie nur können.“
„Das ist gemein!“
„Schändlich ist’s!“
„Das sollte verboten werden!“
Und sie kauten wieder weiter an ihren Elstern, dass es nur so knirschte.
„Sie haben ja ihre Pferde und Kühe“, sagte die Weiße nach einer Weile, „können sie uns da nicht wenigstens unsere Ratten lassen?“
„Das finde ich auch! Wenn wir ihnen nun ihre Pferde und Kühe wegnehmen wollten, was möchten sie da wohl sagen?“
Kurz danach waren sie mit ihrem Schmaus fertig.
„Gesegnete Mahlzeit und vielen Dank!“, sagte die Weiße und wischte sich ihren Bart mit der Pfote ab.
„Bitte schön, willst du dir nicht noch eine nehmen?“, fragte Silberpelz. „Du siehst, es sind genug da.“
Aber die Weiße dankte vielmals, sie sei reichlich satt. Und sie betrachtete Silberpelz und fragte schließlich:
„Ich habe dich bis jetzt noch nie gesehen, wie heißt du denn eigentlich?“
„Silberpelz.“
Beide putzten sich eine Weile, dann fragte Silberpelz:
„Auch ich habe dich bis jetzt noch nie gesehen, wie heißt denn du?“
„Schneeweiß.“
„Wohnst du hier in der Nähe?“
„Ja, in dem weißen Haus da drüben.“
„Und ich wohne in dem Haus hier – ich habe übrigens außerdem noch ein anderes Haus, aber das liegt weit ab von hier, hinterm Wald.“
Sie unterhielten sich nun eine Weile über ihre Häuser. Silberpelz erzählte von seinen Mietern, dass sie Wasser auf ihn herabgegossen hatten, und von Mons, der ihm seine Ratten stahl. Er erzählte vom Garten, vom Keller, vom Holzschuppen und von der Steinmauer, von der Milch, die sie ihm als Miete bezahlten, und von dem Loch an der Kellertür – –; aber als nun erst Schneeweiß mit ihrer Erzählung begann, sperrte er vor Erstaunen doch Mund und Nase auf. So etwas Wunderbares hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört.
Was Schneeweiß ihm erzählte, soll hier folgen.
Ein schönes Jagdrevier
Ich habe auch noch ein zweites Haus, das liegt dort hinter dem Berg. Das ist ein mächtig altes Haus mit vielen Zimmern, Treppen und Verschlägen, ganz oben ist ein großer Boden mit einer Luke an beiden Enden. Früher wohnten viele Leute in dem Haus, aber jetzt wohnt nur noch eine alte Frau da und ein dicker Hund, der Klaus heißt. Der rast dort herum und bellt und winselt, denn das ganze Haus ist voller Ratten, und die Frau hat ihn angestellt, damit er aufpassen soll. Aber er ist grässlich ungeschickt und hat noch keine einzige erwischt. Wenn er eine Ratte sieht, fängt er an zu blaffen, und dann rückt die Ratte natürlich aus. Daher werden es immer mehr. Sie nagen sich Löcher in die Wände und spazieren ganz nach ihrem Belieben ein und aus. Die Frau versucht, die Löcher mit Lappen und Lehm zu verstopfen, aber das hilft kein bisschen. Nachts geht im ganzen Haus ein entsetzliches Gesäge und Gefeile los, auf dem Boden entsteht ein Gebumse und auf den Treppen ein Gelaufe; dann fängt Klaus an zu bellen, und die Frau ruft: „Husch!“ Ich weiß in dem Haus gut Bescheid, denn ich bin dort geboren und habe ein paar Jahre lang dort gewohnt. Aber dann zogen meine Leute aus, und da zog ich mit – ich fand, ich könne sie nicht so allein in die Welt hinausziehen lassen. Die alte Frau blieb ganz allein zurück. Sie wolle nicht ausziehen, sagte sie, sie wolle bis zu ihrem Tode dort wohnen bleiben.
„Das Haus ist zu verfallen und schlecht“, sagten die andern.
„Mir genügt’s“, meinte die Frau.
„Aber es regnet ja durchs Dach!“
„Dann nehme ich mir meinen Regenschirm.“
Sie versuchten sie auf jede Art und Weise zu überreden, aber sie setzte ihren Willen durch. Damit sie jedoch nicht ganz allein bleiben sollte, vermachten sie ihr Klaus. Damals war er noch ganz klein, er war sowieso zu nichts zu gebrauchen – darin hat sich Klaus übrigens bis auf den heutigen Tag noch nicht gebessert.
Wir andern zogen also aus.
Eine lange, lange Zeit sahen und hörten wir nichts von der Frau. Du weißt, wenn man umzieht, gibt es immer so viel zu tun, dass man alles andere vergisst. Ich war vom Morgen bis zum Abend beschäftigt, kaum hatte ich Zeit, mich zu waschen. Ich musste auf Haus und Hof, Garten und Speicher aufpassen. Und dazwischen musste ich auf die Jagd gehen, um mir ordentliches Essen zu verschaffen, denn ich konnte ja nicht bloß von Milch und Brot leben. Und da es hier so wenig Ratten gibt, musste ich oft einen weiten Weg machen, ehe ich was Gutes fand.
Eines Tages, als ich nach Hause kam, saß die alte Frau in der Küche und wartete mit einem großen Korb in der Hand auf mich. Klaus war selbstverständlich auch da, er lag unterm Tisch und bearbeitete einen Knochen.
„Guten Tag“, sagte die Frau, als sie mich sah, „kennst du mich noch, Schneeweiß?“
„Ja“, sagte ich in meinen schönsten Tönen und strich mich an ihrem Bein lang, „wie geht’s dir denn?“
Kaum hatte ich das gesagt, als Klaus seinen Knochen fallen lässt und auf mich losfährt.
„Bist du verrückt?“, sagte ich, „oder fehlt dir sonst was? Ich habe dir doch gar nichts getan!“
Aber Klaus gab mir keine Antwort, er sperrte sein Maul nur noch weiter auf, als wollte er mich auf der Stelle abmurksen.
Na, ich für meine Person hatte keine Angst weiter vor Klaus, trotzdem er seit dem letzten Mal sehr gewachsen war, und das sagte ich ihm denn auch, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
„Sieh dich vor“, sagte ich, „oder ich werde dir mal aufs Dach steigen.“
Mein Klaus wollte aber nichts hören.
„Ja, wer nicht hören will, muss fühlen, da hast du eins!“, sagte ich, und damit versetzte ich ihm eins über die Schnauze, dass meine Krallen fest haken blieben.
„Na, ist dir etwa noch eins gefällig?“
Da hättest du aber das Gezeter hören sollen! Er quietschte, dass sich die Leute die Ohren zuhielten, sauste in einen Winkel und versteckte sich dort. Da blieb er sitzen und zitterte am ganzen Körper.
„Au – au – au“, rief er, „au – au – au!“
„Das geschieht dir recht“, sagten die andern, „was hast du auch auf Schneeweiß loszugehen?“
Aber die Frau stampfte mit dem Fuße auf und schalt:
„Pfui, schäm’ dich, Klaus, sich so zu benehmen, wenn man zu Besuch ist – ordentliche Prügel verdientest du, aber nicht zu knapp!“
Na, endlich konnten wir also in Ruhe weiterreden, und da erzählte die Frau, dass es mit den Ratten bei ihr nicht mehr zum Aushalten war.
„Seit Schneeweiß fort ist“, sagte sie, „hausen sie in allen Zimmern; es ist kaum möglich, länger dort wohnen zu bleiben. Sie trampeln, springen, schreien und schlagen sich, dass ich’s manchmal rein mit der Angst bekomme. Wenn Mondschein ist, kann ich sie vom Bett aus beobachten – hätte ich nicht Klaus bei mir, ich traute mich keine einzige Nacht einzuschlafen. Das Allerärgste aber ist, dass sie mir alles auffressen: Essen, Kleider, Tischzeug – alles, alles, ich habe bald keinen ganzen Faden mehr. Und darum möcht’ ich so herzlich darum bitten, ob ich nicht Schneeweiß für eine Weile geborgt bekommen kann, die muss mir die ganze Bande vom Hals schaffen!“
Meine Leute sagten gern zu.
Da nahm mich die Frau, legte mich vorsichtig in ihren Korb und trug mich nach dem alten Haus zurück. Vielleicht hatte sie Angst, dass ich ihr entwischen wollte, jedenfalls nahm sie den Deckel nicht eher ab, als bis wir drinnen im Zimmer waren. Und was war das Erste, was meine Augen erblickten? Mitten auf dem Esstisch saß eine große, fette Ratte und knabberte an dem Brillenfutteral der Frau. Aber das ließ sie für die Zukunft schön bleiben, denn ehe sie noch auf die Erde springen konnte, hatte ich sie schon zwischen meinen Tatzen, und da kannst du dir denken, was aus ihr wurde!
Ich blieb eine ganze Woche lang bei der Frau und jagte. So ein famoses Rattenrevier habe ich noch nie gesehen, überall wimmelte und schwärmte es. An einem Tage fing ich im Verlauf einer halben Stunde elf Stück, daraus kannst du ermessen, wie’s dort war.
Seitdem bin ich noch vier- oder fünfmal bei ihr gewesen, denn immer, wenn die Ratten überhandnehmen, kommt die alte Frau mit ihrem Korb und holt mich. Jetzt ist es übrigens ziemlich lange her, seit sie das letzte Mal da war, ich erwarte sie eigentlich tagtäglich – –
Ruhe vor dem Sturm
Während Schneeweiß’ Erzählung hatte Silberpelz keinen Ton von sich gegeben. Aber seine Augen wurden immer größer und blanker, und ab und zu hob er die eine Pfote ein wenig.
Wäre er doch nur dabei gewesen, dachte er bei sich, und als Schneeweiß fertig war, konnte er nicht länger an sich halten.
„Ach“, sagte er, und legte den Kopf auf die Seite, „könntest du mich nicht mal dorthin mitnehmen?“
„Gern“, antwortete Schneeweiß.
„Glaubst du, dass es noch lange dauert, bis die Frau wiederkommt?“
„Nein, das kann ich mir nicht denken.“
Silberpelz überlegte eine Weile.
„Du bist nie von selbst hingegangen?“
„Doch, ein einziges Mal. Aber das tue ich nicht wieder. Erst wurde ich von einer großen Eule angefallen, die mir mein Fell tüchtig zerhackte. Dann schoss ein Jäger hinter mir her – er hielt mich wahrscheinlich für einen Hasen –, und schließlich kam Reineke und wollte sein Heil versuchen. Ich kann ja keinen Schritt tun, ohne gesehen zu werden, weißt du. Wäre ich wenigstens schwarz oder grau, so wär’s nicht weiter gefährlich, aber nun bin ich mal so kreideweiß, dass ich selbst mitten in der Nacht sichtbar bin.“
„Wenn ich nun mit dir käme –?“
Schneeweiß antwortete nicht gleich, aber ihre Augen wurden grün und grüner.
„Dann wären wir zwei, siehst du –“
Dem konnte Schneeweiß nicht widerstehen.
„Ja, das müsste sich machen lassen; aber da dürfen wir nicht vor dem Dunkelwerden gehen.“
Nun, Silberpelz war alles recht, er freute sich nur, dass Schneeweiß nicht bis morgen warten wollte.
„Gut, dann treffen wir uns also hier bei dir im Garten, ich bin in der Dunkelheit an der Zauntür.“
„Und ich sitze auf dem Zaunpfahl und warte – –.“
Als Schneeweiß gegangen war, trabte Silberpelz nach dem Heuschober. Dort legte er sich nieder. Er war nach der Rauferei mit all den Elstern in seinen Gliedern ziemlich steif und lahm und brauchte ordentlich Ruhe, wenn er mit Schneeweiß heute Abend ausziehen wollte. Darum machte er die Augen zu und schnurrte, bis er sich selbst in den Schlaf gelullt hatte …
Er hätte gut und gern noch länger schlafen können, wenn die Kinder nicht gewesen wären. Aber als die Silberpelz am Morgen nicht finden konnten, riefen und suchten sie ihn den ganzen Tag lang, erst im Haus, dann im Garten, im Stall, Holzschuppen und auf dem Hof.
„Seidenkatzi, wo bist du?“
„Komm vor, komm, Sammetmiez!“
„Prinzlein, Prinzlein, komm, dann kriegst du Käse!“
Aber nein, heute half alles miteinander nichts. Viele hörten, aber keiner antwortete. Die Kühe, das Pferd im Stall und alle kleinen Vögel im Garten hörten es – der aber, dem es galt, hörte nichts.
Er lag so weich und warm auf seinem Heu, atmete ruhig und schlief und dachte weder an Käse noch an sonst etwas.
Erst als die Kinder in den Heuschober kamen und riefen, spitzte er die Ohren und hob den Kopf hoch. Da er aber fürchtete, die Kinder würden ihn mitschleppen und er könnte zu spät zu seiner Verabredung kommen, antwortete er keinen Ton. Er machte sich statt dessen zu seinem Ausflug bereit. Er spuckte auf die Pfote und rieb sich ordentlich oben auf dem Kopf, wo er eine kleine Beule bekommen hatte.
Dann dehnte und reckte er seinen Körper, um ihn recht geschmeidig zu machen, und fing dann an, sich an der Seite zu lecken. Eine von den Elstern hatte ihm ein Loch ins Fell gehackt, das tat ziemlich weh, aber nachdem er die Wunde eine Weile mit seiner Zunge beleckt hatte, spürte er nichts mehr.
Zum Schluss wetzte er sich seine Krallen etwas an einem Balken und kraulte sich mit einem Hinterbein unter dem Kinn.
Zu all dem brauchte Silberpelz natürlich Zeit, und daher wurde er auch nicht vor Einbruch der Dunkelheit fertig. Aber da erhob er sich auch schnell und schlich sich vorsichtig aus dem Schober.
Am Rand des Gartens entlang war ein kleiner Graben. Sicherheitshalber kroch Silberpelz in den hinunter und erreichte so ungesehen die Zauntüre.
Kurze Zeit darauf saß er auf dem Zaunpfahl, und einen Augenblick später kam Schneeweiß angeschlichen.
Auf dem Kriegspfade
„Bist du fertig?“, flüsterte sie.
„Ja“, antwortete Silberpelz und sprang herunter.
„Dann machen wir uns gleich auf den Weg!“
Sie schlugen einen schmalen Pfad ein, der über einen Acker führte. Schneeweiß voran und Silberpelz hinterher. Ab und zu blieben sie stehen, horchten und sahen sich um – – was war das für ein Schwarzes dort? Nein, das war nur eine alte Krähe, die sich Würmer aufpickte. Aus manchen Fenstern kam ein Lichtschein, Und die Büsche waren schon voller Schatten, die still zwischen den Blättern hervorkrochen. Aber je dunkler es wurde, desto besser konnten Schneeweiß und Silberpelz sehen.
Sie waren ein Ende gegangen, als sie etwas sausen und brausen hörten. „Was ist das?“, fragte Silberpelz.
„Das ist nur ein Fluss“, antwortete Schneeweiß. „Hier angle ich zuweilen im Herbst Forellen. Ich setze mich dann auf einen Stein unten am Wasser und lauere, bis ein Fisch so nahe an den Stein herankommt, dass ich ihn mit der Pfote erwischen kann. Übrigens bin ich nicht der einzige Liebhaber – Reineke kennt diesen Angelplatz ebenfalls und sitzt oft schnüffelnd am Ufer. Wenn das Wasser seicht ist, watet er zwischen den Steinen und steckt seine Schnauze in die Pfützen.“
„Fängt er dabei was?“
„Ach ja, dann und wann mal einen halbtoten Fisch, wenn er rechtes Glück hat!“
Jetzt waren sie bis dicht an den Fluss herangekommen, der in eine Klamm zwischen großen Steinblöcken und knorrigen Baumwurzeln hinabschäumte. Die ersten Sterne spiegelten sich bereits im Wasser, es sah aus, als ob Feuerschlangen auf dem Grunde herumkröchen.
„Hier müssen wir hinüber“, flüsterte Schneeweiß und betrat ein schmales, glattes Brett, „wenn wir nun bloß nicht Reineke begegnen!“
„Als ob der uns was tun könnte!“, wollte Silberpelz gerade antworten. Aber im selben Augenblick legte sich Schneeweiß flach auf das Brett, und Silberpelz blieben die Worte im Halse stecken.
„Was ist das?“, fragte er stattdessen.
„Da drüben auf der andern Seite im Gebüsch bewegt sich was.“ – Beide blieben spähend liegen, sträubten die Schnurrbärte und drehten ihre Ohren.
Silberpelz’ Herz fing vor Spannung an zu klopfen; aber Angst hatte er kein bisschen, er machte sich ebenfalls so flach wie möglich und zuckte nicht einmal mit dem Schwanz.
Wirklich, da bewegte sich etwas unter einem Erlenbusch. Einmal sahen sie deutlich ein blankes Auge, das hinter dem Laub aufblitzte – aber im nächsten Augenblick war es schon wieder verschwunden. Wenn sie ganz scharf hinhorchten, hörten sie manchmal einen schmatzenden Laut, als wenn jemand etwas verzehrte.
„Wir schleichen uns näher“, flüsterte Schneeweiß.
Wie zwei Schnecken krochen sie über die Planke, eine weiße voran und eine graue hinterher – dann erhob sich Schneeweiß auf einmal in ihrer vollen Größe.
„Wenn’s weiter nichts ist!“, sagte sie verächtlich, „das ist ja bloß ein lumpiger Otter, an dem können wir ruhig vorbeigehen, der guckt nicht mal auf!“
Silberpelz hatte noch nie einen Otter gesehen, deshalb betrachtete er ihn neugierig, als sie sicher über die Planke gekommen waren. Er war ziemlich groß, hatte ein dickes, weiches Fell und einen langen Schwanz, aber seine Beine waren kurz, und zwischen den Zehen hatte er Schwimmhäute. Sein Kopf war rund, und er hatte wie Silberpelz einen Schnurrbart; mit der einen Pfote hielt er eine, große Forelle gepackt, die er mit gutem Appetit verschmauste.
„Mahlzeit!“, sagte Silberpelz freundlich; er fand, er müsse etwas sagen.
Aber der Otter gab keinen Laut von sich, sein eines Auge blitzte nur einen Augenblick lang nach der Planke hinüber. Er hob nicht mal den Kopf hoch.
Gleich darauf befanden sie sich im Wald.
Unter den Bäumen war es schon mächtig dunkel, aber Schneeweiß fand trotzdem den Weg. Gewandt und behände schmiegte sie sich durch das Heidekraut, kroch unter dichten Sträuchern hindurch und sprang über Zäune und Einfriedigungen – man merkte, dass sie den Weg gut kannte. Erst als sie ziemlich lange gegangen waren, hielt Schneeweiß an und sah sich um.
„Nun?“, fragte Silberpelz erstaunt.
„Höre mal“, antwortete Schneeweiß, „da drüben in dem Hügel wohnt nämlich ein Dachs, ein alter Strolch, der seinen ganzen Keller mit guten Esswaren angefüllt hat – wollen wir dort nicht einen Besuch abstatten und ihm etwas mausen?“
Silberpelz war gern dabei – jedoch – –
„Bist du sicher, dass er nicht zu Hause ist?“
„Jawohl, er ist bloß tagsüber zu Hause.“
„Wo ist er denn jetzt?“
„Jetzt pflügt er, denke ich mir; bei uns in der Nähe ist ein kleiner Acker, da wühlt und gräbt er jede Nacht, vielleicht hat er dort mal was verloren –.“
Als Silberpelz dies hörte, war er gleich bereit.
„Dann also los“, flüsterte Schneeweiß und schlich voran, „das ist eins, zwei, drei gemacht!“
Der Bau lag ein Stück von ihrem Wege ab in einem steilen Hügel unter ein paar Eichbäumen. Schneeweiß war wohl bereits öfter dort gewesen, denn sie ging gleich auf die Türe zu und steckte ihren Kopf in den Gang. So blieb sie eine Weile stehen, witterte und lauschte, den Schwanz steif hinter sich haltend. Aber dann streckte sie ihn auf einmal hoch in die Luft.
„Jawohl“, sagte sie, „ich habe recht gehabt, er ist schon seit einer ganzen Weile auf Arbeit ausgegangen.“
Damit schlüpfte sie hinein, und Silberpelz folgte getrost nach. Er war nicht derjenige, der andere im Stiche ließ.
Die Räuber im Dachsbau
Der Gang führte schräg in die Erde hinein. Er krümmte sich zwischen Wurzeln und Gestein vorwärts und verzweigte sich oft nach beiden Seiten. Ab und zu weitete er sich zu einem ganzen Zimmer mit zwei oder drei Türöffnungen aus, wobei er selbst immer tiefer in die Erde hinunter führte.
„Er hat eine feine Wohnung, das muss man ihm lassen“, bemerkte Silberpelz. „Wieviel Zimmer hat er denn eigentlich?“
„Oh, eine Masse“, antwortete Schneeweiß. „Er hat Zimmer, die er im Winter benutzt, und welche, die nur für den Sommer eingerichtet sind, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Speisekammer. Wenn wir uns nur durchfinden!“
Sie tappsten eine Weile schweigend weiter, dann fing Schneeweiß an zu schnuppern. „Ich finde, hier riecht’s so!“
„Das finde ich auch.“
Kurz danach kamen sie in eine große Kammer, wo in der einen Ecke eine Pritsche aus Laub, Moos und weicher Rinde gemacht war. Sie befanden sich nun schon ziemlich tief unter der Erde.
„Hier ist sein Bett“, sagte Schneeweiß. „Nein, sieh nur, wie weich er liegt!“
Aber Silberpelz hatte keine Zeit, an das Bett zu denken, all sein Sinnen war auf die Speisekammer gerichtet. Er ging herum, roch und schnupperte, steckte seinen Kopf überall hinein und fühlte manchmal mit der Pfote nach.
Wo mochte sie nur sein?
Auf einmal spürte er etwas, das unter seiner Tatze anfing zu rollen. Herrje! – eine dicke Kartoffel!
„Hast du was gefunden?“, fragte Schneeweiß.
„Ja, seinen Kartoffelkeller hab’ ich jedenfalls aufgestöbert.“
Damit kroch Silberpelz in das Loch, aus dem die Kartoffel gekommen war. Am Ende fand sich da noch manches andere. Ja, wahrhaftig, da lagen ein paar fette Knochen und zwei frische Vogelflügel.
„Pass mal auf“, sagte Silberpelz, „jetzt bin ich auf der rechten Fährte!“ Im selben Augenblick stieß er mit dem Kopf gegen eine große Birkhenne.
„Schneeweiß“, rief er, „komm, komm!“
Gleich darauf standen beide an dem Vogel und rissen und zerrten daran, dass die Federn nur so stoben. Sie hatten grässlichen Hunger und nagten aus Leibeskräften.
„Möchte wissen“, sagte Silberpelz, als er den ersten Hunger gestillt hatte, „was der Alte wohl sagt, wenn er nach Hause kommt und entdeckt, dass wir ihm seinen Braten verzehrt haben. Den wollte er sich sicher zu morgen Mittag aufheben.“
„Er kriegt natürlich die Wut, aber er denkt, dass es Reineke gewesen ist. Das wäre nicht das erste Mal, dass ihn der bestohlen hätte.“
Silberpelz sah mit vollen Backen auf.
„Und wenn nun Reineke wirklich käme, während wir uns hier gütlich tun?“
„Ja, das würde für ihn schlimmer ablaufen als für uns. Er kann in den niedrigen Gängen hier unten nicht aufrecht stehen, sondern muss sich ganz flach machen und auf dem Bauche kriechen; er kann sich auch nicht eher umdrehen, als bis er in eins von den Zimmern kommt. Ich denke, wir würden es ihm schön versalzen, und er würde sich freuen, wenn er wieder mit heiler Haut draußen wäre!“
Es gibt ein Sprichwort: Wenn man vom Wolf spricht, ist sein Schwanz nicht weit ab, und das stimmt oft ganz sonderbar. Auch hier war es so. Zwar kam nicht der Wolf in Betracht, sondern sein Kollege Fuchs.
Kaum hatte Schneeweiß zu Ende gesprochen, als sie etwas auf dem Gang scharren hörten.
„Pst!“, sagte Silberpelz und hob die Pfote.
Sie hielten beide den Atem an und lauschten. Wirklich, da scharrte es wieder ganz deutlich, – es hörte sich an, als ob sich jemand auf dem Bauch vorwärtsschob, es knirschte und schabte auf der Erde.
„Das ist Reineke“, flüsterte Schneeweiß und stand auf; „aber hab’ du nur keine Angst, wir werden das Ding schon deichseln!“ Und ehe Silberpelz noch begriffen hatte, was sie wollte, stellte sie sich dicht an die Wand, wo der Gang einmündete, auf die Lauer und hielt die Krallen bereit.
Silberpelz wollte nicht zurückstehen und postierte sich auf der andern Seite, – so standen sie beide und warteten mit erhobenen Tatzen und ausgestreckten Krallen. Steckte Reineke seine Schnauze vom Gang aus herein, so erging es ihm zehnmal ärger, als wenn er damit in ein Wespennest geriet.
Jetzt ertönte das Scharren ganz in der Nähe – – aber dann wurde es einen Augenblick lautlos still.
Schneeweiß und Silberpelz sahen sich an – was sollte das vorstellen. Ahnte der Schuft am Ende, dass die Luft nicht ganz rein war?
Aber auf einmal kam eine spitze Schnauze zwischen ihnen zum Vorschein. Die witterte misstrauisch nach beiden Seiten; aber noch bevor ihr Eigentümer sie zurückziehen konnte, hackten zehn nadelspitze Krallen auf sie ein und kratzten und zerfetzten sie mit aller Macht.
Reineke stieß ein entsetzliches Geheul aus und zuckte zurück, und Silberpelz und Schneeweiß schrien ebenfalls aus vereinten Kräften. Und dabei fauchten sie wie giftige Schlangen, prusteten und sträubten sich, dass ihnen die Funken aus den Haaren sprühten.
Sicherlich hatte Reineke den Dachsbau nicht zum ersten Mal besucht, aber ebenso sicher war ihm dergleichen noch nie passiert. Er verlor daher vollkommen jegliche Lust, sich weiter vorzuwagen, und trat rückwärts krauchend, mit dem Schwanz vorne weg, den Rückzug an.
„Jetzt müssen wir uns sputen“, raunte Schneeweiß, „wir drücken uns derweil durch den Hintereingang.“ Sie eilte in einen schmalen Gang, der schräg nach oben führte, und nach wenigen Augenblicken waren sie beide aus dem Bau heraus, noch ehe Reineke halbwegs weiter gekommen war, und rannten durch den Wald fort. Wie der Wind jagten sie zwischen den Bäumen weiter; hoch über ihnen schienen die Sterne, auf dem Moos lief es sich so wunderbar weich, und in der Ferne winkte ein freundliches Licht – das war ihr Ziel.
Auf in den Kampf!
Es war ziemlich spät geworden, als sie endlich ankamen, die Haustür war daher schon längst zu. Aber das Fenster, wo die Frau wohnte, war erleuchtet, und da wussten sie, dass sie daheim war.
Schneeweiß sprang mit einem Satz auf das Fensterbrett und legte den Kopf an die Scheibe.
„Miau!“, sagte sie mit ihrer freundlichsten Stimme.
„Wau!“, antwortete es von drinnen.
„Miau“, sagte Schneeweiß noch einmal, „es ist weiter nichts, ich bin’s nur!“
Drinnen bellte es wieder: „Wau – wau!“
„Nanu?“, fragte eine erstaunte Stimme, und ein großer Schatten wurde auf der Gardine sichtbar, „war hier nicht eben eine Katze?“
Eine Hand tastete zwischen den Blumen am Fenster, und gleich darauf kam ein altes, runzliges Gesicht hinter der Scheibe zum Vorschein.
„Nein, nun frag’ ich einen Menschen“, ertönte es laut, „ist das nicht unsere Schneeweiß? Ja, ich komm’ gleich, wart’ – –“
Das Gesicht verschwand, zwei Holzpantoffel kamen angeklappert, und sie hörten, wie der Türriegel beiseitegeschoben wurde. Der Schlüssel wurde umgedreht, und in der Tür stand die Frau, die Lampe in der Hand, und freute sich übers ganze Gesicht.
„Guten Abend, Schneeweiß! Nein, nein, ich hab’s ja immer gesagt, solche Katze wie du gibt’s in der ganzen Welt nicht mehr!“
Und als sie Silberpelz erblickte:
„Nein, was du für eine hübsche Miez mitgebracht hast! Ja, wenn du ebenso gut jagen kannst, wie du hübsch aussiehst, sollst du mir wahrhaftig herzlich willkommen sein, denn jetzt haben sich hier so eine Masse Ratten angesammelt, dass ich mir abends Holzscheite ins Bett mitnehmen muss, um etwas zu haben, womit ich nach ihnen werfen kann!“
„Wau“, sagte Klaus hinter ihr, sträubte sich und fletschte die Zähne. Aber nun war der Frau sein Gebläff zu dumm, sie schimpfte ihn tüchtig aus und wies ihn in seinen Winkel zurück.
„Kusch dich augenblicklich, oder du kriegst den Stock zu kosten!“, sagte die Frau. So eine nette alte Frau hatte Silberpelz in seinem ganzen Leben noch nicht getroffen. Sowie sie ins Zimmer gekommen waren, bekam jeder von ihnen einen großen Napf voll Milch und ein großes Stück selbstgebackenen Kuchen. Danach machte sie ihnen ein feines, weiches Bett in ihrem besten Stuhl zurecht und rückte ihn in einen warmen Winkel. Dabei lobte sie die beiden die ganze Zeit.
„Wirklich ein Glück, dass ihr gekommen seid“, sagte sie, „ich weiß nicht, was sonst aus mir geworden wäre. Ich bin so alt und gebrechlich geworden, dass ich mich kaum durchs Zimmer schleppen kann, sonst hätte ich Schneeweiß schon längst geholt. Wenn ich nicht den Klaus bei mir hätte, würden mich die Ratten wahrscheinlich eines schönen Tages bei lebendigem Leibe auffressen. – Aber nun hoffe ich, ihr fangt so viel wie möglich und macht ihnen den Garaus. In den meisten Türen hier sind bei mir Katzenlöcher, ihr könnt also im ganzen Haus herumspazieren. Ich will euch ewig dankbar sein, wenn ihr mir altem Geschöpf für eine Weile Nachtruhe verschafft.“
Silberpelz und Schneeweiß verstanden jedes Wort. Sie lagen behaglich auf ihrem Stuhl, schnurrten um die Wette und sahen die Frau mit ihren großen grünen Augen an. Sie könne ganz ruhig sein, meinten sie, um zu faulenzen seien sie wirklich nicht hergekommen.
„Wollen wir nicht bald anfangen?“, fragte Silberpelz kurz darauf. Er sehnte sich, seine Krallen zu probieren.
„Ja“, antwortete Schneeweiß, „wir müssen nur so lange warten, bis sich die Frau schlafen gelegt hat und es im Hause still wird.“
Auf dem Boden über ihnen polterte es.
„Na, na“, sagte die Frau, „immer sachte da oben! Wenn ich heute Nacht an eurer Stelle wäre, würde ich mich jedenfalls anders benehmen, das könnt ihr mir glauben, ihr Lumpengesindel!“
Dann nickte sie Schneeweiß und Silberpelz zu und fing an, sich auszuziehen. Sie stellte ihre Holzpantoffel hübsch vors Bett und hing ihre Strümpfe über die Stuhllehne, kroch dann in die Federn und band sich ihre Nachthaube um.
„Gute Nacht“, sagte sie und machte die Lampe aus. „Wenn ich euch helfen könnte, würde ich’s wahrhaftig gern tun, aber ihr schafft’s schon am besten allein.“
Nun wurde es ganz still im Zimmer. Klaus schnarchte nur manchmal in seinem Winkel, sonst war kein Laut zu hören.
Da hob Schneeweiß den Kopf hoch, streckte die Krallen aus und dehnte sich.
„Jetzt geht’s los!“, flüsterte sie und sprang lautlos auf die Erde. „Folge mir nur nach!“
Damit schmiegte sie sich durch das Katzenloch.
Eine fürchterliche Schlacht
In so einem alten Haus sind viel sonderbare Schlupfwinkel. Schränke und Verschläge sind in den Wänden, überall führen Treppen hinauf, alte Truhen und rostige Ofen stehen herum, Braukessel, Herde, Backofen und eine Rolle – und schließlich ist oben ein Trockenboden, wo allerhand Plunder, Kram und Gerümpel liegt. Da können die Ratten Versteck spielen, zwischen den Wänden hin und her galoppieren, auf Kisten, Kasten und Borte klettern und wieder hinunterspringen, dass es im ganzen Hause poltert und bumst. Hier können sie sich auch schlagen oder sich in Ruhe und Frieden Nester bauen – so ein Boden kann zu allem möglichen benutzt werden. Hier halten sie Bälle und Beratungen ab, hier fressen sie sich auch gegenseitig auf, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. –
Schneeweiß kroch schnurstracks die Bodentreppe hinauf und Silberpelz folgte ihr auf den Fersen nach. So leise, leise traten sie auf, so weich setzten sie ihre Pfoten, als hätten sie dicke Filzpantoffeln an …
Bums! ertönte es über ihnen; in den Wänden nagte es, und über Bretter und Balken ging ein Gelaufe und Getrudel, bums, bums! Stroh und Papier raschelte und knisterte, und in einem Winkel piepste und quietschte es in einem fort.
Aber je toller der Krach wurde, desto vorsichtiger schlichen Schneeweiß und Silberpelz vorwärts. Sie duckten ihren Leib und machten sich so klein und niedrig wie nur möglich – schließlich glitten sie wie zwei Schlangen durch die Luke auf den Boden.
Da stellte sich jeder von ihnen hinter einer Kiste auf und streckte spähend den Kopf vor.
Silberpelz hatte in seinem Leben eine Masse Ratten gesehen, aber so viel auf einmal wie hier waren ihm doch noch nicht vorgekommen. Sie liefen zu ganzen Scharen über den Boden, krochen an den Sparren entlang und tanzten in den Winkeln. Manche hockten aufrecht wie Eichhörnchen und hielten die Vorderpfoten an den Mund, als wenn sie etwas schmausten, andere standen auf den Hinterbeinen und langten nach einer Leine hinauf, die von der Decke herunterbaumelte. Zwei Stück brachten ein Schaffell angezogen, daran schleppten sie so schwer, dass sie sich ganz flach auf die Erde legen mussten. Eine kam mit einem leeren Butterbehälter angerollt, sie ging auf zwei Beinen und mit den andern beiden schob sie aus Leibeskräften. Eine gab Seiltänzervorstellungen oder dergleichen, sie balancierte auf der Lehne eines hohen Stuhles, ohne auch nur ein bisschen schwindlig zu werden, und eine andere stellte wohl einen Zimmermann vor, denn sie sägte und hobelte an einem mächtigen Balken. Fast alle waren so groß und dick, dass man sich rein entsetzen konnte; am allerfettesten aber war der Zimmermann. Sein Rücken war so breit wie der eines sechs Wochen alten Hundes, und die Späne, die er losbiss, waren stark wie Streichhölzer.
„Bleib du hier“, flüsterte Schneeweiß, „dann schleich ich mich hinten herum und wir kriegen sie zwischen uns!“
Wie ein Aal glitt sie zwischen ein paar riesigen Tonnen hindurch und verschwand ohne jedes Geräusch im Dunkeln.
Silberpelz wurde die Zeit sehr lang, bis Schneeweiß an ihr Ziel gelangte. Er stierte immerwährend den Zimmermann an und maß ihn von oben bis unten. Meinetwegen kannst du so stark sein wie du willst, dachte er, Angst habe ich doch nicht vor dir!
Die Ratte mit dem Butterbehälter war nun zwischen ein paar alte Ziegelsteine geraten und konnte keinen Schritt weiterkommen, so sehr sie sich auch abquälte, die Steine wegzuschieben und aus dem Weg zu räumen.
Denen mit dem Schaffell war’s nicht viel besser ergangen, denn zwei andere Ratten kamen hinzu und zerrten und zogen nach der entgegengesetzten Richtung.
Am klügsten von allen machte es eine, die sich mitten auf das Fell setzte und daran knabberte. Sie ließ sich von den vier andern hin und her ziehen, ohne sich im geringsten um deren Mühsal zu kümmern. Sie stopfte nur so viel wie sie konnte von dem Fell in sich hinein und ließ die andern ruhig schreien und sich zanken …
Auf einmal erblickte Silberpelz zwei schimmernde Punkte am andern Ende vom Boden. Zugleich stieß die Ratte auf der Stuhllehne einen gellenden Pfiff aus und ließ sich auf die Erde plumpsen.
Das musste wohl ein Warnungssignal sein, denn eins, zwei, drei wurde der ganze Fußboden lebendig. An allen Ecken und Enden wimmelte es von Ratten, von allen Kanten stürzten sie hervor und konnten ihre Löcher nicht finden. Manche wollten hierhin, andere dorthin, eine krauchte unter eine alte Zeitung, eine andere versteckte sich in einem zerbrochenen Krug. Und ein Teil lief kopflos hin und her und wusste nicht, wohin …
Aber ehe noch welche von ihnen entwischen konnten, fuhr schon etwas Großes, Weißes mitten unter sie.
Kratsch! ging es, kratsch, kratsch! –
Schneeweiß hatte mit der Jagd begonnen. Sie sprengte in den Schwarm hinein, schlug mit der Tatze zu, biss um sich und machte so lange Sprünge, dass sie überall zu gleicher Zeit war. Es half ihnen nichts, dass sie versuchten, sich vor ihr zu verstecken, Schneeweiß’ große, grüne Augen sahen alles. Wutsch! ging ihre Pfote quer durch die Zeitung und traf die darunter Sitzende gerade im Genick, und schwupp! fischte sie sich die andere aus dem Krug vor …
Kaum hatten die Ratten begriffen, wer zu Besuch gekommen war, als sie alle nach der Bodentreppe zuströmten, um sich dort zu retten. Aber da kamen sie vom Regen in die Traufe! Denn dort lag Silberpelz auf der Lauer, und der war nicht weniger gefährlich. Im Handumdrehen war er wie ein Ungewitter über ihnen. Seine Tatzen sausten wie die Blitze auf die ganze Horde herab, einer nach der andern raste er nach und zerbiss sie wie Fliegen. Es nützte ihnen nichts, dass sie ab und zu versuchten, sich zur Wehr zu setzen und wieder zu beißen. Silberpelz kam nur mit einem Satz auf sie zugesprungen, und da half alles nichts. Natürlich gelang es manchen, in ihre Löcher zu entkommen, aber der Rest lief wie wild zwischen Schneeweiß und Silberpelz hin und her. Einige wurden schließlich so irr und wirr, dass sie ihnen geradezu in die Pfoten hineinliefen, als wollten sie sich dort verbergen.
Aber plötzlich bekam Silberpelz den Zimmermann zu Gesicht. Er hatte sich nur hinter dem Balken hingekauert und glotzte von da aus.
Wart nur, jetzt krieg ich dich, dachte Silberpelz und zielte nach ihm.
Aber da erhob sich der Zimmermann und fletschte die Zähne. Es hatte den Anschein, als wollte er sich nicht so ohne weiteres ergeben: er stellte sich auf die Hinterbeine, den Rücken gegen die Wand gelehnt und riss den Mund auf, dass seine Zähne Im Dunkeln leuchteten.
„Versuch’s doch“, hieß das, „hier stehe ich und warte und habe keine Angst, wenn du auch noch so groß und fett bist!“
Na, Silberpelz hatte auch keine Angst, und deshalb fuhr er auf ihn los. Er hielt seine Tatzen wie zwei steife Bajonette zum Angriff bereit, aber ehe er noch recht zur Besinnung kam und mit den Krallen zuhauen konnte, drehte der Zimmermann irgendwie seinen Kopf herum und biss sich in Silberpelz’ Hals fest. Da blieb er wie ein feister Egel sitzen, so sehr Silberpelz auch kratzte und hieb. Er hing an seinen langen, weißen Zähnen, mit denen er sich durch das Fell hindurchgebissen hatte, fest, und ließ sich auf dem Boden hin und her schleifen. Das tat entsetzlich weh. Der arme Silberpelz fauchte, prustete und kugelte sich auf dem Boden herum. Dazwischen warf er den Kopf nach allen Seiten und versuchte, die Ratte abzuschütteln – aber nein, die saß ihm so fest wie sein eigener Schwanz. Da fiel ihm auf einmal die Frau ein, die würde ihm sicher helfen, und ohne sich lange zu besinnen, schoss er wie ein Wirbelwind die Treppe hinab, so dass die Ratte dabei tüchtig gegen die Stufen klatschte, und schnurstracks in das Zimmer zu der Frau hinein.
„Miau“, sagte er mit kläglicher Stimme und setzte sich auf den Bettvorleger, „ach bitte, bitte, hilf mir doch!“
„Wau – wau“, sagte Klaus unterm Tisch und tat, als sei er böse, „wau – wau!“
Hätte Klaus nicht gebellt, wäre die Frau wohl nicht aufgewacht, denn sie schlief gerade so wunderschön, da aber setzte sie sich im Bett hoch und machte schnell Licht.
„Was ist denn nun los“, sagte sie und sah sich um, „sind etwa schon wieder Ratten hier drinnen?“
Da erblickte sie Silberpelz, der sich mit der großen Ratte abquälte – sie hing ihm wie eine große Glocke am Hals.
„Du liebe Güte“, rief sie aus und kletterte rasch aus dem Bett, „was man nicht alles erlebt!“
Damit holte sie die Feuerzange vom Ofen und klemmte den Zimmermann darin fest – da musste er wohl oder übel loslassen.
Kaum aber war Silberpelz von ihm befreit, als er einen Luftsprung machte und die Ratte aus der Zange schlug.
Bums – da lag sie auf der Erde, tot wie ein Stein.
Die Wasserfahrt
Fast zwei Wochen lang blieben Silberpelz und Schneeweiß bei der Frau. Da war beinahe keine Ratte mehr im ganzen Hause übrig. Aber sie hatten inzwischen auch so viele gefangen, dass sie kaum zu zählen waren. Allein nach der ersten Nacht hatte die Frau über einen halben Eimer wegschaffen müssen! Zuletzt wurde es ganz still im Hause. Keine rollte mehr Butterbehälter auf dem Boden, sägte Balken oder spielte Versteck zwischen den Kisten. Keine trabte auf den Treppen oder quietschte in den Winkeln, keine stahl und plünderte mehr in den Schränken, tanzte auf den Tischen oder balancierte auf Stuhllehnen. Keine störte mehr weder Klaus noch die Frau. Er brauchte nachts nicht mehr zu bellen, und sie brauchte sich nicht mehr Holzscheite ins Bett mitzunehmen. Darum verabschiedeten sich Silberpelz und Schneeweiß endlich von der Frau und eilten durch den Wald nach Hause zurück.
Als sie von der Frau fortgingen, war schönes Wetter, sie hatten aber noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als es anfing zu regnen. Erst fielen nur ein paar große, schwere Tropfen, aber nach einer Weile planschte es so vom Himmel herunter, dass aus dem Weg bald ein breiter Bach wurde.
„Wir müssen irgendwo untertreten und den Regen abwarten“, meinte Silberpelz und setzte sich unter einen dichten Wacholderstrauch, „es wird ja hoffentlich auch mal wieder aufhören!“
Aber das tat es nicht so bald. Die Wolken wurden immer dunkler und der Regen immer dichter. Es triefte, rieselte und rauschte um sie, und alle Baumstämme wurden bis unten hin nass. Der Regen lief durch Kiefern-, Eichen- und Tannenzweige hindurch, und schließlich drang er auch durch ihren Wacholderstrauch. Als er endlich aufhörte, waren Silberpelz und Schneeweiß klitschenass am ganzen Körper.
„Brr!“, sagten sie und schüttelten sich, denn Wasser war für sie fast das Ekelhafteste, was es gab, „prost Mahlzeit!“ Sie niesten im Sonnenschein und zwinkerten mit den Augen, während ihnen die Tropfen von den Bärten herunterliefen – es sah aus, als weinten sie beide. Und tripp, tripp! ging es um sie herum, als sie sich wieder vorsichtig auf den Weg machten. Überall zwischen den Bäumen hatten sich Pfützen und Lachen gebildet, sie mussten oft einen großen Umweg machen oder von Stein zu Stein springen, und an manchen Stellen war das Moos so nass und durchweicht, dass sie bis zum Bauch einsanken. Aber es ging doch alles glatt, sie kamen glücklich aus dem Wald, ohne Reineke oder jemand anders zu treffen, und erreichten schließlich die Landstraße. Da sagten sie sich herzlich Lebewohl, und jeder ging seiner Wege.
Als Silberpelz zu Hause ankam, waren die Kinder gerade damit beschäftigt, auf dem Bach hinterm Garten zu segeln. Sie hatten sich einen kleinen Zuber erbeten, der war nun ihr Schiff. „Eins, zwei, drei“, zählten sie, und dann ließen sie den Zuber von oben herunterschwimmen und rannten, so schnell sie konnten, nebenher. Dieses Wettlaufen war sehr spannend und machte ihnen mächtigen Spaß, denn der Bach war von dem Regen stark angeschwollen und der Zuber bekam rasende Geschwindigkeit. Zum Glück führte unten eine Planke über den Bach, da blieb der Zuber mit den Henkeln hängen, sonst wäre er ihnen am Ende fortgesegelt. Nun aber blieb er stets dort liegen und wartete hübsch, bis sie kamen und ihn wieder hinauftrugen.
Wie sie nun beim schönsten Wettlauf mit dem Zuber waren, streckte der Kleinste auf einmal seinen Arm aus und rief:
„Da kommt Prinzlein!“
Alle blieben stehen und guckten – ja wirklich, da kam ihnen Silberpelz entgegengetrippelt. „Miau“, sagte er ganz vergnügt und schüttelte dabei seine Pfote, denn im Gras war’s abscheulich nass.
„Liebling, wo bist du denn bloß gewesen?“
Das kleine Mädchen erhob ihren Finger und sagte, so streng sie konnte:
„Pfui, schäme dich, so lange wegzubleiben!“
Aber der Älteste nahm ihn auf den Arm und sagte glücklich zu den andern: „Jetzt nehmen wir ihn mit und lassen ihn segeln!“
„Ja, ja“, rief das kleine Mädchen, „das soll seine Strafe sein, weil er uns fortgelaufen ist!“
Silberpelz selbst sagte gar nichts. Er war noch nie in seinem Leben gesegelt, darum hatte er auch kein bisschen Angst, sondern ließ sich getrost und gutwillig in den Zuber setzen. Er legte sich ganz fidel auf den Boden, blinzelte mit den Augen und schnurrte. „Hurra“, schrie der Älteste und winkte mit den Armen, „eins, zwei, drei!“ Und damit ging die Reise los.
Im Anfang war es sehr nett. Der Zuber schwamm ganz ruhig und scheinbar unbeweglich auf dem Wasser, und Silberpelz saß mäuschenstill. Aber nach einer Weile wurde die Strömung stärker, der Zuber ging schneller und schneller, drehte sich ein paarmal herum und schoss dann wie ein Pfeil den Bach hinunter.
„Hurra!“, schrien die Kinder wieder und liefen, was die Beine wollten, am Ufer nebenher; solchen Spaß hatten sie noch nie gehabt. „Hoch lebe unser Wildkater, jetzt soll er bis ans Ende der Welt segeln!“
Silberpelz hörte nicht, was sie sagten; er spürte nur, wie der Zuber wackelte, und da wurde ihm ganz anders zumute. Herrje, dachte er, was ist denn bloß los? Aber als er über den Rand gucken wollte, ging es erst recht schief. Denn der Zuber kippelte natürlich, und nun geriet Silberpelz ganz und gar aus dem Häuschen.
„Miau“, sagte er und legte sich wieder unten auf dem Boden hin, und seine Augen wurden ganz schwarz, „bitte, bitte, nehmt mich heraus, dass ich nicht weiter zu segeln brauche!“
Aber je mehr Silberpelz schrie und jammerte, desto größeren Spaß hatten die Kinder.
„Du bist ein schlechter Seemann!“, riefen sie. „Wie kann man bloß solche Angst haben bei dem bisschen Segeln!“
Und als sich der Zuber im selben Augenblick drehte, fügte der Älteste wichtig hinzu: „Du kannst ja nicht einmal steuern!“
Kurz darauf gelangte der Zuber an die Planke. Aber ob nun das Wasser im Bach gesunken war, oder ob es daher kam, dass Silberpelz das Schiff belastete – jedenfalls hielt der Zuber nicht wie vorher an, sondern sauste in voller Geschwindigkeit weiter. Jetzt ertönte ein anderes Lied:
„Halt halt!“, riefen die Kinder. „Kannst du denn nicht halten, du dummer Zuber?“
„Seidenkatzi, Seidenkatzi, warte doch auf uns!“
Aber mochten sie nun nach Silberpelz oder nach dem Zuber rufen – es half alles gleich viel. Die Geschwindigkeit wurde immer größer. So sehr sie auch rannten, Silberpelz und der Zuber fuhren doch schneller. Zuletzt waren sie ihnen so weit voraus, dass die Kinder einsahen, es nützte alles nichts.
„Die Planke hatte daran Schuld!“, sagte der Älteste.
„Nein, du hattest daran Schuld!“, sagte das Mädchen.
Aber der Kleinste steckte den Finger in den Mund und sah dem Zuber mit Tränen in den Augen nach: „Jetzt ist Prinzlein wieder fort!“
In tausend Ängsten
Inzwischen trieb der Zuber mit Silberpelz in rasender Geschwindigkeit den Bach hinab. Immer schneller ging’s, manchmal bumste er mit dem Boden gegen einen großen Stein oder einer von den Henkeln hakte sich am Ufer fest – da drehte er sich dann so schnell herum, dass es Silberpelz ganz schwindlig wurde.
Es dauerte und währte eine lange Weile, dass sie so dahinfuhren; das Wasser rauschte, und die Strömung trieb, der Zuber aber wackelte, ruckelte und bumste – und bald war Silberpelz zum zweiten Mal draußen in der weiten, weiten Welt.
Aber dann wurde es auf einmal fast stockfinster um ihn herum, denn der Bach lief nun unter einer breiten Brücke hindurch. Und dann geriet er in eine enge, gemauerte Gosse, zu deren beiden Seiten Steinwände waren, wo nie ein Sonnenstrahl hineinfiel! Brr! mitten in der Gosse blieben die Henkel oben stecken, und der Zuber stand wie festgenagelt.
Als Silberpelz merkte, dass er anhielt, versuchte er gleich herauszukrabbeln; aber das musste er hübsch bleiben lassen. Es gab keine Stelle, wo er seinen Fuß hinsetzen konnte. Die Wände waren glatt und steil, außerdem reichte die Decke bis auf den Zuber hinunter, er konnte nur gerade noch seinen Kopf vorstecken. So stand er da, hielt mit seinen großen, blanken Augen Umschau und peterte mit seiner Pfote am Rand.
„Miau“, sagte er, und seine Stimme zitterte.
Aber niemand hörte ihn hier unten, außer einer dicken, feisten Wasserratte, die in einer Ritze zwischen zwei Steinen wohnte. Sie streckte ihren Kopf heraus und sah ihn an, schnupperte ein klein wenig zu ihm hinüber und sprang endlich platschend ins Wasser. Dann war sie verschwunden, und Silberpelz saß doppelt verlassen da.
Huh, wie gräulich, wie gräulich! Ihm war, als säße er in einem unterirdischen Gefängnis. Er ging auf dem Boden des Zubers im Kreis herum und kratzte an den Dauben, als ob ihm das etwas helfen könnte. Einmal hörte er deutlich, dass über ihm etwas fuhr, es dröhnte wie Donner in der Gosse und die Steine wackelten – da schrie er aus Leibeskräften los. Aber wer sollte ihn hier wohl hören? Der Wagen fuhr ruhig weiter und bald war er so weit weg, dass er nicht mehr zu hören war.
Ich verhungere, ich verhungere, dachte Silberpelz ganz verzweifelt.
Aber gar so schlimm lief die Sache nun doch nicht ab. Allmählich fiel das Wasser im Bach, und als eine Stunde vergangen war, war es so weit gesunken, dass die Henkel oben loskamen und der Zuber sich wieder in Bewegung setzte. Aber deswegen war die Gefahr noch nicht vorüber. Wohl waren sie aus der ekligen Gosse heraus, aber bald bekam die Strömung die doppelte Geschwindigkeit. Sie schossen durch Wiesen und Felder dahin, unter Erlensträuchern und kleinem Tannengebüsch hindurch, an Häusern, Zäunen und Gärten vorbei, weiter, immer weiter in die Welt hinaus …
Silberpelz schwebte natürlich in tausend Ängsten, denn die ganze Zeit schaukelte und wiegte es, aber er hielt sich doch so tapfer wie er eben konnte.
Nach einer Weile spürte er, dass sie etwas langsamer fuhren, es ruckelte nur noch ganz selten, und zuletzt lag der Zuber ganz still.
Vorsichtig lugte Silberpelz über den Rand – sein Hals wurde lang und länger, er sah vorwärts und sah rückwärts, als könne er seinen eigenen Augen nicht trauen. Das war ihm auch nicht zu verdenken, denn als er das letzte Mal hinausgeguckt hatte, waren Bäume und Häuser noch dicht neben ihm, und nun – nun lag er mitten auf einem großen Gewässer und nach allen Seiten war es weit bis zum Land. Ein schwacher Windstoß trieb ihn weiter; der war aber nicht stärker, als dass er gerade das Wasser kräuselte.
Um ihn schwärmten Fliegen und Mücken, und ab und zu sprang ein Fisch hoch und versuchte, welche zu erschnappen. Es musste hier eine Menge Fische geben, denn es platschte in einem fort, einmal fiel einer beinahe in den Zuber. Er lag einen Augenblick lang auf dem Rand, aber wie Silberpelz gerade die Tatze hochhob und sich schon freute, einen guten Bissen zu bekommen, glitt er wieder ins Wasser.
Ein anderes Mal segelte er dicht an einem großen Vogel vorüber, der paddelnd auf dem Wasser lag. Er hatte einen langen, spitzen Schnabel, der sah ordentlich gefährlich aus, zwei kleine, stechende Augen und um den Hals eine dicke, rotbraune Krause. Gerade, als Silberpelz ihn fragen wollte, ob er ihm nicht ein bisschen behilflich sein möchte, schoss er einen Purzelbaum ins Wasser und war verschwunden. Es tat Silberpelz so leid, dass das arme Tier auf diese Weise ertrinken musste, aber er konnte ihm ja auch nicht helfen. Sicherheitshalber passte er noch eine Weile auf, er konnte ihn jedoch nicht wieder erblicken. Erst als er ein langes Ende weiter gefahren war, sah er seinen Vogel lautlos zwischen ein paar breiten Seerosenblättern auftauchen. Da lag er genau so lebendig wie zuvor, hielt seinen langen, spitzen Schnabel bereit und hatte seinen feinen Federkragen um den Hals. Aber ob der nun wirklich nicht hörte, oder ob er nur solch ein eingebildeter Großtuer war, jedenfalls rief Silberpelz ihn mehrmals an, ohne dass der Vogel auch nur den Kopf nach ihm umdrehte.
Unterdessen war es recht warm geworden. Die Sonne brannte auf den Zuber herab und Silberpelz lag faul auf dem Boden und blinzelte mit den Augen. Sie wurden ihm immer kleiner, manchmal kniff er sie ganz zu, und schließlich rollte er sich zusammen und schlief ein.
Im Kampf mit der Schlange
„Kwiwitt!“, sagte etwas so dicht an seinem Ohr, dass er zusammenschreckte. Aber jemand anders schreckte noch viel mehr zusammen, das war eine kleine Bachstelze, die auf dem Rand des Zubers saß und wippte. Sie sprang vor Schreck ganz hoch, als Silberpelz sich bewegte. Wohl hatte sie gesehen, dass im Zuber etwas lag, aber dass das eine leibhaftige, lebendige Katze war – nein, das hatte sie sich nicht einfallen lassen.
Ein Glück übrigens, dass Silberpelz aufwachte, denn der Zuber befand sich gerade nahe am Land. Aber Silberpelz war jetzt so ungeduldig, dass er nicht erst abwartete, bis er dicht herankam.
Er machte stattdessen einen Riesensprung, und es gelang ihm auch glücklich, mit dem Vorderkörper einen großen Stein zu erreichen, aber sein Hinterteil kam zu kurz – und damit platschte er ins Wasser, dass es spritzte. Bis zu den Vorderpfoten war er unter Wasser, und er musste kratzen und sich festkrallen, was das Zeug hielt, denn der Stein war glatt. Aber schließlich konnte er doch mit einer Tatze ordentlich zupacken und den Rest seines Leibes retten.
Das Schlimmste ist jetzt überstanden, dachte Silberpelz, und schüttelte sich derart, dass rings um ihn herum ein Regenbogen entstand.
„Jetzt fragt es sich bloß, ob ich was zu essen finde.“ Damit drehte er dem Zuber den Schwanz zu und machte sich der Nase nach auf den Weg.
Eine Weile tappste er durch dickes Heidekraut und Blaubeergebüsch, das stand so dicht, dass er kaum sehen konnte, wo er hintrat.
Da hörte er auf einmal etwas fauchen.
Das muss eine Katze sein, dachte er. Komm du nur, vor dir habe ich keine Angst!
Silberpelz ging einen Schritt weiter – nein, keine Katze war zu sehen. Stattdessen erblickte er vor sich einen sonderbaren Ring, der auf einem flachen Stein lag und in der Sonne wie Stahl glänzte. Aber mitten aus dem Ring ragte ein kleiner, länglicher Kopf in die Höhe. Der saß auf einem schlanken, schuppigen Hals und wiegte sich langsam hin und her. Eine dünne, gespaltene Zunge zischelte aus dem Mund.
„Sch“, sagte Silberpelz und sträubte sich, „willst du wohl machen, dass du fortkommst!“
Nein, das fiel der Schlange gar nicht ein. Sie fauchte von neuem und ihre Augen sprühten wie kleine Funken. Ja, Silberpelz wollte ebenfalls nicht ausweichen. Er war nicht weniger störrisch, darum blieben sie beide liegen und passten aufeinander auf, während sie um die Wette fauchten und schnaubten, um sich gegenseitig Bange zu machen. Keiner von ihnen wollte aber anfangen. Die Schlange fürchtete Silberpelz’ Krallen, und Silberpelz fürchtete die Zähne von der Schlange. Nein, keines wollte anfangen, und keines wollte nachgeben. Sie lagen da und starrten sich an, als wolle eins das andere mit Blicken versengen.
Dabei blieben sie eine halbe Stunde, ohne sich eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen – sie zwinkerten nicht einmal …
Aber da wurde es Silberpelz zu dumm.
Ja, wenn du’s nicht wagst, so wage ich’s, dachte er, und damit versetzte er der Schlange blitzschnell eins mit der Kralle. „Da hast du was für den Anfang!“
Die Schlange hieb wütend mit dem Kopfe zu, aber Silberpelz wich leicht und behände aus und traf sie wieder mit der Kralle.
So ging es vier- bis fünfmal, da war die Schlange so rasend vor Wut, dass ihr der Geifer aus dem Mund triefte. Silberpelz wusste, dass der giftig war, daher strich er nach jedem Schlag die Pfote über die Zunge. Er hatte sich halbwegs aufgesetzt und wechselte die ganze Zeit mit den Tatzen ab: wenn er die eine leckte, schlug er mit der andern zu. Es ging immer schneller – freilich, seine Krallen waren nicht giftig, aber scharf wie Dornen waren sie dafür und verfehlten kein einziges Mal ihr Ziel.
Im Anfang wollte die Schlange die Hiebe mit Bissen erwidern, aber nach und nach wurde sie matt und matter. Einmal versuchte sie zu entwischen, aber Silberpelz versperrte ihr den Weg.
Schließlich streckte sie ihren Leib aus und blieb dann regungslos liegen.
Silberpelz drehte sie vorsichtig um und beschnupperte ihren Kopf; dann packte er sie fest am Schwanz und schleppte sie mit sich durch das Heidekraut. Wenn er doch jetzt bloß jemand träfe, damit man sähe, was er für ein Hauptkerl war – aber nein, er erblickte nichts Lebendes, außer einer alten, ausgedorrten Krähe, die vom Wipfel eines Baumes auf ihn hinabschielte. Die wunderte sich wohl, was er für ein Held war – –
Ich muss machen, dass ich zu Menschen komme, dachte Silberpelz, die geben mir sicher Essen und Trinken, wenn sie sehen, was ich geleistet habe!
In Not und Gefahr
Aber es kommt nicht immer, wie man denkt. Als Silberpelz schließlich an ein einsam stehendes Haus gelangte, war niemand daheim. Er ging mehrmals rings herum und rief, wobei er die ganze Zeit die Schlange hinter sich herzog und seine Nase wichtigtuerisch hochtrug. Er versuchte, ob er nicht die Beischlagtür mit der Pfote aufbekam, und klopfte mit dem Kopf an das Kellerfenster – aber ach, nichts half.
Am Ende schlafen die Leute, dachte er, ich will lauter rufen.
Wie er gerade damit anfangen wollte, kam ein mächtiger Hund aus dem Holzschuppen. Er stellte sich hin und rekelte sich, die Schnauze auf der Erde und das Hinterteil in der Luft – es knackte förmlich in seinem Rückgrat. Danach reckte er die Schnauze in die Luft und dehnte den Hinterkörper flach auf dem Boden aus, dass es einem schon beim bloßen Zusehen wehtat. Schließlich streckte er die Zunge weit vor und gähnte sie sich fast aus dem Hals heraus – – erst da erblickte er Silberpelz.
Eine Weile blieb er ganz still stehen, aber dann senkte er den Kopf, als ziele er auf etwas, und kam langsam über den Holzplatz geschritten. So einen großen Hund hatte Silberpelz noch nie gesehen. Er hatte über dem ganzen Körper einen Panzer von gelockter Wolle – da half weder Kralle noch Zahn –, und Tatzen hatte er, so groß wie Mühlsteine.
Am besten ist’s, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, dachte Silberpelz und ließ die Schlange los, es führt zu nichts, wenn ich mich mit dem einlasse! Damit setzte er quer über den Hof und schoss, so schnell er konnte, von dannen.
„Fang mich doch, wenn du kannst!“
Kaum hatte der Hund gesehen, dass Silberpelz ausrückte, als er ihm in vollem Galopp nachrannte. Silberpelz hörte es hinter sich keuchen – o je, da kam er an, dass ihm Sand und Erde um die Pfoten spritzten. Und wahrhaftig, er holte ihn ein! Wie ein Wind jagten die beiden über die Felder, an Steinen vorbei, durch Gebüsche hindurch, über Gräben, Pfützen und Zäune – und jedes Mal, wenn sich Silberpelz umdrehte, war der große Köter schon näher an ihm heran. Jetzt fühlte er einen warmen Atem hinter sich – da erblickte er zum Glück noch im letzten Augenblick eine Birke, und gerade wie der Hund sein Maul aufsperrte und ihn mit einem Happs packen wollte, glitt Silberpelz an dem steilen Stamm empor. Gleich darauf saß er gerettet in den Zweigen und sah in einen schäumenden Rachen hinab.
„Ätsch – bäh!“, rief er.
Aber es hatte nicht den Anschein, als ob der Hund damit alles aufgeben wollte. Er setzte sich ganz ruhig unter den Baum, als habe er massenhaft Zeit, und stierte unentwegt zu Silberpelz hinauf. Er wusste, dass dieser ihm nicht entwischen konnte, früher oder später musste er doch hinabkommen, wenn. er nicht verhungern wollte. Er leckte sich schon ab und zu das Maul, als freue er sich auf einen guten Braten.
Als Silberpelz einsah, dass sich die Belagerung in die Länge ziehen würde, machte er sich’s oben im Baum bequem. Etwas weiter oben teilte sich die Birke in drei Stämme, da legte er sich warm und weich mit eingezogenen Pfoten zurecht und hielt sein Augenmerk auf den Feind gerichtet.
Kommt Zeit, kommt Rat, dachte Silberpelz; konnte der Hund warten, so konnte er es schon lange.
Inzwischen wurde es allmählich Abend. Die Sonne stand schon tief am Himmel und eine Drossel fing an zu flöten. Kurz darauf antwortete ihr in einiger Entfernung eine andere, und bald trillerte und flötete es überall. Auf einmal kam ein Kuckuck angeflogen und ließ sich hoch oben in der Birke nieder.
„Kuckuck“, sagte er, nickte mit dem Hals und wippte mit dem Schwanz, „Kuckuck – Kuckuck – –.“
Wenn man sich gerade unter dem Baum befindet, in dem ein Kuckuck ruft, kann man sich alles Mögliche wünschen, das ist eine alte Sache. Dies wusste zwar Silberpelz nicht, aber er wünschte sich trotzdem die ganze Zeit, dass der Hund Weggehen möchte. Jedes Mal, wenn er hinuntersah, begegneten ihm zwei feurige Augen, die ihn wutentbrannt anstierten, und ein riesiges, schäumendes Maul klaffte zu ihm hinauf, als wolle es ihn auf der Stelle mit Haut und Haar verschlingen. „Wärst du doch wo der Pfeffer wächst“, wünschte Silberpelz, „oder käme doch jemand und jagte dich nach Hause, du Scheusal!“
„Kuckuck!“, rief der Kuckuck, und es hallte vom Abhang wider. Im selben Augenblick ertönte ein Laut in der Ferne – ein feiner, dünner Glockenklang –, und es dauerte nicht lange, bis eine ganze Kuhherde angewandert kam. Voran ging die Kuh mit der Glocke und leitete die andern, sie zupfte sich hier und da einen Grashalm ab oder verscheuchte mit dem Kopf einen Brummer, dann erklang immer ein sanfter Glockenton. Silberpelz blinzelte und blinkerte mit den Augen – – – du liebe Güte, waren das nicht seine Freunde aus dem Sommerkuhstall im Wald, dieselben, die ihm weggelaufen waren, als er schlief? Freilich waren sie’s, alle miteinander, er erkannte jede einzelne. –
„Kuckuck – Kuckuck – – –.“
Auf einmal wurde die Läutekuh den Hund gewahr und setzte im Galopp auf die Birke los, wobei sie ihren Schwanz wütend hochhielt. Die andern blieben einen Augenblick lang witternd stehen, aber dann rückten sie in Reih und Glied mit gesenkten Hörnern und weißrollenden Augen vor – die ganze Birke fing an zu wackeln.
Der Hund hörte wohl das Getrampel, vielleicht roch er sie auch, jedenfalls drehte er sich um und wollte sehen, was es gab. Da aber setzten sich seine Beine in Bewegung.
Die Läutekuh war jedoch schon neben ihm und versetzte ihm einen Stoß, dass er ein Ende weitertrudelte.
„Au“, schrie er und heulte laut auf, nahm den Schwanz zwischen die Beine und rannte los, was er konnte. Die Kühe liefen ihm ein ganzes Stück nach, und erst, als sie meinten, nun sei er weit genug davongejagt, drehten sie um und kehrten ruhig wieder zurück.
Unterdessen war Silberpelz vom Baum hinabgeklettert, und nun spazierte er unbesorgt und froh mitten unter seinen alten Freunden, kaute Gras und schwatzte ihnen etwas vor. Nun, wo sie ihn von dem Hund erlöst hatten, konnte er ihnen ja auch nicht weiter zürnen –
Die Kühe schienen übrigens nicht besonders zum Sprechen aufgelegt zu sein, sie schritten gemessen mit großen, nachdenklichen Augen einher und ließen Silberpelz ruhig reden. Erst als sie in den Wald kamen, wurden sie etwas gesprächiger.
„Ich freue mich, dass wir nun bald zu Hause sind“, sagte eine.
„Ja, heute waren wir weit“, meinte eine andere.
„Auf der Wiese war das Gras herrlich, nicht?“
„Ich bin so satt, ich kann kaum gehen.“
Keine sagte ein Wort zu Silberpelz, bis sie am Gatter ihres Sommerstalles standen. Da drehte sich die Läutekuh um und betrachtete ihn.
„Na", sagte sie, „bist du heute auch wieder unterwegs?“
Bei alten Freunden
Gleich darauf schlug jemand die Hände zusammen: „Nein, guck doch einer an, ich glaube gar, da kommt Besuch!“ Am Gatter stand die Magd, einen Eimer in der Hand und ein Tuch auf dem Kopf, und lachte übers ganze Gesicht.
„Herzlich willkommen, mein Miezekätzchen! Das ist aber mal nett von dir, dass du mich wieder besuchst – ich dachte schon, du hast mich ganz vergessen!“
Sie hob ihn hoch und nahm ihn auf den Schoß.
„Auch mein Zopfband hat er noch – nein, so eine süße Katze wie du gibt’s nicht zum zweiten Mal! Aber wo bist du denn bloß die ganze Zeit gewesen? Ich habe jeden Tag nach dir ausgesehen, ich glaubte schon, du würdest gar nie wiederkommen!“
Unterdessen wurden die Kühe ungeduldig.
„Muh!“, riefen sie und schleuderten ihre Köpfe nach allen Seiten; dabei pusteten und schnaubten sie. Sie wollten nicht länger warten, die Magd sollte endlich mit dem Melken anfangen.
„Na, na, immer ruhig“, schalt die Magd, „erst die Leute, dann das Vieh. Ihr werdet mir doch wohl so viel Zeit gönnen, dass ich meinen Gast begrüßen kann? – Nicht jeden Tag kriegt man so feinen Besuch, sollt’ ich meinen.“
Sie streichelte Silberpelz über den Rücken.
„Ich sollte dir aber eigentlich auch was aufwarten, Miez. – Ja, du musst dich gedulden, bis ich gemolken habe, dann sollst du so viel zu trinken kriegen, wie du Lust hast.“
Es dauerte eine Weile, bis alle Kühe an ihren richtigen Platz kamen, denn sie wollten alle auf einmal hinein und drängten sich an der Tür, und die war eng und niedrig. Aber schließlich fand doch jede ihren Stand, stellte sich zurecht, knabberte, kaute und stampfte; alle sahen sie sich nach der Magd um. Kam sie denn immer noch nicht mit dem Eimer? Es dauerte nicht lange, bis eine anfing zu brüllen, und bald brüllten alle um die Wette, dass der ganze kleine Sommerstall wackelte und bebte. Silberpelz saß auf der Türschwelle und hörte zu, er verstand jedes Wort von dem, was sie sagten.
„Heute komm ich zuerst dran!“, sagte die eine.
„Nein, bitte sehr, ich!“, sagte die andere.
„Ich will heute nicht wieder die Letzte sein!“, meinte eine dritte.
„Haltet euern Mund“, sagte die Läutekuh, „hier habe ich zu gebieten!“
„Ja, aber ich gebe die meiste Milch!“
„Aber meine Milch ist viel fetter!“
„Aber meine Milch schmeckt am besten!“
„Aber ich bin stärker als ihr alle miteinander!“
„Haltet euern Mund“, sagte die Läutekuh wieder und schüttelte ihren Nacken, dass ihre Glocke erklang, „hier habe ich zu gebieten, habe ich gesagt!“
Während die Magd auf ihrem Schemel saß und molk, fiel Silberpelz der scheckige Kater ein – was mochte wohl aus dem geworden sein? Er fing an, in den Winkeln herumzuschnuppern und zu riechen, aber nein, er konnte nichts finden. Die Magd merkte, dass er etwas suchte, und erriet gleich, was das war.
„Siehst du dich nach meiner Katze um?“, fragte sie. „Ja, denk dir, die hat Reineke sich geholt! Kommt er nicht eines Abends her und schnappt sie mir in seiner Frechheit vor der Nase am Gattertor fort, trotzdem ich so wie jetzt hier auf meinem Schemel saß und mit mir selbst sprach, und er also wissen musste, dass ich in der Nähe war! Ich sah ihn, wie er davonlief; meine Katze hielt er am Nacken gepackt. ,Loslassen!’, schrie ich und warf ihm den Milcheimer nach. Aber glaubst du, er hörte darauf? I wo, er kratzte aus, so schnell ihn seine Beine trugen. Aber jetzt hab ich mit dem Jäger geredet, und da soll er seine Strafe gehörig kriegen, der Schuft. Der Jäger hat mir versprochen, er will heute Abend kommen und ihm auflauern; er kann da drüben an der Luke sitzen, und da sollte es mich wundern, wenn Reineke mit heiler Haut davonkommt!“
Als Silberpelz so viel Milch getrunken hatte, dass er nicht mehr konnte, setzte er sich vergnügt in die Luke und spähte in den Wald hinaus. Es war ein stiller, schöner Abend; am Himmel standen kleine, silberhelle Schäfchenwolken. Vom Wald her kam der Duft einer Nachtviole angeweht, und in der Luft schwirrten Mistkäfer herum, brummten und wussten selbst nicht, wohin sie eigentlich wollten. Manchmal bumsten sie so heftig gegen die Wand, dass sie auf die Erde fielen und auf dem Rücken liegen blieben – es sah aus, als hätten sie sich in Grund und Boden geschlagen. Aber wie Silberpelz gerade seine Pfote heben wollte und versuchen, ob er einen fangen könnte, hörte er, dass die Magd mit dem Fuße aufstampfte: „Ksch“, sagte sie, „willst du machen, dass du fortkommst.“
Silberpelz drehte sich eiligst um – – – da stand Mons an der Tür und gaffte.
Die unerwartete Heimkehr
Oherrjemine! dachte Silberpelz, wie kommst du denn hierher? Aber dann packte ihn die Wut. Was hatte Mons hier zu suchen? Konnte er seinen Sommerstall ebenfalls nicht in Frieden behalten? Erst war der Strolch in seinem Hof ein- und ausgegangen, als ob er der Herr im Hause wäre – wollte er am Ende jetzt hier sein Heil versuchen? Hatte er vielleicht ausgeschnüffelt, dass der Scheckige fort war, und gedacht, seinen Platz so ohne weiteres einzunehmen?
„Ksch!“, sagte die Magd von neuem.
Aber Mons blieb ganz frech, ohne sich vom Fleck zu rühren, stehen und tat, als höre er nicht das Geringste. Er spreizte nur seine Barthaare ein wenig, während er mit seinen großen, hässlichen Augen nach der Milchkanne schielte.
Da konnte Silberpelz nicht länger an sich halten:
„Du gefräßiger Dieb, willst du dich gleich fortpacken, und zwar auf der Stelle!“
Und ehe Mons noch zur Besinnung kam, war Silberpelz auf ihn zugesprungen, dass es ordentlich dröhnte, und stand dicht vor ihm. „Marsch, scher dich augenblicklich!“
Mons war es nicht im Traume eingefallen, dass er Silberpelz hier treffen könnte. Er bekam solchen Schreck, dass er einen Luftsprung machte, Milch und alles andere vergaß und nur losrannte, was seine Beine ihn trugen.
Erst als er sich unter den Bäumen im Walde befand und sich sicher glaubte, machte er halt und tat sich wichtig:
„Na, du traust dich wohl nicht, mir nachzukommen?“
Das überstieg denn doch Silberpelz’ Geduld.
„Warte nur, mein Söhnchen“, sagte er, und eins, zwei, drei war er aus der Tür herausgeflitzt und schoss ihm nach. Aber Mons wartete ihn nicht lange ab. Er erinnerte sich auf einmal, dass er zu Hause einen Napf Milch stehen hatte, den er unbedingt austrinken musste, und daher setzte er los, was das Zeug hielt.
„Warte doch“, schrie Silberpelz noch einmal, „hier komm ich schon, hier komm ich ja –.“
Aber Mons hatte es jetzt so eilig, er ließ sich nicht einmal Zeit hinzuhören. Wie auf Flügeln flog er dahin, über Zäune, Gräben und Baumstümpfe, quer durch Gesträuch und Tannendickicht, einen Berg hinauf und den andern hinab – er lief, als koste es das Leben. Aber wie er sich auch sputete, Silberpelz holte ihn immer mehr ein. Jetzt jagten sie über einen großen Acker, spornstreichs auf ein weißes Gartentor zu. Fast gleichzeitig sprangen sie darüber weg, und gerade als Mons die Erde erreichte, packte ihn Silberpelz beim Nackenfell – da konnte er nicht weiter auskratzen. – „Hilfe!“, schrie er aus Leibeskräften.
Im nächsten Augenblick lagen sie sich in den Haaren. „Rrr“, ging es, „ssitt, ssitt!“ Und sie schwirrten beide wie ein großer, böser Kreisel im Sand herum, Kieselsteine stoben und der Staub wirbelte wie eine Wasserhose um sie … Als Silberpelz Mons dann endlich losließ, hatte er ihn aber so verprügelt und so sehr zugerichtet, dass Mons kaum wieder übers Gartentor kam. – –
Erst jetzt bemerkte Silberpelz, dass er daheim in seinem eigenen Garten saß. Da lag das Haus, und da war die Tür zum Keller, da der Holzschuppen und da die Steinmauer! Er hob seinen Schwanz empor und fing an, überall herumzuschnüffeln. Er musste doch zusehen, wie es mit seinem Hof bestellt war. Er guckte durch das Kellerfenster und steckte seinen Kopf zum Holzschuppen hinein, scharrte mit der Pfote im Rattenloch und versuchte, ob das Brunnendach auch noch festsaß – ja, alles war in guter Ordnung.
Schließlich kroch er aufs Dach von seinem Haus und setzte sich, wie es seine Gewohnheit war, oben auf den First. Da fiel ihm die Miete ein, die er als Wirt zu beanspruchen hatte – von Rechts wegen musste er doch jetzt eine Menge zugute haben –?
Aber wie er so auf seinen Pfoten brütend dalag und nachrechnete, kam jemand durch das Gartentor gegangen.
„Silberpelz?“, fragte halb zweifelnd eine Stimme.
Er konnte nichts dafür, ohne es recht zu wollen, drehte er den Kopf nach dem Sprecher herum.
Im selben Augenblick rief die Stimme aus allen Kräften: „Silberpelz ist wieder da, Silberpelz ist wieder da!“
„Was gibt’s?“, ertönte es aus dem Hause, und die Tür wurde krachend aufgestoßen. „Wo ist er denn, wo ist er denn?“
„Da liegt er ja oben auf dem Dach!“
Kurz darauf stand der Hof voller Leute, die ihm zuwinkten und riefen:
„Das ist aber mal famos, dass du wieder zurückgekommen bist, denn jetzt haben die Ratten derart überhandgenommen, dass wir uns kaum noch retten können!“
Der Mond war aufgegangen und schien strahlend auf die Erde …
Pan und Nini
Ninis Jugendzeit
Ich habe schon immer die Geschichte von Pan und Nini erzählen wollen, denn so etwas wie die beiden gibt es wohl nicht zum zweiten Mal; aber bis jetzt ist nie etwas daraus geworden. Das ist eigentlich jammerschade, ich hätte die Geschichte schon längst erzählen sollen, gleich damals, als Nini uns wegkam. Vielleicht hätte uns dann irgend jemand Bescheid geben können, solange er noch lebte. Denn so sehr wir auch nach ihm suchten und forschten und in der Zeitung annoncierten, nichts half – keine Spur von ihm war zu finden. Doch nun will ich von Anfang an der Reihe nach erzählen.
Als wir Nini bekamen, war er eine ganz kleine, junge Katze und hatte gar keinen Namen. Er war fast ganz schwarz, hatte nur weiße Pfoten und eine weiße Schnauze, und sein Gesicht war wie in der Mitte geteilt, so dass jedes Auge in einer andern Farbe saß. Sein Schnauzbart war vorn schwarz; zuerst glaubte ich, er habe sich an einem Kochtopf schmutzig gemacht. Er war spielerisch und zärtlich wie andere junge Katzen, und gleich vom ersten Tage an war er anhänglich. Wenn wir ihn abends hinausließen, saß er am nächsten Morgen auf der Treppe – er antwortete „miau“, wenn wir ihn riefen, grüßte uns mit hochgehobenem Schwanz und lernte bald auf unseren Schultern schlafen. Wir gewannen ihn gleich sehr lieb, gaben ihm viel Milch, damit er groß und stark werden konnte, und verhätschelten ihn nach allen Richtungen.
Sein Lieblingsessen war trockenes Schwarzbrot. Ein paarmal versuchten wir, ihm Butter darauf zu schmieren – aber nein, dann mochte er es nicht.
Von da ab bekam er jeden Morgen seine Scheibe, gleich nachdem wir ihn hereingelassen hatten – eher wollte er seine Milch nicht anrühren. Danach sprang er aufs Fensterbrett, fing Fliegen oder legte sich schlafen.
Es dauerte nicht lange, bis er es von selbst anmeldete, dass er hinaus oder herein wollte.
Jeden Morgen, wenn wir beim Frühstück saßen, ertönte eine dünne Stimme: „Miau!“
„Nein, nein“, antworteten wir drinnen, so fein und liebevoll, wie wir nur irgend konnten, „da kommt er wirklich!"
Und dieses „Nein, nein“, das wir so fein herausbrachten, dass es sich wie „Nini“ anhörte, wurde nach und nach sein Name, dem er besser gehorchte als allem andern.
Freilich passte dieser Name ja eigentlich nicht so ganz, denn Nini war ein Männchen – aber nun hatte er sich halt einmal eingebürgert.
In unserer Nachbarschaft gab es eine Unmasse Katzen. Jede Nacht schlugen und balgten sie sich, rissen sich gegenseitig fast die Ohren ab und machten dabei einen Lärm, dass wir oft aufstehen und Wasser zum Fenster hinausgießen mussten, um etwas Ruhe und Frieden zum Schlafen zu bekommen. Die größte und stärkste von ihnen war ein mächtiges, gelbgraues Ungetüm, ein Kater, den wir den „Tiger“ nannten. Er kriegte alle anderen klein, nahm ihnen ihre Ratten und Mäuse, mir nichts dir nichts, fort und verprügelte sie oft ganz erbärmlich, dass sie tagelang hinkten und humpelten.
Er hielt sich fast immer allein und war mit niemandem gut Freund. Die Kinder trauten sich nicht, ihn zu streicheln, und selbst die Erwachsenen hatten etwas Angst vor ihm – sie mochten seine gelben Augen und mächtigen Krallen nicht leiden. Sie riefen ihm zwar „Miez, Miez“ zu und streckten die Hand aus, aber das war auch alles.
Na – uns gefiel der Tiger ebenfalls nicht, und wenn wir Nini abends hinausließen, war es uns immer etwas beklommen zumute; wir dachten im stillen: Wenn dich heute Nacht bloß nicht der Tiger erwischt! Und wenn wir ihm morgens aufmachten, untersuchten wir erst seine Ohren und Schnauze, ob er etwas abgekriegt hatte und zerkratzt war. Aber nein, wir konnten nie etwas entdecken, Ninis Schnauze war stets weich und zart wie immer und seine Ohren unversehrt.
Das kam uns eigentlich recht sonderbar vor, denn wir wussten, bei einer Katzbalgerei musste Nini unbedingt den Kürzeren ziehen. Aber wir dachten uns, vielleicht rettet er sich auf einen Baum oder versteckt sich im letzten Augenblick.
Eines Morgens nun, als ich von der Jagd zurückkam und ganz still einher schlich, um niemanden im Hause zu wecken – es war früh in der Morgendämmerung und alles schlief noch – wurde ich gewahr, dass sich etwas zwischen ein paar hohen Nesseln bewegte. Einen Augenblick darauf kam der Tiger zum Vorschein mit einem großen Fischkopf im Munde, und dicht hinter ihm folgte Nini.
Ich bekam einen tüchtigen Schreck und dachte: Na, jetzt wirst du was erleben! Und ich rief und lockte Nini und sagte zu ihm, er solle sich doch vorsehen, er habe ja den leibhaftigen Tiger vor sich – aber Nini hob nur seinen Schwanz hoch, miaute mit seinem dünnen Stimmchen und trat so sicher und unbesorgt auf wie nur irgend einer.
Na, ich wollte doch zusehen, was das für ein Ende nehmen würde, und blieb ganz still stehen. Es dauerte nicht lange, bis sich der Tiger daran machte, seine Beute zu verzehren und – was soll man sagen! – Nini ging ganz ruhig auf ihn zu und fraß einfach mit. Der Tiger rückte nur etwas beiseite, damit Nini besser Platz hatte: die beiden waren also die besten Freunde. Und wer wollte da wohl wagen, Nini zu nahe zu kommen?
Als Nini ein halbes Jahr alt war, begleitete er uns auf unseren Spaziergängen. Er trippelte dicht am Wegrand entlang und erschien noch einmal so klein als gewöhnlich. Zuerst hielt er sich an unserer Seite, aber wenn wir ein Stück gegangen waren, wurden seine Schritte merklich langsamer, wir sahen, wie das Köpfchen kleiner und kleiner wurde, und die tapferen Pfötchen blieben immer weiter hinter uns zurück. Kauerte sich aber einer von uns am Wege hin und rief: „Nini“, so kam er schnell und immer schneller angelaufen und miaute uns schon aus weiter Ferne zu.
Weil er aber dabei aus allen Kräften laufen musste, kam sein „Miau“ recht komisch heraus; es hörte sich fast an, als ob ihm jemand auf den Rücken klopfte:
„Miau – au – au – au!“
Freundschaft
Etwa um diese Zeit kam Pan zu uns. Auf der weiten Reise von Oslo bis zu uns war er seekrank geworden, und als ich ihn auf der Dampferbrücke in Empfang nahm, ließ er den Kopf ordentlich hängen. Seiner Abstammung nach war er Irländer; er hatte einen wunderschönen, rotbraunen Pelz mit seidig glatten Haaren, und er war doppelt so alt wie Nini.
Wir hatten eine gute Meile von der Brücke bis nach Hause, und da Pan von der Reise so elend war, dass er beim Gehen förmlich schwankte, ließen wir uns gut Zeit und sputeten uns nicht weiter. Daher war es schon schummerig, als wir zu Hause anlangten. Wie wir gerade die Treppe hinaufgehen wollten, ertönte dicht hinter uns ein Miau. Nini kam über den Hof gesprungen – für ihn war Pan etwas Unbegreifliches. Eins, zwei, drei war er mit seinen weißen Pfoten die Treppe hinauf.
„Miau-au-au“, sagte er, und sein ganzer kleiner Leib zitterte.
In unserer Nähe gab es keine Hunde, daher hatte Nini noch nie so ein Ungetier gesehen. Dass er also Angst bekam, war nicht zu verwundern – dass er aber in dem Maße außer sich geraten würde, hätte ich mir nie einfallen lassen. Ich sah, wie er sich plötzlich auf Beinen, so lang wie Bohnenstangen, in die Luft reckte, sein Buckel wölbte sich wie ein gespannter Bogen, dann setzte er wie eine Heuschrecke mit einem einzigen Sprung wieder die Treppe hinunter und über den halben Hofplatz. Ein kurzes Fauchen und ein schwacher Pulvergeruch, und Nini war fort wie eine Sternschnuppe!
Spät abends kam er wieder zurück. Er miaute leise vor der Türe und es hatte den Anschein, als habe er das Ganze vergessen. Erst als er seine Milch ausgetrunken hatte, fing er an verwundert umherzuschnuppern; er fand wohl, es roch so seltsam im Zimmer, und mitunter ertönte ein mächtiges Geschnarche aus dem einen Winkel – das garstige Tier war doch nicht etwa mit hierhergekommen? Beim bloßen Gedanken sträubte sich ihm sein Fell.
Armer, kleiner, unschuldiger Nini! Noch standen dir viele Schrecken bevor! Das garstige Tier befand sich wirklich drinnen, und keiner, keiner jagte es hinaus! Das garstige Tier fraß und trank – kam sogar in die Küche und beschnüffelte deinen Napf!
Es hört sich freilich ganz unglaubhaft an, aber es ist trotzdem wahr: Kaum waren drei Tage vergangen, da lag Nini bereits zwischen Pans Tatzen und schlief. Allerdings musste ich mich stundenlang abquälen, um die beiden aneinander zu gewöhnen, aber dass es mir überhaupt gelang, finde ich trotz allem immer noch sonderbar. Falls jemand wissen will, wie ich es anstellte, so ist es am besten, dass ich es hier erzähle.
Als Pan am ersten Tage schlief, trug ich Nini ein paarmal an ihm vorbei. Nini zuckte zwar wiederholt kräftig zusammen, aber ich hielt ihn ordentlich fest, so dass er nicht zuspringen konnte. Später gab ich Pan in Ninis Beisein zu fressen, Nini saß am Fenster und war das verkörperte Erstaunen. Das tat ich mehrere Male. Am nächsten Tag rückte ich Pans Schüssel näher ans Fenster, so dass Pan allmählich immer dichter an Nini herankommen musste. Ich streichelte beide und sprach ihnen gut zu; auf diese Weise brachte ich die Schüssel fast ganz nahe ans Fenster. Dann bekam Nini oben auf dem Sofa seinen Napf mit Milch, während ich mich neben ihn setzte. Nach einer Weile lockte ich Pan leise herbei und kriegte ihn auch so weit, dass er näherkam. Wenn Pan schlief, zog ich einen Korken über den Fußboden. Nini sprang danach, und schon am zweiten Tag brachte ich es dahin, dass er über Pans Schwanz sprang. Ich nahm ihn auf den Arm und hielt ihn so, dass er Pan nicht sehen konnte, und wenn er dann anfing zu schnurren, streckte ich ihn vor und ließ Pan an ihm riechen und seine Schnauze in Ninis Pelz bohren. Nini glaubte, dass ich das sei, und dass ich mit ihm spielte, bis ich ihn endlich sehen ließ, wer es eigentlich war. Auf diese Weise brachte ich ihm bei, dass Pan weder biss noch kratzte, und wenn Nini vorläufig auch noch seine Krallen zeigte und fauchte, so konnte man ihm doch schon anmerken, dass sich seine erste Angst gelegt hatte. Am dritten Tag streute ich ihm in der Nähe von Pan Schwarzbrot auf die Erde und lockte Nini immer dichter an ihn heran. Die ganze Zeit setzte ich das Spiel mit dem Korken fort, ließ ihn oft quer über Pan hinweggleiten und richtete es so ein, dass Nini zuweilen auf den Hinterpfoten stand und sich an einem Stuhlbein hochreckte, ohne zu ahnen, dass sich Pans Schnauze dicht hinter ihm befand. Wenn Nini das entdeckte, machte er zwar zuerst einen tüchtigen Seitensprung, war aber kurz darauf wieder an seinem vorherigen Platz. Ich gab den beiden auch gleichzeitig zu fressen, rückte jedes Mal die Näpfe näher aneinander, bis schließlich kaum mehr ein Meter Abstand zwischen ihnen war. Und am Abend des dritten Tages legte ich Nini zwischen Pans Tatzen. Ich sah wohl, wie seine Pupillen groß wurden, aber ich streichelte ihn ein paar Minuten lang, bis er schließlich alles vergaß und mit zufriedenem Mauzen einschlief.
So etwas Seltsames wie die Freundschaft, die sich von nun an zwischen Pan und Nini entwickelte, habe ich nicht wieder erlebt. Ich habe wohl gesehen, dass sich Katzen und Hunde gut miteinander vertragen, – aber Pan und Nini wurden Herzensfreunde, die mit inniger Liebe aneinanderhingen. Wenn wir spazieren gingen, begleiteten uns die beiden; dabei stellte Nini alle möglichen Possen und Streiche mit Pan an, jagte ihn hinter sich her, packte ihn plötzlich beim Schwanz und führte sich ganz wie ein junger Hund auf; manchmal sah es aus, als ob die beiden Versteck spielten. Pan war sonst ein sehr ruhiger, gemessener und gesetzter junger Hund, sobald aber Nini mit seinen Einfällen anhob, war es auch mit Pans Gesetztheit vorbei – er machte lange Sätze und sprang wie ein Kalb.
„Nein, so was“, sagten die Leute und schlugen die Hände zusammen, „guck doch einer bloß mal die beiden an!“
Oft blieben Pan und Nini stehen und liebkosten sich. Nini streckte seine kleine Zunge heraus und leckte Pans Schnauze, schwang zärtlich seinen Schwanz hoch und schmiegte sich an Pans Beine. Und Pan leckte wieder, leckte, bis Nini vor Wonne förmlich stöhnte und sich reckte. Sie unterhielten sich auch gegenseitig, Nini miaute mit der lieblichsten Stimme, die ihm zu Gebote stand, wie ein kurzes „Mrrr“ hörte es sich an, und Pan winselte und gab die merkwürdigsten Laute durch die Nase von sich.
Stets fraßen die beiden aus ein und derselben Schüssel. Die war so groß, dass sich Nini mit seinen Pfoten auf den Rand stellen musste, sonst konnte er nicht hineingelangen. Manchmal nahm er Pan einen Bissen einfach aus dem Munde fort, streckte nur seine Pfote aus und haschte danach, wenn Pan gerade ein gutes Stück erwischt hatte. Pan ließ sich alles ruhig gefallen.
Ich bin ganz überzeugt, dass Nini den andern Katzen erzählte, was für ein famoser Kerl der Pan war, denn allesamt ließen sie ihn in Ruhe. Selbst der Tiger benahm sich ihm gegenüber friedlich und drehte sich kaum nach ihm um, wenn er vorbeiging.
Freud und Leid
Als der Winter kam und es kalt wurde, pflegte Nini in einem Heuschober, der ein Stück vom Hause entfernt lag, zu kampieren. Dort war ein kleines Katzenloch in der Tür, und er konnte ein- und ausgehen, wie es ihm beliebte. Nun geschah es öfters, dass Nini die Zeit verschlief – es war wohl im Heu zu dunkel –, und dann gingen wir hinaus und riefen ihn.
„Nini!“, riefen wir zur Scheune hinüber.
„Miau!“, ertönte nach einer Weile die Antwort, und Nini stand im Katzenloch, blinzelte mit den Augen, weil das Licht ihn blendete, und sah uns an. Niemals riefen wir vergebens, falls er überhaupt in seiner Scheune war; aber wir mussten seinen Namen rufen. Denn „Miez“ oder dergleichen konnte auch einer andern Katze gelten, aber Nini, das konnte nur er sein.
Ich weiß noch genau, Heiligabend war Nini, gerade als wir den Baum anstecken wollten, fortgelaufen. Ich ging zur Scheune und rief ihn, denn ich wollte, er sollte dabei sein. Es war fast stockfinster, ich konnte gerade noch die Luke in der Tür erkennen. – „Nini!“
Es dauerte eine Weile, bis ich Antwort bekam, und ich wollte gerade von neuem rufen, als ein weißer Fleck im Katzenloch erschien.
„Miau!“, ertönte es still und bescheiden. Sonst pflegte ihn abends ja nie jemand zu rufen.
„Nini!“, rief ich von neuem.
Aus dem Loch kugelte etwas hervor, und vier weiße Pfoten kamen über den Hof angesprungen. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn zur Weihnachtsbescherung hinein, und nun tobte er den ganzen Abend mit Pan herum und zeigte nicht weniger Festfreude als wir andern. –
Aber einmal half alles Rufen nichts. Wir waren zwei oder drei Tage von Hause fortgewesen. Pan hatten wir mitgenommen, Nini aber mussten wir daheimlassen. Zuerst hatte Nini vor der Tür miaut und gewartet, aber schließlich hatte er die Hoffnung aufgegeben und sich fortgetrollt. Das wurde uns nachher von unsern Nachbarsleuten erzählt. Als wir heimkamen, war er verschwunden. Weder in der Scheune, noch in der Nähe des Hauses war er zu finden – wir wurden ganz unglücklich. Da kam einer von uns auf den Gedanken, Pan zum Suchen mitzunehmen. Wir zogen also wieder aus, vergaßen aber nach einer Weile ganz, auf Pan aufzupassen, und dieser ging seine eigene Wege. Als wir ihn schließlich vermissten und nach ihm Ausguck hielten, stand Nini neben ihm, schnurrte und schmiegte sein kleines Köpfchen gegen Pans großes. Pan hatte ihn gefunden!
Einmal bekamen wir in jener Zeit Besuch von einem andern Jäger, der auch einen Hund hatte, der Pan hieß. Während wir Jäger uns begrüßten, taten unsere beiden Pans desgleichen. Zufällig sah ich hin – da stand Nini zwischen ihnen, ohne auch nur ein bisschen Angst zu haben, und ließ sich von dem Fremden, so viel er wollte, beschnüffeln.
„Nein, so etwas ist mir auch noch nicht vorgekommen“, sagte mein Freund.
Aber nachher wurde sein Erstaunen noch größer. Denn als beide Pans zu fressen kriegten und ihre Köpfe tief in die Schüssel gesteckt hatten, kam Klein-Nini angesprungen und fraß ohne weiteres mit, als sei das die natürlichste Sache auf der ganzen Welt. Und doch war der fremde Pan ein mächtiges, ungeschlachtes Biest, der unserm Pan nicht im Geringsten ähnlich sah. Danach legten sie sich alle drei schlafen, die beiden Pans nebeneinander und Nini weich und mollig in der Kute zwischen ihnen. Da mussten wir beiden Jägersleute doch laut loslachen. Es war aber auch zu putzig, dass der fremde Pan kein einziges böses Wort zu Nini sagte. –
Jetzt muss ich etwas Trauriges berichten.
Pan wurde uns plötzlich ernsthaft krank. Er wollte nicht mehr fressen, seine Augen fingen an zu eitern, und alles war ihm ganz gleichgültig. Nachts war er sehr unruhig, wanderte im Zimmer von einem Winkel zum andern, legte sich für einen Augenblick hin, um dann von neuem aufzuspringen und umherzuwandern. Ich versuchte zuerst, ihn zu Bett zu bringen, machte ihm ein warmes Lager zurecht und packte ihn ordentlich In Kissen und Decken ein. „Armes Kleines“, redete ich ihm gut zu, „ist denn heute gar nichts mit dir los?“
Da war er genau wie ein krankes Kind; weil ich ihn so bemitleidete, wurde er plötzlich gleichsam noch einmal so krank. Er fing an zu jammern und zu winseln, dass es im ganzen Hause zu hören war, „au – au“, ihm war so schlecht, so schlecht. Ab und zu zuckte er zusammen, und es sah aus, als bekäme er den Veitstanz.
Wir sagten uns gleich, dass mit Pans Krankheit nicht zu spaßen sei, daher fuhr ich sofort mit ihm zu einem tüchtigen Tierarzt und ließ mir von ihm die besten Ratschläge und Medizinen verschreiben. Er verordnete ihm Tropfen, Salbe und Einreibungen samt Massage, auch sollte er warme Bäder bekommen und danach in wollene Decken gehüllt werden; abends sollten wir ihm einen Schluck Portwein geben, damit er besser schlafen könne, vor allem aber müssten wir ihn gut und kräftig ernähren: Eier, Milch und Fleisch sollte er kriegen, ganz wie ein kranker Mensch, sonst würde er seiner Krankheit erliegen.
Der Patient
Nun bekamen wir alle Hände voll zu tun. Dreimal am Tage musste ich Tropfen abzählen, die wir ihm auf einem Stück Zucker gaben. Dann rieb ich seine Augen ein und massierte ihn – ich knetete ihn wie einen Teig auf dem Boden, lag vor ihm auf den Knien und bearbeitete sein Kreuz, dass mich zuletzt meine Arme schmerzten. Dazwischen steckten wir ihn in warmes Wasser, trockneten ihn ab und wickelten ihn in Tücher – das machte am meisten Mühe. Wenn er es dann vor Wärme in seinen Decken nicht mehr aushielt und sich schließlich herausschälte, kam Nini herbei und half ihm sich ablecken; mit der ernstesten Miene der Welt standen die beiden da und leckten so lange, wie sie es für ausreichend hielten.
Aber all dies war noch nicht das Schlimmste – wenn nur das Essen nicht gewesen wäre. Er hatte kein bisschen Appetit, wir mussten uns die allerleckersten Dinge für ihn ausdenken. Wir machten ihm wunderbare Eierkuchen, brieten Beefsteaks und kochten Schokolade, wir lasen in allen möglichen Kochbüchern über Krankenkost nach – Ja, wir versuchten wirklich, was in unserer Macht stand. Das Einzige, was er zuletzt noch anrührte, war dünngeschnittenes Butterbrot mit Apfelsinenmarmelade, davon hatten wir zum Glück einen ganzen Krug voll. Aber wir mussten Butter unter die Marmelade schmieren, sonst roch er nur daran und wandte den Kopf ab.
Ich glaube, es dauerte etwa zwei Monate, bis die Krankheit sich endlich ausgetobt hatte; da aber war unser Pan fast ein Krüppel geworden. Der schreckliche Veitstanz wollte nicht wieder Weggehen, er hatte sich in seinem Kreuz festgesetzt und quälte und plagte ihn Tag und Nacht. Ich glaube eigentlich nicht, dass er noch irgendwelche Schmerzen hatte, aber er litt unter diesem ewigen Muskelzucken. Wenn er aufrecht stand, krümmte sich sein Kreuz unaufhörlich, ging hin und her, so dass es oft ganz gefährlich aussah, als wollte es abbrechen. Zwischendurch zuckte er so heftig zusammen, dass die Beine unter ihm zusammenklappten und er mit dem Hinterkörper auf die Erde zu liegen kam.
Am traurigsten war es, wenn er sich schlafen legte, dann scharrte sein eines Bein auf dem Fußboden hin und her, im Takt einer Wiege: eins – zwei, eins – zwei; die ganze Nacht durch hörten wir es. Dann sagten wir uns, es sei doch eine Sünde, den armen Kerl leben zu lassen, aber wenn der Morgen kam und wir mit ihm ausgingen, sprang er wieder genauso munter und vergnügt wie einst umher. Er konnte sich nur nicht still verhalten, da traten sofort die Zuckungen ein.
Ja, ja, die Pfote machte uns noch viel zu schaffen. Zuletzt schubberte er sich das Fell durch und wir mussten ihm Socken überziehen. Die rieb er in einer Nacht durch; aber zum Glück hatten wir eine Menge zu Hause liegen, die von einem verstorbenen Onkel stammten. Um sie nicht unnötig abzunutzen, nahmen wir sie ihm ab, wenn er ausging, und zogen sie ihm wieder an, wenn er nach Hause kam. Das machte furchtbare Mühe, denn sie mussten sorgfältig über dem Kniegelenk zusammengebunden werden, und beim Anziehen zuckte das Bein die ganze Zeit. Daher kam es nicht so selten vor, dass wir ihn einfach so mitnahmen, wie er gerade war – und dann sprang er so lustig und fidel in Onkels Socken herum, dass es eine reine Freude war, es mitanzusehen. Und besonders von hinten bot er einen so komischen Anblick, dass wir oft vor lauter Lachen stehenbleiben mussten
Eines Tages waren Nini und Pan allein zu Haus. Wir waren alle ausgegangen und blieben etwas länger fort als gewöhnlich. Und was erblickten unsere Augen, als wir heimkehrten? Mitten in der Küche standen Pan und Nini und versuchten, sich eine große Wurst zu teilen. Pan stand wie gewöhnlich mit schaukelndem Rücken da und hielt die Wurst mit der Pfote fest. Und wie zur Entschuldigung wedelte er mit dem Schwanz und sah uns treuherzig an, ganz als wollte er sagen: „Ich bin’s nicht gewesen, Nini war’s!“ Und darüber war auch kein Zweifel, denn für Pan war es ein Ding der Unmöglichkeit, zum Schrank hinaufzugelangen, dazu war er viel zu schwach und elend, auch pflegte er nie zu stehlen. Nein, die Wurst hatte unser kleiner Nini auf dem Gewissen; wahrscheinlich war er auf einen Stuhl gesprungen und hatte von da aus den Schrank mit der Pfote aufgemacht.
Aber wir fanden, es war so nett von ihm, dass er Pan zu dem Schmaus eingeladen hatte, dass wir darum gar nicht schalten, sondern den beiden nur halfen, sich die Wurst zu teilen.
Dann kam der Frühling, und wir wollten für eine Zeit verreisen. Alle Socken vom Onkel waren nun kaputt, wir brauchten jetzt Lappen und Watte, denn Pan ging es immer noch nicht besser.
Die Leute unter uns beschwerten sich über ihn. Die Wiege dort oben sei geradezu unerträglich, sagten sie. Wir selbst wurden ebenfalls von Pan im Schlaf gestört, außerdem konnten wir ihn auf unserer Reise sowieso nicht mitnehmen, und wie schwer es uns auch fiel, es half alles nichts, wir mussten uns von ihm trennen. Wir gaben ihm eine sichere Kugel und begruben ihn unten am Wasser. Jetzt wächst im Sommer Getreide auf seinem Grab …
Unseren kleinen Nini konnten wir gleichfalls nicht mitnehmen. Aber zu Hause lassen konnten wir ihn auch nicht, da wir niemand hatten, dem wir ihn anvertrauen konnten. Wir packten ihn daher eines Tages in einen Korb und segelten mit ihm zu einer netten, alten Dame, die auf einer Insel in der Nähe wohnte. Wir gaben ihn für die Zeit, wo wir weg sein wollten, zu ihr in Pension.
Ninis Schicksal
Wir blieben fünf bis sechs Wochen verreist, aber sofort nach unserer Rückkehr segelten wir nach der Insel, um Nini zu holen.
„Könnte ich ihn denn nicht behalten?“, fragte die Dame. „So ein lieber Kater wie Nini ist mir noch nicht vorgekommen!“
„Ganz ausgeschlossen, für nichts in der Welt geben wir unsern Nini her“, sagten wir, „wir haben ihn selbst so lieb!“
Dann packten wir Nini wieder in seinen Korb, trugen ihn vorsichtig an Bord, hissten das Segel und los ging es. Weil es jedoch so schönes Wetter war, ließen wir ihn nach einer Weile aus seinem Korb heraus. Da riss er aber seine Augen schön auf!
Erst spazierte er langsam auf dem Bootsrand herum und streckte ab und zu seine Pfote nach dem Wasser aus, dann starrte er uns mit seinen blanken Messingaugen an, als wollte er fragen, was das wohl alles zu bedeuten habe.
Zuletzt kletterte er am Mast in die Höhe; dabei drehte er sein kleines Köpfchen hin und her und miaute kläglich.
Wie es eigentlich zuging, weiß ich nicht mehr, aber jedenfalls befand er sich kurz darauf mitten auf dem Segel, und keiner von uns konnte ihm helfen, wieder herunterzukommen. Mit Mühe und Not krabbelte und krallte er sich wieder zur Segelstange hin. Zum Glück war es windstill, aber trotzdem lief er jeden Augenblick Gefahr, ins Wasser zu purzeln. Auf einmal fuhr ein Windstoß ins Segel und schwellte es, blies es gerade unter Ninis Hinterpfoten auf, und Nini blieb wie ein Häufchen Unglück mit den Vorderpfoten an der Segelstange hängen. Vergebens streckte er die Hinterbeine aus, strampelte und versuchte, sich irgendwo festzuklammern; aber das Segel war so aufgeblasen, dass er sich fast gar nicht rühren konnte. Na, dabei schrie er nicht schlecht!
Ich musste den Mast hinaufklettern und ihn erlösen; danach legte er sich ganz still unten im Boot zu unseren Füßen und gab keinen Mucks von sich, bis wir am Ufer anlangten.
Als Nini ein Jahr alt war, sah er wunderhübsch aus. Er war groß und stramm, sein schwarzes Fell glänzte rötlich wie Plüsch, und er hatte einen langen, prachtvollen Schwanz.
Im Mäusefangen war er sehr gewandt. Oft hörten wir, wie es auf dem Boden piepste; kurz darauf bumste es auf der Treppe, und schon kam Nini mit seiner Beute angesprungen.
Und immer war er gleich lieb und nett zu uns, er kratzte nie wie andere Katzen, sondern benahm sich mehr wie ein Hund.
Als wir daher nach Oslo zogen, bekamen wir es nicht übers Herz, uns von Nini zu trennen. Wir packten ihn von neuem in den Korb und nahmen ihn mit.
War die Reise für Nini traurig, so war sie es für uns noch viel mehr. Wir fuhren mit einem Frachtdampfer, der überall anlegte; ich glaube, wir brauchten vier Tage zu der Reise. Es war kurz nach Weihnachten, und es herrschte eine schneidende Kälte. Oft wurden wir von dem Eis festgehalten, und unser Dampfer musste es erst aufbrechen. Und die ganze Zeit mussten wir auf Nini aufpassen, dass er uns nicht wegkam. Manchmal machte er Miene, aufs Eis zu springen, und manchmal versteckte er sich im Lastraum.
An den Anlegeplätzen musste ich Wache halten – wobei ich fast erfror – damit er nicht an Land ging, denn wir konnten ihn ja auch nicht ständig im Korb festhalten!
Endlich gelangten wir an unser Ziel. Wir hatten eine Wohnung etwas außerhalb der Stadt im zweiten Stockwerk eines größeren Hauses gemietet. Aber die Leute unter uns hatten einen großen Hund, der bellte so abscheulich und hatte eine Wut auf Katzen. Ich sagte daher gleich zu den andern: „Ihr müsst gut achtgeben, dass Nini nicht allein aus der Wohnung kommt; der Hund da unten ist nicht wie unser Pan, und es könnte Nini schlecht ergehen!“
Aber als die Ziehleute mit den Möbeln kamen, muss Nini wohl doch durch die offene Tür entschlüpft sein; denn kurz darauf war er verschwunden. Die Leute unter uns sagten, sie hätten ihn im Garten herumlaufen sehen, aber trotz allem Suchen und Rufen konnten wir ihn nicht erblicken. Im Schnee fanden sich zwar ein paar kleine Spuren, aber die verloren sich auf einem der Wege.
Und seitdem haben wir unseren kleinen Nini nie mehr wiedergesehen. Ich ging gleich in alle Nachbarhäuser und fragte nach ihm, aber niemand konnte uns Auskunft geben. Wir nehmen an, der große Hund ist auf ihn losgefahren und hat ihm solchen Schreck eingejagt, dass er weggelaufen ist. Und dann ist er wohl umhergewandert und hat nach unserem alten Haus gesucht, er verstand es ja nicht besser! Ob er nun freundliche Leute getroffen hat, die ihn aufgenommen haben, oder ob er elend verhungert ist, haben wir nie erfahren.
XXX
Notizen zur Digitalisierung des Originals
Titel: Silberpelz
Norwegischer Originaltitel: Sølvfaks
Untertitel: Abenteuer einer Katze
Autor: Gabriel Scott (1874–1958)
Erstveröffentlichung: 1912
Verlag: Herold-Verlag Richard & Erich Lenk, Stuttgart
Druck und Einband: Christliches Verlagshaus G. m. b. H., Stuttgart-West
Abbildungen: XXX52 (Einband, 49 Bilder und 2 Karten)
Gabriel Scott war ein norwegischer Schriftsteller. 1912 veröffentlichte er sein Kinderbuch „Sølvfaks“, welches in deutscher Übersetzung 1914 im Herold-Verlag erschien. Die hier digitalisierte Ausgabe ist ein Buch mit Gewebeeinband im Format von 16 cm × 21,2 cm aus der siebten Auflage. Der Buchblock hat 156 Seiten, zuzüglich 12 Bildseiten (einseitg bebildert). Gesetzt wurde es in einer fetten Grotesk-Schrift, vielleicht der 1928 erschienenen Neuzeit-Grotesk von Wilhelm Pischner; für die sehr wenigen Textauszeichungen wurde Sperrsatz verwendet.
Für diese Digitalisierung wurde ein Buch aus kaeseschem Familienbesitz verwendet, deren Schutzumschlag leider nicht mehr erhalten ist. Auf dem Spiegel findet sich ein Exlibris-Aufkleber von Karl-Wilhelm Kaese.
Für das Digitalisat sind die wenigen Satzfehler korrigiert, einige behutsame stilistische Änderungen vorgenommen (beispielsweise Zahlwörter statt Ziffernschreibweise und die Ausschreibung von Abkürzungen) sowie Schreibweisen an die aktuelle Rechtschreibung angepasst. Textauszeichnungen und Absätze sind vom Original übernommen.