Buch

Das Wunder­buch

Eine Erzäh­lung aus der Früh­zeit der Tech­nik

Otto Johannſen und Adolf Groß, 1932

Kaese-Logo





Titelseite des Buchs „Das Wunderbuch“ mit Helm und Wappen




Dem Andenken an Conrad Matschoß



Der Glockenguß

Es war an einem Sommernachmittage. Blankes Sonnengold flutete ſchimmernd über die Hügelketten des Berglandes, lag flirrend über den reifen Feldern, ſtand glaſtend über den ſommermüden Wäldern und umkoſte ſchmeichelnd die hohen Mauern der guten, wehrhaften Stadt Falkenberg.

Auf einer kleinen Anhöhe lag ſie, wohlgeſchirmt durch Turm und Graben. Schlank und mächtig wuchs aus der Stadtmitte die Liebfrauenkirche empor über das Gewirr niedriger Dächer, über das Filigran der feinen Türmchen des Rathauſes, über die hochgegiebelten Patrizierhäuſer und über die maſſigen, plumpen Trutztürme der Stadtmauer, himmelwärts zeigend, die Stürme brechend, die Blitze bannend, Stolz und Wahrzeichen der Stadt.

Aber wenn die Bürger Falkenbergs jetzt ihre Blicke zur Höhe des Gotteshauſes erhoben, empfanden ſie nicht Stolz und Freude, ſondern wehmütigen Schmerz über einen Verluſt, der ihre Stadt betroffen hatte.

In einer ſtürmiſchen Winternacht war in der Bäckergaſſe beim Meiſter Semmelbeck ein Feuer ausgebrochen. Der Brand hatte ſich mit unheimlicher Schnelligkeit fortgepflanzt und der rote Hahn war mit praſſelnden, feurigen Flügelſchlägen von einem Dachfirſt zum anderen geſprungen. Das ſchwache Stimmchen der Feuerglocke war in dem Toben des nächtlichen Sturmes verhallt. Da hatte der Türmer der Liebfrauenkirche in höchſter Not ſo ſtark am Strange der großen Glocke gezogen, daß von deren mächtig dröhnendem Klange die ganze Stadt erwacht war – aber die große Glocke war zerſprungen; ſie hatte Falkenberg gerettet, doch ihr Mund war auf ewig verſtummt.

*

Auf dem Kirchhofe rings um die Kathedrale brannten die roten Roſen, die alten Linden prangten im Blütenſchmuck, und ihr ſüßer Duft umſchleierte die alten Mauern.

Aber so ſriedlich und ſauber wie ſonſt ſah es auf dem Gottesacker nicht aus. Die Vögel, die im Efeu niſteten, flatterten, durch Hammerſchläge aufgeſchreckt, unruhig umher. Ja, ſelbſt die waſſerſpeienden Fabelwesen, die nun ſchon seit Hunderten von Jahren auf dem Dachſimſe hockten, ſchienen unwillig ihre breiten Mäuler zu verziehen.

Es war in der Tat ein ungewöhnlicher Anblick, der ſich ihnen darbot. Neben dem Turme hatte man die Grabſteine ehrſamer Bürger entfernt und an die Mauer gelehnt. Vor einer tiefen Grube, die mit eingerahmten Holzbohlen verkleidet war, erhob ſich eine niedrige Bretterbude. Der Sandhaufen daneben ließ vermuten, daß die Grube nach Beendigung der Arbeit wieder zugeſchüttet werden ſollte. Bräunlich gelbe Knochen längſt entſchlummerter Ahnen schauten aus der Erde hervor. Über der Grube ſtand ein dreibeiniger Holzbock. Seitlich davon waren ſchlanke Tannenſtämme im Kreiſe eingerammt und mit biegſamen Weiden durchflochten, ſo daß das Gebilde wie ein großer, hoher Korb ausſah.

Was bedeuteten dieſe ſeltsamen Vorbereitungen?

Vor zwei Monaten, am Dienstag nach Walpurgis, hatte ſich der Meiſter Hans Buſſengeter aus dem fernen Trier einem ehrſamen Rate der Stadt Falkenberg verdungen, die zerſprungene große Glocke der Stadtkirche neu zu gießen, gegen freie Koſt, ein Gewand und zwei Gulden Lohn für den Zentner. Achtzig Zentner ſollte die neue Glocke wiegen, dazu wollte der Rat dem Meiſter einhundertundzwanzig Zentner gute Glockenſpeiſe ſowie Holz und Kohlen liefern. So der Guß mißlänge, war der Meiſter gehalten, die Glocke auf ſeine Koſten noch einmal zu gießen. Zu Urkund deſſen hatte der Rat von Falkenberg das große Stadtſiegel an den Brief gehängt, und der Meiſter hatte ſein Siegel mit der Hausmarke und dem Büchſenrohr daraufgedrückt.

Und nun war das große Werk dort auf dem Friedhofe im Werden.

In der Bretterbude herrſchte reges Leben. Dort ſtand ein kräftiger Junge von etwa fünfzehn Jahren mit ſcharfem Blick und ſtraffem Blondhaar, er hielt ein ſäbelförmiges Eiſen in den beiden Händen und ſchlug damit auf einen dicken Lehmballen, der vor ihm auf einem Dielenboden lag, ſo kräftig ein, daß der feuchte Lehm klatſchend an die Wand flog und ſeinen langen Arbeitskittel von oben bis unten beſpritzte. Am anderen Ende der Gießhütte befand ſich die Formerei. Der Glockenkern war als eine ballige runde Maſſe auf eine ſchwere Holzſpindel aufgetragen, die auf zwei Böcken drehbar gelagert war. Unter der Lehmform brannte in einer Feuerſtätte ein leichtes Kohlenfeuer, um „die Gans am Spieße zu braten“, wie die alten Glockengießer zu ſagen pflegten. Neben der Form ſtand ein würdiger Greis von hoher hagerer Geſtalt. Dies mußte der Meiſter ſein, denn er hielt den Zirkel in der Hand und rechnete mit Kreide auf einem Brett. An einem plumpen Arbeitstiſche ſaß ein zweiter Junge, der an Alter wohl einige Jahre hinter dem Lehmbereiter zurück war. Er war ſchlanker gebaut als dieſer und hatte dunkle Augen und braune Locken, die ſich um eine hohe Stirn ringelten. Der Junge formte in Wachs ein Bild, es zeigte die Himmelskönigin in einem Kranze von Engelköpfen. Dabei blickte er von Zeit zu Zeit nach einem wohl zwölfjährigen Mägdlein hinüber, das ein Rankenmuſter auf ein Papierblatt zeichnete und in dieſe Arbeit ganz vertieft war.

Endlich ſah das Mägdelein auf, trat hinter den Schemel des Knaben, legte ihre Hand auf ſeine Schultern und ſchaute ſich das Wachsbild an. Plötzlich rief ſie aus:

„Aber Gerd, was machſt du da! Da in der Mitte, das iſt doch kein Engel. Das bin ja ich, mit meiner Stuppsnaſe und den runden Backen! Schäme dich, ſo etwas auf eine Glocke zu bringen!“

Der Meiſter und der Lehmbereiter traten gleichfalls heran.

„Lisbeth, Kind“, beruhigte ſie lachend der Meiſter, „ſo iſt es gut. Dein Bild muß auf der Glocke erſcheinen. Denn ſonſt weiß ſpäter niemand mehr, daß du es warſt, der die Blumenranken für den Schlagring ſo zierlich gezeichnet hat, wie es meine alten ſteifen Finger nimmer vermocht hätten. Wenn du nicht helfen würdeſt und Henning der Starke und Gerd der Künſtler, ſo würde ich alter Mann ſchier verzweifeln an der Arbeit. Jetzt aber haben wir ſchon ein gut Teil des Werkes geſchafft. Dort ſteht die Glockenkrone fertig in Wachs gegoſſen; hier ſteht der Kern, ſchön rund und alle Maße ſtimmen. Morgen wird er geäſchert, und dann ziehen wir ihm das Hemd an. – Henning, gib einmal eine Probe von deinem Lehm her!“

Der Meiſter prüfte den dargereichten Lehmbatzen mit kundiger Hand.

„Ja, jetzt iſt er mürbe genug. Geſtern war noch zu wenig Sand darin, und wir hätten das Hemd nachher nicht vom Kern heruntergebracht. Ihr wißt doch, daß es zerſchnitten und entfernt werden muß, wenn wir gießen wollen, denn wo zuerſt das Hemd iſt, dahin kommt nachher das Metall. Dem Kernlehm ſetzt man Scheerwolle zu, damit er recht feſt wird, aber in den Lehm für das Hemd tut man reichlich Sand, damit er brüchig wird. Merkt euch dies! – Wenn das Hemd fertig iſt und die Wachszierate aufgeſetzt ſind, fehlt nur noch der Mantel, und die Form kann gebrannt werden. – Doch für heute ist Feierabend.“

Die Glockengießer wuſchen und ſäuberten ſich. Der Meiſter verließ als letzter den Raum und ſchloß die Tür der Gießhütte ſorgfältig ab. Über den Straßen hingen bereits die Schatten der Dämmerung, und der Abendſtern blinkte hell vom Himmel. Die Kleine faßte des Meiſters Hand, und alle vier gingen einträchtig quer über den Kirchhof auf die breite Steinſtraße zu, die zum Markt führte. An der Ecke angekommen, ſprang das Mädchen leichtfüßig davon, einen Gruß zurückwinkend, ehe es in einem hochgiebligen Hauſe am Markte verſchwand.

„Hoffentlich hat der Oheim die kleine Schadeckerin nicht vermißt“, meinte der Meiſter, „ſonſt ſchilt die Schaffnerin ſie. ’s iſt heute ſpät geworden. Zu lange Arbeitszeit hat keinen Wert, ſonſt wird’s am Ende Pfuſcherei. Ich ſehne mich nach der Abendſuppe und nach einem ruhigen Stündlein auf der Bank vor eurem Hauſe.“

Der Meiſter bog mit Henning und Gerd in eine Seitenſtraße ein, und bald waren ſie in der ſchmalen Mauergaſſe, die ſich an der Stadtmauer hinzog.

Sie traten in ein niedriges mit Reben bewachſenes Häuschen ein, das ſich an einen halb vorſpringenden Mauerturm mit Wehrgang und Schießſcharten anlehnte. Dort wohnte die Mutter der Knaben.

Die Freyermuth gehörten einſt zu den reichſten Geſchlechtern der Stadt. Sie beſaßen viel Land innerhalb und außerhalb der Stadtmauern. Aber Kriegsruhm und Abenteuer im fernen Welſchland lockten ſie mehr als Gelderwerb. So ging von ihrem ſtädtiſchen Beſitz ein Stück nach dem andern in die Hände rühriger Krämer über. Die Freyermuth verzogen auf ihren Landſitz. Der Pfalzgraf, der bei einer Kriegsfahrt die Gegend verheerte, überfiel den Burgſtall und brannte ihn nieder. Der Vater der Knaben empfing bei der Verteidigung ſeines Beſitzes die Todeswunde. Die Mutter rettete mit den Kleinen nur das nackte Leben. Sie verkaufte die verwüſteten Felder und erwarb von dem Erlös das Häuschen an der ſtillen Mauergaſſe, wo ſie vor Feinden und Gefahren beſſer geborgen war als auf dem Lande. Auch mochte ſie die Hoffnung hegen, daß ihre beiden ſchnell heranwachſenden Söhne den alten Glanz des edlen Geſchlechtes wieder auffriſchen würden, wozu in der Stadt eher die Möglichkeit gegeben war als auf dem Lande.

Vorläufig mußte die Witwe aber ſelbst für den Unterhalt der Familie ſorgen und war deshalb erfreut geweſen, als der Rat ihr den Meiſter Hans Buſſengeter zuſchickte, da dieſer ſich weigerte, in der Zunftherberge der Schmiede zu wohnen. Denn er wollte, wie alle Glockengießermeiſter, die Geheimniſſe ſeiner Kunſt wahren und mied den Umgang mit den ſtädtiſchen Handwerkern.

Fremden gegenüber war der Meiſter ſchweigſam und zurückhaltend, aber bei der ſtillen, feinen Frau fühlte er ſich wohl und war ihr und den beiden Söhnen in den wenigen Wochen vertraut und lieb geworden. Es war, als wenn er zur Familie gehörte. Außerdem fand er in den aufgeweckten Jungen zwei treu ergebene Gehilfen. Und wenn der kleine Kreis in ſpäter Abendſtunde beim Scheine des Kienſpanlichtes am Herde zuſammenſaß, dann lehrte der Alte die beiden Jungen viel Wiſſenswertes aus dem reichen Schatze ſeiner Erfahrungen.

Erſtaunlich war es, auf wie vielerlei Gebieten der weitgereiſte Mann zu Hauſe war.

Er verſtand Menſch und Tier zu heilen, er wußte Salben und Wohlgerüche zu bereiten, Seide und Wolle zu färben, Malerfarben zu miſchen, edle und unedle Metalle zu bearbeiten, Münzen und Edelſteine auf ihre Echtheit zu prüfen.

Er ſprach franzöſiſch und italieniſch, ja ſogar viele hebräiſche Worte waren ihm nicht fremd.

Wo hatte er nicht überall Proben ſeiner Kunſt abgelegt! In Wisby auf Gotland bildete ein von ihm gegoſſenes Taufbecken das größte Kunſtwerk der Nikolaikirche. Im alten Dome von Palermo hing eine ſeiner Glocken.

Aber das Schönſte war, wenn er von ſeinen Reiſen erzählte. Mit welcher Spannung hing Gerd an ſeinen Lippen, wenn er vom gewerbreichen Nürnberg, vom heiligen Köln, vom meerbeherrſchenden Lübeck, wenn er von den Künſtlern der Toscana, vom herrlichen Florenz berichtete; wie ſehnſüchtig leuchtete der Mutter Antlitz, wenn er von Welſchlands ewig blauen Himmel, von Pinien und dunkelgrünen Lorbeerbäumen ſprach; wie blitzten Hennings Augen, wenn er von der Erſtürmung welſcher Felſenneſter durch todesmutige deutſche Ritter erzählte.

So vergingen die Feierſtunden wie im Fluge, und oft ließ nachher die geweckte Phantaſie der Jungen des Meiſters Erzählungen in lockenden Traumbildern wieder erſtehen.

Die Arbeit in der Gießhütte ging rüſtig vorwärts, Die Gußform wurde vollendet und mit eiſernen Schienen und Ringen feſt gebunden. Noch einmal ward alles mit Lehm abgeglättet. Dann kam der ängſtliche Augenblick, da man die Holzſpindel aus der Lehmmaſſe herausſchlug. Die Form wurde nun ſenkrecht aufgeſtellt; der Hohlraum erhielt eine Füllung von Holz und Kohlen, und es wurde ſolange gefeuert, bis die Maſſe durch und durch heiß war.

An dieſem Tage blieben die Knaben mit dem Meiſter über Nacht in der Gießhütte und trugen den Brennſtoff herbei. Durch Erzählen hielt der Alte ſie wach.

„Eine Glocke zu gießen“, ſo plauderte er, „iſt für einen erfahrenen Meiſter kein großes Kunſtſtück. Noch leichter iſt es allerdings, ein Sakramentshäuschen oder ein Taufbecken anzufertigen, falls man einen guten Entwurf dazu hat. Das große Tabernakel in Magdeburg habe ich gemeinſam mit einem Goldſchmied gebaut. Eigentlich iſt es ſein Werk, denn er hat die Zeichnungen ausgeführt, während ich nur die Holzmodelle geſchnitzt und ſie Stück für Stück abgegoſſen habe. Die einzelnen Teile wurden dann zuſammengelötet. War etwas mißlungen, goſſen wir den Teil nochmals.

Das edelſte aller Werke der Gießkunſt, – ich glaube wohl, daß wenigſtens Henning mich verſteht, – iſt ein großes Geſchütz, ſo plump es auch ausſieht. Ganz frei von Riſſen und Blaſen muß das Stück ſein, nur wenig Zinn, kein Blei darf das Erz enthalten.

Ihr glaubt wohl, es ſei etwas um ſo ſchwerer zu gießen, je dünner und zierlicher es iſt. Nein, im Gegenteil. Je maſſiger das Gußſtück iſt, deſto ſchwieriger iſt es herzuſtellen. An den dicken Stellen wird das Erz innen locker, wie eine Druſe im Gipsſtein, und auch ſolche Spitzen und Stacheln bilden ſich wie im Gips, die man mit der Hand abbrechen kann.

Und ſtellt euch die Kraft des Pulvers vor. Wenn es im engen Raum verbrennt, dann bildet es tauſendmal mehr Feuerluft. Dieſe iſt in der kleinen Kammer, die vorher das Pulver faßte, eingeſchloſſen, ſie tobt wie ein wildes Tier im Käfig, und wenn ſie dann die bewegliche ſchwere Kugel herausgetrieben hat, ſpringt ſie hervor, brüllend wie ein Löwe, ſchleudert die Kugel weit fort und ſtößt das ſchwere Geſchütz nach hinten.“

Er machte eine Pauſe und ſah gedankenvoll in die Flammen, die aus der Gußform emporzüngelten, dann fuhr er fort:

„Seht, ich bin einer der erſten geweſen, die ſolche großen Büchſen aus Erz gegoſſen haben.

Aus Welſchland kamen zu uns die ſchweren geſchmiedeten Geſchütze. Sie waren gleich Fäſſern aus eiſernen Ringen und Dauben zuſammengefügt. Ihr könnt euch denken, daß dieſe Büchſen nicht hielten. Mit einem ſolchen Ungetüm lagen die Kölner vor einem Raubſchloſſe. Scharfenberg hieß die Feſte, oder Scharfenſtein, ich weiß es nicht mehr, Denn es iſt ſeit dieſer Zeit viel Waſſer den Rhein heruntergefloſſen. Das Raubneſt lag auf einer ſchroffen Felsnaſe, die durch eine breite Schlucht vom Berge getrennt war. Ich mußte alſo ſchwere Ladungen ſetzen. Bald ſprühte das helle Feuer aus den Fugen des Geſchützes. Die Ringe wurden locker. Wirkungslos verpuffte das Pulver, und die Kugeln rollten unſchädlich in die Schlucht. Jungs, das war eine verfahrene Sache für die Städter, aber ein Spaß für die Räuber. Höhnend ſtanden ſie auf der hohen Schildmauer; ſie hielten die Hände hin wie Kinder, die Ball ſpielen, als wollten ſie die Kugeln auffangen.

Der Feldhauptmann der Kölner tobte vor Wut, Ties Hardefuſt hieß er, und er hatte eine harte Fauſt, die mancher Räuber geſpürt hat. ‚Ich breche die Burg‘, brüllte er, ‚und wenn der ganze Haufen dabei kalte Füße bekommt.‘

Aber er wußte zu gut, daß die Feſte nicht auszuhungern war. Und ſtürmen wollten die Reiſigen nicht. Denn Fels und Mauern waren nicht zu erſteigen.

Da wußte ich, daß meine Stunde gekommen war.

‚Junker‘ ſagte ich, ,mit euren Eiſenbüchſen ſchafft ihr es nimmer. Ich will euch eine Büchſe gießen aus dichtem Kupfer nach Art einer Glocke. Gebt mir Knechte, beſorgt mir Kohlen und Kupfer, und in vier Wochen ſitzt drüben der erſte Schuß.‘

Das war etwas für Ties Hardefuſt! Im ganzen Lande gab es bald keine Kupferkeſſel und kein Zinngeſchirr mehr. – Ich baute den Schmelzofen und die Gußform, und dann goſſen wir unten im Tale die Büchſe, an hundert Zentner wog ſie. Ich drehte ſie in einem plumpen Bohrwerk aus, das zwei Pferde antrieben. Mittlerweile bauten die Zimmerleute einen Schlitten und brachten auf dem Berge ſchwere Züge an. So ſchafften wir das klotzige Stück – faule Billa, nannten es die Söldner – mit vieler Mühe auf die Höhe.

Ich legte die Büchſe mit dem Stoßboden feſt gegen die Wurzel einer alten Eiche. Höhnend ſahen die Strauchritter zu, wie ich die Büchſe lud. Die Kugel war einen Zentner ſchwer, dazu nahm ich zwanzig Pfund Pulver.

Als ich zum Schuß bereit, das glühende Loseiſen in der Hand, neben das Geſchütz trat, gingen alle Kriegsleute ſcheu beiſeite. Selbſt der tapfere Ties Hardefuſt traute der Sache nicht und ſtellte ſich hinter einen Baum.

Ganz allein ſtand ich da, nicht ſchräg über Eck vom Rohre, wie es Sitte bei den Büchſenmeiſtern iſt, damit ſie weder der Boden noch Stücke des Rohres treffen, wenn die Büchſe zerſpringen ſollte, ſondern gerade daneben.

Der Knall war fürchterlich. Dröhnend hallte das Echo von den Felswänden wieder. Mich warf der Luftdruck um. Die Kugel fuhr in das Mauerwerk des dicken Bergfrieds und dieſer ſtürzte polternd zuſammen. Denn damals waren die Burgen noch lange nicht ſo feſt wie heute, da die Burgherren mit Geſchützangriffen rechnen. Zwei Schüſſe jagte ich dann noch in die Schildmauer, ſo daß dieſe zerbrach wie ein irdener Topf. Da waren die Räuber zahm und ließen die Zugbrücke herab.

Mir gab der Rat von Köln das Doppelte des ausbedungenen Lohns und dazu eine goldene Ehrenkette. Auch ſchrieb mir der Ratsſchreiber ein Zeugnis über den wohlgelungenen Büchſenguß und die verheerende Wirkung des Schuſſes. Seit dieſer Zeit nennt man mich den Buſſengeter.“

Ehrfurchtsvoll ſahen die Brüder auf den Alten, deſſen Augen in der Erinnerung leuchteten.

„Aber“, meinte nach längerem Schweigen Gerd, „wie kommt es denn, daß ihr nicht ſeßhaft wurdet, daß ihr kein reicher Mann geworden ſeid, nicht Ehrenſtellen und Gut erworben habt?“

Der Meiſters Blick verdüſterte ſich.

„Kinder, das iſt eine traurige Geſchichte. Vielleicht ſteckte mir die Wander- und Abenteuerluſt zu ſehr im Leibe. Es litt mich nicht im reichen Köln, wo man mir Gold und Ehre anbot. Ich wollte nicht im warmen Neſt faul und dumm werden und mochte mich nicht binden.

So zog ich gen Augsburg.

Dieſe Stadt wurde von einem Grafen arg beläſtigt, deſſen Feſte wie ein Falkenhorſt auf ſteilem Felsgrate thronte.

Jahr und Tag hatten die Städter vor dem trutzigen Bau gelegen, der eben ſo feſt war, wie der Burgherr wild und unbändig, und unverrichteter Sache waren ſie abgezogen. Denn ſie konnten die felsverwachſenen Mauern weder abgraben noch ſchwere Geſchütze auf den ſteilen Grat bringen.

Da bot ich mich dem Rate an, eine leichte Büchſe zu gießen, die man auf die Höhe ſchaffen könnte. Ich nahm zum Guß nur die reinſte Speiſe, aber das Geſchütz zerſprang beim erſten Schuß. Ich glaube heute noch, daß ein Neiding mir Queckſilber unter das Pulver gemiſcht hat. Jungs, hütet euch vor dem mercurius, er iſt ein böſer Geſelle! Seine Dämpfe dringen in Menſchen und Metalle ein und machen ſie krank und mürbe. Ich mußte den Schaden wettmachen, büßte dabei Hab und Gut ein und ſaß dazu noch ein langes Jahr im Schuldturm. Mein Ruf war hin, und niemand gab mir weiter Aufträge.

Da ſchüttelte ich den Staub Deutſchlands von den Füßen und zog nach Italien, arm wie ein verganteter Bauer, der mit dem weißen Stabe ſeine verlorene Heimſtatt verläßt.

In Italien ward aus dem Buſſengeter ein Glockengießer. Denn die Welſchen in der Kunſt des Büchſenguſſes unterweiſen, das wollte ich nicht.“

Mittlerweile war die Form gar gebrannt und das Wachs ausgefloſſen und vom Feuer verzehrt worden. Nun wurde die Form auseinandergenommen. Dann zerſchnitt der Meiſter das Glockenhemd und ließ Kern und Mantel in die Dammgrube hinab, wo ſie ſorgfältig zuſammengebaut wurden.

Ängſtlich achtete er darauf, daß die Form gut abgedichtet und mit Leinentüchern zugebunden wurde, damit kein Steinchen oder ſonſt ein Fremdkörper hineinfallen konnte.

Jetzt hatte der Meiſter keine Ruhe mehr. Mit fieberhafter Eile trieb er die Handlanger, die ihm der Rat ſtellte, zur Arbeit an. Die Töpfer mußten den Korb innen und außen mit Lehm auskleiden, ſo daß ein ſchachtförmiger Ofen entſtand. Alle Blaſebälge der Stadt wurden herbeigeſchafft und dazu noch einige alte von den Dorfſchmieden der umliegenden Ortſchaften entliehen. Viel gutes Leder verbrauchten die Schuſter, um dieſe zu flicken, und die Nagler hatten fleißig zu ſchmieden, um die vielen Balgnägel mit den breiten Köpfen zu machen, mit denen die neuen Bälge an den Balgdeckeln befeſtigt. wurden. Als dann die Form in halbtrockener Erde feſt eingeſtampft war, damit der Druck des flüſſigen Metalls ſie nicht auseinandertrieb, konnte der Guß nicht mehr verſchoben werden. Denn ſonſt lief der Meiſter Gefahr, daß die Form wieder feucht wurde.

Am Tage vor Michaelis füllte man den gut ausgetrockneten Ofen mit Holz und Kohle. Gegen Morgen, um ſechs Uhr begann das Blaſen. Zwölf Mann traten jeweils die großen Bälge, die fauchend den Wind in den Ofen blieſen, zwölf Mann ſaßen bereit, dieſe abzulöſen. Unermüdlich ſprangen die Männer, nur mit einer groben Leinenhoſe bekleidet, mit ihren nackten Füßen von dem leeren Balg auf den vollen. Von ihren Stirnen rann der Schweiß, an ihren Beinen traten die Muskeln dick hervor. Aber ſie arbeiteten unermüdlich im gleichen Takt, Alle Stunde löſten ſich die Balgtreter ab. Dann ſetzten ſich die Erſchöpften nieder und aßen viel Brot mit dickem Speck, und die Mägde vom Brauhaus hatten genug zu tun, um die vollen Eimer Braunbier herbeizutragen, Zehn Mann brachten Kupfer und Kohlen herbei; zwei Mann ſtanden oben auf dem Ofen, den eine Plattform mit einer Rampe umgab, und ſchütteten abwechſelnd Kupfer und Kohlen in die Gluten. So hielten ſie den Ofen dauernd gefüllt.

Der Meiſter ſtand ruhig neben dem Ofen und ſchaute von Zeit zu Zeit durch ein geſchwärztes Glas bei den Balgdüſen prüfend in die Gluten. Er gab Henning und Gerd kurze Befehle, Die Brüder liefen geſchäftig hin und her. Denn bald fehlte es an Kohlen, bald verbrannte ein Blaſebalg.

Ringsum war der Platz abgeſperrt. Hinter der Umfriedung drängte ſich das Volk.

Der Abend brach herein. Schauerlich ſchön ſchlug die helle Flamme aus dem Ofen, überſtrahlte mit grünlichem Lichte geiſterhaft die weißen Grabſteine und warf die Schatten der hohen Bäume wie Silhouetten auf die Wände der Kathedrale.

Es ward Nacht, aber niemand ſpürte Ermüdung. Denn Werkleute und Zuſchauer ſtanden im Banne des großen Ereigniſſes.

Um zwei Uhr Morgens führte der Meiſter einen Spieß ſchräg durch eine Düſe in den Ofen ein und zog ihn erzbedeckt heraus. Das Kupfer war gut flüſſig. Nun gab er das Zinn hinzu und ließ den Ofen nicht mehr füllen.

Um drei Uhr Morgens prüfte er die brodelnde Speiſe aufs Neue und fand ſie gar. Das Ergebnis teilte er dem anweſenden Ratsherrn mit. Dieſer ließ die Feuerglocke läuten und aus allen Häuſern ſtrömten die Bürger herbei.

Im feierlichen Zuge nahten die ſchwarzen Franziskanermönche mit dem koſtbaren Reliquienſchrein. Die Weltgeiſtlichen, die während der ganzen Nacht betend vor den Altären der Kathedrale geweilt hatten, kamen, geführt von den Chorknaben, herbei und ſtellten ſich um den feurigen Ofen. Das ohrenbetäubende Fauchen der Bälge, das Kniſtern der brennenden Kohlen hörte auf; die helle Gichtflamme erloſch. Überall herrſchte Totenſtille, nur das Gebet der Prieſter und Mönche war vernehmbar.

Da ergriff der Meiſter ein krummes, ſchweres Eiſen. Neben dem Ofen ragte ſeine ehrwürdige Geſtalt. Er rief mit lauter Stimme: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geiſtes“. Mit einem kräftigen Schlage trieb er den Zapfen tief in den Ofen, und die blanke Speiſe begann durch die eingefettete Rinne in die Glockenform zu fließen, erſt langſam, dann lebhaft wie ein Quellbach.

Flammen züngelten empor. Die ganze Umgebung war in hellſtes Licht getaucht. Wie überirdiſch leuchteten die bunten Edelſteine am goldenen Reliquienſchrein und die Meßgewänder der Prieſter, die ſegnend die Hände erhoben.

Keiner rührte ſich. Alle ſahen ſtaunend das wundervolle Schauſpiel. Nur der Meiſter war in ſteter Bewegung. Bald warf er etwas Speck oder Zinn in die Rinne, bald hemmte er mit dem Abſticheiſen den Fluß der Speiſe.

Aber als dann das geſchmolzene Metall über der Glockenform erſchien, hell und klar wie ein kleiner Teich, in dem ſich die Abendſonne ſpiegelt, faltete er dankend die ſchwieligen Hände. Da ertönten die freudigen Stimmen der Glocken glückwünſchend zur Geburtsſtunde ihrer großen Schweſter. Durch die kühle Morgenluft trugen die Klänge die frohe Kunde weit hinaus ins Land. Die Geiſtlichkeit ſtimmte das Te Deum an, in das alle Anweſenden jauchzend einfielen. Mächtig klang der Lobgeſang zum brauſenden Jubelton der Glocken, während im Oſten der Himmel ſich purpurn zu färben begann.

Der Meister beim Glockenguss

Der Meiſter ſpürte plötzlich bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Er ſetzte ſich und ſchloß die Augen. Sein Leben zog im Geiſte an ihm vorüber, ſein Leben, das wild und ſtürmiſch dahingebrauſt war, deſſen Inhalt nur raſtloſe Arbeit geweſen war bis auf den heutigen Tag. Sollte es niemals zur Ruhe kommen, wie hier die blanke Speiſe in der bergenden Form? Einen Augenblick drohte er mutlos zu werden. Aber als Henning und Gerd beſorgt zu ihm traten, ſchüttelte er alle Müdigkeit ab und erhob ſich raſch. Nein, er war noch lange nicht verbraucht. Unermüdlich wollte er weiterarbeiten, bis ihm der Tod das Werkzeug aus der Hand nahm.

Lächelnd empfing er die Glückwünſche von Bürgermeiſter und Rat, würdevoll hörte er den Abt der Franziskaner an, der ihn mit beredten Worten als den größten Meiſter des Glockenguſſes in deutſchen Landen pries. Er wußte, daß ihm heute ſein beſtes Werk gelungen war, und genoß in reiner Freude den Sieg, den ſein Geiſt über den ſtarren Stoff errungen hatte.

Da fühlte er, wie ſich eine ſchlanke, feine Kinderhand liebkoſend in ſeine hagere Rechte ſchob. Er ſah nieder auf ein von blonden Locken umwalltes Engelköpfchen, das in der Feuerglut wie von einer goldenen Krone umgeben leuchtete, und Jung-Lisbeths helle Stimme ſprach:

„Oh wie ſchön und groß war das!“

Das Vermächtnis

Nach einigen Tagen war das Metall erſtarrt, und die Tagelöhner gruben unter Aufſicht des Meiſters die Glocke aus. Noch in der Dammgrube wurden Ringe und Schienen abgenommen und der Formmantel vorſichtig mit Hammer und Meißel zerſchlagen.

Der ſtarke Henning packte feſt mit an, und mancher Schweißtropfen perlte dabei auf ſeiner Stirn. Denn der Meiſter hatte den Lehm des Mantels durch Salzzuſatz eiſenfeſt gemacht.

Dann wand man die Glocke aus der Grube empor und legte ſie auf die Seite, um den Lehmkern auszuſtechen, In dem rohgeputzten Gußſtück wurde ein rundes Holz verſpreizt. Man lagerte es oben auf dem Gußzapfen und unten auf dieſem Holz wie auf einer Drehbank.

Ein langwieriges Nacharbeiten und Nachmeißeln der Inſchriften und Verzierungen begann. Gerd und Lisbeth waren mit Eifer bemüht, auch die kleinſten Fehler und Unebenheiten zu beſeitigen. Zum Schluß wurde die Glocke mit einem Ziegelſtein innen und außen abgerieben und ſo lange poliert, bis ſie hell glänzte.

„Nun müſſen Wind und Regen der neuen Glocke die ſchöne grüne Farbe geben“, ſprach Meiſter Hans, „ſonſt iſt ſie fertig.“ Selbſt die kritiſchen Rotgießer fanden anerkennende Worte für die ſaubere Arbeit und bewunderten die kunſtvollen Inſchriften und die zierlichen Ranken. Beſonders das große Bild der thronenden Himmelskönigin im Kreiſe der Engel fand höchſtes Lob.

Die Inſchrift unter dem Bilde lautete:

Sankt Marie bin ich genannt,
Ich brech den Blitz und künd’ den Brand.

Eine weitere Inſchrift am Schlagring der Glocke kündet uns den Namen des Meiſters, dem der Guß gelang:

Hans Buſſengeter, ein Meiſter wohl und gut,
goß mich mit friſchem Mut.

Des Meiſters Arbeit war damit noch nicht beendet. Er leitete auch das Aufwinden der ſchweren Glocke auf den Turm und hieß die Zimmerleute und Schmiede eine neue Aufhängung bauen, bei der die Glocke gut ausgewuchtet in Rollenlagern hing, ſo daß ein Kind die ſchwere Maſſe in Bewegung ſetzen konnte. Zur Chriſtmette erklang die neue Glocke zum erſten Male. Voll und rein war ihre Stimme, und ſie übertönte beherrſchend den Chor ihrer kleineren Schweſtern. Die klare Winterluft trug den mächtigen Schall wohl eine Stunde weit über Land.

Falkenbergs Bürger lauſchten voll Stolz und andächtiger Freude dem dröhnenden Klange. Ihre geliebte alte Glocke war vollendeter und ſchöner zu neuem Leben auferſtanden.

Der Erfolg verſchaſſte dem Meiſter Buſſengeter einen weiteren Auftrag des Rates. Er ſollte den Riß der kleinen Stundenglocke vergießen, die man ihres ehrwürdigen Alters wegen erhalten wollte. Meiſter Hans vollendete die neue Arbeit nicht mehr. Sei es, daß er ſich bei den langen Nachtwachen erkältet hatte, oder daß ſich nun doch die Folgen ſeines unſteten Wanderlebens, ſeiner Leiden und Enttäuſchungen bemerkbar machten, er wurde krank.

Im kalten Februar befiel ihn ein böſer Huſten. Acht Tage lag er in hohem Fieber, er träumte von Krieg und Kriegsweſen und phantaſierte viel von einer verdorbenen Büchſe und von eiſernen Kugeln.

„Nimm eiſerne Kugeln“, rief er in ſeinen Fieberträumen, „und du bezwingt die ſtärkſte Burg. – Siehſt du, wie die glühenden Eiſenkugeln durch die Dächer ſegen. Ha! Die Mauern ſtürzen! – Der Bergfried fällt zerſchmettert in den Graben. Die ganze Feſte iſt ein Meer von Flammen. Auf zum Sturm! – Du weißt nicht, wie du die Eiſenkugeln machen ſollſt? Lies doch im Buche nach! – Reich mir das Buch, –“

Die Hände des Fiebernden taſteten ſuchend auf der Bettdecke umher. „So reich mir doch das Buch!“, wiederholte er lauter.

Die Witwe ſtand ratlos am Lager des Kranken. Sie konnte ſich nicht erklären, was der Meiſter meinte. Denn ein Buch hatte ſie niemals bei ihm geſehen.

Als dann das Fieber nachließ, lag er erſchöpft und ziemlich frei von Schmerzen in den Kiſſen ſeines Lagers. Unermüdlich pflegte ihn die Witwe mit linder Hand, als wenn er ihr Vater wäre. An einem hellen Märztage fühlte ſich der Alte etwas leichter, aber er ahnte, daß ſeine Stunde gekommen war. Er ließ den alten Pfarrer rufen und bereitete ſich auf den Tod vor.

Sodann ſprach er mit ſchwacher Stimme:

„Meine Rechnung mit dem Herrgott iſt nun abgeſchloſſen. Meine irdiſche Hinterlaſſenſchaft iſt bald geregelt. Vernehmet meinen letzten Willen:

Verwandte habe ich nicht. Ich beſitze wenig Gut. Meine Kleider ſchenke ich den Armen, mein Geld teilt ihr in drei Teile. Den erſten erhält die Kirche, den zweiten beſtimme ich für mein Begräbnis und den dritten erhält meine treue Pflegerin, die Witwe Freyermuth.

Die goldene Ehrenkette ſchenke ich Klein-Lisbeth. Denn golden ſind ja auch ihr Haar und ihr Gemüt; ſie ſoll an ihrem Hochzeitstage die Kette tragen und des alten Meiſters gedenken.

Das wertvollſte, das ich beſitze, das Buch, in dem ich alle Geheimniſſe meines Handwerks und alle Erfahrungen meines Lebens aufgezeichnet habe, ſei Henning und Gerd zu eigen.“

Müde ſank er in die Kiſſen zurück. Mit letzter Kraft drückte er den beiden Jungen die Hände und ſprach mit verlöſchender Stimme: „Denkt eures alten Meiſters! Werdet Männer!“

Noch einen Augenblick lag ſeine abgezehrte Rechte ſegnend auf Lisbeths Blondhaar, dann ſchlichen die Kinder weinend hinaus. Gegen Morgen entſchlief der Meiſter ruhig und friedlich.

Drei Tage ſpäter trugen ihn die Rotgießer, die ihn mit Stolz als einen der ihrigen beanſpruchten, zu Grabe. Ratsherren und Bürger folgten der Bahre, der als einzige Freunde Henning und Gerd und deren Mutter mit Lisbeth vorangingen.

Auf dem alten Kirchhofe, neben der Kathedrale, wo er ſein letztes, reifſtes Werk vollendet hatte, bettete man den Müden, und die große Glocke klang in dumpfen, ernſten Schlägen dazu. Die Witwe Freyermuth beſtellte beim Steinmetzen eine einfache Grabplatte, in die Henning und Gerd der Sitte der Zeit entſprechend nur des Meisters Siegel, die Hausmarke mit der Steinbüchſe darunter, einmeißelten. Sie konnten nicht ahnen, daß die Kunſthiſtoriker unſerer Tage das Leben, die Fahrten und die Werke des großen Meiſters Hans Buſſengeter in gelehrten Folianten darſtellen und in Diſſertationen die Frage erörtern würden, in welchem Jahre der Meiſter geſtorben iſt.

Nach der Leichenfeier ging der Pfarrer in das kleine Haus an der Mauergaſſe und öffnete die Truhe des Verſtorbenen. Die Kleider legte er für die Armen bei Seite. Er zählte das Geld und teilte es in drei Teile.

Es war doch mehr, als man erwartet hatte. Da die Ausgaben für das Begräbnis den dafür beſtimmten Anteil nicht aufbrauchten, ließ die Witwe Freyermuth von dem Reſt ein Glasfenſter anfertigen, wie es die wohlhabenden Bürger für die Stadtkirche zu ſtiften pflegten. Gerd entwarf mit wenigen Strichen ein Bild des Glockengießerofens. Der Glaſermeiſter fertigte nach dieſer Vorlage ein kunſtvolles Glasfenſter an, das mit ſeiner lebendigen Darſtellung und ſeinen leuchtenden Farben einen Schmuck der Stadtkirche bildete. Heute gehört das Kunſtwerk, leider dunkel und trübe geworden, als das „Glockengießerfenſter“ zu den Sehenswürdigkeiten Falkenbergs. Dann fand man die goldene Ehrenkette des Meiſters. Gerd hing ſie um Lisbeths ſchlanken Hals. Das Mädchen jauchzte vor Freude, brach dann aber in Schluchzen aus, da es ſeines toten Freundes gedachte.

Damit war die Truhe leer. Das erſehnte Buch hatte man nicht gefunden. Sollten es nur Fieberreden, wirre Gedanken eines Sterbenden geweſen ſein, als der Alte das Buch erwähnte?

„Das Buch iſt vorhanden“, ſprach Gerd.

„Wir müſſen und werden es finden“, rief Henning.

Sie unterſuchten die ſchön geſchnitzte Truhe ſorgfältig und beklopften ſie von allen Seiten. Der Boden gab einen dumpfen Klang. Henning maß die Tiefe der Truhe genau aus. „Sie hat einen doppelten Boden!“, rief er triumphierend.

Dann nahm er Hammer und Meißel und begann den Boden aufzubrechen. Er mußte alle Kräfte aufbieten, bis es ihm gelang, ein Stück des feſten Eichenholzes loszuſprengen. „Das Buch!“, ſchrie er laut und zog eine mäßig dicke in Schweinsleder gebundene kleine Handſchrift aus dem Verſteck hervor.

Neugierig ſah der Geiſtliche hinein. Die vielen techniſchen und künſtleriſchen Bilder ergaben ihm, daß hier eines der damals üblichen Merkbücher vorlag, in denen die Meiſter Abſchriften aus älteren Quellen zu ſammeln und ihre eigenen Erfahrungen niederzulegen pflegten.

„Das könnte ein reiches Erbe ſein“, ſprach der Prieſter, indem er das Buch den Brüdern überreichte, „lernt Gutes daraus und keine Schurkenſtreiche.“ –

In der nächſten Woche hatten Henning und Gerd nur Sinn für das Buch.

Nun erſt erkannten ſie, welche mannigfachen Kenntniſſe Meiſter Hans beſeſſen hatte.

Den Anfang machte ein längerer Aufſatz, der in hebräiſchen Schriftzeichen geſchrieben war und nach einer Anmerkung am Rande von der Goldmacherkunſt handelte. Ein ganzer Abſchnitt betraf die Malerei. Dann kamen mehrere Seiten über die Gewinnung und Scheidung edler Metalle mit vielen lateiniſchen Kapiteln. An verſchiedenen Stellen waren Aufzeichnungen über die Verwendung der großen Büchſen und Feuerrohre, über die Belagerung feſter Städte und Burgen, über die Anlage von Mauern und Laufgräben, über Kriegsfeuer und Brandkugeln eingeſtreut. Auch die oft mit Farben angelegten Federzeichnungen ſtellten meiſtens Kriegsgeräte dar. Ferner war das eigentliche Handwerk des Buſſengeter, die Gießkunſt, in vielen Kapiteln ausführlich behandelt. Endlich fanden ſich auf manchen Blättern Merkſprüche, die von der Lebensklugheit des Meiſters Zeugnis ablegten.

Das war in der Tat ein Schatz, der mehr Wert hatte als Geld und Gut, wenigſtens für denjenigen, dem die Aufzeichnungen nicht nur beſchriebene Blätter waren, der das Buch zu verwerten verſtand. Henning und Gerd beſchloſſen von dem koſtbaren Erbe nichts zu erzählen und baten auch den Pfarrer darüber zu ſchweigen. Sie verfertigten ſich Abſchriften von den Kapiteln, die ſie beſonders feſſelten.

Henning beſchäftigte ſich am meiſten mit den kriegstechniſchen Abhandlungen, während Gerd das „Kunſtbuch“ und das „Bergbuch“ abſchrieb. Auch manche Zeichnung kopierte er ſorgfältig.

Gleich ſtark beſchäftigten ſich beider Gedanken mit dem geheimnisvollen hebräiſchen Text. Unzweifelhaft hatten ſie hier den Schlüſſel zur größten aller Künſte, zur Goldmacherei. Leider aber konnten ſie mit dieſem Text vorläufig nichts anfangen. Denn auch der alte Pfarrer erklärte, daß er zwar Latein und etwas Griechiſch verſtehe, aber kein Hebräiſch. Sie mußten alſo ihre Ungeduld bezähmen und warten, bis ſich die Pforte zu dieſem Geheimnis öffnete. Als die Frühlingsſtürme mit ihrem warmen Atem die ſchlafende Erde weckten, ſchlummerte das Buch, das Wunderbuch, wie ſie es nannten, wieder wohl geborgen im Doppelboden der Truhe, aber ſein Inhalt wirbelte in den Köpfen der Brüder umher. Beſonders ein Wort des Meiſters konnte Henning nicht vergeſſen:

Willtu des Lebens Kampf beſtan,
So mußtu Krafft und Wiſſen han!

Junge Helden!

Es war an der Zeit, daß die Brüder einen Beruf erwählten. Die Mutter meinte, daß aus dem friſchen Älteſten ein gewandter Kaufmann werden könne, aber dieſer lehnte ab:

„Mutter, ich mag nicht hinter der Theke verdorren. Ich will auch kein feiſter Pfefferſack, kein gelber Wucherer werden, gleich denen, die meine Vorfahren um Hab und Gut gebracht haben. Wenn Meiſter Hans noch lebte, wäre ich ſein Geſelle geworden und wäre mit ihm hinausgezogen in die Welt, um alte Schande auszutilgen. So aber will ich ein Kriegsmann werden, gleich meinen Ahnen.“

Und davon ließ er ſich nicht abbringen. Wohl ſah die Mutter mit Stolz auf den kräftigen Sohn, der ſeinem Vater an Wuchs und Weſen mit jedem Tage ähnlicher wurde, und gern hätte ſie ſeinem Wunſche nachgegeben, aber ſie mußte ihm ſagen, daß er nur als einfacher Fußſöldner Dienſt nehmen könne. Wie ſollte ſie das Geld für Roß und Rüſtung aufbringen! Henning, der bei dem Meiſter Buſſengeter gelernt hatte, daß der Krieg ein Handwerk iſt, das techniſche Kenntniſſe verlangt, war ſo verſtändig, daß er ſich bereit erklärte, zuerſt bei einem tüchtigen Grobſchmied in die Lehre zu gehen.

Gerd ſollte nach der Mutter Wunſch ein Gelehrter werden, und in ihrem Mutterſtolze malte dieſe ſich den Gedanken aus, daß ſie ihn dereinſt als Ratsſyndicus oder gar als kaiſerlichen Notar vor ſich ſehen werde. Wenn ſie auch den einen Sohn den Kämpfen und Fährniſſen des Lebens und der Fremde ausſetzen mußte, ſollte wenigſtens der andere in ihrer Nähe bleiben, und ſie hoffte bei ihm ihr Alter in Ruhe und Frieden zu beſchließen. Aber Gerd hatte andere Pläne.

„Verlange alles von mir, nur nicht, daß ich modrige Urkunden ſtudiere oder verſtaubte Pandekten wälze und dann über alte Bücher ein neues ſchreibe. Nicht die Vergangenheit, ſondern die neue Zeit zieht mich an. Ich will ein Künſtler werden, wie es Hans Buſſengeter war, ein Meiſter in Erz und Stein, ein Mann, der Hilfe weiß, wo Not iſt.“

Der ſtille Meiſter Silberſchmied war gern bereit, den begabten Jungen in die Lehre zu nehmen.

Die Brüder hatten ſich in ihr vorläufiges Schickſal gefunden und ſollten in wenigen Wochen zu ihren Lehrherren überſiedeln. Da traten Ereigniſſe ein, die alle Pläne über den Haufen warfen.

Zwiſchen dem Pfalzgrafen und ſeiner guten getreuen Stadt Falkenberg hatte ſich in der letzten Zeit immer mehr Zündſtoff angeſammelt, der eines Tages in Brand geraten mußte. Der Zwieſpalt begann, als die Stadt ſich im Vorjahre mit ziemlich fadenſcheinigen Gründen weigerte, die Hochzeit der jungen Gräfin in ihren Mauern zu feiern. Dann hatte der Rat mehrfach eigene Leute des Grafen in den Stadtfrieden aufgenommen und damit der Hoheit ihres Herrn entzogen. Dem Grafen waren Zins und Fron geſchmälert, während die Stadt auf ihr Wildfangrecht pochte und den Zuzug kräftiger Bauern gern ſah. Das Wild in den herrſchaftlichen Forſten, die ſich bis unter die Mauern Falkenbergs erſtreckten, nahm merkwürdig ſtark ab, und der Graf vermutete, daß ſeine verſchwundenen Haſen, Rehe und Wildſchweine im Magen der wohlgenährten Falkenberger Handwerksgeſellen ein unrühmliches Ende gefunden hätten; er drohte, den erwiſchten Wilddieben die Haut abzuziehen, aber er fing keinen, der ſeine Haut zu Markt tragen wollte. Und als man wegen der Wilddiebe Briefe wechſelte, kam ein neuer Zwiſchenfall: Ein Wirbelwind wehte in einer milden Sommernacht das gräfliche Wappen, das gebieteriſch über dem Rathaustor prangte, auf das ſchlechte Pflaſter herab, wobei es elend in Stücke ging. So wenigſtens ſchilderte der Brief des Rates an den Pfalzgrafen dieſen Vorfall.

Alle dieſe Zwiſtigkeiten wären am Ende beigelegt worden, da kam die Sache mit dem Veit Bobfinger. Dieſer Dienſtmann des Grafen betrieb nebenbei das Gewerbe eines Stegreiters, und die Städter hatten ihm manche fortgetriebene Kuh und manchen aufgehobenen Kaufmannswagen dick angekreidet. Zur großen Frühjahrsmeſſe ritt er keck und kühn in die Stadt ein, ſtieg an der Herberge zur Linde ab, nahm in der erhöhten Laube, wo die vornehmen Gäſte ſaßen, Platz und zechte wacker bis in den hellen Nachmittag hinein. Denn er fühlte ſich im Schutze der Marktfreiheit, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang währte, ſicher und geborgen. Veit dachte noch nicht ans Aufbrechen und führte gerade prahleriſche Reden, als plötzlich die Rathausglocke den Markt ausläutete. Da drangen auch ſchon die Stadtknechte in die Gaſtſtube ein und erklärten den Bobfinger für ihren Gefangenen. Der Räuber hatte im Nu das Schwert bloß, und der Sprecher lag mit blutender Stirn am Boden. Zu einem zweiten Streich kam Veit nicht mehr, denn ein dicker Fleiſchhauermeiſter ſchlug ihm mit einem Schemel die Waffe aus der Hand. Die Verletzung des ſtädtiſchen Söldners war nicht ſchwer, aber Veit Bobfinger hing drei Tage ſpäter mit einem Halstuche aus ſchönem weißen Hanf an dem neuen hohen Galgen, auf den die Falkenberger ſo ſtolz waren, und der Wind trieb den munteren Reitersmann luſtig hin und her. Der Pfalzgraf behauptete, die Städter hätten den Markt ſchon eine Stunde vor Sonnenuntergang ausgeläutet und dadurch ſeinen Dienſtmann wider Recht und Brauch gefangen. Der Rat wehrte ſich gegen dieſe Beſchuldigung, die das Anſehen der Stadt ſchwer ſchädige, und drohte mit einer Klage vor Kaiſer und Reich. Dem Pfalzgrafen wurde die Sache zu dumm, er antwortete mit der Überſendung des Fehdebriefes und rückte mit Heeresmacht vor das unbotmäßige Falkenberg.

Der Angriff richtete ſich gegen die Oberſtadt, gerade dort, wo ſich an den wuchtigen Eckturm das kleine Häuschen der Witwe Freyermuth anlehnte.

Vorläufig verfügte der Pfalzgraf nur über leichtes Geſchütz. Man bezweifelte auch, daß er bei ſeinem Geldmangel ſchwere Steinbüchſen, Mauerbrecher, beſchaffen könne. Falkenberg war alſo noch nicht in großer Gefahr, immerhin verhehlten ſich die Bürger nicht, daß die kleine Stadt auszuhungern ſei, und Handel und Wandel erlitten ſchweren Schaden.

Unter denen, die den Ernſt der Lage ſtark betonten, war beſonders Doktor Nauheim, der Onkel, oder richtiger geſagt, der Vormund der jungen Eliſabeth von Schadeck, der kleinen Freundin der Brüder Freyermuth.

Die Klugheit des Herrn Doktor war ebenſo geachtet und gefürchtet, wie man ihn perſönlich verachtete und mied. Er galt als hartherziger Wucherer, als ſchlauer Rechtsverdreher und war überdies ein entſchiedener Parteigänger des Pfalzgrafen, der denn auch nicht mit Gunſtbezeugungen geſpart und ihn freigebig mit Gütern und Gerechtſamen belehnt hatte. In der Stadt ſpielte Doktor Nauheim als Münzer eine bedeutende Rolle.

Ganz anders als Doktor Nauheim fühlten die Brüder Freyermuth. Sie waren mit der ganzen Begeiſterung ihrer jungen Herzen bei der Verteidigung ihrer Vaterſtadt, eher bereit, ſich in Stücke hauen zu laſſen, als nur einen Turm der Landwehr aufzugeben. Aber mit dem größten Mißbehagen betrachteten ſie die einfachen Verteidigungsmittel der Bürger.

Schwerter, Spieße, Steine, kochendes Waſſer, ſiedendes Öl, Pechkränze, Armbrüſte und vielleicht ein Dutzend kleine Pulverrohre, das waren die einzigen Verteidigungswaffen auf der Mauer.

Wie viel beſſer und wirkſamer waren doch die im Buche des Meiſters Buſſengeter beſchriebenen Kriegswerkzeuge und Kriegsfeuer! Ach, wenn der Meiſter jetzt noch unter ihnen weilte! Wie würde er dem Pfalzgrafen zum Tanze aufſpielen! Doch der Alte war tot! Nein, er lebte in ſeinem Buche, ſie beſaßen dieſes, und ihre Aufgabe war es, die Stadt zu retten!

Nach längerer Überlegung beſchloſſen Henning und Gerd, dem Rat ihr Wiſſen anzubieten.

Am nächſten Morgen, als der Rat verſammelt war, gingen ſie zum Rathaus.

Freundlich, doch etwas herablaſſend empfing ſie der behäbige Bürgermeiſter. Stotternd erzählten ſie, daß ihnen der verſtorbene Glockengießer viele Kriegskünſte gezeigt habe, die ſie dem Rate mitteilen möchten.

Wohl hatten ſie ſich geſchworen, das Buch nicht zu nennen, doch Doktor Nauheim verſtand es durch geſchicktes Ausfragen, deſſen Exiſtenz bald herauszufinden. Auf ſeine nebenbei hingeworfene Anregung befahl der Rat den Jungen, das Buch zu bringen.

Mit recht zweifelhaften Gefühlen folgten Henning und Gerd dem Befehle.

Doktor Nauheim griff mit ſeinen langen, mageren Fingern nach der Handſchrift. Und während er Blatt um Blatt umwendete, ſprach er: „Ei, ei, Latein und Hebräiſch! Ei, ei, darin ſteht vielleicht etwas, was dem Feinde mehr nützen kann als der Stadt; das iſt nichts für Kinder! Mit eurer Erlaubnis, ihr Herren, werde ich das Buch in Verwahr nehmen und es zu Hauſe genau durchſehen.“

Da die meiſten Ratmänner mit der Kunſt des Leſens und Schreibens auf geſpanntem Fuße ſtanden, ſtimmten ſie dem Vorſchlage des Münzers zu.

Damit waren Henning und Gerd entlaſſen, betrübt zogen ſie ab. Einer gab dem anderen die Schuld, das Buch erwähnt zu haben. Seit langer Zeit war dies ihr erſter Zwiſt.

Als nach einigen Tagen der Bürgermeiſter den Doktor Nauheim nach dem Buche fragte, entgegnete dieſer:

„Ich habe es verbrannt, denn es enthält nur dummes, abergläubiſches Zeug, Rezepte für Liebestränke und Salben, um ſich unſichtbar zu machen, Beſchreibungen von Maſchinen zum Fliegen und von Apparaten, um unter Waſſer zu gehen, Wetterprophezeiungen und ähnlichen Unſinn.“

Damit hatte die Sache ihr Bewenden,

Die Brüder waren wütend, als ſie die abfälligen Äußerungen Doktor Nauheims vernahmen. „Müſſen wir es uns gefallen laſſen“, knirſchte Gerd, „daß dieſer Schuft und Wucherer das Andenken unſeres Meiſters verunehrt? Dabei hatte der Meiſter mehr im kleinen Finger als dieſer Doktor in ſeinem ganzen krummen Körper.“

Henning entgegnete nachdenklich:

„Laß gut ſein, Gerd. Hinter dem Gebahren des Menſchen ſteckt aber mehr. Er hat das Buch nicht verbrannt, der ſcheinheilige Heuchler. Ich habe den gierigen Blick ſeiner Augen bemerkt, als er in dem Buche blätterte. Ich ſage dir, der Schurke verrät die Stadt. Wer arme Jungen um ihr Erbe betrügt, iſt zu allen Schandtaten fähig. Er ſchießt einen Pfeil mit einem Brief ins feindliche Lager und ſchickt den Pfalzgräflichen das Rezept für die heimliche Brandfackel oder das Blatt mit der Pulvermine, damit ſie die Mauer unterfahren und in die Luft ſprengen. Und der Pfalzgraf wird es ihm reichlich lohnen.“

„Der Teufel, der ſein Geſelle iſt, ſoll’s ihm lohnen!“, rief Gerd. „Aber was können wir beginnen?“

„Wir müſſen die Augen offen halten“, entgegnete Henning, „und morgen beizeiten von der Mauer ausſpähen.“

Am nächſten Morgen, als die Sonne die erſten Strahlen über die Dächer ſchickte, ſchlüpften die Jünglinge aus der Haustür und eilten zum Turm, wo ihr Freund Götz, der ſtädtiſche Büchſenſchütze herrſchte.

Sie ſprangen die ſchmale Wendeltreppe empor und fanden den alten Kriegsmann, als er durch die enge Schießſcharte aufmerkſam ins feindliche Lager ſpähte.

Wütend knurrte er zur Begrüßung:

„Wenn ich nur wüßte, was da drüben vorgeht.“

Und er wies auf einen aus Weiden geflochtenen Schirm, der etwa zweihundert Schritte von der Mauer entfernt im Felde aufgeſtellt war. Ausgeworfene Erde und Felsbrocken zeigten an, daß man dort baute.

„Wollen ſie dort eine große Büchſe einbauen? Wollen ſie uns eine Trutzburg vor die Tür ſetzen? Da ſtimmt doch etwas nicht. Ich hätte gern einige Kugeln dahin gepflanzt, um ihnen die Suppe zu verſalzen. Denn meine größte Büchſe ſchießt ſcharf genug, um ihnen den Schirm zu brechen. Aber ich darf nicht; der Rat hat das Schießen verboten, ich glaube, auf Betreiben dieſes falſchen Hundes, des Doktor Nauheim.“

Henning zog Gerd zur Seite:

„Ich hab’s“, ſprach er, „komm ſchnell.“

Der Büchſenſchütze ſah ihnen verblüfft nach, als ſie die Treppe hinunterſtürzten.

Vor dem Turm ſtand Henning einen Augenblick ſtill und flüſterte Gerd zu:

„Sie bauen keine Steinbüchſe ein. Sie graben im feſten Fels einen tiefen Gang, ſie wollen den Turm unterminieren. Wir müſſen ihnen zuvorkommen und ſie ausheben, wie der Jäger den Fuchs.“ Zu Hauſe ergriffen die Brüder Hacke und Schaufel und ſtiegen in den Keller hinab, der unter den Grundmauern ihres Häuschens bis an die Stadtmauer reichte.

In unruhigen Zeiten hatte der frühere Beſitzer unter dem Keller ein geheimes Verlies ausgehoben, um darin das wertvollſte Gut vor den gierigen Augen fremder Kriegsvölker zu verbergen.

Die Knaben hoben eine der ſchweren ſteinernen Fußbodenplatten auf und ſtiegen in das Verſteck hinab.

Sie warfen ſich platt auf den feuchten Boden, der aus gewachſenem Fels beſtand, und lauſchten angeſtrengt.

Ihr ſcharfes Ohr vernahm bald das Geräuſch von Schlägen.

Minierte der Feind wirklich? Das Herz ſtand ihnen faſt ſtill, da ſie an die Gefahr dachten, die unter der Erde an die Stadt herankroch.

Sie lauſchten wieder. Aus Furcht gehört zu werden, wagten ſie kaum zu atmen.

Jetzt, ein Krachen, wie wenn größere Mengen Geſtein einfallen.

Es war nicht mehr zu bezweifeln, der Feind minierte!

„Wir müſſen gegenminieren“, flüſterte Henning.

„Wir müſſen es dem Rate melden“, hauchte Gerd.

„Unſinn, damit Doktor Nauheim wieder den alten Eſeln ſagt, wir dumme Jungen ſollten Beſſeres tun, als verſtändige Leute zum Narren halten. Nein, wir verfolgen die Sache ſelbſt weiter.“

Sie begannen vorſichtig den weichen Fels unter der Grundmauer wegzukratzen.

Es war für die Knaben eine beſchwerliche Arbeit.

Als ſie einen Gang von Mannslänge ausgehoben hatten, lauſchten ſie wieder, indem ſie das Ohr rechts und links an die Wandung preßten. Deutlich hörten ſie, daß das Geräuſch von rechts herkam. So gruben ſie daraufhin rechts ſchräg nach unten.

Schmutzig, Haar und Kleider voll Sand, erſchienen ſie ſpät zur Abendſuppe.

Einſilbig und müde ſaßen ſie da, und die Mutter konnte wenig aus ihnen herausbringen. Sie verrieten nicht, wo ſie den Tag über geweſen waren,

Am nächſten Morgen ſtiegen ſie wieder in den ehemaligen Schatzkeller hinab, der ſchon hoch gefüllt war mit ausgegrabenem Geröll. Aber ſie waren ihrer Sache nicht mehr ſicher. Bisweilen hörten ſie einige verdächtige Geräuſche, doch das Hämmern und Klopfen hatte aufgehört.

Der ſchwächere Gerd ward müde und mutlos, aber Henning blieb feſt:

„Um ſo beſſer, wenn ſie heute nicht bauen, denn wir ſind verloren, wenn wir unvermutet auf ſie ſtoßen. Vorwärts, ſchaffe den Sand weg. Ich grabe allein weiter.“

Und ohne noch die Gefahr einer Entdeckung zu fürchten, hieb er mit Hammer und Eiſen wie wild drauf los und grub ſich ein wie ein Dachs.

Gegen Mittag klang es hinter der Geſteinswand dumpf und hohl, Vorſichtig arbeitete Henning weiter.

Plötzlich fuhr das Eiſen durch den Fels.

Schnell und in haſtiger Eile erweiterte Henning das Loch, ſo daß er den Kopf und den Arm mit der kleinen Öllampe hindurch ſtecken konnte.

Ein Ausruf des Staunens und zugleich des Schreckens entfuhr ſeinem Munde.

Er erblickte eine in den Felſen gehauene kleine Kammer. Sechs Fäſſer, in zwei Reihen aufgeſtellt, füllten den engen Raum. Der ſchmale Zugang auf der anderen Seite war durch ſchwere Steine und Geröll dicht verdämmt und verſchloſſen.

Das Bild der Pulvermine aus dem Buche des Meiſters Hans Buſſengeter war zur Wirklichkeit geworden, „Die Pulverkammer iſt gefunden“, ſtieß Henning haſtig hervor. „Schnell, ſonſt ſind wir alle verloren!“

Und er hieb auf die trennende Felswand ein, daß die Geſteinstrümmer polternd niederfielen.

Bald war die Öffnung ſo weit, daß ſie ihre ſchlanken Körper hindurchzwängen konnten. Gebückt ſtanden ſie in der niedrigen Kammer.

„Um Gotteswillen, achte auf das Licht“, rief Gerd, „ſonſt geht das Pulver an.“

„Wo mag die Lunte ſein?“, überlegte Henning.

Während ſie noch in dem dunklen Raume ſuchend umherſpähten, hörten ſie ein verdächtiges Kniſtern, das von dem verbauten Eingang herkam. Und ſie erblickten eine Lunte, die, mit feinkörnigem Pulver beſtreut, wie eine grauſchwarze Schlange auf dem Boden lag.

Was war das?

Über den Rücken dieſes Untiers lief ein heller Funke, den Pulverfäſſern näher und näher.

Schreckensſtarr ſtand Gerd, er hatte ſeine Hände gefaltet. Seine Lippen bewegten ſich, doch beten konnte er nicht. Der geiſtesgegenwärtige Henning aber ſtürzte ſich auf den ſprühenden Funken, zertrat ihn mit den Füßen, riß die Pulverſchlange mit den Händen auseinander und ſtreute Sand darüber.

Erſt jetzt empfand auch Henning, in welcher äußerſten Gefahr ſie geſchwebt hatten. Sie ſaßen auf den Pulverfäſſern, unfähig zu denken und zu handeln. Als ſie ſich wieder beruhigt hatten, krochen ſie ſchnell wie Füchſe aus ihrem Bau und riefen beherzte Männer aus der Nachbarſchaft herbei.

Als die Leute aus den haſtigen Worten der erregten Knaben entnommen hatten, welche Entdeckung dieſen geglückt war, folgten ſie eilends.

Der ſchmale Gang wurde erweitert, die Fäſſer wurden vorſichtig herausgeſchafft und auf der Diele der Witwe Freyermuth geöffnet. Von allen Seiten ſtrömten die Bürger herbei. Denn die Nachricht von der Entdeckung der Knaben hatte ſich wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Die allgemeine Erregung benutzte Henning, um aus jedem Faß eine tüchtige Menge Pulver beiſeite zu ſchaffen.

„Wer weiß, was noch kommt“, ſagte er zu Gerd, „Schießpulver ist zu vielem nütze.“

Der dicke Bürgermeiſter kam ſchnaufend in eigener Perſon herbei, drückte der Witwe herzlich die Hand und klopfte Henning und Gerd wohlwollend auf die Schultern:

„Aus euch wird noch etwas Rechtes werden, ihr habt die Stadt gerettet. Ihr ſeid Helden.“

Das würdige Stadtoberhaupt ſprach es, und beifällig nickten die Bürger.

Lisbeth kam freudig herbeigerannt und forderte eine genaue Beſchreibung des Abenteuers.

„Wie ſeid ihr überhaupt auf den Gedanken gekommen, daß der Feind die Mauer untergraben hat? Keiner in der ganzen Stadt hat daran gedacht, nur ihr allein. Ihr müßt ſchrecklich klug ſein.“

Die Brüder atmeten ſchwer.

„Es war ein Zufall, Lisbeth.“

„Das glaube ich euch nicht. Ihr wollt es mir nur nicht ſagen. Schon lange merke ich, daß ich euch zu dumm bin. Ich komme nicht wieder zu euch.“

Weinend ging ſie davon.

So ſtolz die Brüder auf ihre Tätigkeit beim Glockenguß geweſen waren, ſo still und bedrückt ſchienen ſie heute zu ſein.

Bleich und ſcheu gingen ſie in den nächſten Tagen umher.

„Der Schreck hat die Jungen krank gemacht“, ſagten die Nachbarn und ſie hatten nicht unrecht.

Eine ſchwere Laſt bedrückte die Herzen der Brüder. Sie wußten, daß – der Vormund ihrer Freundin ein Verräter war!

Ihr Gemüt wurde erſt etwas leichter, als durch die geſchickte Vermittlung des Doktor Nauheim einige Wochen ſpäter der Friede zwiſchen den feindlichen Parteien zuſtande kam. Man ſchwor Urfehde, erneuerte die alten Verträge und machte einen dicken Strich durch die beiderſeitigen Schuldkonten.

Aber die Rachtung koſtete die kleine Stadt mehrere Tauſend Gulden, wovon zehn Prozent in die mit ſchweren Eiſenbändern beſchlagene Geldtruhe des Doktor Nauheim wanderten.

Der Goldmacher

Einförmig und ruhig fließt ein Tieflandſtrom dahin. Einförmig und ruhig verſtrömt auch das Leben in einer kleinen Stadt zwiſchen den einengenden Deichen althergebrachter Gewohnheiten und nützlicher Arbeit. Doch wie zuweilen die Sturmflut das ſtille Waſſer auſpeitſcht, daß es die Dämme durchbricht, ſo erregen von Zeit zu Zeit ungewöhnliche Ereigniſſe eine friedliche Stadt und machen ſie zu einem brodelnden Keſſel der Leidenſchaften. Nach den arbeitsreichen Tagen des Glockenguſſes und der erhebenden Feier der Glockenweihe kam die unruhevolle Fehdezeit. Die Flut erregender Geſchehniſſe verebbte dann im ſtumpfen Gleichmaß des täglichen Allerlei. Gevatter Schneider, Schuſter, Schmied und Strumpfwirker gingen wieder in ehrſamer Gelaſſenheit ihren nützlichen Gewerben nach, hielten ihre Morgenſprachen, ärgerten ſich über die blauen Montage ihrer Geſellen, hechelten eifrig die Verordnungen durch, die ein hochweiſer Rat zur Förderung gemeinen Wohls erließ, und brüſteten ſich hinter vollen Humpen der Heldentaten, die ſie bei der Verteidigung ihrer Vaterſtadt vollbracht hätten, wenn die Gelegenheit dazu vorhanden geweſen wäre. Auch die behäbigen Ackerbürger übten wieder mit Eifer ihre nährende Tätigkeit aus, ſie betrachteten wohlgefällig die wachſenden Miſthaufen an der Straße und ſchauten zufrieden der ſtattlichen Herde von Kühen und Schweinen nach, die der Gemeindehirt mit Tuthorn und Peitſche bewaffnet allmorgendlich zum Brückentor hinaus- und am Abend den heimatlichen Ställen wieder zutrieb. Und nach des Tages Mühe schlummerte die ganze Stadt ruhig und ohne Sorgen ein. Denn der Türmer wachte über das Wohl Falkenbergs.

Dieſer Frieden wurde jäh geſtört.

Auf einmal lief ein Gerücht um. Es war zuerſt klein, wurde immer größer, ergriff Haus um Haus, erfüllte Gaſſe um Gaſſe und lag zuletzt wie ein böſer Alpdruck unheildrohend über der Stadt.

Man erzählte ſich, zuerſt leiſe und vorſichtig umſichblickend, dann laut und offen:

„Doktor Nauheim hat ſeine Seele dem Teufel verſchrieben! Der Wucherer hat in ſeiner unerſättlichen Geldgier ſein ewiges Heil verkauft. Dafür lehrt ihn der Gottſeibeiuns das Goldmachen!“

Seltſame Dinge trugen ſich in dem hochgiebligen Münzhauſe zu. Schwere Dämpfe brodelten aus dem Kamin des Flügelanbaues, widerliche Gerüche beläſtigten die Nachbarſchaft.

Sorgfältig verſchloß Doktor Nauheim abends alle Fenſter und Luken, aber durch die Riſſe und Spalten der Läden ſahen Neugierige feurige Öfen glühen und eigenartige Glasgefäße dampfen, an denen ein kleiner, ſchwarzhaariger Mann hantierte.

Den abergläubiſchen Beobachtern lief ein ſchauderndes Gruſeln nach dem andern über den Rücken, und ſie erzählten, daß der Münzer ſich dieſen Gehilfen aus dem ſagenhaften Orient, aus dem zauberkundigen Ägypten oder aus dem geheimnisvollen Indien verſchrieben habe. Alte Weiber behaupteten ſogar, daß der Künſtler des Nachts durch die Luft angekommen ſei.

„Wie kann ein ehrlicher Chriſtenmenſch einen ſchwarzen Heiden in ſeinem Dienſte haben?“, murrte das Volk.

Der ehrwürdige Stadtpfarrer ſchüttelte zu dieſen Gerüchten den Kopf und ſuchte die Bürger zu beruhigen, aber das Gerede verſtummte nicht und drang bald auch zu den Ohren eines hohen Rates. Der Bürgermeiſter machte dem Doktor Nauheim Vorhaltungen und erſuchte ihn ernſtlich, ſeine Verſuche einzuſtellen und den Alchemiſten fortzuſchicken, ja er drohte ſogar, den ſchwarzen Hexenkünſtler aus dem Weichbilde der Stadt peitſchen zu laſſen. Aber Doktor Nauheim, geldgierig und herrſchſüchtig, war längſt gegen die Stimme der Mitwelt taub geworden; er zuckte die Achſeln und ſchlug Warnung und Drohung in den Wind.

Die ſtinkenden Dämpfe quollen nach wie vor aus den Kaminen, und die Öfen leuchteten allnächtlich wie zum Hohn.

Bald darauf befiel ein großes Sterben die Stadt. Der „ſchwarze Tod“ ſchlug in den lichtloſen Winkeln und Gaſſen der engen Altſtadt ſeinen Herrſcherſitz auf und würgte Männer und Frauen, Junge und Alte.

Die Volksmenge beſchuldigte Doktor Nauheim und ſeinen Gehilfen, mit ihren Mixturen die Brunnen vergiftet, durch die abſcheulichen Dämpfe ihrer Schmelz- und Deſtillieröfen die Luft verpeſtet und damit das große Sterben verurſacht zu haben. Überall ſah man grimmige Geſichter und geballte Fäuſte. Stimmen wurden laut, das Münzhaus zu ſtürmen, den Doktor Nauheim ſamt ſeinem Gehilfen an den Fenſterkreuzen des Hauſes aufzuhängen und ihre Leiber in den Flammen der Hexenöfen zu verbrennen.

*

Einen Pfeilſchuß vor der Stadtmauer entfernt lag am Schindanger eine kleine aus Holz und Raſen erbaute Hütte. Dort hauſte des verſtorbenen Waſenmeiſters Wittib, die bald neunzigjährige Pernella. Das Gewerbe des Waſenmeiſters galt gleich dem des Scharfrichters als unehrlich. Einſam und verlaſſen lebte der Abdecker mit ſeiner Familie, von allen braven Bürgern gemieden und verfemt.

Nach dem Tode des Waſenmeiſters waren deſſen Söhne in die weite Welt davongezogen, um dem Fluche zu entrinnen, der auf dem Handwerk ihres Vaters lag.

Seitdem hauſte die Alte in der einſamen Hütte in menſchenſcheuer Verbitterung. Unheimlich erſchien ſie der Umwelt. Die beerenſuchenden Kinder liefen ſchreiend davon, wenn die gebeugte Geſtalt der Alten unvermutet im Walde auftauchte. Die jungen Dirnen ließen ſich nicht gern ſehen, wenn ſie, die Schürze über den Kopf gezogen, des Abends zu ihr ſchlichen, um ſich einen Liebestrank für den ungetreuen Schatz brauen zu laſſen, und nur die Sorge um ihr krankes Kind brachte die Mütter dazu, ſich von ihr einen Heiltrank zu holen.

Als die Alte von der Not der Stadt erfuhr, verſprach ſie, Zauber durch Zauberei zu bannen.

Eine Neumondnacht lag lichtlos und ſchwer über der Erde. Da kam Pernella vom Schindanger zurück. In der Rechten trug ſie ein Büſchel friſchgepflückter Kräuter. Ihr ſchwarzer Hund folgte ihr auf den Ferſen.

In der Hütte entfaltete ſie eine emſige Tätigkeit.

Sie ſchürte die Glut des verräucherten Herdes, daß die Flammen hoch aufloderten. Darüber ſetzte ſie einen dreibeinigen Eiſentopf. Dann malte ſie mit Rötel einen Drudenfuß auf die Türſchwelle. Neben der Feuerſtelle lehnte eine große Puppe mit ſpitzem Hute, die geſchickt aus Stroh und Baſt angefertigt war.

In den Topf tat die Alte Stechpalmenbeeren, Krötenaugen, einen getrockneten und zerſtoßenen Salamander und das Herz einer ſchwarzen Henne. Hinzu kamen Wolfshaare und der ausgepreßte Saft der friſchgepflückten giftigen Wolfsmilch.

Als die Stundenglocke vom Turm der Stadtkirche mit langen Schlägen die Mitternachtsſtunde verkündete, war der Sud am Kochen. Da ergriff Pernella die Puppe und legte um ihren Hals eine Schlinge, die aus einem dünnen Weidenſchößling gefertigt war. Und als die Glocke den zwölften Schlag tat, ſprach ſie mit halblauter Stimme die Beſchwörungsformel:

„Eins iſt Eins,
das iſt keins,
drei und drei,
ſchon kocht der Brei.
Feuer brennt, das Metz das ſticht,
und die Weid iſt zugericht,
Peſt und Tod die Stadt verdirbt.
’s iſt genug. Der Frevler ſtirbt.
Drei- und viermal geh ich um.
Satan, dreh den Hals ihm rum!“

Dann zog ſie mit ihren knöchernen Fingern die Schlinge zu, ſchwenkte die Puppe ſiebenmal herum, das Geſicht nach Mitternacht gewendet, und warf das Zauberwerk ins Feuer, wo es im Nu zu Aſche verbrannte. –

Nach drei Tagen fand Doktor Nauheims Schaffnerin am Morgen den Gehilfen tot im Laboratorium liegen. Seine Züge waren wie von Entſetzen verzerrt. Übelriechender, dicker Qualm erfüllte den Raum. Die Öfen waren erloſchen.

Die Alchemistenküche des Dr. Nauheim

Wer konnte noch daran zweifeln, daß der tote Alchemiſt das Verderben über die Stadt gebracht hatte!

Eine erregte Menge füllte den Marktplatz.

Ein Lohgerber führte das große Wort.

„Den einen hat ſchon der Teufel geholt, auch der andere ſoll dran glauben!“, ſchrie er, „Los, holt den Halunken aus den warmen Federn!“ Ein Haufe drang gegen das Münzhaus vor, das mit ſeinen verſchloſſenen Fenſterläden wie ſchlafend dalag. Der Lohgerber polterte gegen die Tür.

„Aufmachen! Komm heraus, Leuteverderber!“

Doktor Nauheim dachte nicht daran, der freundlichen Aufforderung nachzukommen. Er befahl, Lisbeth durch die Hintertür zur Witwe Freyermuth zu bringen, und verkroch ſich auf dem höchſten Boden des Hauſes.

Die erſten Steine flogen gegen die Läden.

Einige Männer ſchleppten einen Wiesbaum herbei.

„Hier bringen wir den Schlüſſel“, riefen ſie, andere packten zu und rumms! donnerte der Baum gegen die Tür. Aber die vorgelegten Riegelbalken hielten und wichen auch beim zweiten und dritten Stoße nicht.

Der Bürgermeiſter ſchnaufte herbei, er drängte ſich mühſam durch die Menge und ſtellte ſich mit erhobenen Armen vor die Tür. „Leute!“, rief er, „Männer, Bürger, hört!“

Die außer Rand und Band geratenen Falkenberger ſchrieen das Stadtoberhaupt nieder, ein leichter Stoß mit dem Wiesbaum warf ihn in den Straßenſtaub. Der Bürgermeiſter glaubte ſchon, daß ſein letztes Stündlein gekommen ſei, da erſchien die Stadtwache, handfeſte Kerle, die ſich auf ſolche Sachen verſtanden.

Dem Angriffe der bewaffneten Macht waren die Tumultanten nicht gewachſen, und als die Hauptſchreier ihre Beulen und Kopfnüſſe weghatten, flaute die Erregung ab. Der Weibel ſtellte den geſtrengen Bürgermeiſter wieder auf die dicken Beine und klopfte ihm den Staub vom Gewande. Als er ſich aber grimmigen Blicks nach den Ruheſtörern umſah, waren dieſe verſchwunden, und der Wiesbaum lag verlaſſen auf der Gaſſe.

„Nehmt das corpus delicti in Verwahr“, befahl der Bürgermeiſter. Dann klopfte er gebieteriſch an die Tür des Münzhauſes.

Nach einer Weile wurde die Schaffnerin ſichtbar. Hinter ihrem breiten Rücken tauchte Doktor Nauheim auf. Dieſer wollte dem Bürgermeiſter für den Schutz danken, da hatten ihn auch ſchon zwei Stadtknechte gepackt und gefeſſelt.

Vor den Rat geführt, leugnete Doktor Nauheim jede Schuld. Hochfahrend ſagte er:

„Laßt mich mit dieſen Ammenmärchen in Ruhe! Ich bin ein Lehnsmann des Pfalzgrafen und unterſtehe nur ihm als Richter. Von euch fordere ich für die Beſchädigung meines Hauſes und für die Kränkung meiner Perſon tauſend Gulden.“

Die Stadtväter kraulten ſich nachdenklich hinter den Ohren. Da war guter Rat teuer! Mit dem Pfalzgrafen durfte man es nun nicht gleich wieder verderben, und mit der Bürgerſchaft auch nicht.

Da faßte ſich der ſtille Meiſter Silberſchmied ein Herz. Leiſe, aber feſt ſagte er:

„Doktor Nauheim hat als Münzer ſeit Jahren das Geld verfälſcht. Dies beſchwöre ich bei allen Heiligen.“

Nun war die „peinliche Befragung“, das heißt die Folter, nicht mehr zu umgehen. In der gewölbten Halle des Stockturmes, in der „Kapelle“, wo ſchon ſo mancher arme Sünder gebeichtet hatte, der ſonſt nicht gern zur Beichte ging, wurde der Angeklagte an den zuſammengebundenen Händen hochgezogen, während an ſeinen Füßen ein Zentnerſtein hing. Nun geſtand der Unglückliche alles, Goldmacherei, Falſchmünzerei und zuletzt den ſchimpflichen Verrat der Stadt. Er beſchrieb haargenau, wie er einen ahnungsloſen Stadtknecht dazu gebracht hatte, den Pfeil mit der Zeichnung der Pulvermine in das pfalzgräfliche Lager zu ſchießen.

Damit war Doktor Nauheims Schickſal beſiegelt.

Von der Freitreppe des Rathauſes aus verlas der Ratsſchreiber das Urteil:

„Item“, ſo hieß es nach Aufzählung mehrerer Fälle unchriſtlichen Wuchers gegen arme Bürger der Stadt, „der Maleficiant Nauheimb, geweſter Münzer einer guten und wehrhafften Stadt Falckenbergh, ſeit Jahren die Münze verfälſchet hat, item er angeſchuldigt iſt des Vergehens einen ſchwartzen Hayden in ſeinem Hauſe beherberget zu haben, er mit ſotanem Böſewicht teufliſche Alchimei getrieben, item er den Schwartzen Todt in die Stadt gebracht und ſonſtig böſe Zauberey verübet, wodurch viel Volk jämmerlich verderbet worden. Item der genannt Nauheim in ſchweren Kriegsläuften, da der Feind mit Heeresmacht und viel Geſchütz vor der Stadt gelegen, dieſem in Allem Vorſchub geleiſtet und einen Zedul mit einer Viſierung zugeſandt, dermaßen der Feind die Mauern unterminieret, und beſagter Feind die Stadt erſtürmet, geplündert und verbrannt hätte, wenn dieſe Büberei nicht durch des allmächtigen Gottes gnädige Fügung von ein Paar junge Burſche entdecket und ſo die Stadt gerettet wäre. Welche delicta der beſagt Nauheimb dieſerhalb gefänglich in den Turm geſetzet bey der hochnotpeinlichen Befragung alle geſtanden.

Darumb ſo ſolle ihm geſchehen nach Urtel und Recht:

So ſolle der Henker dem Delinquenten am ſiebenten Tage nach dem Urtelsſpruch auf dem freyen Markte ſein Wappen zerprechen, ihn branntmarken und mit glühenden Zangen zwicken, darnach ſolle er von zween Ochſen uff einer Pferdehaut zum Schindtanger geſchleyffet werden. Allda werde ſein Leib von vier wilden Pferden nach allen vier Winden auseinandergeriſſen. Auch ſolle der Scharpfrichter den ellenden Leib unter dem Galgen mit Feuer verbrennen und die Aſche uff den Schindtanger umherſtreuen.

So ſey Gott der armen Seel genedig.“

Und der Richter brach den Stab über dem Haupte des Verurteilten. Schweigend vernahm die Menge den harten Spruch.

Der Teufel geht um

Fürchterliche Stunden verlebte Klein-Lisbeth in dieſen Tagen. Zwar liebte ſie ihren geſtrengen, finſteren Vormund nicht, aber ſie ſah mit Bewunderung und kindlicher Verehrung zu dem klugen Manne auf. Auch war dieſer trotz ſeines verſchloſſenen Weſens immer freundlich gegen das kleine Mädchen geweſen.

Lisbeth wußte nicht, welche ſchreckliche Todesart dem Manne beſtimmt war; aber was ſie hörte, genügte, um ihr alle Faſſung zu nehmen. Dazu kamen die Schande, eines Verräters und Ehrloſen Mündel zu ſein, und die Angſt, in einem Hauſe zu wohnen, das jedermann mied und das für alle Zeiten verrufen und verfemt war.

Ihre einzige Zufluchtſtätte war das kleine Haus der Witwe Freyermuth. Dort verbrachte ſie den größten Teil des Tages und die ſtille, feine Frau betreute das arme Mädchen mit mütterlicher Liebe.

„Nun habe ich zu meinen wilden Buben noch ein zartes, liebes Mägdlein bekommen“, pflegte ſie zu ſagen, wenn ſie Lisbeths Tränen mit freundlichem Zuſpruch trocknete.

Henning und Gerd erfüllten alle Wünſche, die ſie ihrer Spielgefährtin an den Augen abſehen konnten.

Längſt hegten ſie keine Rachegedanken mehr gegen Doktor Nauheim. Wohl konnten ſie den Verluſt des Buches nicht verſchmerzen, aber an das Verbrechen der Zauberei glaubten ſie nicht, hatte doch ihr verehrter Meiſter ihnen geſagt:

„Kinder, Zauberei gibt es nicht. Unſer Herrgott hat keinem Sterblichen die Macht verliehen, ſeinen Mitmenſchen durch geheime Künſte zu ſchaden. Es wird eine Zeit kommen, da man dieſen Irrtum verlacht und die Armen bedauert, die ſolchem Wahne zum Opfer gefallen ſind. Denn:

Eitel Dunſt ſind Zauberein,
Wunder tut nur Gott allein.“

Sie hüteten ſich aber derartige Gedanken zu äußern, denn in jenen Zeiten war es ſchon gefährlich, einen der Zauberei Beſchuldigten zu bemitleiden.

Beide warteten mit Sehnſucht darauf, daß es dem Einſpruch des Pfalzgrafen gelingen werde, Doktor Nauheim als ſeinen Lehnsmann frei zu bekommen.

Aber die Städter, übermütig geworden, ſeit jenem Tage, da der Graf ſieglos von ihren Mauern abgezogen war, wieſen jede Fürſprache zurück.

So war der Tag der Hinrichtung ſchon bei der Urteilsverkündung feſtgeſetzt worden.

Damit wenigſtens dieſer Schrecken Klein-Lisbeth erſpart bleibe, hatte der Rat Botſchaft an Verwandte des Mädchens geſandt, die im fernen Niederdeutſchland wohnten.

Ein Ritter kam mit bewaffnetem Gefolge in die Stadt und holte die Kleine ab.

Das war ein trauriger Abſchied.

„Wir ſehen uns wieder“, ſagte Lisbeth. „Ich weiß beſtimmt, einen von euch werde ich heiraten, nicht den ſtärkſten, nicht den klügſten, nicht den ſchönſten, ſondern den, der der liebſte iſt.“ Weinend und ſchluchzend hing ſie an Gerds Halſe. Ihre letzten Worte waren: „Rettet meinen Oheim!“

Dann hob ſie der Ritter zu ſich auf das Pferd und ſprengte, gefolgt von ſeinen Reiſigen, davon, daß die Funken toben, als fürchte er, daß ſich die Schande hinter ihm in den Sattel ſetzte. –

Das Wort: „Rettet meinen Oheim“ klang in den Herzen der Brüder nach.

Lange lagen ſie an dieſem Abend auf ihrem harten Lager wach und pflegten eifrig Rats.

Es war ihnen einmal gelungen, mit Hilfe der Kenntniſſe, die ſie dem Buche ihres Meiſters verdankten, die ganze Stadt zu retten, ſollte ihnen das Buch jetzt nicht helfen können, einen Unglücklichen vor einem ſchrecklichen Tode zu bewahren?

Der erſte Erfolg gab ihnen den Mut zu einem verzweifelten Wagnis.

Die Morgendämmerung fand ſie ſchon in dem Schuppen, der ihre Werkſtatt barg.

Gerd ſuchte zuerst in ſeiner Abſchrift aus dem Buche des Meiſters das Rezept auf: „Einen Geſtangk zu machen“ und miſchte ſeltſames Zeug zuſammen.

Dann ſchlug er das Blatt „Eißen zu verbrennen“ auf. Er nahm ein beſtimmtes Quantum von dem beiſeitegeſchafften Pulver, vermengte es mit Schwefel und füllte die Maſſe in einen Beutel.

Nach einer Zeichnung des Buches verfertigte er ſodann aus Papier, Leinwand und Weiden ein merkwürdiges Ungeheuer, das ſich mit ſeiner grellen Bemalung bei Tage mehr lächerlich als furchterweckend ausnahm. In das Innere ſetzte er eine alte Laterne. Währenddeſſen baute Henning aus armlangen Eichenhölzern und Bolzen eine zuſammenlegbare Leiter, eine richtige Nürnberger Schere. Am oberen Ende hatte die Schere Haken, mit denen man ſie an Fenſtergeſimſe anhängen konnte.

Mit dieſen ſeltſamen Vorbereitungen verſtrich der ganze Tag. Am Abend gingen ſie zur Beichte.

Des anderen Morgens traten Henning und Gerd vor ihre Mutter und ſprachen:

„Liebe Mutter! Du wohnst hier in der kleinen Stadt in guter Hut, und die Rente, die der Rat dir für die Aufdeckung der Pulvermine ausgeſetzt hat, ſchützt dich vor Not. Wir aber können hier nichts mehr lernen. Die Knabenſchuhe haben wir ausgetreten, und Männern muß ein rauherer Wind um die Naſe wehen als die linde Luft in unſerem ſtillen Falkenberg. Uns lockt die Fremde, wir wollen eiwas Rechtes lernen. Hier, wo wir ſogar den Rat belehren müſſen, kann unſeres Bleibens nicht ſein.“ Die Mutter hatte dieſen Tag längſt kommen geſehen. Aber der Gedanke, die beiden ſtolzen Söhne, die ſtark und kräftig wie junge Eichbäume heranwuchſen, in die kalte Welt ziehen zu laſſen, bedrückte das Mutterherz doch ſchwer, und als die Witwe ihre Zuſtimmung gab, perlten helle Tränen in ihren Augen. Sie ſprach:

„Geht mit Gott, liebe Kinder, denkt immer eurer Mutter und vergeſſet nicht, daß ihr aus dem alten, ritterbürtigen Geſchlecht der Freyermuth ſtammt.“

Sie ſegnete die Jünglinge, die tief bewegt vor ihr niederknieten.

*

Henning und Gerd ſchnürten ihr Bündel. Sie vergaßen nicht, die Aufzeichnungen aus dem Buche ihres Meiſters, in geölte Leinwand ſorglich eingehüllt, zu ihren wenigen Habſeligkeiten zu packen.

Dann nahmen ſie Abſchied vom Grabe ihres Meiſters und von den Freunden und Bekannten.

„Die braven Jungen vermiſſen ihre kleine Freundin und wollen Doktor Nauheims Hinrichtung nicht mit anſehen“, ſo dachten die Bürger.

Den letzten Beſuch machten beide auf der Stadtmauer bei ihrem alten Freunde Götz.

Sie ſtanden an der engen Schießſcharte und ſahen lange hinaus ins Blachfeld, nach der denkwürdigen Stelle, wo der Pfalzgraf im Schutze des Weidenſchirmes den Minengang angelegt hatte.

Und der bärbeißige Götz knurrte:

„Seid ihr nun doch ſchon flügge, ihr Grünſchnäbel? ’s iſt reichlich früh, mein ich.

Hab immer geglaubt, daß du, junger Fant“, ſo wandte er ſich an Henning, „einmal des alten Götz Nachfolger werden ſollteſt. Hätte es keinem ſo gegönnt wie dir, du Blitzjunge.

Ha, wie lachte mir das alte Herz im Leibe, wenn ich dich an den ſchweren Mauerbüchſen hantieren ſah!

Und vergiß nicht, was dich der alte Götz lehrte, ein Geſchütz ſo zu laden und zu richten, daß, Potz Blitz, die Kugel da einſchlägt, wo ſie hingehört. Wirſt es wohl noch brauchen können, mein ich. Und merk gut auf, was dir ein alter Büchſenſchütze zu ſagen weiß: Es iſt wohl zu achten, daß man ein rechtes Ziel im Auge habe, auf daß Kugel und Ladung nicht unnötig vergeudet werden.

Und iſt das Ziel erkannt, dann gut geladen und gezielt und nicht lange gefackelt, und, bei Sankt Barbara, der Schuß ſitzt.

Aber gut Ding will Weile haben. Sonſt ſchießeſt du über das Ziel hinaus, und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu ſorgen.

Und beherziget noch eines: Nicht jedem Menſchen ſoll man gleich über den Weg trauen. Wohl einen Scheffel Salz muß man mit manchen eſſen, und man kennet ihn doch noch nicht.“

So wußte der alte Eiſenfreſſer ihnen gute Lehren mit auf die Fahrt zu geben, und als die Beiden mit kräftigem Handſchlag davongingen, brummte der Büchſenſchütze vor ſich hin:

„Verdammt! Hab gar nicht gewußt, daß ich ſie ſo gern habe. Ein Stück meines Lebens iſt mit ihnen davongegangen. Werden es weiter bringen in der Welt als der alte Götz.“

Henning und Gerd zogen am anderen Tage ab, nachdem ſie vorher noch Hof und Keller ihrer Mutter gründlich geſäubert hatten. Einen ganzen Karren voll Schutt fuhren ſie zum Tore hinaus. Das fanden die Nachbarn wieder ſehr lobenswert an den braven Jünglingen.

Hätten ſie geahnt, was unter der Ladung verborgen war! –

Es war am Abend vor der Hinrichtung.

Viel fremdes Volk, das nach den rohen Sitten einer rauhen Zeit das ſchreckliche Schauſpiel einer Brandmarkung mit der anſchließenden greuelvollen Hinrichtung genießen wollte, füllte die Herbergen Falkenbergs oder hatte bei ſeiner Freundſchaft Unterſchlupf gefunden.

Auch die Bürger erwarteten erregt den kommenden Tag. Der gemeine Mann ſah mit Behagen, daß es dieſes Mal nicht ſeinesgleichen, ſondern ein Beſitzender, ein Patrizier, ja daß es der beſtgehaßte Doktor Nauheim war, den die ſtrafende, unerbittliche Hand der Nemeſis erreicht hatte. Den Leuten in den reichen Häuſern klopfte das Herz, wenn ſie daran dachten, daß der Unglückliche neben ihnen gewohnt und neben ihnen in der Kirche und im Rate geſeſſen hatte.

Der Tag war rauh und unfreundlich. Ein ſtarker Wind wehte, und der Himmel war mit grauen Wolken verhangen, aus denen der Regen troff.

Gegen Abend ward der Wind zum Sturm. Er pfiff mit wuchtigen Stößen um die Dächer, daß es in den Schornſteinen heulte und die Wetterfahnen der Rathaustürme ſich knarrend drehten, er jagte die zerfetzten Wolken, daß ſie wie eine Schar wilder Pferde vorüberſtürmten.

„Das wütende Heer zieht um“, ſagten die Bürger gruſelnd an den Kaminen, krochen furchtſam ins warme Neſt und riegelten die Türen der Bettladen zu.

Die halbverrückte Pernella in der Hütte am Schindanger aber wußte es wieder einmal beſſer:

„Der, der den Diener geholt hat, weiß, daß er morgen den Herrn auch bekommt. Darum ſchlenkert er heute den einen in Erwartung des anderen in wilder Fahrt ſo toll durch die Lüfte“, brummelte ſie mit zahnloſem Munde.

Währenddeſſen ſaß der Gefangene in der Kerkerzelle des Stockturmes.

Der Pfarrer hatte ihn verlaſſen. Doktor Nauheim wußte, daß der heutige Abend ſein letzter war. Auch die Art ſeiner Hinrichtung war ihm bekannt. Die Begnadigung zum Schwert war ſeine einzige Hoffnung. Ein bitteres Lächeln ſpielte um ſeine bleichen Lippen bei dem Gedanken an dieſe Art von Gnade.

Vor ihm lag das Buch des Buſſengeters; er hatte ſich die Aufzeichnungen unter der Angabe, es ſei ein frommes Buch, ins Gefängnis bringen laſſen.

Aber vom Inhalte des Buches ſchweiften ſeine Gedanken immer wieder zu dem, was ihm bevorſtand.

Er trat an das kleine vergitterte Fenſter und preßte ſein Haupt an die Stäbe.

Draußen raſte der Sturm. Sogar der feſte Turm ſchien unter ſeinem Anprall zu zittern. Aber nicht minder gewaltig war der Aufruhr in der Bruſt des unſeligen Mannes.

Mit Aufbietung aller Willenskraft zwang er ſich zur Ruhe. Er verſuchte ſich wieder mit dem Buche zu beſchäftigen.

Dann ging er wieder eine Zeit lang mit unruhigen Schritten, die Hände auf der Bruſt gekreuzt, auf und ab.

Die Mitternachtsſtunde ſchlug. Doktor Nauheim trat wieder zum Fenſter und ſpähte ſinnend hinaus in die unfreundliche Nacht. Der Sturmwind kam von weit her und brauſte davon zur ewigen Ferne.

„Hilfe, Hilfe!“, ſchrie der Gefangene und rüttelte mit beiden Fäuſten an den Fenſterſtäben wie ein wildes Tier an den Gittern ſeines Käfigs.

Das Heulen und Fauchen des Windes hörte eine Weile auf, der Sturm ſchien eine Atempauſe zu machen.

Mit brennenden Augen und hämmernden Schläfen ſah der Unglückliche hinaus in die dunkle Ferne, die ihm im prangendſten Frühlingskleide nie ſo verlockend erſchienen war wie jetzt.

Da draußen in der Finſternis lag die Rettung!

Plötzlich erſchrak er bis zum tiefſten Grunde ſeiner Seele.

Dort aus dem Dunkel flog es heran. Eine furchtbare Erſcheinung, ein phosphoreszierendes Geſpenſt, ein fletſchender Drache, ein ſchwarzer Teufel mit glühenden, glotzenden Augen und flammendem Rachen.

Das war der Fürſt der Unterwelt, dem er ſich durch ſeine Sünden verſchrieben hatte zu ewiger Höllenqual!

Das Geſpenſt ſchwebte lautlos näher, jetzt hatte es das Fenſter erreicht.

Klirrend zerbrachen die Scheiben. Die Eiſenſtäbe erglühten und bogen ſich wie dünne Weiden.

Ein furchtbarer Geſtank von Pech und Schwefel erfüllte den Raum. Doktor Nauheim lag wie gelähmt auf dem Boden. Er wollte um Hilfe rufen, aber kein Laut entrang ſich ſeinen Lippen.

Da packte ihn eine feſte Hand. Ein brüllender Schrei kam aus ſeinem Munde, er krümmte ſich wie ein getretener Wurm.

„Faßt euch“, ſprach Henning, „es iſt keine Zeit zu verlieren.“

Doktor Nauheim ſah mit leeren Augen auf und erkannte ſeinen Retter. Jetzt hatte er ſeine Geiſtesgegenwart wieder gefunden. Blitzſchnell raffte er das Buch, das Henning als dasjenige des Meiſters Buſſengeter erkannte, vom Tiſche und verbarg es in ſeinem Gewande. Als er die Leiter beſteigen ſollte, verſagten ſeine Kräfte, er zitterte wie Eſpenlaub. Henning nahm ihn auf den Rücken und kletterte mit ſeiner Bürde die ſchwankende Leiter hinab. Als der Gerettete feſten Boden unter den Füßen ſpürte, gab er Henning von hinten einen Stoß, ſo daß dieſer in das Geſtrüpp fiel, und verſchwand in der Finſternis, als habe ihn der Erdboden verſchlungen. Nach kurzem Suchen gaben die Brüder die Verfolgung auf.

„Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren“, flüſterte Henning, „das Buch iſt fort, wer weiß, wohin. Mach raſch! Nicht alle Männer Falkenbergs ſind feige Memmen. Ein Kerl wie der alte Götz wagt es, einem Spuk zu Leibe zu gehen. Wehe uns, wenn man uns hier findet!“

So nahmen ſie die Leiter ab und eilten zu der Stelle des Waldes, an der ſie ihre Habe verborgen hatten.

Dort verſcharrten ſie die Werkzeuge dieſer Nacht und verwiſchten ſorgfältig alle Spuren. Trotz des ſchlechten Wetters nahmen ſie die Beine in die Hand, und als der Tag graute, waren ſie ſchon ein gutes Stück von dem Schauplatz ihrer Taten entfernt. –

Bei Tagesgrauen kam der Henker mit ſeinen Knechten, um den Verurteilten zum letzten Gange abzuholen.

Verſtört eilte ihnen der noch immer ſchreckensbleiche Turmwart, der vorher nicht gewagt hatte, ſeine Kammer zu verlaſſen, entgegen und berichtete von den Erſcheinungen der vergangenen Nacht und von dem markerſchütternden Entſetzensſchrei des Gefangenen. „Es iſt der Böſe ſelber geweſen“, ſtieß der Turmwart hervor, „denn ich bekreuzigte mich ein über das andere Mal, als der Höllenſpuk losging. Wohl ſiebenmal ſprach ich: ‚Alle guten Geiſter loben Gott, den Herrn!‘ Und du weißt, dieſer Spruch hilft ſonſt gegen jeden Spuk. Aber der Teufel grinſte nur, grinſte, wie nur der Teufel grinſen kann. Und ich war froh, daß er mich in Ruhe ließ und nur mit dem Nauheim davonfuhr.“

Der Scharfrichter, abergläubiſch und roh, bekreuzigte ſich ebenfalls, dann ſchnäuzte er ſich und meinte:

„Schade, daß mir ein Anderer zuvorgekommen iſt. Da hätte ich eine gute Gelegenheit gehabt, zu zeigen, daß ich mein Handwerk verſtehe, aber, wuppdich! geht ſie mir an der Naſe vorbei! Der Doktor hätte geſungen wie ein Hund bei Vollmond. Darauf kannſt du dich verlaſſen. Schade, ſchade!“

Er wiegte ſeinen viereckigen Schädel bedauernd hin und her.

„Schade, um den ſchönen Spaß, doppelt ſchade um das ſchöne Geld, das mir entgangen iſt. Ein Geizkragen war der Nauheim ſchon bei Lebzeiten, der die armen Leute hinten und vorn betrogen hat. Und nun beſchummelt er mich noch um meinen Lohn!“

„Ja, Freund!“, meinte er dann zum Torwart, „es iſt heute für einen armen Scharfrichter ſchwer, ſein ehrliches Brot zu finden. Niemand will mehr gerädert, gevierteilt, geköpft, gehängt oder mit glühenden Zangen gezwickt werden. Nein, nein! Es iſt nicht mehr ſchön auf der Welt. Das war früher doch eine ganz andere Zeit!“

Die Knechte des Henkers grinſten beifällig.

„Was nun?“, fragte einer der Knechte. „Packen wir unſeren Kram zuſammen und ziehen wir wieder nach Hauſe?“

„Lauf zum Bürgermeiſter, damit er weiß, daß wir zur Stelle ſind.“

Es dauerte eine Weile, bis die Stadtväter ankamen. Denn ſie wollten ihre Feiertagsgewänder anlegen und waren mit der Toilette noch nicht fertig.

Der Turmwart berichtete. Nun waren es bereits zwei Teufel, die in der Gefängniszelle um die Seele des Doktor Nauheim einen hölliſchen Zweikampf ausgefochten hatten, weil keiner dem anderen den fetten Braten gönnte, und die dann gemeinſam mit dem Verlorenen davongefahren waren.

Der Bürgermeiſter machte ein ungläubiges Geſicht und befahl die Tür der Zelle zu öffnen. Es dauerte lange, bis der Turmwart ſich zu dieſem gefährlichen Wagnis bereitfand. Denn er war doch nicht ganz ſicher, daß alle zwei Teufel wirklich abgefahren waren.

Zaghaft öffnete er die Tür, wich dann aber zurück und ließ dem Bürgermeiſter den Vortritt. Auch dieſer ſtreckte vorerſt nur den Kopf hinein. Als ihm der übelriechende ſchweflige Geſtank entgegenſchlug, brachte er mit einem Satze ſeinen Bauch in Sicherheit.

Dann drangen mutige Männer in die Zelle ein. Es ſtank noch immer abſcheulich nach dem Teufel, aber man konnte in dem Raume atmen. Da ſah man die zerſchmolzenen und wie dürres Holz zerbrochenen Fenſtergitter. Nun war kein Zweifel mehr: Der Teufel hatte in höchſteigener Perſon den Verurteilten bei lebendigem Leibe geholt!

Das fremde Volk, das um das widerliche Schauſpiel der Hinrichtung gekommen war, diskutierte lebhaft das hölliſche Ereignis und trank dabei viel des guten dicken Falkenberger Bieres. Beſonders erregt ging es in der Altſtadtſchenke zu, in welcher der Turmwart den erlittenen Schrecken mit ungezählten Kannen des edlen Gerſtenſaftes fortſpülte. Der Turmwart als einziger Tatzeuge und damit wichtigſte Perſönlichkeit des Tages mußte ſein Erlebnis immer wieder zum Beſten geben. Die Zahl der Teufel nahm dabei immer mehr zu, und ſchließlich waren Beelzebubs Trabanten in hellen Scharen um den Turm geflattert wie Tauben um den Taubenſchlag.

Kein Wunder, daß ſich die Köpfe unter dem Einfluß dieſer Schilderungen und des genoſſenen Bieres erhitzten. Bei Feierabend war der Durſt der Zecher noch lange nicht gelöſcht, und als die Schenke geräumt werden ſollte, fielen läſternde Worte über Bürgermeiſter und Rat, die ſich vom Teufel hatten betrügen laſſen und nun ehrſame Bürger daran hindern wollten, die Haut Doktor Nauheims nach Recht und Billigkeit zu verſaufen. Die Betrunkenen randalierten dann auf den Gaſſen weiter und brachten ſchließlich dem Stadtoberhaupt eine Katzenmuſik dar. Aber die Scharwache war auf dem Poſten. Sie griff die ärgſten Schreier nicht grade mit ſanften Pfötchen aus dem Haufen und brachte ſie in den Turm. Im Stock verflogen Rauſch und Mut. Hungernd und frierend ſaßen ſie in der Finſternis des Kerkers, quiekende Ratten waren ihre einzige Geſellſchaft, und als ſie nach einigen Tagen entlaſſen wurden, ſchwuren ſie ſich, nie wieder das Vergnügen einer Hinrichtung mitmachen zu wollen.

Auch die Geiſtlichkeit beſprach das ſeltſame Geſchehen. Die einfachen Mönche zweifelten nicht an der Höllenfahrt des Doktor Nauheim. Aber als am Sonntag Nachmittag der Stadtpfarrer den Abt beſuchte und nach deſſen Meinung fragte, entgegnete dieſer bedächtig:

„Ich habe mich bei dem Kerkermeiſter eingehend erkundigt. Was von ſeiner Schilderung glaubhaft iſt, erinnert mich an das, was mir vor Jahren auf meiner Fahrt nach dem heiligen Lande ein weitgereiſter, gelehrter Muſelmann von den Luftdrachen der ſchlitzäugigen Heiden auf der Inſel Katai erzählt hat. Ich glaube weniger an Teufels als an Jungens Werk.“

Dem Pfarrer kam ein Gedanke.

Er dachte an die wirren und unklaren Äußerungen, die Henning und Gerd in der letzten Beichte gemacht hatten. Der Zuſammenhang zwiſchen deren plötzlicher Abreiſe und dem ſeltſamen Verſchwinden des Doktor Nauheim lag nahe. Aber er mußte ſchweigen. Denn das Beichtgeheimnis band ſeine Zunge. Mit mildem Lächeln entgegnete er dem Abte:

„Was ſollen wir uns über eine Löſung den Kopf zerbrechen. Wir ſind beide alt, und bald werden wir alle Geheimniſſe der Welt wiſſen.“

In fremdem Sold

Henning und Gerd ſchnitten ſich die Wanderſtöcke aus einer Schwarzdornhecke und zogen wohlgemut in die Fremde. In der ſorgloſen Unbekümmertheit ihrer Jugend zweifelten ſie nicht daran, daß irgendwo in der Ferne das Glück darauf wartete, von ihnen am Schopfe gepackt zu werden.

Der ſtarke Henning reckte die Arme.

„Wir werden das Buch finden, und wenn wir bis an das Ende der Welt wandern müſſen!“

Die Sonne ſchien noch warm vom blaßblauen Himmel, und der Wald glühte in bunten Herbſtfarben. Doch als die Jünglinge dem gewundenen Laufe des Neckar folgten, ſtrich der Wind ſchon kühl um die Talhänge. Und als ſie die breite Rheinebene gewannen, um auf der alten Straße am Fuße des Odenwalds entlang gen Norden zu ziehen, rüſteten die Störche bereits zur großen Reiſe, abends hörten ſie den hellen Trompetenruf der Kraniche, die in keilförmig geordneten Zügen nach Süden ſtrebten, und ehe die Schatten der Nacht herabſanken, hüllte der Nebel Au und Ried in feuchtgraue Schleier.

Da erkannten die Brüder, daß jetzt nicht die rechte Zeit war, weit umher zu wandern, und daß ſie klug täten, in ein warmes Neſt zu ſchlüpfen, bevor der Winter Weg und Steg durch Eis und Schnee verſperrte.

Nach vierzehntägiger Wanderung erreichten ſie die große Stadt Frankfurt. In der Schenke „Zum ſilbernen Engel“ fanden ſie gutes Quartier. Sie ſäuberten ſich vom Staub der Reiſe und gingen dann durch die Stadt.

Noch nie hatten die Brüder eine ſo große und volkreiche Stadt geſehen. Die hochragenden Paläſte am Römerberg kündeten von Reichtum und Macht, die ſauberen Bürgerhäuſer verrieten behäbigen Wohlſtand, die farbigen Malereien an den Giebeln der Fachwerkbauten ließen auf frohen Kunſtſinn der Bewohner ſchließen. Und dieſe herrliche Stadt umſchloß ſchützend ein ſteinerner Panzer von dicken Mauern mit vielen wehrhaften Türmen und wohlgeſchirmten Toren. Dort, wo der große Kriegsmann Karl der Franke einſt auf ſeinem Zuge gegen die trutzigen Sachſen die ſchnellen Waſſer des Mains durchritten hatte, überſpannte eine ſteinerne Brücke mit kühnen Bogen den breiten Fluß.

Halb betäubt von dem Geſchauten, verwirrt durch all das Neue, das auf ſie eingeſtürmt war, ſaßen die Brüder am Abend in der Gaſtſtube ihrer Herberge und ließen ſich mit dem geſunden Hunger der Jugend das Abendeſſen gut ſchmecken. Als Gerd endlich den Löffel hinlegte, ſagte er:

„Traun, dies iſt eine große und betriebſame Stadt. Und freundlich und kunſtſinnig ſind hier die Menſchen. Wir ſollten hier bleiben.“ Henning pflichtete ihm bei.

„Die Stadt iſt reich und mächtig. Doch ihre Bürger ſind davon nicht faul und fett geworden. Sie mehren ihren Beſitz und wiſſen das Erworbene zu ſchützen und zu erhalten. Es wird uns nicht ſchwer fallen, hier Arbeit zu finden.“

Der Wirt brachte ihnen einen kleinen Krug würzigen Apfelwein. „Ein guter Trunk wird euch nach dem Eſſen nicht ſchaden“, meinte er freundlich.

„Unſerm Magen vielleicht nicht“, gab Henning zurück, „wohl aber unſerm Beutel. Wir müſſen einteilen und uns kurz halten, bis wir Arbeit gefunden haben.“

Dem Wirt gefiel Hennings offene Antwort. Er ſetzte ſich zu ihnen auf die Ofenbank und ſagte:

„An Arbeit ist in unſeren Mauern kein Mangel: Sagt, könnt ihr ſchreiben und rechnen?“

„Das wohl“, entgegnete Henning etwas zögernd. „Doch warum fragt ihr darnach?“

„Werdet es bald hören“, gab der Wirt zur Antwort. Er ging zu einem Tiſche, an dem einige ältere Männer in ruhiger Unterhaltung ſaßen.

Nach einiger Zeit rief er Henning an den Tiſch.

„Seht! Zeugmeiſter, dies iſt der Jüngling, der einen guten Gehilfen für euch abgeben könnte.“

Der Zeugmeiſter muſterte den Nähertretenden aus grauen Augen forſchend vom Kopf bis zu den Füßen.

„Kannſt du gut ſchreiben und rechnen?“, fragte er dann.

„Wohl, Herr.“

„Laß das Wort Herr“, wehrte der Zeugmeiſter ab. „Ich bin der Frankfurter Zeugmeiſter, und das genügt mir. Haſt du Luſt mir zu dienen? Ich brauche einen Schreibknecht.“

„Dienſt nehmen möchte ich bei euch ſchon“, erwiderte Henning, „aber Schreiber werden, das ſagt mir nicht zu. Lieber wäre es mir, wenn ich euch beim Pulvermachen und beim Laden der Büchſen helfen dürfte.“

„Auch dazu wird ſich Gelegenheit finden“, meinte der Büchſenmeiſter. Er fragte nach Name und Herkunft und ſtreckte endlich Henning die Rechte hin: „Schlag ein, mein Junge! Es gilt! Morgen fängſt du bei mir mit der Arbeit an.“

Henning bat den Zeugmeiſter, nun auch für Gerd eine Lehrſtelle zu beſorgen.

„Bring deinen Bruder morgen früh mit. Dann werden wir ſehen.“

„Und wo kann ich euch finden?“, fragte Henning.

„Fragt nur nach dem Zeugmeiſter“, entgegnete der Mann nicht ohne Stolz, „und jedes Frankfurter Kind zeigt euch mein Haus. – Engelwirt, was die Jünglinge ſchuldig ſind, das kreidet ihr mir an.“

Es fiel Henning nicht ſchwer, die ihm übertragene Aufnahme der Zeugbeſtände raſch zu erledigen. Er ſchrieb die Liſte der Geſchütze ab und nahm dann die vorhandenen Beſtände an Pulver, Salpeter, Schwefel, Lunten und Kugeln aus Stein, Eiſen und Blei auf. Er wog das in Barren vorhandene Blei und die Vorräte an Kupfer und zerbrochenem Zeug nach. Die Arbeit war anſtrengend. Denn viele hundert Zentner Material lagerten im Zeughauſe.

Als Henning alles fein ſäuberlich geordnet und aufgeſtapelt hatte und der Zeugmeiſter die Arbeit prüfte, war dieſer recht zufrieden. „Du verſtehſt dich gut auf den verdammten Schreibkram“, ſagte er, „aber mir ſcheint, du haſt noch mehr Freude am Werk. Da darfst du auch einmal meine Lieblinge ſehen.“

Er nahm einen großen Schlüſſel und ſchloß damit einen Verſchlag auf. Dort lagen zwei mächtige gegoſſene Mauerbrecher in ſchweren Laden aus Eichenholz.

„Dies hier iſt meine ‚Nachtigal‘“, ſagte der Zeugmeiſter. „Da steht’s:

Die Nachtigall bin ich genannt.
Den Feinden bin ich wohl bekannt.

Einen Schuh dick ſind die Steine, die ſie ſchießt.“

Dann klopfte er mit dem Knöchel vorn auf den Lauf des anderen Geſchützes, ſo daß es einen hellen Klang gab.

„Und dies iſt die ſchöne ‚Singerin‘. Anderthalb Schuh weit ſperrt ſie das Mündchen auf; ſie hat ſchon vor manchem feſten Hauſe ein ſo lautes Morgenlied geſchmettert, daß die drinnen ſich die Ohren zugehalten haben. Noch vor zwei Jahren haben beide vorm Falkenſtein geſungen, daß die Türme wackelten und der ſchlimme Kunz ſich mit der Stadt verglich, ehe ihm die Mauern über dem Kopf zuſammenfielen.“

„Die Rohre hat Hans Buſſengeter gemacht, hier iſt ſein Handzeichen“, rief Henning aus, und er zeigte auf die Marke auf den Büchſen.

„Du kennſt Hans Buſſengeter?“

„Er war mein Lehrer.“

„Junge, jetzt weiß ich, woher du ſo viele Kenntniſſe haſt! Du haſt den größten deutſchen Meiſter unſerer Zunft zum Lehrherrn gehabt.“

Mit Spannung hörte der Zeugmeiſter, was ihm Henning vom letzten Guß des Verſtorbenen und von deſſen Ende berichtete. Aber das Buch erwähnte Henning nicht.

Der Zeugmeiſter machte ſich nun daran, Henning zu zeigen, wie man Salpeter läutert, Kohle für Pulver brennt, das Pulver für große und kleine Geſchütze bereitet und die Büchſen lädt. Er hatte ſeine Freude an Hennings Eifer und raſcher Auffaſſungsgabe.

So konnte Henning mit ſeinem Loſe wohl zufrieden ſein. Aber auch Gerd traf es nicht ſchlecht.

Der Zeugmeiſter wies ihn an einen weithin bekannten Maler, dem er ſich als Farbenreiber anbot, Der Künſtler betrachtete wohlgefällig den Jungen mit den braunen Locken über der hohen Stirn, er ahnte, daß in dieſem mehr ſteckte als ein Farbenreiber, und beſchloß, ihn auf eine Probe zu ſtellen. Er reichte ihm Kohle und Pergament und verlangte kurz:

„Zeichne dich ſelber!“

Da entwarf Gerd ſein eigenes Konterfei, wie er an einem Tiſche vor einem Napf dampfender Suppe und einem Berg glänzender Speckknödel ſaß.

„Fehlt nicht etwas?“, fragte lachend der Meiſter, indem er das Blatt aufmerkſam betrachtete.

Da antwortete Gerd: „Auf Bier und Wein könnte ich verzichten. Aber dies hier wäre zum Nachtiſch nicht ſchlecht.“

Und er zeichnete noch einen dicken Apfel auf das Bild.

Die muntere Frau Meiſterin hatte Verſtändnis für den Scherz. Es gab Suppe, Knödel und zum Schluß ein paar Äpfel.

Auch Gerd errang bald die volle Zufriedenheit ſeines Meiſters. Er erlernte mit großem Eifer die ſchwierige Kunſt des Farbenmiſchens, und manche Vorſchrift im Buche des alten Buſſengeters, die er vorher nicht verſtanden hatte, wurde ihm klar. Dabei fiel ihm auf, daß im Buche ein anderes Verfahren zum Polieren des aufgetragenen Goldes beſchrieben war, als der Maler benützte. Gerd verſuchte die Vorſchrift bei einem in Arbeit befindlichen Gemälde. Das ſcharfe Auge des Meiſters erkannte ſofort den Unterſchied. Damit hatte Gerd dieſen für ſich gewonnen.

Der Meiſter, ein lebensfroher Rheinländer, liebte es, Abende und Feiertage im Zunfthauſe zu verbringen und ſich beim Wein in Geſellſchaft froher Zecher neue Anregungen zu holen. Manchmal rührte er tagelang keinen Pinſel an, oft erſchien er noch am ſpäten Abend in der Werkſtatt, um dann in den ſtillen Nachtſtunden Entwürfe und Skizzen zu zeichnen. Dann arbeitete er bis in den hellen Mittag hinein, ganz im Banne ſeiner Kunſt, ohne daß ihn das laute Treiben der geſchäftigen Stadt in ſeiner Arbeit zu ſtören vermochte. Ein ſolcher Mann konnte trotz ſeiner Begabung nicht Vorbild und Vertrauter unſerer Freunde ſein, die, wenn ſie auch noch jung waren, bereits entſchloſſen ihrem Ziele zuſtrebten.

Anders geartet war Hennings Lehrherr, der Büchſenmeiſter. In ſeinem Hauſe fanden die Jünglinge bald eine Heimſtatt. Aus urwüchſigem derbem Bauerngeſchlecht ſtammend, hatte er die Genügſamkeit, die Klugheit und den Fleiß ſeiner Vorfahren geerbt. Das umfaſſende Wiſſen des Meiſters Hans Buſſengeter fehlte ihm zwar, und auf viele Fragen der Brüder mußte er antworten: „Buwe, des wäs i nitt“, aber auf ſeinem Fachgebiet war er gründlich beſchlagen. Mit ſicherem Gefühl erfaßte er eine hingeworfene Anregung, und das als möglich Erkannte führte er zäh durch bis zum Ende. Wenn die Rede auf die Zeug- und Büchſenmeiſterei kam, taute er auf und ward nicht müde, zu erzählen und zu belehren. Dann kamen auch Henning und Gerd ins Feuer, und die Worte flogen hin und her wie die Geſchoſſe im Kampfe.

Der Meiſter beſaß an der Stadtmauer einen kleinen Garten, den er in ſeinen Mußeſtunden pflegte und wartete. Eines Abends im Juni ſaßen Henning und Gerd wieder bei ihm und ſprachen eifrig den damals noch ſeltenen Gartenerdbeeren zu.

Aber der Meiſter war heute ſchlechter Laune. Mit gefurchter Stirn ſaß er grübelnd auf der Steinbank unter dem großen Holunderbaume, der über und über mit weißen Blütendolden bedeckt war. Auf Hennings Frage nach der Urſache ſeines Kummers antwortete er:

„Schon wieder haben die Venediger den Preis ihres Salpeters heraufgeſetzt. Sie haben Streit mit unſeren Kaufleuten und wollen uns ſogar den Salpeterkauf ſperren. Wenn wir durch die Juden kaufen müſſen, wird der Salpeter uns noch teurer.“

„So kauft doch den Salpeter anderswo und laßt die Venediger auf ihrer Ware ſitzen. Dann werden ſie ſchon zur Vernunft kommen“, meinte Henning.

„Wenn dies ſo einfach wäre!“, belehrte ihn der Meiſter. „Du kannſt im ganzen Abendlande nur bei den Venedigern Salpeter bekommen, Und das nützen ſie weidlich aus.“

„Woher holen die Venediger den Salpeter?“, fragte Gerd.

„Das weiß ich nicht“, entgegnete der Meiſter, „und niemand weiß es. Denn ſie halten ihre Handelswege geheim. Fern her aus dem heißen Orient, aus den Ländern der braunen Heiden kommt der Salpeter, und die Ungläubigen bringen ihn den Venedigern an die Häfen des Morgenlandes, ſo hat mir ein Pilger berichtet.“

„Wir haben keinen Salpeter mehr“, fügte er hinzu, „und wenn jetzt der böſe Cronberger uns abſagt, ſind wir in großer Not. Das bißchen Salpeter, das ich in den Ställen und Latrinen ſammle, kann uns nicht retten.“

„Weshalb findet man Salpeter dort, wo Miſt und Jauche ſind?“, fragte Henning.

„Das weiß ich nicht und keiner weiß es“, entgegnete der Meiſter. „Merkwürdig iſt es, daß der Salpeter an ſolchen Stellen wächſt wie eine Pflanze oder wie ein Pilz. Kratzt man ihn ab, bald iſt wieder neuer da.“

„Wenn der Salpeter eine Pflanze iſt, dann müßt ihr ihn in Gärten ziehen und veredeln“, ſagt Gerd lachend, „ihr ſeid ja ein guter Gärtner. Warum pflanzt ihr Erdbeeren und Blumen, aber nicht Salpeter?“

Henning horchte auf, eine Erinnerung kam ihm und er ſprach: „Meiſter Hans hatte ein Buch, darin viel geſchrieben ſtand von der Feuerwerkskunſt. Auf einem leeren Blatte hatte er ſich angemerkt: ‚Salniter zu zychen, es mug gelingen, ſo tu es verſucheſt.‘“

Der Meiſter ging nachdenklich zwiſchen ſeinen Blumen auf und ab. Endlich ſagte er:

„Vielleicht haſt du ein gutes Wort geſprochen. Ich will mir die Sache überlegen. Morgen gehen wir an die Arbeit.“

Und ſo geſchah es. In einem feuchten Keller wurden verſchiedene Beete angelegt; das eine nur mit gebranntem Kalk und Erde, das nächſte mit Holzaſche und Erde, das dritte mit Kalk, Aſche und Erde, und ſo fort. Die Beete wurden nun gleichmäßig mit Jauche begoſſen. Von Zeit zu Zeit wurde eine Probe der Erde entnommen und ausgelaugt.

Nach einem Jahre hatte der Meiſter mit Hennings Hilfe das beſte Verfahren herausgefunden: In der Erde hob er eine Grube aus und bedeckte deren Boden zwei Finger hoch mit gebranntem Kalk. Darauf kam eine Lage Erde, mit Strohaſche gemiſcht, etwa einen Fuß dick. Dann folgte wieder eine Lage Kalk und dann nochmals eine Schicht Strohaſche und Erde. Nun goß er jeden Tag Jauche und Blutwaſſer aus den Metzgereien darüber. Nach einem Jahr enthielt die Erde ſoviel Salpeter, daß es ſich lohnte, ſie auszulaugen. Der ſo gewonnene Rohſalpeter wurde dann wie der natürliche geläutert. –

Die Arbeit in den Salpetergärten war nicht angenehm. Denn nach Roſen dufteten die Beete nicht. Henning freute ſich, wenn er am Abend im Fluß oder in der Badſtube den häßlichen Geruch fortſpülen konnte, der ihn verfolgte. Aber wenn Gerd die Naſe rümpfte, ſagte er ſtolz:

„Wir haben ein großes Werk vollbracht. Aus allen Gegenden kommen die Zeugmeiſter und Kriegsleute zu uns und beſtaunen unſere Salpetergärten mehr als die Gemälde deines Meiſters. Nicht lange mehr wird Venedig den Salpeterhandel beherrſchen. Wir werden es noch erleben, daß die Deutſchen Salpeter nach Italien bringen.“ Was Henning vorausgeahnt hatte, iſt Wirklichkeit geworden. Aber Henning konnte nicht wiſſen, daß der künſtliche Salpeter einſt über ganz Deutſchlands Zukunft entſcheiden werde.

Ein halbes Jahrtauſend war verſtrichen, die Salpetergärten waren längſt wieder in Vergeſſenheit geraten. Da kam die harte Not über Deutſchland, das von allen Seiten eingeſchloſſen war und belagert wurde wie eine Feſtung. Der Salpeter fehlte, und ungeheure Mengen davon verbraucht der moderne Krieg. Da waren es deutſche Chemiker, die durch die Umwandlung von Ammoniak in Salpeterſäure ihrem Vaterlande die Möglichkeit zur Abwehr der übermächtigen Feinde gaben. Die aus Ammoniak hergeſtellten Sprengſtoffe zerſchmetterten die ruſſiſchen Rieſenheere und Englands meerbeherrſchende Flotte. Dann erbauten die deutſchen Ingenieure gewaltige Fabriken, wie ſie die Welt noch nicht geſehen hatte, machten Ammoniak aus Kohle, Waſſer und Luft und brachen Chiles Salpetermonopol. Eine neue Technik war in Deutſchland erſtanden, die Syntheſe, ihr Ausbau brachte ungeahnte Erfolge. Während aber die Namen dieſer kühnen Erfinder und Unternehmer mit goldenen Lettern unauslöſchlich in das Buch der großen Männer eingetragen ſind, kündet keine Überlieferung und keine Chronik den Namen des einfachen Büchſenmeiſters, der nicht fern von den Stätten der heutigen chemiſchen Großinduſtrie den erſten künſtlichen Stickſtoff in dunklen Kellern aus ſtinkender Jauche hergeſtellt hat.

*

Zweimal vergingen Herbſt und Winter. Da kam wieder der Frühling.

Als die zurückkehrenden Zugvögel mit hellem Schrei ihre alten Niſtſtätten wieder aufſuchten, litt es die Jünglinge nicht mehr in der Stadt am Main. Ihre Sehnſucht trieb ſie weiter, ihre Aufgabe war es ja, das Buch des Meiſters Buſſengeter wieder zu erlangen, und dann wollten ſie nach deſſen Rezepten, die ſich noch immer bewährt hatten, Gold gewinnen und ihrer Mutter ein ſtolzes, prächtiges Schloß erbauen, in dem ſie mit Lisbeth herrlich und in Freuden leben ſollte. So ſandten ſie mit einem Kaufmann Botſchaft in das kleine Haus mit den Reben an der Mauergaſſe zu Falkenberg, daß ſie beſchloſſen hätten, im Mai nach dem Norden zu wandern, um mehr zu ſehen und zu lernen.

Ungern ließen die Meiſter die beiden Jünglinge ziehen.

An einem taufriſchen Maienmorgen verließen Henning und Gerd mit gepacktem Felleiſen Frankfurt durch das trutzige Friedberger Tor.

Als ſie das Weichbild der Stadt hinter ſich hatten, ſchritten ſie rüſtig aus.

Hoffnung ſchwellte ihre Bruſt, Mut füllte ihre jungen Herzen, hatten ſie doch in Frankfurt viel Neues gelernt, das ihnen als Rüſtzeug im bevorſtehenden Lebenskampfe dienen konnte. Auch wie man ſich in der Fremde benimmt, wußten ſie jetzt.

So hing keine trübe Wolke an dem Himmel ihrer Hoffnungen, leicht war ihr Gepäck, und fröhlich war ihr Sinn.

Das war ein luſtiges Wandern, ſo ganz anders als vor zwei Jahren die Flucht durch die nebelverhangenen Herbſttage.

Licht und hell erſchien ihnen ihre Zukunft, gleich dem goldenen Maientage, der ſtrahlend über Wald und Flur ſtand.

Ringsum hatte der Lenz ſein blütenreiches Füllhorn über Gottes Erde ausgeſchüttet, Blau ſtand des Himmels rieſige Wölbung über der lebendigen Natur, gleich einer Kuppel aus Türkis. Am Firmament zogen leichte Wolken vorüber wie ſchneeige Schwäne auf blankem See. Gen Norden zogen die Wolken, gen Norden, wo der Jünglinge Sehnſuchtsland lag.

Und als ſie nun die belebte Handelsſtraße verlaſſen hatten und am Ufer eines erlenumſäumten Bächleins dahinwanderten, wo über dem ſmaragdgrünen Talgrunde Lerchen trillernd in den Lüften ſchwebten, nahm Gerd den Hut in die Hand und ſtimmte ein frohes Wanderlied an. Hennings Baßſtimme fiel ein, und der Geſang der Jünglinge vermiſchte ſich mit dem jubelnden Liede der gefiederten Sänger. Und alſo klang ihr Lied:

Von Oſten naht der Maientag,
Das ſtille Land zu grüßen.
Es wandert, wer da wandern mag,
Die grüne Flur zu Füßen.

Wohlan, wohlan, Geſelle mein,
Wir wollen munter ſchreiten,
Und Maienduft und Sonnenſchein
Solln unſre Fahrt begleiten.

Das Leben ſich zum Lichte drängt
Auf Halmen und auf Zweigen,
Dem, der zu Hauſe Grillen fängt,
Wird nie das Glück ſich zeigen.

Wohlan, wohlan, Geſelle mein,
Wir wollen munter ſchreiten,
Und Maienduft und Sonnenſchein
Solln unſre Fahrt begleiten.

Dort in der Ferne wohnt das Glück,
Dort, wo die Berge blauen.
Nur vorwärts, vorwärts, nie zurück
Solln unſre Blicke ſchauen.

Wohlan, wohlan, Geſelle mein,
Wir wollen munter ſchreiten,
Und Maienduft und Sonnenſchein
Solln unſre Fahrt begleiten.

Wer gern am warmen Herde träumt,
Mag an der Scholle kleben,
Wir wolln, ſolang die Jugend ſchäumt,
Den Schatz des Glückes heben.

Wohlan, wohlan, Geſelle mein,
Wir wollen munter ſchreiten,
Und Maienduft und Sonnenſchein
Solln unſre Fahrt begleiten.

In mehrwöchentlicher Wanderung durchquerten die Brüder viele ſtolze und reiche Städte mit ſtarken Mauern, volkreichen Gaſſen, prächtigen Bürgerhäuſern und hohen Kirchen. Sie betrachteten mit fachmänniſchem Auge die Wehranlagen, ſie beſtaunten die Fülle an Kunſtwerken in Holz, Stein, Erz und Edelmetallen, mit denen damals alle deutſchen Städte geziert waren, ſie bewunderten die Schönheit der Gemälde auf den Altären und lauſchten ergriffen dem Klange der großen Glocken.

Aber nichts vermochte ſie lange zu feſſeln. Eine unbeſtimmte Sehnſucht trieb ſie weiter, dem Meere zu.

Das nordiſche Tiefland öffnete ſich und bot den aus dem Oberlande kommenden Wanderern ein ungewohntes Bild, Sie lernten den eigenartigen Zauber der einſamen Heide kennen, fuhren über die breite Elbe und ſahen mit Wohlgefallen die ſauberen Dörfer und die behäbigen Bauernhöfe der fruchtbaren Elbniederung.

Dann erblickten ſie endlich das Ziel ihrer Reiſe, das ſtolze Bild der Freien und Hanſeſtadt Lübeck.

Auf einem breiten Hügel lag die Königin der nordiſchen Meere, geſchmückt mit einer Krone, deren Zacken ſieben ſchlanke Türme bildeten.

Die Brüder ſchritten über die ſteile Holſtenbrücke und warfen einen Blick über die vielen Schiffe und Prähme im Hafen und auf das geſchäftige Treiben am Ufer, dann zogen ſie durch das alte Holſtentor in die Stadt ein. Die Wache im Tor wies ihnen den Weg zur Schmiedeherberge. Nachdem ſie ſich dort ausgewieſen hatten, wurden ſie eingelaſſen.

Am nächſten Tage zogen ſie aus, um ein ehrſames Handwerk zu grüßen.

Dieſer Gang brachte die erſte Enttäuſchung.

Ernſt und ſchweigſam wurden ſie aufgenommen, knapp und kurz war der Beſcheid. Die Kühle, die von der weiten See herüberwehte, ſchien auch die Menſchen hier kälter und unfreundlicher gemacht zu haben.

Hier waren ſie wirklich fremd, das merkten ſie gleich.

Auch ſchien man feſt am Alten zu hängen und für die Neuerungen in der Kriegstechnik kein Verſtändnis zu haben.

Der ſtädtiſche Zeugmeiſter fertigte ſie überlegen ab.

„Auf See kann man die neuen Künſte nicht brauchen. Was nützt mir das Pulver, wenn es naß iſt? Ich verlaſſe mich auf Armbruſt, Schleuder, Enterhaken und Beil. Damit haben ſchon unſere Väter gekämpft und geſiegt. Bleibt mir mit dem neuen Kram zwölf Schritte vom Leibe.“

Die Schmiede am Hafen fragten Henning:

„Kannſt du Anker ſchmieden?“

Henning ſchüttelte den Kopf.

„Dann können wir dich nicht gebrauchen.“

„Aber ich verſtehe mich auf mancherlei andere ſchwere Arbeit. Ich bin erfahren im Schmieden von Büchſen.“

„Wenn du nicht Anker ſchmieden kannſt, verſtehſt du auch ſonſt nichts. Mach, daß du weiter kommſt!“

Damit ſtand er wieder auf der Straße.

Die Malermeiſter fragten Gerd, ob er ſchon Holzſchnitzereien grundiert und bemalt habe, und als er dieſes verneinen mußte, wieſen ſie ihn kurz ab.

„Ich möchte es aber gern lernen“, erklärte Gerd.

„Wir nehmen nur hieſige Meiſterſöhne als Lehrlinge an.“ Damit flog die Tür zu.

Nach einiger Zeit erkannten die Brüder noch eine weitere Urſache für die Abweiſung. Manches Schmiedefeuer lag kalt, viele Handwerker feierten. Der Handel mit den nordiſchen Ländern, auf dem der Reichtum Lübecks begründet war, lag brach. Die Urſache des Niederganges war den Jünglingen bereits am erſten Tage ihres Aufenthaltes bekannt geworden.

Die Oſtſee wimmelte von Seeräubern, die von den nordiſchen Mächten mit Kaperbriefen verſehen waren und auch von den Nebenbuhlern der Hanſe, offen oder geheim, gehegt wurden. Der Rat ſchreckte vor ſtrengen Maßnahmen zurück, um es mit niemandem zu verderben. Die Seeräuber wurden mit ſchlechten Schiffen und unzuverläſſiger Mannſchaft abgewehrt. So konnten Niederlagen nicht ausbleiben.

Der ſtolze, wagemutige Geiſt der Hanſe ſchien geſchwunden zu ſein. Jüngſt hatte der Rote Niels, der gefährlichſte Piratenhäuptling, wieder einen Geleitzug abgefangen, die Koggen geentert, die Befatzung über Bord ſpringen laſſen und die wertvolle Ladung geraubt. Eine einzige kleine Schnigge war dem Verderben entronnen und hatte die Nachricht von der Niederlage gebracht. Der Verluſt hatte ein altes Handelshaus ſo ſchwer getroffen, daß es ſeine Zahlungen einſtellen mußte.

Die Seeräuber aber ſtrichen in Schweden hohnlachend gutes Geld für lübſche Waren ein und häuften Schatz auf Schatz hinter den klafterdicken Mauern ihrer trutzigen Seeburg an.

Die langen weißroten Wimpel flatterten nicht mehr von den hohen Maſten der Oſtſeefahrer, die blaue Flagge der Seeräuber beherrſchte das Meer.

Doch, es ſchien, als ob die freche Tat den Rat wachgerüttelt habe. Man rüſtete vier Kriegsſchiffe aus und warb dazu die Mannſchaft an.

Die Bürgerſöhne der Stadt verſpürten wenig Luſt, Kriegsdienſte zu nehmen. Denn es war bekannt, daß die Piraten keine Gnade gaben und ihre Gefangenen erſäuften wie junge Katzen. Henning und Gerd, deren Barſchaft zu Ende ging, und deren ſtolze Pläne zu Schanden geworden waren, mußten weniger wähleriſch ſein, ja die Kriegsfahrt dünkte ſie eine prächtige Gelegenheit, die See kennen zu lernen und Abenteuer zu beſtehen.

Sie beſchloſſen Sold zu nehmen und gingen an Bord einer der Kriegskoggen.

Die Mannſchaft machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Offenbar waren viele ſchlechte Kerle darunter.

„Hier heißt es, gleich feſt auftreten und ſich nicht unterkriegen laſfen“, flüſterte Henning ſeinem Bruder zu.

„Was wollt ihr, ihr Takelzeug?“, ſo hielt ſie ein rüder Kerl an, der, mit einem ſchweren Spieß auf der Schulter, an Deck der Kogge wachehaltend auf und ab ſchritt.

„Das ſoll dich wenig kümmern“, entgegnete Henning, „führe uns zum Schiffer!“

Der Kerl lachte.

„Seid wohl von Mutters Schürzenzipfel davongelaufen und habt nun Bange, daß ihr Haue kriegt, wenn ihr heimkommt? Hier braucht man Männer. Es wäre ſchade, wenn die Seeräuber euch eure glatten Milchgeſichter verſchandelten.“

Henning begehrte auf: „Rede nicht! Führ’ uns zum Schiffer!“

Der Kerl lachte brüllend: „So, ſo! Zum Schiffer wollt ihr. Sieh einer an! Zu Hauſe hängen noch eure Windeln feucht am Herde und hier piept ihr wie junge Vögel, die nicht warten können, bis die Katze ſie holt. Und ſo etwas will zur chriſtlichen Seefahrt! Ich rate euch gut: Geht erſt ein paar Jahre zu den Bauern und laßt euch an der Kloßſchüſſel aufpäppeln. Dann könnt ihr wieder kommen!“ Er fällte den Spieß.

„Nimm deinen Bratſpieß fort!“, ſagte Gerd hochmütig, „Wir ſind Büchſenſchützen. Hüte dich, daß wir dir nicht auf hundert Schritt in deine große Brotlade einen Kloß werfen, daran du bis zum jüngſten Tage zu ſchlucken haben ſollteſt. Dann könnteſt du vergebens deinen Bratſpieß als Zahnſtocher benutzen.“

Der Kerl riß verwundert die kleinen Augen auf, die Antwort blieb ihm im Halſe ſtecken. Er ſchluckte einige Male heftig, dann ſchulterte er brummend den Spieß, geleitete ſie über Deck und hieß ſie achtern in die niedrige Kajüte des Schiffes eintreten, aus der ihnen ein ſtrenger Geruch nach Teer und Tran entgegenſtrömte.

Merten Voß, der Schiffer, ſaß auf einer Seekiſte, in der Hand eine Seekarte haltend, die er aufmerkſam betrachtete. Einſtweilen beachtete er die Jünglinge nicht, die nun Zeit hatten, ihn eingehend zu muſtern.

Der Schiffer war ein unterſetzter, kräftiger Mann, Anfang der Vierziger. Sein muskulöſer Oberkörper war in ein grobes Wollhemd gehüllt. Auf ſeinem kurzen Nacken ſaß ein runder, ſeehundartiger Kopf mit breiter Naſe. Das wettergebräunte Geſicht war von einem kurzen, roten Vollbart umrahmt. Der Unterkörper des Schiffers war mit einer geteerten Hoſe bekleidet, und die kurzen dicken Beine ſteckten in mächtigen Seeſtiefeln. In wohltuendem Gegenſatz zu dem rauhen Äußeren ſtand der gutmütige Blick der blauen Augen.

Endlich ſah der Schiffer von ſeiner Karte auf. Barſch klang es: „Was bringſt du denn da für Kroppzeug, Klas Klüver, und was wollt ihr?“

„Wir wollen anheuern“, war Gerds Antwort.

„Wir haben keine Klein-Kinderſchule, geht zu den Nonnen ins Johanniskloſter“, hieß es abweiſend.

Da trat Henning einen Schritt vor.

„Ich bin ein Büchſenſchütze und habe bei dem Büchſenmeiſter der Stadt Frankfurt gelernt, gut zu zielen und gut zu treffen. Mein Bruder Gerd hier iſt ein geſchickter Handwerker, der bei Gießern, Zimmerleuten und Malern gearbeitet hat. Er könnte dem Schiffszimmermann zur Hand gehen.“

„Nimmſt den Mund ja voll genug“, knurrte es zwiſchen dem Bartgewucher hervor.

Dann richtete der Schiffer die blauen Augen feſt auf Henning, betrachtete ihn von oben bis unten und fragte langſam:

„Haſt du ſchon mit der Armbruſt geſchoſſen?“

„Ja, Schiffer“, war Hennings Antwort.

Noch einen Augenblick ſah Merten Voß auf die ſchmucken Jünglinge, die ruhig und beſcheiden vor ihm ſtanden, dann nickte er mit dem Kopfe, ſtand auf und ſchritt breitbeinig auf Deck, den beiden winkend, ihm zu folgen.

Dort deutete er auf einen Pfahl, der etwa hundert Schritt von der Kogge entfernt aus dem Waſſer ragte, und fragte Henning: „Trauſt du dir zu, den Pfahl zu treffen?“

„Vergönnt mir drei Schüſſe“, ſprach Henning, „und der dritte Schuß gilt.“

„Abgemacht!“, ſagte der Schiffer, und ſeine Äuglein lächelten verſchmitzt.

Er verſchwand im Achterkaſtell der Kogge und erſchien bald mit Armbruſt und Bolzen.

Neugierig ſtand das Schiffsvolk herum. Auch die ſpießbewehrte Wache hielt ſich in der Nähe auf.

Ein ſorſchender Blick, ein prüfender Griff und Henning hatte erfannt, daß der Stahlbügel der Armbruſt ungleichmäßig gehärtet war. Er ſah dem Schiffer feſt in die Augen:

„Dieſe Waffe gebt ihr Lübecker wohl den Fremden, damit ſie euch auſ der Maiwieſe nicht den Vogel abſchießen. Ich möchte mir in eurer Rüſtkammer ſelbſt eine Waffe ausſuchen.“

Von dem ſchmunzelnden Schiffer dorthin geführt, prüfte Henning ſorgfältig die vorrätigen Armbrüſte, wählte eine Waffe aus und zog eine friſche Sehne auf.

Bereitwillig trat die Beſatzung zurück.

Henning ſetzte an, zielte ſorgfältig und drückte ab.

Der Bolzen ſchwirrte durch die Luft und ſtreifte den Pfahl, ſo daß das Holz ſplitterte.

Leiſes Beifallsgemurmel ertönte, da klangen zum zweiten Male Sehne und Bügel, und der Bolzen ſaß mitten im Holze.

„Potz Tauende und Enterbeil“, rief der Schiffer, „der Junge iſt gut.“

„Jetzt ſollt ihr ſehen, wie ſchwäbiſche Schützen ſchießen“, ſprach Henning und ſuchte ein neues Ziel.

Weiße Möven kreuzten über der Waſſerfläche, ſpielend und jagend in raſchem Fluge. Einem der Vögel, der einen erbeuteten Fiſch im Schnabel trug, jagte eine Raubmöve nach.

„Die ſoll mein Bolzen treffen“, rief Henning.

Er hob raſch die Waffe, das ſpitzige Geſchoß flog ziſchend, der große Vogel zog die Schwingen ein und fiel herab wie ein Stein.

Lautes Beifallsgeſchrei belohnte den Meiſterſchuß. Der Kerl mit dem Spieß brachte vor Staunen ſein großes Maul nicht mehr zu, und es ſah aus, als ob ihm ſchon der eiſerne Kloß im Halſe ſteckte.

Der Schiffer ſtreckte Henning wortlos die Hand entgegen. Wie eine Eiſenklammer griff ſeine breite Seemannsfauſt um die ſchmale, ſehnige Rechte des Jünglings. Aber dieſer zuckte mit keiner Wimper und erwiderte herzhaft den kräftigen Druck. Damit begann Hennings und Gerds Seemannszeit.

In Sturm und Not

Am nächſten Tage wurde das Schiff in aller Eile ſeeklar gemacht. Zeug und Proviant wurden verſtaut, Pferde für die Streifzüge an Land wurden an Bord genommen.

Am übernächſten Morgen, einem Freitage, kam der junge Ratsherr Gottſchalk von Soeſt an Bord und übernahm das Kommando der Kogge als Schiffshauptmann.

Die Taue wurden gelöſt, die Flotte formierte ſich.

Voran fuhr die große, neue „Hoffnung von Lübeck“, unter dem Befehl des zweiten Bürgermeiſters, dann folgte der „Löwe“ des Gottſchalk von Soeſt, auf dem Henning und Gerd Dienſt taten, danach kam „St. Nikolaus“ und den Beſchluß machte der „Widder“. Die Schiffe wurden von Pferden flußabwärts gezogen.

Gegen Abend paſſierte man Travemünde, und das offene Meer lag vor den Brüdern.

Dieſe erlebten eine Enttäuſchung.

Wie großartig ſchön hatte ſich Gerd das ewig ruheloſe Meer vorgeſtellt mit ſeinen ſchäumenden weißen Wogenkämmen unter ſchwarzen Wolken, wie ſehnte ſich Henning nach dem Kampfe mit den Elementen auf einem guten, unter vollen Segeln dahinbrauſenden Schiffe, an deſſen breitem Bug ſich brandend die Wellen brachen. Und nun lag die weite, endloſe Waſſerwüſte ſtill und glatt wie ein Ententeich, und als die Sonne aufging, befand ſich die Flotte noch dicht unter Travemünde.

„Es wird bald anders kommen!“, beruhigte ſie Merten Voß. Die beiden Jünglinge, die ſich durch Benehmen und Gewandtheit vorteilhaft von dem übrigen Schiffsvolk abhoben, gefielen ihm.

So machte er ſie mit den zahlloſen Einzelheiten der ſeemänniſchen Praxis bekannt und unterrichtete ſie in der Seefahrtskunde, die damals allerdings noch wenig entwickelt war. Er zeigte ihnen, wie der Schiffer auf dem weiten Meere ſeinen Weg findet trotz Nacht und Sturm. Auch machte er ſie mit den Grundzügen des Seerechts vertraut und erzählte ihnen von den Rechten und Pflichten der Schiffsführer, von Havarie, Bodmerei und Strandrecht. Zum Lernen war reichlich Zeit vorhanden. Denn die Flaute hielt tagelang an, und die Schiffe machten wenig Fahrt. Gerd benutzte die Muße, um die vorausſegelnde „Hoffnung von Lübeck“ zu zeichnen. Er ſchenkte das Bild dem Schiffer. Angeregt durch deſſen Lob, machte ſich Gerd daran, dieſen ſelbst zu zeichnen, wie er breitbeinig auf dem Achterdeck ſtand.

Gerd übte ſich auch fleißig in der Holzſchnitzerei. Denn er wollte ſich nicht wieder von den Türen der Lübecker Handwerksmeiſter fortſchicken laſſen. Nach eingehender Unterſuchung des Schiffes vom Kiel bis zum Flaggenknopf ließ er ſich vom Zimmermann Abfallholz ſchenken, und unter ſeinen geſchickten Händen entſtand ein kleines Kunſtwerk, das eine getreue Nachbildung des „Löwen“ mit allen Tauen, Rahen, Segeln und ſonſtigen Einrichtungen, darſtellte. Die ganze Beſatzung bewunderte das Nachbild, und ſogar der junge Ratsherr ließ ſich zu einigen anerkennenden Worten herab.

Die Flotte ſegelte öſtlichen Kurs und paſſierte am nächſten Freitage bei drückender Sonnenhitze endlich Rügen. Der Wind ſprang um nach Norden.

Die weißen Kreidefelſen von Arkona verſchwanden am Horizont. Da erſcholl vom Ausguck im Mars der Ruf: „Segel in Sicht!“ Dieſe kamen raſch näher, und bald waren zwei große Schiffe zu erkennen, die alle Leinwand geſetzt hatten und auf die Hanſen zuhielten. Als ſie ſich der „Hoffnung von Lübeck“ auf Rufweite genähert hatten, klang es durch das Sprachrohr herüber:

„Wir ſind Stralſunder Kauffahrer, die Piraten haben uns überfallen. Wir ſind mit Mühe und Not entkommen, haben aber viele Verwundete. Ihr müßt einen Teil davon übernehmen. Dreht bei, daß wir ſie zu euch an Bord bringen können.“

Die „Hoffnung“ folgte der Aufforderung und lag ſchaukelnd im Winde.

Merten Voß ſtand auf dem Vorderkaſtell des „Löwen“; er überſchattete die Augen mit der Hand und beobachtete angeſpannt das heranſegelnde Schiff.

„Gottſchalk“, rief er in höchſter Erregung dem Ratsherrn zu. „Die Stralſunder Schiffe kenne ich alle miteinander. Das iſt ein Feind. Wir ſind in eine Falle geraten.“

Er legte die beiden Hände an den Mund und brüllte, daß es durch das ganze Schiff hallte:

„Wahrſchau! Feinde! Alle Mann an Deck!“

Inzwiſchen hatte ſich der angebliche Stralſunder neben die „Hoffnung von Lübeck“ gelegt.

Plötzlich wimmelte es an Deck von Bewaffneten. Am Heck ſtieg die blaue Piratenflagge empor, und ehe die Lübecker Zeit hatten, ſich zu beſinnen, fegte ein Hagel von Geſchoſſen über ihr Deck. Die Enterhaken krallten ſich feſt.

Die Lübecker verſuchten ſich zu befreien. Vergebens, die Haken ſaßen zu feſt. Die Enterbrücke fiel herab; mit wildem Kampfgeſchrei erſtürmten die Räuber die Kaſtelle, hieben die Beſatzung zuſammen und warfen Tote und Lebende über Bord.

Einige Lübecker, die ſchwimmen und ſich ihrer Rüſtung entledigen konnten, wurden von dem nachfolgenden „Löwen“ aufgefiſcht und gerettet.

Gottſchalk hatte inzwiſchen die Mannſchaft geordnet und mit anfeuernden Worten ermahnt, tapfer zu kämpfen. In der Taſche der hochgezogenen Blide lag ein mächtiger runder Stein; die wenigen kleinen Steinbüchſen, mit Hagel aus Eiſenſchrot geladen, ſtanden feuerbereit. In den Verzweiflungskampf der „Hoffnung“ konnte der „Löwe“ aber nicht eingreifen, denn die Seeräuber hatten den Vorteil des Windes.

Das zweite Raubſchiff näherte ſich mittlerweile dem „St. Nikolaus“, dem dritten, etwas kleineren lübſchen Schiffe.

Dort ſah man die Gefahr und ſetzte ſich tapfer zur Wehr. Auf fünfzig Schritte ſchlug der Lübecker Blidenmeiſter den Wurfhebel los. Er hatte gut gezielt. Der wuchtige Stein ſchlug auf das Vorderkaſtell auf und zerſchmetterte ein Stück der Schanzkleidung. Aber dann fing das ſchwere Eichenholz der Decksbalken den Schlag auf, ohne zu zerſplittern.

Nun krachten die Pulvergeſchütze des „St. Nikolaus“. Doch der Hagel bohrte ſich unſchädlich in die Planken des Raubſchiffes ein, ohne die Beſatzung zu verletzen.

Ein Freudengeheul der Piraten begrüßte die erfolgloſen Schüſſe. Mit ungehemmter Fahrt kam das Raubſchiff näher.

Und jetzt nahmen die Räuber das lübſche Schiff unter Feuer. Von den Marſen aus ſchoſſen ſie mit Armbruſt und Handrohr auf die Geſchützbedienung des „St. Nikolaus“. Mancher tapfere Mann, darunter der wackere Blidenmeiſter, ſanken auf das Deck nieder. Doch unentwegt luden die Knechte die Büchſen noch einmal.

Es war zu ſpät!

Seltſame Töpfe und Kugeln flogen auf das Deck des lübſchen Schiffes, ſie zerplatzten beim Aufſchlagen, eine ölige Flüſſigkeit lief aus, und dann kam das Furchtbare:

Helle Flammen loderten auf, wuchſen empor und hüllten das Schiff in Feuer und Qualm ein.

Die Lübſchen gaben ſich noch nicht verloren. Mit naſſen Tüchern gingen ſie gegen das Feuer vor. Es nützte nichts. Neue Feuertöpfe fielen auf das Schiff und bildeten neue Brandherde. Sie goſſen Waſſer in die Flammen, es war vergebens. Denn dadurch ſchwemmten ſie das brennende Öl nur an Stellen, die noch nicht vom Feuer erfaßt waren. Mit raſender Schnelligkeit griff der unlöſchbare Brand um ſich. Feurige Schlangen züngelten an den Maſten empor, Segel und Rahen brannten, die Kaſtelle loderten auf.

Mit Entſetzen ſahen Henning und Gerd, wie ſchließlich das unglückliche Schiff nur noch eine einzige Flamme war.

Wie aus einem Munde entfuhr es ihnen:

„Sie haben das Buch des Meiſters Buſſengeter!“

Das Beiboot des „St. Nikolaus“ ſtieß vollbeſetzt von dem brennenden Schiffe ab. Die Inſaſſen wähnten ſich ſchon gerettet, da ſchlugen zwei Feuertöpfe ein, und das Boot ſank in die Tiefe. Der Inhalt der unheimlichen Töpfe brannte noch einige Zeit auf dem Waſſer weiter.

Die Beſatzung des kleinen „Widders“ wollte nicht in einem ausſichtsloſen Kampfe zu Grunde gehen, ſie meuterte, wendete das Schiff und ſegelte mit dem auflebenden Winde davon.

Nun ſtand der „Löwe“ allein den beiden Piratenſchiffen mit ihrer blutgierigen, zu allem entſchloſſenen, ſiegberauſchten Mannſchaft gegenüber.

Gerd ſprach traurig:

„Wir ſind verloren, oh unſere arme verlaſſene Mutter, oh arme Lisbeth!“

Aber Henning blieb feſt:

„Auch wir kennen die Rezepte des Buches, und wer das flüſſige Feuer bereiten kann, weiß es auch zu löſchen. Lauf ſchnell in den Stall und hole Pferdedung!“

„Großſegel bergen“, donnerte die Stimme des Schiffers über Deck. „Die verfluchte Freitagsſegelei“, ſetzte er, zu Henning gewendet, leiſe hinzu.

Aber trotz ſeines Seemannsaberglaubens blieb er feſt auf ſeinem Poſten. Breitbeinig ſtand er da, die kleinen Augen weit geöffnet, den Körper geduckt, wie zum Sprunge auf den Feind.

Auch Gottſchalk von Soeſt erwies ſich als würdiger Sproß ſeiner unverzagten wagemutigen Ahnen. In ſchwerer Rüſtung, den blitzenden Stahl in der Fauſt, ſtand er auf dem Achterkaſtell.

So waren der Ratsherr und der Schiffer die Seele des Widerſtandes. Die Beſatzung richtete ſich an ihrem Mute auf und erwartete mit zuſammengebiſſenen Zähnen das Nahen der Piraten, bereit ihr Leben ſo teuer wie möglich zu verkaufen.

„Löſt die Blide“, befahl der Ratsherr.

Der Stein flog, fiel aber klatſchend ins Waſſer, da die Entfernung noch zu groß war.

Henning ſtand am Hauptgeſchütz, einer roh geſchmiedeten Steinbüchſe. Er zielte auf das Takelwerk des Räubers.

Donnernd rollte der Schuß über das Waſſer. Die Großrah kam herunter und ſchlug dröhnend auf das Deck.

Die Seeschlacht

Der Angreifer verlangſamte ſeine Fahrt, an Bord herrſchte Verwirrung.

Gerd ſprang zu einem Hagelgeſchütz, das hoch auf dem Achterkaſtell ſtand.

Auch er traf gut. Der Eiſenſchrot ſchlug in eine Schar zuſammenſtehender Piraten ein und verletzte mehrere ſchwer.

Wütendes, wildes Schreien klang aus dem Haufen der Verwundeten.

Bald aber wurde der Schiffshauptmann der Räuber der Verwirrung Herr. Er ließ die Leichen über Bord werfen und zwang ſein Seevolk, trotz der gutgezielten Armbruſtbolzen, die vom „Löwen“ jetzt zahlreich unter ſeine Mannſchaft ſchwirrten, das Großſegel zu klaren.

Dann nahm er wieder Kurs auf das hanſiſche Schiff.

Schnell rauſchte der Pirat heran. Er mußte in nächſte Nähe des „Löwen“ kommen, um die verderblichen Feuertöpfe werfen zu können.

Auf dem „Löwen“ erkannte man die Gefahr wohl.

Unermüdlich arbeitete der Blidenmeiſter und überſchüttete das Raubſchiff mit Steinen. Fieberhaft luden und feuerten Henning und Gerd, aber ſie erreichten wenig. Denn die Räuber ſtanden hinter der mit Eiſenblechen beſchlagenen Schanzkleidung in guter Deckung.

Die Raubkogge kam dicht heran, und die furchtbaren Gefäße mit dem flüſſigen Feuer flogen auf Deck.

Der erſte Topf fiel auf einen Haufen loſes Tauwerk und zerplatzte nicht.

Schreckensſtarr ſtand die Mannſchaft, der Ratsherr ſprang herzu, ergriff das gefährliche Gefäß und warf es weit ins Meer.

Der nächſte Topf zerplatzte auf dem Deck des „Löwen“.

Entſetzt ſprang die Beſatzung auseinander.

Gerd drängte ſich durch den ratloſen Haufen und ſchüttete einen Eimer Miſt auf die brennende Maſſe, ehe dieſe ſich ausbreiten konnte; ſie erſtickte, ohne Schaden zu tun. Nur ein leiſes Ziſchen war vernehmbar, und ein dünner weißer Rauch ſtieg auf.

Die Lübſchen ſahen, daß das unheimliche Feuer zu löſchen war, und ſie verloren die Furcht vor der neuen Waffe.

Eifrig ſchleppte die Mannſchaft Pferdemiſt herbei, und ſobald ein Feuertopf auf Deck flog, wurde der Brand zugedeckt und unſchädlich gemacht. Sogar der Ratsherr hatte ſeine Würde abgelegt und ſchwang den Stalleimer gleich dem geringſten Söldner.

Die Schanzkleidung des Achterkaſtells flammte auf, die Wanten fingen Feuer und das geteerte Gut brannte wie Zunder. Der Zimmermann und Gerd ſtürzten herbei, der eine hieb die Pfoſten durch, und das brennende Holz fiel erlöſchend in die Flut, der andere kappte das ſchwelende Tauwerk mit dem Schwerte und ſicherte den Maſt, ſo gut es in der Eile ging.

Die Seeräuber ſahen, daß ihr wirkſamſtes Kampfmittel verſagte, und wagten nicht zu entern.

Eine Pauſe im Angriff trat ein. Die Piraten warteten, daß das zweite Raubſchiff ihnen zu Hilfe käme, um die Hanſen von zwei Seiten unter Feuer zu nehmen.

„Wir ſchaffen es nicht; es iſt kein Miſt mehr da“, ſagte Gerd leiſe zum Schiffer, beſorgt den Blick auf den neuen Feind gerichtet.

Aber Merten Voß hörte ſeine Worte nicht. Er ſtarrte mit weitgeöffneten Augen nach Nordoſt, woher jetzt der Wind kam, und ſchien jedes Empfinden für das, was um ihn vorging, verloren zu haben.

Plötzlich wich ſeine Erſtarrung, ſeine Pfeife ſchrillte über das Deck und mit gewaltiger Stimme brüllte er:

„Alle Luken dicht, Sturmſegel ſetzen, Schiff vor den Wind!“ Dann ſprang er ſelbſt ans Ruder und legte die Pinne mit ſtarker Fauſt über.

Die Brüder richteten ihre Augen verwundert auf den Horizont. Erſt jetzt bemerkten ſie, daß die Sonne verſchwunden war. Nur ein fahler Schein erleuchtete den Himmel. Schwarze Wolken zogen heran. Ein leichtes Kräuſeln flog über das Waſſer.

Auch die Piraten unternahmen keine neuen Angriffe mehr. Der Kampf der Menſchen war zu Ende. Jetzt galt es mit einem Feinde zu ringen, den weder Feuertöpfe noch Enterhaken beſiegen konnten. Rings war es dunkle Nacht geworden. Die See ſchäumte auf. Blitze zuckten am ganzen Himmel.

Aus Nordoſt rauſchte der Sturm mit unheimlicher Wut heran. Vor ihm war einen Augenblick lautloſe Stille. Dann aber brach es los, als ob alle Dämonen der Hölle wüteten. Das zum Brechen angeſpannte Takelwerk pfiff in den höchſten Tönen, alle Maſten und Planken ächzten. Die noch ſtehende Leinwand flog aus den Lieken, die Fetzen ſchlugen knallend um die Rahen, und dann ging der notdürftig geſicherte Beſanmaſt über Bord.

Die erſten Wogen rollten heran und brachen ſich brüllend am Schiffe. Himmel und Meer ſchienen eins geworden zu ſein. Immer häufiger flammten die Blitze. Immer raſcher folgten die Donnerſchläge.

Da zuckte ſchmetternd ein blendender Strahl vom Himmel, zerriß die Wolkenwand vom Zenith bis zum Horizont und erhellte die Finſternis mit fahlem Lichte.

Mit dem Dröhnen des Donners vermiſchte ſich ein furchtbares Krachen. Der dicke Großmaſt des zweiten Raubſchiffes zerbarſt unter dem Einſchlag des Wetterſtrahls. Die an Deck ſtehenden Feuertöpfe entzündeten ſich, allerorts ſchlugen die Flammen empor. Das Schiff brannte vom Bug bis zum Heck. Der Sturm faßte es. In einen Feuermantel gehüllt, trieb es ab, leuchtete noch eine Weile auf den hohen Wellen wie eine rieſige Fackel und erloſch endlich in der Ferne.

Das andere Piratenſchiff flog Seite an Seite mit dem „Löwen“ über die empörten Wogen. Kein Mann war mehr an Deck zu ſehen. Denn der Sturm peitſchte mit raſender Gewalt die ächzenden Planken, und die Waſſermaſſen ſtürzten wie Gießbäche über Reeling und Kaſtelle.

Henning und Gerd hatten ſich neben dem Schiffer am Ruder feſtgebunden. Mit Schrecken und Bewunderung ſchauten ſie das Wüten der entfeſſelten Elemente.

Ungeheure Wogenberge, deren Schaumkronen ſich weißleuchtend überſtürzten, rollten dem Schiffe nach und hoben das Heck empor, ſo daß der Bug tief in die Wellentäler hinabtauchte. Die Brecher überfluteten Deck und Kaſtelle und ſchlugen die Schanzkleidung in Stücke. Die Koggen waren Spielbälle von Sturm und Wogen geworden.

Ein Blitz erhellte das Raubſchiff.

„Ein feiner Segler“, rief der Schiffer den Brüdern zu.

Aber die Jünglinge achteten nicht auf ſeine Worte. Aus einer Luke des Raubſchiffes ſchaute angſtverzerrt ein Kopf mit langer Naſe und ſtechenden Augen heraus, ein Geſicht, das ſie nur zu gut kannten. Alſo deshalb wußten die Räuber mit den Geheimniſſen des Buches ſo gut Beſcheid!

„Er iſt es!“, ſchrie Gerd und ihm ſchauderte beim Anblick dieſer Züge, die der Widerſchein der Blitze zu einer Teufelsfratze verzerrte.

Der Pirat änderte ſeinen Kurs. Denn er befürchtete, zu weit in die weſtliche Oſtſee abgetrieben zu werden.

Plöglich faßte Henning den Schiffer am Arm und zeigte entſetzt nach Nordoſt.

Dort raſt ein ſchwarzes Ungeheuer heran, unheimlich und gefahrdrohend, umzuckt von flammenden Blitzen. Mit Rieſenfüßen eilt es über die kochende See, während ſein Haupt in den jagenden Wolken zerfließt. Seine langen Krakenarme ſtreckt es aus, als wolle es eine Beute erfaſſen.

„Der fliegende Holländer“, ſchreit ein Seemann in Todesangſt und bekreuzigt ſich mit zitternden Händen.

„Eine Waſſerhoſe“, ſagt Merten Voß, „Gott ſei uns gnädig“. Der Wirbel ſtürmt heran.

Wird er die Hanſekogge vernichten? Nein, er läuft vorüber, da, barmherziger Himmel! er packt das Raubſchiff, hebt die ſchwere Kogge empor, wie der gereizte Stier den Wolf, der die Herde bedroht, auf die Hörner nimmt, bricht ihr die Maſten und läßt ſie wieder herabfallen in das aufbrauſende Meer. Dann raſt das Ungeheuer weiter mit ungeſtillter Wut und verſchwindet in der Finſternis.

Von dem Raubſchiff iſt nichts mehr zu ſehen! –

Der „Löwe“ warf ſich noch lange hin und her in den Ausläufern des Wirbelwindes. Aber er hielt ſtand. Zwar hatte er den Beſanmaſt verloren, die Segel waren zerfetzt und die Schanzkleidung war beſchädigt worden, aber das gute Schiff war dicht geblieben.

Mit der Waſſerhoſe hatte das Unwetter ſeinen Höhepunkt erreicht und flaute danach allmählich ab. Der Orkan wurde zur ſteifen Briſe. Die Wellenberge wurden flacher und länger.

Gegen Abend wurden die Elemente endlich ihres Raſens müde. Der Mond ging klar und friedlich auf über der noch immer in der Dünung wogenden See.

Als nun die Gefahr vorüber war, ließ die in Kampf und Sturm aufs Höchſte angeſpannte Willenskraft der Jünglinge nach. Müdigkeit und Erſchöpfung übermannten ſie, und ſie ſanken neben dem Ruder nieder, umfangen von dem geſunden, traumloſen Schlaf der Jugend.

Der ſturmerprobte Schiffer aber ſtand aufrecht am Ruder in eiſerner Pflichterfüllung. Mit ſtarker Fauſt lenkte er das Schiff der Heimat zu, den Blick nach dem Meerſtern gerichtet, um den die anderen Sterne hoch am Himmelsgewölbe ihre Bahn ziehen im ewigen unwandelbaren Kreislauf, ungeſtört durch Sturm und Stille, Rettung und Untergang, Krieg und Frieden auf der kleinen Erde.

Es war eine traurige Heimkehr.

Kein Wimpel wehte am Turm von Travemünde, kein Gruß flog ihnen entgegen, als ſie ruhmlos ohne ihre Schiffsgeſellen am Geſtade anlegten.

An Land ſtanden die Angehörigen der Beſatzungen. Diejenigen, die ihre Männer, Söhne, Väter und Brüder auf den anderen Schiffen wußten, überſchütteten die Heimgekehrten mit bangen Fragen nach dem Verbleib ihrer Lieben. Die Männer vom „Löwen“ zuckten mit den Achſeln. Geſenkten Hauptes ſchritten ſie durch die Menge und verſchwanden in den engen Gaſſen und Höfen, um das Jammern der Frauen und das Weinen der Kinder nicht mehr zu hören.

Sturm und Räuber hatten die Hoffnung von Lübeck vernichtet.

Alte Erfahrung und junger Mut

Zu früher Stunde ſtanden Henning und Gerd auf dem Vorderkaſtell und ſchauten zu den Türmen Lübecks empor, deren ſchlanke Spitzen ſich vom hellen Morgenhimmel klar abhoben. Da wichen die Schatten der ſchlaflos verbrachten Nacht vom Gemüt der Jünglinge, und ſie faßten neuen Mut. Eine Stadt, die ſolche Bauwerke errichtet hatte, ließ ſich nicht durch Seeräuberbanden aus ihrer beherrſchenden Stellung verdrängen. Sie aber mußten das Buch ihres Meiſters wiedergewinnen, das, wie ſie nicht zweifelten, in der feſten Seeburg lag. Verworfen hatten ſie alle phantaſtiſchen Pläne, das Buch durch Liſt und Gaukelei wiederzuerlangen, klar wie der junge Morgen lag vor ihnen der Plan, es durch die Feuerwerkskunſt zurückzuerobern, deren furchtbare Wirkung ſie im Piratenkampf kennen gelernt hatten.

„Uns das Buch, den Hanſen die Schätze der Räuber“, ſagte Gerd. „Nein!“, entgegnete Henning. „Das Buch genügt uns nicht. Wir wollen nach deſſen Rezepten Gold machen, und die Verſuche zum Fixieren des Queckſilbers koſten viel Geld. Denn man kann das Ziel nur langſam erreichen. Wir müſſen ein Viertel der Beute als Lohn fordern.“

Der Schiffer hatte die Brüder beobachtet und ihre finſteren Mienen falſch gedeutet. Er rief ſie zu ſich und fragte ſie mit leichtem Spott:

„Nun, iſt eure Sehnſucht nach der See jetzt geſtillt? Wollt ihr abmuſtern?“

„Wir machen die nächſte Reiſe wieder mit, aber nicht auf einem Schiffe, das ſo ſchlecht ausgerüſtet iſt wie der ‚Löwe‘. Gebt uns Urlaub, Schiffer, wir wollen vor den Rat gehen und ihm dies ſagen.“

Merten Voß ſah die Brüder erſtaunt an.

„Ihr wollt dem Rate ſagen, daß ſeine Schiffe ſchlecht ausgerüſtet ſind! Seid ihr toll geworden?“

„Wir haben unſeren Plan gut überlegt. Innerhalb Jahresfriſt liegt die Seeburg in Trümmern, auch wenn ihre Mauern dicker ſind als die von Jericho und ihre Türme höher als der Turm zu Babel.“

„Henning“, ſprach der Schiffer warnend, „bedenke, was du tuſt. So übermütig wie du hat auch Herr Johann Wittenborg geſprochen, als er mit der hanſiſchen Flotte vor Helſingborg lag und den dicken Kärnan bezwingen wollte. Ich war zugegen, als ſie ihm auf dem Markte den Kopf abſchlugen. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, ſeinen letzten Schrei vergeſſe ich nicht.“

„Schiffer“, antwortete Henning ernſt, „auch wir ſind beſtimmt, durch Stürme und Klippen zu ſegeln. Gebt uns Urlaub, daß wir das tun, was unſere Pflicht iſt.“

Da kam dem Schiffer die Ahnung, daß es auch anderen Mut gibt als den auf hoher See und in wildem Kampfe, und ernſt ſagte er: „So tut, was ihr tun müßt.“

Die Brüder wuſchen ſich und ſäuberten ihre Kleider. Dann gingen ſie die ſteile Gaſſe hinauf zum Rathauſe.

Merten Voß ſah ihnen nach wie ein ſorgender Vater, deſſen Söhne eine gefährliche Reiſe antreten.

Als der Ratsdiener ſie nach ihrem Begehr fragte, gaben ſie ihm kurz zur Antwort, daß ſie geheime Kriegskünſte wüßten, die ſie nur dem Rate offenbaren würden.

Lange warteten ſie in der mit roten Flieſen gepflaſterten Vorhalle, dann folgten ſie dem Diener durch gewölbte Gänge, bis ſich eine reich geſchnitzte Eichentür mit einem mächtigen Bronzegriff in der Mitte vor ihnen öffnete.

Sie traten ein und ſtanden vor den Männern, die dauernd bedrängt durch fehdeluſtige Edelleute, kriegeriſche Fürſten, ränkeſpinnende Könige und neidiſche Nebenbuhler die Geſchicke des Nordens mit klugem Sinn und feſter Hand lenkten. An einer langen, mit Dokumenten und Büchern bedeckten Tafel ſaßen die Ratsherren, ſchweigend und würdevoll, angetan mit pelzverbrämten Mänteln, manche im Schmucke goldener Ehrenketten, Königen gleich.

Wie ganz anders erſchienen den Brüdern dieſe ſtolzen Patrizier als die ehrſamen Stadtväter Falkenbergs!

Anders ſtanden aber heute auch Henning und Gerd vor den Herren der Oſtſee als einſt vor dem Rate ihrer kleinen Heimatſtadt. Sie waren Männer geworden im Angeſicht des Todes.

Der Bürgermeiſter, ein hagerer Greis, auf deſſen weißer Stirn die Runen des Alters eingegraben waren, ſah die Brüder aus kühlabwägenden Augen mißtrauiſch an.

„Was iſt euer Begehr? Faßt euch kurz! Wir haben dringende Geſchäfte zu erledigen und keine Zeit, lange Reden anzuhören.“

Feſt wie Stahl war Hennings Erwiderung:

„Kein Geſchäft darf euch wichtiger erſcheinen als die Vernichtung der Seeräuber. Wir allein kennen deren Waffen. Wir allein wiſſen dieſe durch beſſere zu brechen.“

Zwanzig ſcharfe Augenpaare muſterten halb hochmütig, halb unwillig die jungen Männer, die in grober Seemannskleidung am Ende des Tiſches ſtanden.

Aber dieſe hielten unerſchrocken die Blicke aus, und ſpöttiſch kräuſelte ſich Hennings Lippe, auf der gerade der erſte Flaum ſproßte.

„Wer ſeid ihr?“, fragte der Bürgermeiſter.

„Wir durchziehen die Welt, um die Künſte, vor allem die Kriegskunſt zu erlernen. Meiſter ſind wir noch nicht, aber bei guten Meiſtern haben wir gelernt und wiſſen mehr von der Kriegskunſt als eure Kriegsleute und als ihr Herren des Rates ſelbſt.“

Einige der ſtolzen Patrizier fuhren bei dieſen kecken Worten zornig auf, aber ein junger Ratsherr hob beſchwichtigend die Hand. Henning ſah auf und begegnete dem Blick Gottſchalks von Soeſt. Dieſer nickte ihm freundlich zu und ſprach zu ſeinen Amtsbrüdern: „Ich kenne dieſe jungen Männer, ſie gehörten zu der Beſatzung des ‚Löwen‘. Unerſchrocken ſtanden ſie im Kampfe, und ihnen allein haben wir es zu verdanken, daß unſer letztes Schiff den Seeräubern widerſtand. Sie wieſen uns Künſte, die wir nicht kannten, und machten die gefährlichen Feuergeſchoſſe unſchädlich. Ich rate ihre Vorſchläge anzuhören.“

„Redet“, gebot der Bürgermeiſter.

Henning holte tief Atem und ſprach: „Für den Nahkampf ſchießen eure Büchſen zu langſam. Auch haben eure Koggen zu wenig Geſchütz. Wir wollen eure Meiſter lehren, Büchſen zu machen, die geſchwind ſchießen, indem man bei jeder Büchſe mehrere geladene Pulverkammern bereithält. Aber auch dann noch iſt der Nahkampf mit den verwegenen Geſellen gefährlich. Wir raten daher, auf jedes Schiff drei oder vier große gegoſſene Schlangenbüchſen zu ſetzen. Aus dieſen ſoll man glühende Eiſenkugeln ſchießen, ſo groß wie ein Kinderkopf, um die feindlichen Schiffe aus der Ferne zu verbrennen.“

„Könnt ihr Schlangen anfertigen, die Eiſenkugeln ſchießen?“, fragte der Bürgermeiſter. „Viele Meiſter haben es ſchon verſucht, aber noch keinem iſt es gelungen. Die Eiſenkugeln ſind zu ſchwer, und das Geſchütz reißt auseinander, ehe ſich die Kugel in Bewegtung ſetzt.“

„Nicht, wenn man das richtige Pulver verwendet“, ſagte Henning ſicher.

„Und wenn man die Büchſe richtig gießt, mit dem Boden nach unten, ſo daß dieſer am dichteſten im Guſſe wird“, ſetzte Gerd hinzu.

Schweigen herrſchte in der Runde. Niemand gab ein Zeichen der Zuſtimmung oder der Ablehnung.

„Was ſind das für Stockfiſche!“, dachte Henning erbittert. Aber er bezwang ſeinen Ärger und redete ſachlich und beſtimmt weiter:

„Zur Vernichtung der Seeräuber iſt die Schleifung der ſtarken Seeburg unerläßlich. Wir haben uns ſagen laſſen, daß man kein ſchweres Geſchütz an die Feſte heranbringen kann. Wir ſchlagen deshalb vor, ſie mit einer großen Büchſe, die eiſerne Vollkugeln ſchießt, vom Lande aus zu brechen.“

„Aber was geſchieht, bis dieſe umſtändlichen Vorbereitungen getroffen ſind?“, fragte der Bürgermeiſter.

Henning wußte auch dafür Rat.

„Wir ſchlagen die Seeräuber mit ihren eigenen Waffen, indem wir eure Büchſenmeiſter lehren, Brandgeſchoſſe anzufertigen, die kräftiger ſind als die Feuertöpfe der Piraten. Damit mögen ſich eure Schiffe die Feinde bis zum Frühjahr vom Halſe halten.“

Noch einmal ſprach der Bürgermeiſter:

„Nun ſagt mir noch, weß Stammes und Namens ihr ſeid.“

Henning hob den Kopf noch höher und gab ſtolz zu Antwort: „Ritterbürtig iſt das ſchwäbiſche Geſchlecht der Freyermuth. Unſere Ahnen zogen ſchon mit den Staufen ins ferne Welſchland und gewannen Ruhm und Ehre vor Mailand und Pavia.“

Da wurden die Geſichter der ſteifen Patrizier etwas freundlicher, und wohlgefällig ruhten ihre Blicke auf der prächtiger Kriegergeſtalt Hennings und auf den klugen Zügen jung Gerds. Und viel höflicher klang des Bürgermeiſters Stimme, als er entgegnete:

„Ein ehrbarer Rat dankt den Junkern Freyermuth für die Vorſchläge und wird dieſen ſeine Beſchlüſſe ſagen laſſen.“ Er nickte mit dem Kopfe, und die Brüder waren entlaſſen.

Auf dem Rückwege zum Schiff meinte Gerd, daß es ihnen vor dem Rate Lübecks nicht beſſer ergangen ſei als einſt vor den weiſen Stadtvätern Falkenbergs, und in ziemlich gedrückter Stimmung begannen ſie, an Bord der Kogge angekommen, mit der ihnen aufgetragenen Wiederherſtellung der beſchädigten Geſchützladen. In dieſe Arbeit vertieften ſie ſich ſo, daß ſie nicht merkten, wie Merten Voß und Gottſchalk von Soeſt ihnen eine Weile ſtillſchweigend zuſahen.

„Kommt nach achtern“, rief der Schiffer, „Herr Gottſchalk hat mit euch zu reden.“

Als ſie an dem runden Tiſche Platz genommen hatten, der um den Fuß des Beſanmaſtes herumgebaut war, ſprach Gottſchalk:

„Eure Pläne gehen weit und erforderten viel Geld. Der Rat muß für die Kriegsreiſe eine Steuer auf die Häuſer legen. Schon jetzt murrte das Volk. Leicht iſt es, eine Stadt zu lenken, wenn Handel und Wandel blühen, aber ſchwer iſt es, Aufruhr zu verhindern, wenn draußen und drinnen das Unglück umherſchleicht. Darum überlegt ſich der Rat eure Vorſchläge gut und hat mich beauftragt, euch drei Fragen vorzulegen:

Sagt mir zuerſt, ob ihr beſchwören wollt, daß keine Angehörigen und Freunde von euch unter den Seeräubern ſind, und daß ihr mit keinem Räuber jemals gehandelt oder ihm Vorſchub geleiſtet habt.“

Bei dieſer verfänglichen Frage ſenkte Gerd ängſtlich den Blick, aber Henning ſah dem Ratsherrn feſt in die Augen.

„Wir haben unter den Räubern einen Mann geſehen, den wir kennen. Er iſt mit dem Raubſchiff im Wirbelſturm vernichtet worden.“

„Wer war dieſer Mann?“

„Wir ſagen es nicht. Denn es könnte ſeine Freunde bekümmern, daß er unter die Seeräuber gegangen iſt.“

„Eure Antwort dürfte den Rat nicht befriedigen.“

„Dann möge der Rat die Vorſchläge von Leuten hören, die geſchwätzig einen ehrlichen Namen der Schande preisgeben.“

„Junker Henning, ihr ſeid ein Feuerkopf. Lernt bei uns kühle Ruhe. Doch nun die zweite Frage: Bei welchem Meiſter habt ihr eure Künſte gelernt?“

Schweigen herrſchte in der engen Kajüte. Die Abendſonne lag auf Gerds klugem Angeſicht, da ertönte von den hohen Türmen der Marienkirche die Veſperglocke.

Als der Schall verklungen war, ſprach Gerd, in Erinnerung verſunken:

„Ihr habt ſoeben ſeine Stimme vernommen. Der große Meiſter, der dieſe feine Glocke für eure Kirche gegoſſen hat, der hat uns auch gelehrt, die brüllenden Geſchütze und die krachenden Geſchoſſe zu bereiten. Er hat die Welt durchſtreift vom Norden bis nach Sizilien, er hat wenig geſchlafen, wenig gegeſſen und noch weniger getrunken. Die Stunden, die ſeine Gefährten in der Schenke verbracht haben, die hat er verbracht mit Leſen und Schreiben beim Scheine der Lampe. Daher kannte er alle Geheimniſſe und Künſte, daher war ihm nichts fremd auf Gottes weiter Erde.“

„Deine Antwort genügt mir“, ſagte Gottſchalk, „nun die letzte Frage des Rates: Welchen Lohn fordert ihr für eure Hilfe?“

„Merket gut auf, Ratmann, ich bitte euch“, ſprach Henning, „das beſte Stück der Beute gehört uns nach freier Wahl. Von allem übrigen fällt uns ein Viertel zu. Ferner fordern wir freie Herberge bis zum Ende der Fahrt, dazu für jeden fünf Gulden Monatsſold, eine Augsburger Rüſtung und ein kölniſches Schwert.“

Gerd beobachtete den Kaufmann, während Henning die hohe Forderung darlegte, aber dieſer verzog keine Miene, er dankte den Brüdern und ſchied mit freundlichem Händedruck. –

Wieder ſtanden Henning und Gerd vor dem Rate. Wieder muſterten zwanzig ſcharfe Augenpaare ſie, aber nicht hochmütig und abweiſend, ſondern forſchend und neugierig.

Der Bürgermeiſter begann:

„Eure Bedingungen kennen wir, höret jetzt die unſrigen: Ihr haftet der Stadt mit Leib und Gut. Wenn die Reiſe mißlingt, können wir euch vor der Wut des Volkes nicht retten, und ihr ſeid dem Henkerbeil verfallen. Seid ihr euch deſſen bewußt?“

Henning entgegnete feſt: „Wir ſtehen für das ein, was wir verſprochen haben.“

Nachdenklich ſtützte der Bürgermeiſter ſein Haupt, leiſe flüſterten die Ratsherren. Da unterbrach Henning keck die Stille:

„Wohlan, ihr Herren von Lübeck, was zaudert ihr? Iſt eure Stadt dahin gekommen, daß ſie ſich vor Räubern beugt?“

„Wahr geſprochen“, rief mit ſtarker Stimme Gottſchalk von Soeſt durch den Saal, „Was zaudern wir noch? Zu lange ſchon verſeucht die Seeräuberpeſt unſere Meere. Mit Feuer und Schwert muß dieſe Brut ausgetilgt werden.“

Tadelnd ſchüttelte der Bürgermeiſter das greiſe Haupt:

„Eurer Jugend, Gottſchalk, und eurem oft bewieſenen Mut will ich es zugute halten, daß ihr dem Alter das Wort vorwegnehmt.“

„Ich kenne höfiſche Sitte und ſchweige, wenn alte Erfahrung redet“, erwiderte Gottſchalk, „aber hier ſprechen wir von neuen Künſten, die das Alter nicht gekannt hat. Auf der Tagfahrt in Köln habe ich geſehen, wie weit uns die rheiniſchen Städte in der Büchſenmeiſterei voraus ſind. Ich habe es euch geſagt, aber ihr glaubtet es mir nicht.“

Da ſprach ein alter Ratmann mit eckigen Zügen und ſcharfen Augen, jedes Wort langſam abwägend:

„Meine Freundſchaft hat kein Vertrauen zu den Plänen der fremden jungen Männer. Wir bewilligen nur ein Schiff und eine gute Steinbüchſe. Weder die Hanſebrüder noch unſere Bürger ſind zu einer Steuer bereit. Denn ſchon zu viel Geld haben die nutzloſen Fahrten gegen die Räuber verſchlungen.“

Da ſprang Gottſchalk von Soeſt auf, der ſchwere Stuhl flog um, der Kettenpanzer raſſelte. Er trat neben die Brüder und ſprach in höchſter Erregung:

„Setzen dieſe Edelleute ihren Kopf zum Pfande, ſo verbürge ich mich für die Koſten der Fahrt mit Geld und Gut, mit Haus und Hof, mit allem, was mein iſt. Seid ihr nun bereit, uns zu folgen?“

In die drückende Stille, die ſeinen Worten folgte, klang die ruhige Stimme des Bürgermeiſters:

„Einer für alle, Alle für Einen. Wir ſtehen zuſammen und wollen zuſammen das Geld vorſtrecken, und wenn der Plan mißlingt, ſoll jeder nach ſeinem Vermögen beiſteuern. Habt Dank, Gottſchalk. Und nun höret, Junker!“ – er wandte ſich an die Brüder – „Eure Forderung iſt hoch, aber ſie iſt bewilligt, ſo ihr eure Aufgabe löſt. Zur Probe ſtellen wir euch auf drei Monate ein als Büchſenſchützen. Sofern es euch in dieſer Zeit gelingt, uns die Herſtellung guter Brandgeſchoſſe zu lehren, ſeid ihr angeſtellt auf Lebenszeit, ſo ihr hier bleiben und ſeßhaft werden wollt. Ihr müßt ſchwören, daß ihr eure Künſte keinem Feinde Lübecks lehrt und auch keiner Stadt, die verhanſet iſt. Gebt mir darauf eure Hand. – Und nun ſetzet euch zu uns, damit wir das Einzelne beſprechen.“

Und ſo ſaßen Henning und Gerd mit den Herren von Lübeck an einem Tiſche und hielten dieſen Vorträge.

Die Ratsherren ſtaunten über die Selbſtverſtändlichkeit, mit der die Brüder die ſchwierigſten Arbeiten der Kriegs- und Gießkunſt behandelten. Sie verſtanden manche Einzelheit nicht, aber ſie erkannten mit dem klaren Blick welt- und menſchenkundiger Kaufleute, daß die Brüder in ihrem Fache wohl erfahren waren.

Es wurde feſtgeſetzt, wieviel Salpeter, Schwefel, Kupfer und Zinn zu beſchaffen ſei.

Zuerſt ſollten die Büchſenmeiſter der Stadt im Feuerſchießen unterrichtet werden; dann wollten die Brüder den Gießofen bauen, und zwar auf eine neue Art, wie einen großen Backofen.

Begeiſtert ſchilderte Henning die mannigfachen Vorteile dieſes „Windofens“:

„Auf dem weiten Herde kann man die Speiſe läutern, man kann Proben entnehmen und prüfen, ob ſie genügend dünnflüſſig iſt. Vor allem aber braucht der neue Ofen keine teure Holzkohle, ſondern nur trockenes Fichtenholz.“

Dann malte Gerd mit Kreide die Zeichnung der Geſchützbohrmaſchine auf den Tiſch.

„Ihr könnt ſo gut zeichnen wie ſchnitzen, Junker Freyermuth“, ſagte Gottſchalk von Soeſt, „Euer kleines Schiff hat Merten Voß in der Jakobikirche aufgehängt. Jedermann hat daran ſeine Freude. Wir hoffen, daß ihr zur Verſchönerung unſerer guten Stadt noch mehr ſolcher Schnitzwerke anfertiget.“

Gerd dachte daran, wie ihm die Lübecker Malermeiſter die Tür gewieſen, und ſchwieg.

Nun kam die Beſchaffung der Eiſenkugeln. Die Brüder rieten ab, dieſe in der Stadt ſchmieden zu laſſen, da die Herſtellung zu ſchwierig und die geſchmiedeten Kugeln zu weich ſeien.

Henning ſchlug vor, die Kugeln auf einer Maſſenhütte zu gießen. Der Rat wußte keine andere Möglichkeit, als die Kugeln einer Hütte bei der Eiſenſtadt Siegen in Auftrag zu geben, wo die berühmten Maſſenöfen waren. Henning ſollte den Guß der Kugeln leiten, und Gerd unterdeſſen die Gießhütte und die Bohrmaſchine errichten. Gottſchalk von Soeſt bot ſich an, Henning auf der Fahrt zu begleiten.

Nun kamen geſchäftige Tage.

Henning traf ſeine Vorbereitungen zur weiten Reiſe. Gerd begann unter Mitarbeit des Ratsherrn, der das Amt des ſtädtiſchen Baumeiſters verſah, mit dem Bau des Windofens und dem Aufſtellen der Bohrmaſchine.

Der ſtädtiſche Zeugmeiſter, der ſich mit den neuen Waffen nicht befreunden wollte, legte Gerd manchen Stein in den Weg. Er mußte ſich aber bald vor dem überlegenen Können des Fremden beugen. Dann nahm er ſich der Sache mit Eifer an und gab manchen praktiſchen Wink.

Die Arbeiten ſchritten rüſtig vorwärts. Denn andere Hilfe ſtand hier zur Verfügung als in dem kleinen Falkenberg.

Wie bald hatten die geſchickten Maurer des ſtädtiſchen Bauhofes den Windofen fertig, wie bald erhob ſich, aus mächtigen Balken gezimmert, mit ſchweren Eiſenſchienen verbunden und gefaßt, das hohe Gerüſt der Bohrmaſchine.

„Eine Kirchturmſpitze zu zimmern, iſt noch ein ander Ding, als eure Bohrramme“, ſagte lachend der Zimmermeiſter zu Gerd, als dieſer die gute Arbeit lobte.

Gerd begann nun mit den Grapen- und Glockengießern die Büchſen zu formen. Oft dachte er dabei an ſeinen unvergeßlichen Meiſter, an die flammenerhellte Nacht des Glockenguſſes auf dem Kirchhofe in der fernen Heimatſtadt und an die zarte Geſtalt ihrer jungen Freundin. Hier nahm er ſich nicht die Zeit, die Güſſe mit Ranken und kunſtvollen Bildern zu ſchmücken. Vorwärts, hieß es, vorwärts! So blieben die Rohre faſt ganz glatt. Der Rat ließ von den Goldſchmieden nur den lübſchen Doppeladler in das Langfeld eingraben, unter den Gerd das Wappen der Freyermuth, den ſpringenden Hirſch, ſetzte. Doch auf der größten Büchſe, dem „Drachen“, der die Seeburg bezwingen ſollte, ließ Gerd die kurze Inſchrift anbringen:

Wenn ich mein giftig Feuer ſpei,
dann brechen Turm und Fels entzwei!

Die Eiſenhütte

Derweilen trabten die Abgeſandten Lübecks, von einer Schar Gewappneter begleitet, gen Siegen.

Es war ein prächtig Reiten durch das ſommerliche Land.

Gottſchalk und Henning fanden aneinander Gefallen und hielten gute Kameradſchaft. Ernſte Geſpräche verkürzten den Weg, auch manch munteres Scherzwort flog hin und her. Henning ſchätzte an ſeinem neuen Freund die kühle Ruhe, die vornehme Gelaſſenheit, den weiten Blick, während dieſer Hennings ſtürmiſchen Tatendrang, ſeinen unerſchrockenen Mut und ſeine Gewandtheit in allen Lebenslagen bewunderte.

Vor allem beſtaunte Gottſchalk Hennings Reitkunſt, wenn dieſer den mutwilligen braunen Hengſt mit feſter Hand meiſterte. Auch manche hübſche Maid ſah mit Wohlgefallen den ſtattlichen jungen Kriegsmann in der ſchweren Rüſtung, mit dem blonden Haar und den hellen Augen. Dann ſagte der Ratsherr lachend:

„Henning, es iſt gut, daß du einen Panzer trägſt, ſchon wieder werden glühende Pfeile auf dein Herz geſchoſſen.“

In der Stadt Siegen wurden die Boten der Hanſe mit Ehren aufgenommen. Gottſchalk und Henning ließen ſich kaum Zeit, den Staub der Reiſe abzuſchütteln, dann begann die Verhandlung mit dem Rentmeiſter des Grafen.

Schon am nächſten Tage brachen ſie unter Führung des Rentmeiſters nach dem Maſſenofen auf. Nach einem mehrſtündigen Ritte am Ufer der Sieg entlang bogen ſie in ein enges Seitental ein. Der Weg zog ſich in vielen Krümmungen an einem über Steingeröll zu Tal eilenden Bache entlang. Oft war die dunkle Schlucht ſo eng, daß man den Pfad in die Felſen eingehauen hatte, oder ihn auf ſchwankem Steg hoch über das Wildwaſſer führte.

Die Reiter kamen nur langſam vorwärts. Gegen Mittag gab es eine kurze Raſt in einem Forſthauſe.

Als die Sonne ſank, ſahen die Reiter vor ſich einen kahlen Berg, der von rieſigen Maulwurfshaufen bedeckt zu ſein ſchien. Der Rentmeiſter zügelte ſein Roß und ſprach erklärend:

„Wir ſind bald am Ziel, dort iſt der Erzberg. Neben jedem Haufen iſt ein Schacht mit einer Haſpel zum Aufwinden der Erze. Vom Schacht wird dann das ausgeklaubte Erz auf Karren oder Schlitten zur Hütte gefahren.“

Die Reiter bogen um eine vorſpringende Felsnaſe und ſahen im letzten Schein des Tages die Hütte vor ſich in dem dunklen Waldgrunde liegen.

Die Eisenhütte

Aus einer weiten Öffnung des Daches, das in gleicher Höhe mit dem um die Talwände führenden Wege lag, loderte eine helle Flamme empor.

„Das iſt der Mund des großen Ofens“, belehrte ſie der Rentmeiſter und zeigte mit ausgeſtreckter Hand nach dem ſprühenden Feuer. „Erz, Kohlen und Zuſchlagkalk verzehrt der glühende Rachen, und der Gichter, der ihn beſchickt, muß darauf achten, daß die grobe Speiſe richtig gemiſcht iſt, denn ſonſt liefert der Ofen ſchlechtes Eiſen.“

Die Reiſenden verhielten kurze Zeit und ſahen dem Manne zu, der, vom Scheine der Gichtflamme geſpenſtiſch beleuchtet, unermüdlich Körbe voll Erz und Holzkohlen in den Ofen ſtürzte. Wenn eine Ladung in dem Ofenmund verſchwunden war, verſank die Flamme einen Augenblick, um dann aufs Neue praſſelnd emporzuzüngeln, als ſei das Ungeheuer noch nicht geſättigt.

Der Weg führte abwärts zum Eingang der Hütte. Die Reiter ſchwangen ſich von ihren Tieren, der Hüttenmeiſter eilte herbei und ſprach zum Willkommen ein freundliches „Glück auf!“ Dann lud er die Männer in ſeine Wohnung ein und erquickte die Hungrigen mit kräftigem Imbiß.

Gottſchalk gab darauf dem Meiſter den Auftrag der Hanſe kund und übergab ihm die Ringe, die als Kugellehren benutzt werden ſollten. Der Meiſter verſprach, am nächſten Morgen unverzüglich mit den Vorbereitungen zum Guß der Kugeln zu beginnen.

Henning und Gottſchalk waren von dem weiten Ritte ermüdet, aber bevor ſie ihre einfache Lagerſtätte in der Wohnung des Hüttenmeiſters aufſuchten, machten ſie noch einen Gang durch die Hütte. Sie betraten das rauchgeſchwärzte Gebäude, das mit Schindeln gedeckt war, und wurden von einem ohrenbetäubenden Fauchen und Toſen empfangen. Nachdem ihre Augen ſich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannten ſie das Gemäuer des Maſſenofens, der in der Mitte des Raumes wie ein plumper viereckiger Turm emporragte. Links arbeiteten ein Paar mächtige Lederbälge, die von der Welle eines Waſſerrades bewegt wurden und wie zwei wilde Beſtien brüllten und ſchnaubten. Beim Auf- und Niedergang trieben ſie durch eine kurze Kupferdüſe einen ſtarken Windſtrom in die Gluten. Vor dem Ofen war im Sande eine längliche Grube ausgehoben.

Es war gerade an der Zeit, den Ofen zu entleeren. Der Schmelzer ergriff eine Eiſenſtange und durchſtach damit die Ofenwand, wo dieſe über dem Boden der Hütte anſetzte. Durch die runde Öffnung floß das Roheiſen dünn wie Glockenmetall, blendendes Licht verbreitend, in die Grube. Bevor die Maſſe erſtarrte, warf ſie Funken aus, die wie kleine Feuerbälle etwa eine Elle hoch emporſchoſſen, ſo daß man ein leuchtendes Ährenfeld zu ſehen glaubte.

Der Hüttenmeiſter, der mit feuergewohnten Augen prüfend in den Glutbach ſah, erzählte den Fremden, daß der Ofen gewöhnlich acht Wochen lang dauernd in Betrieb ſei und, wenn es gut gehe, täglich zwölf Zentner Eiſen liefere.

Beim Sonnenaufgang des nächſten Morgens begannen die Eiſengießer ihre Arbeit. Zuerſt wurden die eiſernen Schalen gegoſſen, in denen man die beſtellten Kugeln gießen wollte. Dieſe Kugelformen beſtanden aus zwei Hälften, die ſich wie Muſchelſchalen zuſammenfügten.

Als die Formen fertig waren, grub man ſie neben der Abſtichrinne ein.

Nun goß man unermüdlich Tag und Nacht Geſchützkugeln, indem man das flüſſige Eiſen in die Formen leitete. Die noch glühenden Kugeln wurden in einem Kohlenfeuer nachgeglüht. Durch dieſe Behandlung wurde das an ſich ſpröde und brüchige Roheiſen feſt und hart.

Henning brachte täglich viele Stunden in der Eiſenhütte zu, aber die Dünſte, die beim Schmelzen des Erzes entſtanden, verurſachten ihm Kopfſchmerzen.

Er unternahm deshalb oft Spaziergänge in die Umgebung.

Er beſuchte die Erzgruben, deren primitiver Betrieb ihm nach dem, was er im Bergbuche des Meiſters geleſen hatte, unpraktiſch erſchien; er ging zu den Köhlern, die im tiefen Walde die Holzkohle brannten, ſaß bei ihnen am qualmenden Meiler und ſtaunte über die ſcharfe Beobachtungsgabe und die Naturkenntnis der einfachen Männer.

Eines Tages ritt er auch zum Eiſenhammer, der in einem kleinen Nebentale unterhalb der Maſſenhütte lag.

Schon aus der Ferne vernahm er das Echo der Hammerſchläge, das von den engen Felswänden widerhallte.

Mit verſtändnisvollem Blicke beſah Henning den maſſigen, aus ſchweren Eichenbalken gefügten Bau des Hammers. Menſchenkunſt hatte die ungeſtüme Gewalt des wilden Gebirgsbaches eingefangen und das Waſſer über die bemooſten Schaufeln des großen Waſſerrades geleitet, deſſen Welle den zentnerſchweren Hammer emporhob, bis er gegen einen biegſamen Balken anprallte und zurückſchnellend auf den klingenden Amboß niederſauſte. Das Roheiſen wurde in einem Schmiedefeuer nochmals eingeſchmolzen und dadurch gereinigt. Dieſen Vorgang nannten die Schmiede „friſchen“. Der große Hammer ſchmiedete dann mit wuchtigen Schlägen das gefriſchte Eiſen aus.

Der Aufenthalt in der Hütte dauerte länger, als Gottſchalk und Henning erwartet hatten.

Der Ofen lieferte nicht immer ein für den Kugelguß geeignetes Roheiſen. Frühzeitig kam der Winter, er brachte hohen Schnee und ſtrenge Kälte. Der Bach fror zu, und das Waſſerrad vereiſte. Da mußte der Ofen ausgeblaſen werden, und die Arbeit in der Hütte ruhte. Aber die Hüttenleute brauchten nicht zu feiern. Sie halfen den Holzfällern in den Schlägen, fuhren die Scheiter auf Schlitten zu den Kohlplätzen und die Kohle zur Hütte. Bis unter das Dach wurde der Kohlenſchuppen gefüllt, um Vorrat zu ſammeln für die nächſte Schmelzreiſe. Wenn aber der Förſter Rot- oder Schwarzwild in den Dickungen feſtmachte, ruhte die Arbeit. Die Hüttenleute ergriffen Jagdſpieß, Saufeder und Armbruſt und koppelten die Hunde los. Hundegeblaff und Jagdgeſchrei durchhallten den Forſt.

An den Abenden ſaßen Gottſchalk und Henning in der beſcheidenen Wohnung des Hüttenmeiſters am wärmenden Kamin.

Henning dachte viel darüber nach, welch’ wichtige Rolle das Eiſen dereinſt in Krieg und Frieden zu ſpielen berufen ſei. Stundenlang ſprach er darüber mit dem alten Hüttenmeiſter und entwielte dieſem ſeine Gedanken und Pläne.

Der Meiſter, auf der Hütte grau geworden, feſt am Erprobten und Althergebrachten hängend, teilte nicht immer die Meinung des jungen Feuerkopfes.

„Wie wollt ihr denn das viele Eiſen gewinnen, wenn ihr die Schiffe von oben bis unten mit Eiſen panzern, wenn ihr eiſerne Türme und Brücken bauen wollt?“, fragte er.

„Der ganze Berg dort beſteht doch aus Eiſen.“

„Aber es wird an Kohlen fehlen; der Wald iſt nur alle dreißig Jahre ſchlagbar.“

„An der Ruhr gräbt man Kohlen aus der Erde, habt ihr mir erzählt, ſo wie bei euch das Erz. Nehmt dieſe zum Schmelzen.“

„Das geht nicht, die gegrabenen Kohlen enthalten Schwefel und zerfallen im Feuer“, mußte Henning ſich belehren laſſen. „Und wenn es möglich wäre, womit ſollten wir die Bälge und die Hämmer der vielen Hütten antreiben?“

Henning hatte auch hierfür einen Plan.

„Die gewaltigſte Kraft hat das Schießpulver. Man muß Feuerräder bauen, die das Waſſerrad erſetzen, und rieſige Maſſenöfen errichten ſo hoch wie Kirchtürme.“

„Junker Henning“, erwiderte kopfſchüttelnd und bedächtig der Meiſter. „Ich weiß, daß ihr in vielen Künſten erfahren ſeid; es mag auch in ſpäteren Jahrhunderten gelingen, mit Steinkohlen das Eiſen im Maſſenofen zu erſchmelzen; aber daß knallende Pulvergeſchütze oder Feuerräder einſtmals den Wind in die Öfen treiben werden, das glaube ich nimmer.“

„Doch wir wollen uns nicht darüber ſtreiten“, fügte er nach einer Weile hinzu, als ob ſchon die modernen Gasmaſchinen und Turbogebläſe unſerer rieſigen Hochöfen vor ſeinem geiſtigen Auge ſtänden. „Eins rate ich euch: Laßt alle kühnen Hirngeſpinſte und ſucht nur das zu erreichen, was unſerer Zeit gewährt iſt.

Ich habe einen Mann gekannt, der trotz des hohen Fluges ſeiner Gedanken langſam vorwärts ſchritt und keine Kleinigkeit als zu gering verachtete. Das war der Meiſter, der aus der Fremde hierher kam und uns die Kunſt des Kugelguſſes lehrte. Wir lachten zuerſt, als er aus unſerem ſpröden Roheiſen Kugeln machen wollte. Er ließ ſich nicht beirren, glühte die Kugeln aus, und ſie wurden beſſer als die geſchmiedeten.“

„Das war Hans Buſſengeter“, rief Henning aus und erzählte dem freudig aufhorchenden Hüttenmeiſter von den letzten Taten des großen Mannes.

So wurden Hennings Gedanken wieder auf die hinterlaſſenen Aufzeichnungen gelenkt.

Es lag nahe, daß er hier in dem Lande, wo man den rohen Eiſenſtein zu zähem Eiſen und blankem Stahl umwandelte, zuerſt an die Goldmacherkunſt dachte. Beſonders feſſelte ihn ein Kapitel des Kunſtbuches über das aurum musicum, das Muſivgold. Deſſen Herſtellung aus Zinn, Queckſilber und Schwefel mußte ihm um ſo geheimnisvoller erſcheinen, als die beiden letzteren Stoffe nach der damals herrſchenden Anſicht der Scholaſtik die Grundſtoffe zur Herſtellung des Goldes waren. Heute wiſſen wir, daß das Muſivgold, obwohl es metalliſch glänzende gelbe Flitter bildet, nichts anderes iſt als Schwefelzinn, und daß Queckſilber zu ſeiner Herſtellung nicht unbedingt benötigt wird.

Henning bereitete einen größeren Vorrat Muſivgold. Eine Probe ergab aber, daß die Maſſe im Feuer nicht geläutert wird, ſondern zu einer grauen Maſſe zuſammenſchmilzt. Doch hoffte Henning das Muſivgold durch die alchemiſtiſchen Künſte der Zementation und Gradation veredeln zu können.

Gottſchalk von Soeſt ſah ihm bei ſeinen Experimenten aufmerkſam zu.

„Mir ſcheint, Henning, deine Mühe iſt diesmal umſonſt“, ſprach der kluge Kaufherr.

Aber Henning ließ ſich von ſeinem Tun nicht abbringen, und als endlich im März die Eiſenkugeln fertig und zum Abtransport nach Lübeck auf Frachtwagen verladen waren, nahm er das Präparat mit, um es bei Gelegenheit weiter zu behandeln. –

Der Zug beſtand aus zwanzig vollbeladenen Wagen mit Geſpannen und Fuhrleuten. Außer den mitgebrachten Reiſigen diente ein Dutzend Söldner zur Bedeckung.

Der ſchwerfällige Troß kam nur langſam vorwärts und blieb trotz Peitſchenknall und Hott und Hüh öfters in den grundloſen, eben erſt aufgetauten Straßen ſtecken.

Manches Mal mußten Menſch und Tier unter Anſpannung aller Kräfte Wagen um Wagen über beſonders ſchwierige Stellen mühſam ſchleppen, wobei auch Ratsherr und Junker feſt in die Speichen griffen.

Eines Tages ſtockte der Zug wiederum.

Es war in der Weſerniederung. Die Straße beſtand hier aus einem durch den Sumpf gelegten Knüppeldamm, der nur ſo breit war, daß ein Wagen Platz hatte. Der Damm mündete an einer vorſpringenden Waldecke auf feſten Boden.

Henning ritt mit einem halben Dutzend Bewaffneter an der Spitze. Als das Gehölz auftauchte, ſagte er zu den Söldnern:

„Ich will vorausreiten, um den Weg zu unterſuchen. Denn wenn er nicht beſſer wird, müſſen wir umkehren.“

Er gab dem Roß die Sporen und ſprengte voraus.

Als er um die Waldecke bog, ſah er ſich plötzlich von einer Horde zerlumpter Männer und Weiber umringt, die im Schutze des Gehölzes dem Geleitzug aufgelauert hatten.

Schon griffen ſchmutzige Zände keck nach dem Zügel, da riß Henning den Stahl aus der Scheide und brachte mit kräftigem Zügeldruck den Hengſt auf die Hinterbeine, ſo daß dieſer im Kreiſe herumtanzte.

Vor der blitzenden Klinge und den ſtampfenden Pferdehufen wichen die Wegelagerer zurück. Gleichzeitig eilten Hennings Söldner im Laufſchritt herbei und ſtellten ſich mit gefällten Spießen zu ſeinen Seiten auf.

Die Kerle waren einen Augenblick verblüfft, erkannten aber dann ihre Überzahl, und ein baumlanger frecher Menſch, der an ſeinem langen Schwert und dem Hahnenſchwanz auf dem verwitterten Lederhute als Anführer kenntlich war, forderte mit höhniſcher Unterwürfigkeit Geleitgeld und Brückenzoll.

Henning hätte beides am liebſten mit ſcharfen Hieben gezahlt, aber er ſah, daß der Wagenzug wieder ſtockte, und daß die übrigen Söldner, die teils zwiſchen den Wagen ſchritten, teils unter Führung des Ratsherrn den Schluß deckten, des Sumpfes wegen ihm nicht zur Hilfe eilen konnten. So war der Kampf ungewiß und ſicher ein Zeitverluſt.

Da kam ihm ein Gedanke:

„Ihr ſeid in der Überzahl. Aber das ſchwöre ich, die Hälfte von euch liegt tot im Sumpfe, ehe ihr uns überwältigt. Hier iſt ein Beutel mit Gold. Seht ſelbſt, wie rein der Goldſtaub iſt.“ Dabei ließ er das blitzende Muſivgold durch die Finger gleiten. „Den Beutel ſollt ihr als Zoll haben. Gebt ihr den Weg nicht frei, werfe ich das Gold in den Sumpf, wo es niemand wieder herausholt, und der Kampf beginnt. Nun wählet, wollt ihr Gold oder Schwertſtreiche?“

Das Geſindel zögerte.

Da ſchloß Henning das Viſier ſeines Helmes und ſchwang ſein Schwert gegen den Kopf des Anführers mit der Hahnenfeder.

„Halt, Herr Ritter“, ſchrie der Kerl und ſprang mit gewaltigem Satze zurück, „wir ſind einverſtanden, aber wir trauen euch nicht.“

„Geſindel“, rief Henning, „zweifelt ihr an den Worten eines Edelmannes? Verſchwindet im Walde und laßt dieſen Burſchen uns begleiten. Er ſoll nach einer halben Stunde Weges den Beutel haben und zu euch zurückkehren.“

Der Burſche fürchtete ſich nicht, dem Zuge zu folgen. Mittlerweile waren die Wagen herangekommen; das Geſindel verſchwand wie fortgeblaſen.

Es dünkte Henning unritterlich, Menſchen zu hintergehen, ſelbſt wenn es Wegelagerer waren, und als er nach der angegebenen Zeit dem Burſchen den Beutel übergab, legte er einige blanke Dukaten auf das Alchemiſtengold. –

„Was wird Gerd ſagen, wenn wir ihm erzählen, wie trefflich uns die Goldmacherkunſt geholfen hat“, bemerkte Henning nachher zu Gottſchalk.

„Kein Lehrling in den Goldſchmiedebuden hätte das Katzengold für echt gehalten“, meinte der kluge Kaufmann.

Henning ſpürte die Ablehnung ſeiner alchemiſtiſchen Verſuche, die in Gottſchalks Worten lag, und verteidigte ſeinen Meiſter:

„Dies war nur eine geringe Kunſt. Wenn wir erſt das Buch erlangt haben, werden wir dir das Meiſterſtück, das dreifache Magiſterium, vorführen, und du wirſt Dukatengold ſehen, das keiner Zementation bedarf.“

Gottſchalk ſchüttelte zweifelnd den Kopf und lenkte das Geſpräch in andere Bahnen.

Nach dieſem Abenteuer erreichte der Zug ungehindert die Tore Lübecks.

Kampf und Sieg

Die von Gerd nach dem neuen Verfahren gegoſſenen Geſchütze hatten die Beſchußprobe überſtanden, und die Feuerkugeln hatten ſich in kleinen Gefechten mit den Seeräubern gut bewährt. Der Rat hatte deshalb Vertrauen zu den Brüdern gefaßt und weder Geld noch Mühe geſpart, um die Kriegsflotte ſo ſtattlich wie möglich auszurüſten. Die Hanſe mußte ſiegen oder untergehen!

Gottſchalk von Soeſt war zum Admiral ernannt worden. Den Kern ſeiner Flotte bildeten drei gute Kriegskoggen, die auf das Trefflichſte ausgerüſtet, beſtückt und bemannt waren.

Auf dem Admiralsſchiffe, dem neu erbauten „Lübſchen Adler“, diente Henning ſeinem Freunde Gottſchalk als Büchſenmeiſter, während Merten Voß das Schiffsvolk befehligte.

Auch der „Seewolf“ ſtand unter dem Oberbefehl eines Ratsherrn, Gerd war der Büchſenmeiſter, während ein Schiffer für die Segelführung verantwortlich war. In der gleichen Weiſe waren die Führerpoſten auf der dritten Kriegskogge, dem „Erzengel“ beſetzt. Im Kielwaſſer der Kriegsſchiffe ſegelten drei leichtbewaffnete Fahrzeuge, die mit Munition, Lebensmitteln und Schanzzeug beladen waren. Den Beſchluß bildete ein breitgebauter Prahm. Im Raum desſelben waren die Steinbüchſen verſtaut, während der „Drache“, der bei ſeiner Länge von ſiebzehn Fuß nicht durch die Luke hindurchging, auf Deck mit Ketten und Tauen feſt verzurrt war.

So ſteuerten die Hanſen öſtlichen Kurs, erfüllt von dem Wunſche, die Seeräuber zum Kampfe zu ſtellen und ſie zu vernichten.

Ein guter Geiſt herrſchte an Bord. Der Rat hatte den Sold verdoppelt und nur zuverläſſige Leute angeheuert. Dazu vertraute jedermann auf die neuen Waffen, auf die Feuertöpfe und die glühenden Kugeln. Die Beſatzung hing an ihren Führern und war bereit, ihnen in Sturm und Kampf zu folgen.

Die weſtliche Oſtſee war leer von verdächtigen Schiffen. Denn die Seeräuber hatten Lunte gerochen und gingen dem Kampf mit dem ſtarken Gegner einſtweilen aus dem Wege.

Am frühen Morgen des dritten Tages der Fahrt ſtand Henning mit Gottſchalk und Merten Voß auf dem Verdeck des „Adlers“.

In ihrer Nähe ſchritt die Wache auf und ab. Es war juſt derſelbe Kerl, der die Brüder bei ihrem erſten Gang an Bord ſo freundlich bewillkommt hatte. Auf Verwenden des Schiffers war Klas Klüver bei der Neubeſetzung der Koggen wieder angeheuert worden, mit ihm faſt die ganze frühere Beſatzung des „Löwen“. Jetzt hing der grobe Menſch mit großer Hingebung an Henning und erzählte bei jeder Gelegenheit, wie er die beiden Brüder zuerſt kennengelernt hatte.

„Ich habe gleich bemerkt, daß die Junker nicht ſo ohne ſind“, damit endete ſtets ſein Garn, das immer länger wurde, je öfter er es ſpann. Er ſorgte auch dafür, daß Hennings Meiſterſchuß und die Unſchädlichmachung der feindlichen Feuertöpfe durch Gerd unter der Beſatzung der übrigen Koggen bekannt wurden.

„Sie nehmen es ſelbſt mit dem Teufel auf“, pflegte er zu ſagen, „und gnade Gott dem Räuber, den Junker Henning aufs Korn nimmt!“

Eine friſche Briſe wehte aus Südweſt. Die Sonne warf zitternde Lichter über die leicht bewegte See. Tümmler umzogen ſpielend die Schiffe. Kein fremdes Segel war auf der weiten Waſſerfläche zu ſehen.

„Feiges Geſindel, dieſe Seeräuber“, ſagte Henning mißmutig, „ſcheinen ſich wie Ratten verkrochen zu haben. Kauffahrer zu entern und wehrloſe Leute niederzuhauen, iſt allerdings etwas anderes, als gut bewaffnete Orlogſchiffe anzugreifen.“

„Sie fürchten ſich vor euren eiſernen Klößen, Junker“, meinte grinſend Klas Klüver, der die Worte vernommen hatte, „ſolche Biſſen liegen zu ſchwer im Magen.“

Hennings Begleiter lachten ſchallend, auch dieſer mußte unwillkürlich einſtimmen:

„Gut geſagt, Klas. Aber nun nimm Kurs nach vorn“, ſetzte er ernſter hinzu, „und paß auf, daß uns niemand belauſcht. Denn wir wollen geheime Dinge beſprechen.“

Die Wache ſegelte breitbeinig davon.

„Nimm die Worte nicht krumm, Henning“, ſprach der Schiffer, „der Kerl hat dich ins Herz geſchloſſen. – Doch nun hört, ich wüßte einen Plan, der uns die Seeräuber vor unſere Geſchütze bringen könnte.“

„Laß deinen Plan hören, Merten“, entgegnete Gottſchalk, „wir ſind, beim Himmel, nicht zu einer Luſtfahrt in See geſtochen.“

Der Schiffer wog bedächtig jedes Wort:

„Wir müſſen unſeren Schiffen das Ausſehen von Kauffahrern geben. Ich rate: Laßt uns die Segelfläche verkleinern, die Stückpforten übermalen und alle Kriegsleute unter Deck ſchicken. An Bord darf kein Helm zu ſehen ſein. Dann werden uns die Seeräuber für eine leichte Beute halten. Ich verſichere euch, es dauert nicht lange, und ein Angriff erfolgt.“

Gottſchalk überlegte eine Weile.

„Zwar paßt es mir nicht, den ſtolzen Adler in eine ſtruppige Krähe zu verwandeln, und auch unſer Seewolf wird nicht gern ein Lammfell tragen, aber euer Rat iſt gut. Was iſt deine Meinung, Henning?“

„Merten Voß hat die größte Erfahrung, tun wir, was er uns rät“, entgegnete dieſer.

Wenige Stunden ſpäter waren die waffenſtarrenden Kriegsſchiffe in friedliche Kauffahrer verwandelt.

Nur langſam ging die Fahrt mit dem verminderten Zeug weiter. Noch zwei Tage verliefen ruhig. Einige verdächtige Segel verſchwanden raſch wieder am Horizont.

Am Morgen des ſechſten Tages der Fahrt erſcholl endlich vom Mars des Vormaſtes der Ruf: „Schnellſegler in Sicht!“

Henning und Gottſchalk ſtiegen mit dem Schiffer auf das Vorderkaſtell, und bald erkannten ſie die heranſegelnden Kaperſchiffe. „Sie kommen!“, rief der Schiffer durch das Sprachrohr den übrigen Hanſekoggen zu.

Die Schiffe wurden klar gemacht, um die Räuber gebührend zu empfangen. Die Büchſenmeiſter ließen die großen Büchſen ſchußfertig machen und alle Kammern der Hinterlader mit Pulver füllen und die hölzernen Spiegel darauf feſt eintreiben. Das Schiffsvolk ſtellte überall Pferdemiſt bereit, um im Notfalle die Feuertöpfe der Piraten ablöſchen zu können. In den Kugelöfen glühten die eiſernen Vollkugeln. Die Gewappneten warteten unter Deck, bereit hervorzubrechen, ſobald die Piraten zu entern verſuchten.

Auf eine halbe Seemeile herangekommen, wendeten die Räuber, um die Hanſen in Luv zu paſſieren.

Merten Voß zählte laut:

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, ſechs, ſieben, acht, neun, zehn Schiffe, und da iſt noch ein kleines Schiff.“

„Jetzt zeigt, was eure neuen Waffen leiſten!“, ſagte er zu Henning. „Dort naht die vereinigte Streitmacht der Räuber und ihrer Beſchützer.“

Henning ſchwieg. Sein Mund preßte ſich zuſammen, und ſeine Augen blitzten, als er neben das unter Segeln und Tauwerk verſteckte Hauptgeſchütz trat.

„Sie ſollen ſich über unſern Gruß nicht beklagen, der Empfang wird warm“, ſtieß Gottſchalk hervor, und ſeine Rechte fuhr zum Kreuzgriff des Schwertes.

Die hanſiſchen Schiffe warfen die Tarnkappe ab. Der „Adler“ ſtreckte die Fänge aus, der „Seewolf“ wies die grimmen Zähne und der „Erzengel“ glänzte ſchimmernd in Wehr und Waffen. Die Begleitſchiffe nahmen Deckung in Lee.

Die lübſchen Büchſenmeiſter ſtanden an den Hauptſchlangen. Jetzt! Die glühenden Loseiſen fuhren in die Zündlöcher. Feuerzungen leckten aus den Rohren, drei Schüſſe krachten zuſammen wie einer. In das heulende Pfeifen der Kugeln klang das helle Schmettern der Einſchläge und das Splittern des brechenden Holzes.

Gerd faßte den heranſegelnden Gegner von vorn. Die Kugel durchſchlug den Steven und trat am Heck wieder heraus. Die Planken barſten auseinander. Die Kogge ſank mit Mann und Maus in die Tiefe.

Auch Henning traf gut. Der Schuß ſaß dicht über der Waſſerlinie, aber die Räuber verſpundeten das Leck durch einen der Holzpropfen, die auf den Schiffen für ſolche Fälle bereit lagen.

Auf dem „Erzengel“ zeigte der lübſche Büchſenmeiſter, daß er ſein Handwerk verſtand. Seine Vollkugel kappte den Fockmaſt des Piraten. Das Takelwerk fiel mit den Vorſegeln ins Waſſer, und das Schiff gehorchte dem Steuer nicht mehr. Es ſcheerte aus der Linie aus und ſtieß mit einer anderen Raub-Kogge zuſammen. Der lübſche Büchſenmeiſter hatte nun ein gutes Ziel. Aus drei Rohren zugleich jagte er dem Schiffe ſeine Eiſenkugeln in die Flanke. Gurgelnd ſtrömte das Waſſer ein. Das Schiff bekam Schlagſeite, plötzlich kenterte es und verſank langſam.

Mit Neid ſah Henning die Erfolge der Anderen.

„Glühende Kugeln her!“, ſchrie er zornig.

Mit langen Zangen ſchleppten die Knechte die glühenden Kugeln herbei und ließen ſie in die Geſchützrohre rollen. Und dann ſpien die Schlangen Feuer und Qualm. Wie Meteore zogen die glühenden Kugeln durch die Luft. Krachend ſchlugen ſie in den Rumpf der Raubkogge ein. Dünner Rauch kam aus den Luken. Da! – ein dumpfer Schlag! Das Deck flog hoch, eine ſchwarze Flamme züngelte empor. Das Raubſchiff brannte aus und verſank.

Gerd und der Büchſenmeiſter des „Erzengels“ folgten Hennings Beiſpiel. Auf einem der Raubſchiffe gingen die bereitſtehenden Feuertöpfe auf einmal hoch und ſetzten alles in unlöſchbaren Brand, bei einem anderen wurde das Ruder beſchädigt, und die ſteuerloſe Kogge konnte nunmehr leicht verſenkt werden.

Die Piraten ſahen die Hälfte ihrer Schiffe vernichtet, ſie ſuchten ihr Heil in der Flucht. Die Hanſen ſandten ihnen noch einige Kugeln nach, verſuchten aber nicht, ſie zu verfolgen. Denn die Raubſchiffe waren für den Überfall leicht bewaffneter Kauffahrer beſtimmte Schnellſegler, daher ſchnittiger gebaut, und den ſchwerfälligen Kriegskoggen an Fahrt überlegen.

Der Kampf hatte nicht länger gedauert als eine Stunde. Auf den lübſchen Schiffen war keine Planke geritzt und kein Mann verwundet worden. Denn die Piraten waren überhaupt nicht zum Schuß gekommen.

Eitel Freude und Jubel herrſchte an Bord der hanſiſchen Schiffe. Die Mannſchaften feierten die Junker mit lärmenden Worten.

Die Führer kamen auf dem „Adler“ zu einer Beſprechung zuſammen. Merten Voß, der die Gepflogenheiten der Piraten kannte, warnte davor, den Gegner jetzt gering zu achten.

„Die Räuber haben eine ſchwere Niederlage erlitten, aber wir haben ſie noch nicht vernichtet. Bei Tage werden ſie uns nicht mehr angreifen, wohl aber werden ſie uns bei Nacht und Nebel beſchleichen wie ein Raubtier ſeine Beute. Wir müſſen vorſichtig weiterſegeln und bei anbrechender Dämmerung die Wachen verdoppeln. Die Kauffahrer und den Prahm müſſen wir in unſere Mitte nehmen. Die Leute mit den längſten Erfahrungen und den ſchärfſten Augen müſſen in den Ausguck. Denn die weißen Segel der Räuber ſind im Nebel ſchlechter zu erkennen als unſere ſchwarzen.“

Henning bemerkte hierzu:

„Bei einem Überfall nützen unſere glühenden Eiſenkugeln wenig. Denn wir haben keine Zeit zum Laden. Wir können nur alle Kammern der Hagelgeſchütze geladen halten und Feuer und Hagel ſchießen, wenn ſie uns angreifen.

Die Bewaffneten müſſen in der Rüſtung ruhen und dürfen nur den Helm abnehmen. Denn es könnte leicht ſein, daß dem Feind das Entern gelingt. Iſt eines unſerer Schiffe in Not, ſo ſoll man von ſeinem Deck ein fliegendes Feuer abſchießen.“

Der erfahrene Schiffer behielt Recht.

Am Abend des folgenden Tages war die Luft dieſig. Mit Einbruch der Dunkelheit kam Nebel auf, der ſich ſchwer auf das Waſſer legte. Vom Vorderkaſtell konnte man kaum noch den Schein der Hecklaterne ſehen. Die Schiffe zogen ſich auseinander, um Havarien zu vermeiden.

In der fünften Nachtſtunde bemerkten die Männer des „Seewolfs“ in Luv einen Schatten. Ehe ſie wußten, ob es Freund oder Feind war, flogen Feuertöpfe auf ihr Schiff. Die aufzüngelnden Brände wurden zwar raſch abgedeckt, aber ſie hatten den Räubern ihr Ziel gezeigt.

Gerd ließ mit Brandkugeln antworten. Man ſah durch den Nebel Flammen emporzüngeln, die aber bald erloſchen.

„Sie kennen alle Rezepte des Buches“, fuhr es ihm durch den Kopf. Er ließ die Hagelbüchſen abſchießen.

In Luv tauchte eine ſchwarze Maſſe aus dem Nebel auf und legte ſich längsſeit des „Seewolfs“. Enterhaken fielen nieder. Ein Eiſenhagel fegte den Räubern entgegen, doch unbeirrt zogen dieſe ſich an das hanſiſche Schiff heran.

Die Räuber ließen die Enterbrücke fallen. Mit brennenden Pechkränzen und Feuerlanzen verſperrten die Lübſchen den Zugang, ſo daß kein Räuber auf ihr Schiff gelangte. Mit höhniſchen Rufen begleiteten ſie die erfolgloſen Bemühungen der Gegner.

Eine gewaltige Stimme überſchrie den Lärm. Die Räuber ſprangen im Fackelſchein über den Abgrund. Einige ſprangen zu kurz und ertranken in der Rüſtung; die erſten, die auf das lübſche Schiff gelangten, wurden von der Beſatzung niedergehauen. Aber unerſchrocken wagten immer neue den Sprung, und es gelang den Räubern endlich, an Bord des Hanſeſchiffes Fuß zu faſſen.

Jetzt wurde auch die Enterbrücke freigemacht, und die Räuber ergoſſen ſich ungehindert über das lübſche Schiff. Allen voran ſtürmte ein Hüne mit langem rotem Bart in Stahlhaube, Spangenharniſch und Kettenhemd. Eine ſchreckliche Narbe, die ihm quer über das Geſicht lief, und die leere Höhle des linken Auges gaben ihm das Ausſehen eines tückiſchen Rieſen. Seine gepanzerte Rechte führte ein ſchweres Enterbeil, in der Linken ſchwang er eine Fackel.

„Schlagt die Gänſe tot, ſchlagt die Gänſe tot!“, brüllte er mit heiſerer Stimme und drang wütend auf die Lübſchen ein.

„Der Rote Niels!“, ſchrien die Hanſen auf, als ſie ihren Todfeind erkannten. Wehe dem Schiffe, das dieſer kaperte, kein Mann wurde geſchont, wehe aber auch dem Räuber, der im Kampfe wich! Der Rote Niels ſchlug ihn mit ſeiner eiſernen Fauſt nieder.

Hinter ihrem Führer, den ſie für hieb- und ſtichfeſt hielten, drängten ſich ſeine Mannen. Denn ſie wußten, daß keiner auch ſo freigebig ſeine Tapferen bei der Verteilung der Beute belohnte, wie er.

Die Beſatzung des „Seewolfs“ floh in das Achterkaſtell. Der Rote Niels ließ überall Feuer anlegen, und bald züngelten die Flammen an den Rahen und Stengen empor.

„Gebt das Notzeichen!“, ſchrie Gerd, der mit einigen Beherzten noch Widerſtand leiſtete. Das fliegende Feuer ziſchte auf und fuhr praſſelnd durch die Luft, ein Hilferuf in höchſter Gefahr.

Auch Gerd erkannte, daß nur die Flucht in das Achterkaſtell übrigblieb, aber ſchon war er mit ſeinem Häuflein von den Piraten umringt.

„Nach vorn!“, brüllte er. Mit noch fünf anderen bahnte er ſich den Weg. Dort ſtanden ſie Schulter an Schulter um den brennenden Fockmaſt als Rückendeckung.

In Gerd kochte das ritterliche Blut ſeiner Ahnen. Er wußte, daß es nur noch galt, ſein Leben ſo teuer wie möglich zu verkaufen, Sein Schwert blitzte im Kreiſe, und ſo oft die ſcharfe Klinge niederſauſte, erſcholl der Schmerzensſchrei eines Räubers. Schon drei Leichen lagen zu ſeinen Füßen. Aber ſo tapfer auch Gerd mit ſeinen Getreuen kämpfte, die Piraten umdrängten ſie wie hungrige Wölfe den in die Enge getriebenen Hirſch, und von oben fielen brennende Holz- und Taureſte auf die Eingeſchloſſenen herab. Einer nach dem anderen ſank zu Boden. Auch Gerd ermüdete langſam. Er konnte nicht mehr alle Angriffe mit der Klinge abwehren. Wohl hielt die gute Rüſtung manchen Hieb und Stich ab, aber ſchon troff das Blut aus den Beugen des Panzers.

Da hörte er wieder den ſchrecklichen Kampfruf: „Schlagt tot, ſchlagt tot!“, und er ſah den Roten Niels auf ſich eindringen, der bemerkt hatte, daß auf dem Vorſchiff noch einige Lübecker Widerſtand leiſteten.

Gerd fühlte, daß er dieſem furchtbaren Ringen nicht mehr ſtandhalten konnte, aber er nahm noch einmal die letzte Kraft zuſammen.

Das Enterbeil blitzte über ſeinem Haupte. Er hielt den Schild über den Kopf. Ein furchtbarer Schlag zerſchmetterte das Holz. Er fühlte, daß ſein linker Arm gebrochen war. Vor Schmerz ſank er zuſammen. „Iſt dies das Ende?“, dachte er.

Da klang an ſein Ohr wie aus weiter Ferne die Stimme ſeines Bruders: „Halte aus! Gerd, ich komme!“

Wie im Traum ſah er Henning und Gottſchalk die Treppe zum Kaſtell emporſtürmen.

„Gottſeidank!“, dachte er. „Ich bin gerettet.“ Dann ſchwanden ihm die Sinne.

Als Gerd endlich wieder zu ſich kam und verwirrt die Augen aufſchlug, tobte noch immer der Kampf Mann gegen Mann.

Zuerſt erkannte er Klas Klüver, der mit ſeinem Spieß wie ein wilder Stier auf die Feinde losging.

Und dort kämpfte Gottſchalk mit dem Roten Niels.

Schwert ſtand gegen Beil, körperliche Gewandtheit gegen rieſige Kraft und wilden Mut.

Gottſchalk deckte ſich mit blitzſchnellen Hieben, aber das ſchwere Beil, mit rieſiger Kraft geführt, hatte ihn ſchon einige Male getroffen.

Wieder holte der Räuber zu einem gewaltigen Schlage aus. Da ſtieß ihm Klas Klüver von der Seite ſeinen Spieß mit voller Wucht in die Achſelhöhle. Die Spitze durchſchnitt die Ringe des Kettenpanzers. Der Getroffene brüllte wie ein wildes Tier. Sein Hieb fiel kraftlos nieder. Gottſchalks Klinge pfiff, und in den Hals getroffen, ſtürzte der Hüne auf das Deck, daß die Planken dröhnten.

Der Tod des Roten Niels entſchied den Kampf. Die Beſatzung des „Seewolfs“ brach aus dem Achterkaſtell hervor. Ein wütendes Gemetzel begann. Gnade wurde nicht gewährt und nicht verlangt. Das Blut floß aus den Speigatten. Anfeuernde Rufe, wildes Geſchrei und das Keuchen der Kämpfenden klangen ſchaurig durch die von Brand und Fackelſchein erhellte Nacht. Man kämpfte mit Schwert und Beil, mit Meſſer und Dolch, mit Spieß und Handſpake, ja mit Fäuſten und Zähnen. Gerd, der todmüde auf dem Vorderkaſtell ſaß und verſuchte ſeinen gebrochenen Arm vom Panzer freizumachen und zu ſchienen, ſah mit Schaudern und Schmerz dieſe Greuel.

Die Seeräuber verſuchten auf ihr Schiff zu entfliehen. Vergebens, keiner entkam. Die Hanſen ſtürmten über die Enterbrücke, töteten den an Bord zurückgebliebenen Reſt der Beſatzung und nahmen das Schiff.

Während ſo auf dem „Seewolf“ der Kampf Mann gegen Mann tobte, war man auf dem „Adler“ und dem „Erzengel“ nicht müßig. Da Merten Voß vermutete, daß nicht eine Raubkogge allein zu dem Überfall ausgelaufen war, ließ er nach Luv glühende Kugeln ſchießen. Die feurigen Bälle zogen ihre Bahn durch Lebel und Finſternis.

Der „Erzengel“ folgte dieſem Beiſpiele. Es gelang dem lübſchen Geſchützmeiſter, eine Raubkogge zu treffen. Der auflodernde Brand erleichterte das Zielen. Noch einige Schüſſe ſaßen, und bald ſtand das Schiff in hellen Flammen.

Beim Scheine des Feuers bemerkten die Hanſen die Schatten von zwei weiteren großen Koggen. Als ſie auch nach dieſer Richtung feuerten, verſchwanden die Schatten in Nacht und Nebel. Am nächſten Morgen war von ihnen nichts mehr zu ſehen.

Bei Tageslicht erkannten die Lübſchen, daß der „Seewolf“ mit Bordmitteln nicht zu reparieren war, Sie brachten Geſchütze und Vorräte auf das eroberte Raubſchiff und bemannten dieſes. Dann bohrten ſie ihr braves Schiff an. Es ſank mit wehender Flagge.

Seeburgs Ende

Nach dieſen verluſtreichen Kämpfen fehlte den Piraten die Kraft zu weiteren Angriffen. Ungeſtört ſegelte die hanſiſche Flotte nach der Inſel, bei der ſich die feſte Seeburg erhob. Vor Jahren hatten ſich die Piraten dieſer einſt dem Landesherrn gehörenden Burg bemächtigt und ſie zu ihrem Stützpunkte ausgebaut.

Das trutzige, altersgraue Gemäuer lag nahe am Inſelrande auf einem vom flachen Waſſer umſpülten Warder. An den Ecken des Mauervierecks ragten mächtige Türme empor, deren ſtärkſter die Angriffsſeite nach der Inſel zu deckte.

Die Burg lag wie ausgeſtorben da. Niemand war auf der Mauer zu ſehen, als die Hanſekoggen mit gebauſchten Segeln in voller Fahrt heranglitten.

„Unſere Freunde ſcheinen ſich und ihre Schätze nach einer anderen Burg in Sicherheit gebracht zu haben“, ſprach Henning zu dem neben ihm ſtehenden Ratsherrn.

„Das glaube ich kaum“, meinte dieſer, „denn es iſt nicht ihre Art zu fliehen. Ich vermute eine Falle. He, Merten Voß“, rief er, ſich umwendend, dieſem zu, „Wahr dich!“

Der erfahrene Schiffer bedurfte dieſer Worte nicht. Denn ſchon drehte der „Adler“ bei; die Segel flogen klatſchend gegen die Stengen, und die Kogge lag ſtill. Die anderen Schiffe folgten dieſem Beiſpiele.

Merten Voß ſetzte ein Boot aus, das die Waſſertiefe ausloten ſollte. Als ſich das Boot vorſichtig der Burg näherte, blitzte es hell aus einer Schießſcharte auf, und eine Kugel tanzte hart neben dem Boot über das glatte Meer. Das Boot ruderte eilig zurück, verfolgt von einem weiteren Schuſſe. Und auf der Spitze des Hauptturmes erſchien die blaue Flagge. Das Boot wurde wieder hochgezogen, und die Bemannung meldete, daß Sandbänke und Steingründe es den tiefgehenden Koggen unmöglich machten, näher an den Burgwarder heranzufahren.

So blieb nichts anderes übrig, als die Feſte von der faſt eine halbe Seemeile entfernt liegenden Inſel aus zu beſchießen.

Das hanſiſche Geſchwader lief in den Hafen ein. Die Einwohner der kleinen am Ende der Bucht liegenden Schiffer- und Fiſcherſtadt waren Helfershelfer der Piraten und ſteckten mit dieſen unter einer Decke, aber ſie wagten nicht, ſich der mächtigen Hanſe zu widerſetzen, und halfen, wenn auch widerwillig, beim Ausladen von Büchſen und Munition.

Die Koggen gingen dann eine Strecke vom Geſtade entfernt vor Anker. Auf jedem Schiffe blieb eine Wache zurück.

Die Lübſchen legten nun der Burg gegenüber am Strande ein befeſtigtes Lager an. Innerhalb eines Walles aus Steinen, Sand und Paliſaden entſtanden raſch die Zelte der Anführer und die Laub- und Reiſighütten der Mannen. Eine ſchmale Holzbrücke, deren Bohlen und Balken bei Einbruch der Dunkelheit abgeworfen wurden, führte über den breiten Graben, der das unregelmäßige Oval des Lagers umſpannte.

Gegen maſſige Widerlager aus Holz und Steinen geſtützt, baute man nun die großen Steinbüchſen ein, die den Räubern zuerſt zum Tanz aufſpielen ſollten. Der ſchwere „Drache“ blieb einſtweilen an Bord; er war als letztes Mittel zum Siege gedacht.

Nun begann die Beſchießung unter Hennings und Gerds Leitung. Die Brüder gaben zuerſt Probeſchüſſe mit wenig Pulver ab und ſteigerten die Pulvermenge, als die Büchſen nicht bis zur Burg trugen, bis auf viertelkugelſchwere Ladung. Die Steine erreichten jetzt die Mauer, hatten aber nicht genügend Durchſchlagskraft, um den dicken Turm ernſtlich zu beſchädigen. Schuß folgte auf Schuß, aber der Bergfried ſtand unerſchüttert.

„Den hat der Teufel gebaut“, tobte Henning und lud die größte Steinbüchſe halb kugelſchwer. Der umſichtige Gerd ließ die Hilfsmannſchaft zurücktreten und brannte das Geſchütz mit der Zündſchnur ab. Ein furchtbarer Krach dröhnte, ein grauſchwarzer Nebel wallte auf und hüllte alles in Finſternis. Als ſich der Dunſt verzogen hatte, war das Bett der großen Büchſe leer. Nur einzelne Sprengſtücke des Rohres wurden aufgefunden.

Bei einer Zuſammenkunft der Führer wurde beſchloſſen, den „Drachen“ in Stellung zu bringen.

Henning und Gerd taten ſehr zuverſichtlich, aber der Ausgang ſchien ihnen mehr als zweifelhaft zu ſein. Lange ſaßen ſie an dieſem Abend am Strande und berieten hin und her. Sie ſahen die trutzige Burg vor ſich liegen mit ihren feſten Mauern und Türmen, auf denen ſtolz die blaue Flagge wehte, und ihr Mut ſank immer mehr.

Die Sonne ging hinter einer Wolkenbank unter, die aus dem Meere emporſtieg, und färbte den Himmel mit leuchtendem Purpur.

„Wir wollen zum Lager“, ſprach Henning, „Sturm und Regen ſind zu erwarten.“

Die Dämmerung kam ſchnell. Schon pfiff der Wind von der See her in einzelnen heulenden Stößen. Sie blickten noch einmal nach der Feſte, die im Zwielicht ſchwarz und maſſig dalag wie ein tückiſches, gefahrdrohendes Ungeheuer.

„Ich habe eine ſeltſame Unruhe im Blute“, ſtieß Gerd hervor, als ſie im auflebenden Sturme dem Lager zuſtrebten. „Laß uns lieber zum Hafen gehen und die Nacht in der Nähe des ‚Drachen‘, unſerer letzten Hilfe, verbringen.“

Sie taten Gottſchalk von Soeſt ihre Abſicht kund, empfahlen ihm gute Wacht zu halten, und ſchlugen den Weg zum Hafen ein. Zu dem Sturm hatte ſich der Regen geſellt. Es war ein unfreundliches, unheimliches Wetter.

„Laß uns in dieſe Seitengaſſe einbiegen“, ſagte Gerd, als ſie die Häuſer der kleinen Stadt erreichten. „Wir gewinnen dadurch ein Stück Weges.“

„Ich gehe nicht gern durch die engen Gaſſen“, erwiderte Henning, „du weißt, daß uns die Einwohner nicht gewogen ſind, und ein paar Zoll kaltes Eiſen hat man bald zwiſchen den Rippen. Jeder Hilferuf wäre bei dieſem Wetter unnütz. Aber es ſei, wir haben ja unſere Waffen.“

Vorſichtshalber lockerten ſie die Schwerter in den Scheiden und ſchritten raſch, doch behutſam weiter.

Keine Menſchenſeele war zu erblicken. Der Ort ſchien ausgeſtorben zu ſein.

Aus einer Hafenſchenke fiel ſpärliches Licht durch den Fenſterladen. Johlen, Fußgeſtampf, Waffenklirren und Becherklang drangen aus der Diele.

Henning lauſchte einen Augenblick die Gaſſe auf- und abwärts. Dann trat er an ein Fenſter und ſpähte durch das Luftloch des Ladens. Gerd hielt mit gezogenem Schwert, in der Mitte der Gaſſe ſtehend, Wache.

Die niedrige Diele war gefüllt mit wild blickenden Geſellen, die eifrig dem Biere zuſprachen.

Ein Kerl, der einen abgewetzten Lederkoller und einen roſtigen Bruſtharniſch trug, ſtimmte gerade ein neues Lied an, in das die Übrigen brüllend einfielen. Auch Gerd konnte den rauhen Geſang verſtehen:

Blau wie das Meer unſere Flagge ſich bläht,
Wir ernten da, wo der Kaufmann geſät.
Mord und Brand!

Pflügen auf pfeilſchnellem Schiffe das Meer,
Fürchten nicht Sturmwind und hanſiſche Wehr.
Mord und Brand!

Auf drum, ihr Brüder, die Segel geſetzt,
Los! Und den wuchernden Krämer gehetzt.
Mord und Brand!

Wenn unſer Wimpel am Maſte ſteigt,
Zitternd der Krämer die Flagge ſtreicht.
Mord und Brand!

Beim Kehrreim fielen die klobigen Fäuſte wie Eiſenhämmer auf die dicken Eichenplanken des Tiſches nieder, ſo daß die Zinnkrüge tanzten, und die Weiber aufkreiſchten.

„Sie feiern das Ende unſerer großen Steinbüchſe“, flüſterte Gerd, „aber nun komm. Wenn uns hier jemand entdeckt, ſind wir verloren.“

Im Hafen machten die Brüder ein Boot los und kämpften ſich durch die aufgeregte See zu dem Prahme hin, der den „Drachen“ trug.

Die Wache war auf ihrem Poſten und berichtete, daß ſich nichts ereignet habe, was auf eine Gefahr hindeuten konnte.

Die Junker nahmen an Deck unter einem Segel Platz und lauſchten angeſtrengt in die Finſternis. Der Regen rauſchte wie ein Strom hernieder, klatſchte auf die Planken des Decks und umgab das Fahrzeug mit einem Vorhang, den kein Blick eines Wächters durchdringen konnte. So vergingen mehrere Stunden.

Plötzlich faßte Henning den halb eingeſchlafenen Gerd erregt am Arme.

„Horch, ächzte da nicht eine Planke? – Jetzt knarren Rahen und Spieren! — Das war das Schlagen eines loſen Segels!“

Gerd lauſchte angeſpannt:

„Henning, du irrſt dich. Nur der Sturm heult, und die Wellen ſchlagen gegen das Schiff.“

Plötzlich ſchoß an der Wandung des Prahms eine Feuergarbe empor, ein lauter Krach ertönte und ein ſchrecklicher Stoß erſchütterte das Schiff. Dieſes legte ſich langſam auf die Seite. Die ſchwere auf Deck liegende Büchſe zog den kenternden Rumpf in die Tiefe.

Der kecke Überfall weckte die Beſatzungen der hanſiſchen Koggen. Schüſſe krachten hinter dem Feinde her, aber dieſer war längſt im Schutze der Nacht verſchwunden. Dann wurden Feuer entzündet. Man fiſchte die im Waſſer treibende Wache des geſunkenen Prahms auf und barg die Brüder, die ſich am Topp des aus dem Waſſer ragenden Maſtes feſtgeklammert hatten.

Die hämiſche Schadenfreude der Inſelbewohner zeigte deutlich, wer den Seeräubern bei dieſer Tat geholfen hatte.

Was war jetzt zu machen?

Eine Beſprechung der Anführer verlief ergebnislos. Niemand wußte Rat.

Die Siegeszuverſicht der Lübecker war geſchwunden und hatte einer tiefen Niedergeſchlagenheit Platz gemacht.

„Hab manches gelernt“, brummte Merten Voß unwirſch, „und getraue mir wohl ein gutes Schiff in Sturm und Wetter durch Riff und Klippen zu ſteuern, aber unter Waſſer gehen wie ein Krebs, das kann ein ehrlicher Seemann nicht. Wenn Henning und Gerd keinen Rat wiſſen, ich kann nicht helfen“, und er zuckte mit den Achſeln.

Die Blicke der Männer richteten ſich auf die Brüder, die in Schweigen verharrten und bemüht waren, ihre Sorge unter einer zuverſichtlichen Miene zu verbergen.

„Nun, Henning“, wandte ſich Gottſchalk an dieſen, „was ratet ihr zu tun? Unſere Weisheit iſt zu Ende!“

Henning entgegnete:

„Noch iſt es nicht an der Zeit, den Kopf hängen zu laſſen. Wir müſſen und werden den ‚Drachen‘ bergen. Vorerſt rate ich dies: Laſſet unter den Inſelbewohnern Geiſeln ausheben und ſie auf dem ‚Adler‘ einſperren, daß wir ihrer ſicher ſind. Graben und Wall des Lagers müſſen verſtärkt werden. Die Wachen ſind zu verdoppeln, zumal bei Nacht. Man munkelt von geheimen Gängen, die von der Seeburg auf die Inſel führen. Laſſet Hagelgeſchütze auf den Wall bringen und Feuer bereitſtellen, um in der Dunkelheit den Graben zu erleuchten; es könnte unſere Feinde nach dem Gelingen ihres Anſchlags gelüſten, einen Überfall auf unſer Lager zu verſuchen.“

Gottſchalk erteilte ſeine Befehle.

Die Schadenfreude der Inſelbewohner verwandelte ſich in Wut, als hanſiſche Knechte die Häuſer der Angeſehenſten umſtellten und die Hauptleute und Kämmerer des Landes gefeſſelt fortführten. Die Helfershelfer der Piraten knirſchten mit den Zähnen, aber ſie konnten nichts tun, als die Fauſt im Sacke ballen.

Henning und Gerd ruderten zu der Stelle, wo der Prahm mit ſeiner unerſetzlichen Ladung verſunken lag.

Die Sonne ſchien, und das ſeichte Waſſer war klar. Die Brüder konnten den halb auf der Seite liegenden Schiffsrumpf deutlich erkennen. Die große Büchſe hing noch mit dem Vorderende in den Ketten, die um den Maſt geſchlungen waren. Am Hinterende mit der ſchweren Pulverkammer hatte ſich die Befeſtigung gelöſt und der „Drache“ lag dort auf dem Meeresboden, in Sand und Schlick verſunken. Ein Schwarm kleiner Fiſche ſpielte um das Rohr.

Die Brüder kehrten an Land zurück. Sie ſchlugen den Weg zum Strande ein. Als ſie am Lager vorbeikamen, waren Söldner und Schiffsmannen dabei, die Wehren zu verſtärken.

Ein Knecht deutete auf die Vorübergehenden und ſprach:

„Da gehen ſie nun und zerbrechen ſich die Köpfe, aber den ‚Drachen‘ wird auch Junker Henning nicht aus dem Meere herausholen, es ſei denn, daß er ſich dem Teufel verſchreibt.“

Klas Klüver, der die Worte vernommen hatte, geriet gewaltig in Wut und fuhr den Schwätzer an:

„Daß du den Knoten nicht löſen kannſt, iſt klar, obzwar dein Kopf dick genug dazu wäre. Eins iſt ſicher, du kannſt mehr Bier trinken als Junker Henning, in allen anderen Geſchäften iſt er dir überlegen. Laß dein Quaken und hilf Schanzkörbe flechten. Denn dort kommt Herr Gottſchalk, und dein Geſchwätz möchte dir übel bekommen.“

Angeſichts der Seeburg ließen ſich die Brüder auf einem Findlingsblock nieder. Sie waren nun allein und brauchten ihre erkünſtelte Faſſung nicht mehr zu bewahren. Gerd ſah mutlos auf die ſtarke Burg, von deren Türmen die blaue Flagge noch immer luſtig wehte.

Henning, der mit finſterem Geſicht und gerunzelter Stirn daſaß, zeichnete mit der Schwertſcheide regelloſe Figuren in den Sand. Er hatte keinen Sinn für die ſchlichte Schönheit der zackigen Stranddiſteln vor ihm, er ſah den gelben Bernſtein nicht, den ſeine Waffe aus dem Sande hervorwühlte.

Ein kühler Abendwind kam vom Meere her.

Gerd ſprach endlich langſam:

„Nun ſind wir ſo weit, wie unſer Meiſter, als er vor dem Raubſchloſſe bei Augsburg Ehre und Gut verlor. Das Glück hat uns verlaſſen.“

Ihn fröſtelte. Er ſah in die Ferne. Auf den dunklen Wolken erſchien ihm ein ſchauerliches Bild. Der Marktplatz von Lübeck war ſchwarz von Menſchen. Aller Augen waren mit dem Ausdruck von Wut und Haß auf den gefeſſelten Mann gerichtet, der mit verbundenen Augen auf dem hohen Gerüſte kniete. Das breite Beil blitzte in den Fäuſten des Scharfrichters, und der Kopf des unglücklichen Bürgermeiſters und Feldhauptmanns Johann Wittenborg rollte über die Dielen des Schafotts, während aus dem abgehauenen Halſe ein Blutſtrahl hoch emporſchoß.

Henning brachte kein Wort hervor. Die Falten auf ſeiner Stirn vertieften ſich, und ſein Mund wurde eng und hart.

Da durchgellte ein Vogelſchrei ſcharf und herriſch die Luft.

Henning ſchaute auf.

Ein mächtiger Seeadler ſegelte mit ausgebreiteten Fittichen über der Weite des Meeres. Der königliche Vogel ſchien nach Beute zu ſpähen, er zog ſeine Kreiſe enger und enger, ließ ſich tiefer herab und ſtürzte mit angezogenen Schwingen pfeilſchnell in die Flut. Das Waſſer ſchäumte und ſpritzte, aus dem Strudel ſtieg der Aar flügelſchlagend empor, einen blinkenden Fiſch in den Fängen tragend.

Henning ſprang auf. Seine ſehnige Geſtalt ſtraffte ſich. „Entreißen will ich dem Meere ſeinen Raub, wie der Meerweih dem Waſſer ſeine Beute. Zur rechten Stunde haſt du den Namen unſeres Meiſters genannt. Wenn auch er ſieglos von jener Raubfeſte abziehen mußte, brauchen wir doch nicht zu verzagen. Eine neue Zeit iſt angebrochen. Was damals unmöglich war, gelingt heute. Fragen wir unſeren Meiſter, der in ſeinem Buche zu uns redet. Er wird uns Rettung zeigen.“

Das Vermächtnis des Meiſters!

Es war Gerd wie dem Schiffbrüchigen, der verſchmachtend auf hohem Meere treibt und plötzlich den Ruf: „Land, Land!“ vernimmt.

Eilends ſtrebten die Brüder dem Lager zu.

Sie ſuchten die Abſchrift des Buches hervor und ſchlugen das „Kriegsbuch“ auf. Ihre Hoffnung betrog ſie nicht. Ihr Meiſter wußte Rat: Das letzte Kapitel trug die Überſchrift: „Unter Waſſer zu gehen.“ Es enthielt die genaue Beſchreibung der Herſtellung eines Taucheranzugs.

Henning eilte zu Gottſchalk:

„Hans Buſſengeter hilft uns! Wir werden den ‚Drachen‘ bergen.“ Er legte ihm ihren Plan dar.

Gerd nähte inzwiſchen mit Hilfe der Segelmacher einen Lederhelm, der auf den Schultern durch weiches Leder abgedichtet werden konnte. Vorn brachte er ein Loch mit eingeſetztem Glasfenſter an. Dann wurde das Gebilde gut eingefettet. Ein langer Schlauch, der durch Weidenringe rund gehalten wurde, diente für die Luftzufuhr. Ein großer Holzſchwimmer, in dem das obere Schlauchende ſteckte, hielt dieſes über Waſſer.

Der erſte Verſuch mit dem genau nach dem Buche angefertigten Helm mißlang.

Henning ließ ſich dieſen mit dem vorgeſchriebenen im Waſſer nicht auflösbaren Leim auf die nackten Schultern kleben. Aber er mußte bald Zeichen geben, den Leim mit Öl aufzulöſen, denn er war dem Erſticken nahe.

„Das geht nimmer“, meinte Merten Voß, „es kommt zu wenig Luft durch den Schlauch. Wir wollen mit den Blaſebälgen vom Kugelglühofen nachhelfen, indem wir in den Schlauch einen zweiten ſtecken, durch den die friſche Luft bis nach unten ſtrömt.“

Nach dieſer Änderung gelang das Tauchen.

Bisher waren die Verſuche heimlich betrieben worden. Das Tauchen nach dem „Drachen“ und die Hebung des ſchweren Rohres ließen ſich nicht mehr verbergen. Henning ſchlug deshalb vor, erſt alle Vorbereitungen zur Eroberung der Burg zu vollenden. Alle Boote wurden klar gemacht und ein großes Floß mit ſtarken Seitenwänden gezimmert, aus deren Öffnungen leichte Hagelgeſchütze hervorſchauten.

Die Inſelbewohner ſahen dieſem Tun und Treiben mit ſpöttiſchem Lachen zu. Was ſollten Boote und Floß gegen die feſten Granitmauern der Seeburg ausrichten!

Das Tauchen nach dem „Drachen“ begann.

Die Brüder ſuchten hierzu einen hellen Sonnentag aus. Große Boote mit ſchweren Spillen wurden an die Unfallſtelle gebracht, Henning ließ ſich den Helm anlegen und ſtieg in der Nähe des Wracks in die glasgrüne Flut hinab. Von ſeinem Gürtel hingen Bleigewichte herab, um den Auftrieb im Waſſer auszugleichen. So taſtete er ſich auf dem ſchlüpfrigen Meeresboden zu dem Wracke hin. Es war eine gefährliche Wanderung. Denn der Kühne ſtolperte über Schiffstrümmer, die zwiſchen rundgeſcheuerten Steinen halbverborgen im Sande lagen, und an muſchelbewachſenen Pfahlreſten verfing ſich der Schlauch und mußte vorſichtig gelöſt werden. Fiſche und unzählige Krabben flohen ſcheu vor dem Ungeheuer, das in ihr Reich eingedrungen war, und verbargen ſich hinter dem grünen Seetang, deſſen dichte Büſche in der Flut ſchwankten. Da, beinahe wäre der Taucher auf einen platten Butt getreten, der ſich im Sande vergraben hatte.

Endlich erkannte er im unſicheren grünlichen Halbdunkel den gekenterten Prahm, und nun ſtand er vor dem „Drachen“. Ein großer Taſchenkrebs kroch darauf herum, und ein Seeteufelchen glotzte aus der Mündung des Rohres. Henning lachte, denn das harmloſe Tierchen glich dem Zauberdrachen, mit dem ſie einſt als Knaben den Doktor Nauheim befreit hatten.

Er zog die ſtarken Ankertroſſen, die man von den Booten herabgelaſſen hatte, durch die Heberinge des Rohres. Als die Troſſen ſteif waren, löſte er mit vieler Mühe die Kettenſtropps, mit denen der „Drache“ vorn am Maſt befeſtigt war.

Nach einer Stunde gab er das Zeichen, ihn emporzuziehen.

Man löſte den Helm. Henning war ſo erſchöpft, daß er nur noch mit dem Kopfe nicken konnte, als Merten Voß ihn fragte, ob alles klar ſei.

„Hieven!“, rief Merten Voß.

Die Mannſchaften ſtemmten ſich gegen die Spaken des Spills. Unter dem Zug der Troſſen tauchten die breiten Boote vorn tief ein, aber das Geſchütz kam nicht hoch. Dagegen bewegte ſich die aus dem Waſſer ragende Maſtſpitze des geſunkenen Prahms.

„Kommen laſſen!“, befahl Merten Voß, „es iſt etwas unklar.“

Er ließ die Wanten des Maſtes über Waſſer kappen.

Mittlerweile hatte ſich Gerd den Taucherhelm aufſetzen laſſen. Mit einem ſcharfen Meſſer bewaffnet, ſtieg er in die Tiefe.

So gelang es ihm, das Geſchütz freizulegen.

Ein neuer Hebeverſuch wurde gemacht. Wieder tauchten die Boote vorn tief ein.

Plötzlich kamen ſie hoch. Das Geſchütz war vom Grunde freigekommen! Singend gingen die Mannſchaften an den Spillen. Zoll um Zoll legten ſich die Troſſen um die Wellbäume.

Nach einer Stunde angeſtrengter Arbeit tauchte das mächtige Rohr, mit Seetang bedeckt, aus dem Waſſer. Jubelnd begrüßten es die Lübſchen. Die zuſchauenden Inſelbewohner verbargen mit Mühe ihren Groll.

An den Troſſen hängend, wurde es beim Lager auf ſeichten Grund geſchleppt, dort auf den Strand gezogen und in Stellung gebracht.

Die Beſchießung der Burg begann wieder mit ſchwacher Ladung. Henning verſtärkte dieſe ſtufenweiſe. Bald ſaßen die Schüſſe. Der in der Angriffsfront ſtehende Turm erbebte unter dem Einſchlag der ſchweren Eiſenkugeln, und ſeine Quadern lockerten ſich.

Henning ſetzte am Mauerfuße Schuß bei Schuß, wie er es von den alten Meiſtern gelernt hatte, und ſägte ſo gleichſam einen Streifen der Mauer. heraus.

Am zweiten Tage ſchon ſtürzte die ganze Vorderwand des Turmes ins Meer, und die blaue Flagge ſank unter dem Jauchzen der hanſiſchen Knechte.

Da verging den Bewohnern der Inſel das Lachen.

Für den nächſten Tag war der Sturm beſchloſſen.

Die Seeburg

Henning wollte zuvor noch einige gute Schüſſe abgeben. Er nahm trotz Gerds und des Büchſenmeiſters Warnung kugelſchwere Pulverladung.

Eine lange Stichflamme ſchoß aus der Mündung des Rohres. Das Krachen des Abſchuſſes klang wie ſchwerer Donnerſchlag, das Geſchoß zog mit ſchaurigem Heulen ſeine Bahn, beim Dröhnen des Einſchlages verſchwand der noch ſtehende Turmreſt, der Pallas ſank unter einer Wolke von Staub, und die jenſeitige Mauer klaffte weit.

Aber es war auch des „Drachen“ letzter Biß geweſen. Denn im Stoßboden zeigte ſich ein langer Riß.

Dies war ein ſchwerer Schlag für Hennings Siegesbewußtſein. Gottſchalk dagegen dachte als kühl rechhnender Kaufmann nur an den endgültigen Erfolg und tröſtete ſeinen Freund:

„Die Seeburg iſt unſer! Das große Geſchütz hätten wir doch nur mit vieler Mühe fortſchaffen können, nun wird es gleich hier zerſägt.“

Die Flotte lief aus und kreuzte auf hoher See.

Die Seeräuber ſaßen in der Falle, aber ſie dachten nicht an Übergabe. Denn ſie wußten, welches Los ihrer harrte.

Gottſchalk ordnete ſein Kriegsvolk zum Sturm. Gedeckt durch das Floß und die Boote wateten die Hanſen durch das bruſttiefe Waſſer. Während die Hagelgeſchütze den Feind niederhielten, kletterten die Stürmenden über die Mauertrümmer und drangen in die Burg ein. Jeder Turm, jeder Bau mußte durch harten, blutigen Kampf erobert werden.

Keiner der Räuber entkam, ihrer fünfzig wurden erſchlagen, an die dreißig wurden gefangengenommen und in Ketten gelegt.

Am andern Morgen, bei Sonnenaufgang, hielt der Admiral vor dem hanſiſchen Lager Gericht. Trotzig ſtanden die Gefangenen vor ihm, in ihren Augen brannte der Haß, den ſie, die Könige des freien Meeres, gegen die Hanſen, die Krämer, hegten, Keiner bat um Gnade.

Am Richtblock erwartete ſie ſchon der Henker, die ſehnigen Arme entblößt, die nervigen Fäuſte auf den Stiel des Beils geſtützt, deſſen breites Blatt in der Frühſonne blitzte.

Ehe der Henker ſein blutiges Werk begann, fragte Henning jeden Gefangenen nach dem Verbleib des Alchemiſten, der ihnen die Feuertöpfe bereitet hatte. Die Räuber erklärten übereinſtimmend, dieſer ſei von einer Raubfahrt nicht zurückgekehrt. Von dem Buche wußte niemand etwas. Vergebens bot der Admiral demjenigen Leben und Freiheit, der das Buch herbeibrächte.

Ein Kopf nach dem andern rollte in den blutgetränkten Sand. Ohne zu klagen, ſtarben die Räuber, die einen mit frommem Gebeten, die anderen mit gräßlichen Flüchen auf den bleichen Lippen.

Schließlich waren nur noch ein paar halbwüchſige Jungen übrig. Gottſchalk ſchenkte ihnen das Leben und vertraute ſie zuverläſſigen Leuten an, die ſie zu ordentlichen Menſchen erziehen ſollten.

Die Schätze, die in der Burg aufgeſpeichert lagen, übertrafen alle Erwartungen. Denn die Piraten hatten hier die beſte Beute ihrer jahrelangen Raubfahrten geſammelt. In der Burgkapelle, die jedoch längſt nicht mehr ihrem frommen Zwecke diente, fand man in einer leeren Gruft einen großen Schatz von goldenen Pokalen, Ringen, Ketten, Armſpangen, Monſtranzen, gemünztem Metall, koſtbaren Steinen und prächtigen Gewändern. Auch allerlei wertvolles Handelsgut, edle Pelze, viel Kupfer, Eiſen, Leinen und Samt fanden ſich vor.

Aber das Buch ſuchten die Brüder vergeblich. Sie durchſtöberten jeden Winkel des Raumes, in dem Doktor Nauheim gehauſt hatte; ſie brachen ſogar Böden und Wände auf. Umſonſt war alles Mühen.

Die Lübecker zwangen die Inſelbewohner, die Seeburg vollends zu zerſtören. Damit hörte die Feſte auf, eine Geißel des Meeres zu ſein.

*

Von der Piratenburg ſteht heute kein Mauerreſt mehr. Wind, Wetter, Froſt und Wellen haben die gebrochenen Mauern zermürbt. Der Boden hat ſich geſenkt und iſt mit den Reſten unter dem Spiegel der See verſchwunden. Bei klarem Wetter und niedrigem Waſſerſtande ſind auf dem Grunde des Meeres noch mächtige Quaderſteine zu erkennen, die einen regelloſen Trümmerhaufen bilden. Und die Wellen ziehen darüber hin, wie über den Kirchen und Häuſern Vinetas, der übermütigen Stadt.

Nur wenig wiſſen Gelehrte und Forſcher von der Seeburg zu berichten. Aber in den Mären und Sagen der Küſtenſchiffer und Fiſcher, die das Eiland bewohnen, lebt der Rote Niels, der Schrecken der reichen Hanſen, der Freund der armen Fiſcher, mit ſeinen tapferen Geſellen fort. Wenn ſie an den langen Winterabenden am flackernden Herdfeuer ſitzen, erzählen ſie, daß in Nebelnächten eine Schar gewappneter Männer über den verrufenen „Blutigen Sand“ zieht, die den Kopf unter dem Arm tragen. Wer den Geiſterzug geſehen hat, erlebt den Stundenſchlag des neuen Jahres nicht mehr. Sie behaupten, daß die Sieger nur einen Teil des Seeräuberſchatzes gefunden haben. Zehn Klafter unter dem Grunde des Meeres ruhe unter den Fundamenten des Hauptturmes die goldene Braupfanne der übermütigen Piraten, bis zum Rande mit den auserleſenſten, prächtigſten Koſtbarkeiten gefüllt. Die Sage fand neue Nahrung, als Fiſcher vor Jahren an dieſer Stelle mit ihrem Netze zwiſchen Fiſchen und Seegetier einen ſeltſam geformten goldenen Armreif emporgezogen haben. Viele bemühten ſich den Piratenſchatz zu heben. Sie ſuchten den unterirdiſchen Gang, der die Seeburg mit der Inſel verbunden haben ſoll, und ſind bei dieſen eitlen Bemühungen an den Bettelſtab gekommen.

Neuerdings hat das Landesmuſeum die noch erkennbare Stätte des hanſiſchen Lagers, die ſogenannte Lübſche Schanze, durchforſcht. Man fand dabei einige unregelmäßige, mit grüner Patina überzogene Bronzeſtücke, die wohl von der zerſprungenen Steinbüchſe herrühren, und eine dicke eiſerne Kanonenkugel, die nur noch aus einer ſchwarzen, ſchneidbaren Graphitmaſſe beſtand. Denn das Eiſen war im Laufe der Jahrhunderte von dem ſalzhaltigen Grundwaſſer vollſtändig ausgelaugt worden.

Wenn die Dezemberſtürme über das Meer raſen, dann brechen ſich die bis zum Grunde aufgepeitſchten Wogen an den Trümmern der Seeburg, und der Giſcht ſpritzt ſchäumend empor. Schon manches Schiff iſt an dieſer Stelle zerſchellt; es iſt, als ob ſich die einſtigen Herren der Feſte und des Meeres noch heute an Kaufleuten und Schiffern rächen wollen.

Im Hafen geborgen

Als günſtiger Fahrwind aufkam, lichtete die hanſiſche Flotte die Anker und ſetzte Kurs auf die Heimat.

Das war eine frohe Fahrt über die grüne See mit flatternden Siegeswimpeln. Frohe Lieder und derbe Späße verkürzten der Mannſchaft die Stunden. Denn die Knechte konnten kaum warten, bis ihnen der hohe Sold ausgezahlt wurde und dazu der Anteil an der reichen Beute, die im Raume des „Adlers“ aufgeſtapelt lag.

Mit freudiger Genugtuung blickten die Hauptleute auf die ſchweren Tage zurück. Jetzt, nach der Vernichtung der Seeräuber, ſtanden die Kaufmannsunternehmungen Gottſchalks von Soeſt ſicherer denn je, und ſein Vermögen, das er der Stadt ſo hochherzig zu opfern bereit geweſen war, hatte ſich nicht vermindert, ſondern war gewachſen. Hoch und feſt trugen Henning und Gerd auf ihren ſeegebräunten Schultern ihre Köpfe, die ſie gelobt hatten, auf den Richtblock zu legen, wenn der Zug mißlang. Sie hatten ihr Verſprechen eingelöſt und konnten ihrer Mutter ein kleines Vermögen zur Verfügung ſtellen.

Schon in der dritten Nacht ſichtete die Flotte das rote Kienfeuer auf dem Turme von Travemünde und meldete ihre Ankunft durch ein fliegendes Feuer.

Da rüſtete die Stadt, den Siegern einen würdigen Empfang zu bereiten.

Wie brandete der Jubel am Geſtade, als die Koggen in den Hafen einliefen! Wie wehten die Flaggen von allen Giebeln, wie dröhnten die Glocken von allen Türmen, wie krachten die Geſchütze von den Mauern, und wie begeiſtert klang der Ruf „Heil den Helden!“, mit dem die von ſchwerer Sorge befreite Stadt ihre ſiegreichen Söhne begrüßte.

Wie feierlich war der Dankgottesdienſt in den hochgewölbten Hallen der gewaltigen Marienkirche! Kopf an Kopf ſtand die Menge und füllte die Kathedrale bis zum letzten Platze. Und die ſiegreiche Mannſchaft, an ihrer Spitze die Hauptleute in ſchimmernder Rüſtung, trat hin an den leuchtenden Goldaltar. Da beugten die ſturmerprobten Männer, die aufrecht geſtanden hatten im Feuer der Seeſchlacht, die Sieger über Sturm und Räuber, demütig Knie und Haupt und empfingen das Sakrament. Brauſend hallte der Orgelklang durch die lichten Räume des Gotteshauſes. Tauſendſtimmig ſtieg der Lobgeſang zum Himmel empor, vereinigte ſich mit dem Klange der Trompeten und Pauken und ſchwoll an zu einer ungeheuren Woge von jubelnden Akkorden.

Mit beſonderer Aufmerkſamkeit wurden die Führer der Kriegsfahrt betrachtet.

Gottſchalk von Soeſt, der kluge Ratmann, war der ganzen Stadt bekannt. Aber wer waren die beiden Jünglinge, die ſchlank und ſtraff federnden Schrittes neben den Ratsherren im Feſtzuge gingen?

Nicht lange blieb dieſes Rätſel ungelöſt.

„Das ſind zwei Junker aus dem fernen Schwaben. Freyermuth heißen ſie und ſind gar wohlerfahren in der Kriegskunſt. Sie haben die großen Büchſen gegoſſen und unſere Büchſenmeiſter gelehrt, mit glühenden Kugeln zu ſchießen. Ja ſogar unter Waſſer können ſie gehen“, ſo flüſterte es bald bewundernd hinter den Brüdern her.

Die ehrſamen Handwerksmeiſter aber ſchüttelten verwundert die Köpfe, als ſie in den gefeierten Helden die Geſellen wiedererkannten, die bei ihnen um Arbeit nachgeſucht hatten.

Und dann folgte das Gaſtmahl im großen Saale des Rathauſes. Die ſiegreichen Führer der Fahrt ſaßen zwiſchen den Herren des Rates an der langen mit ſilbernen Schaugeräten und bunten Blumen geſchmückten Tafel. Am Abend führten Henning und Gerd die ſtolzen Frauen der Patrizier zum Reigentanz, die mit koſtbaren Pelzen und goldenen Ketten geſchmückt wie hochgetakelte Schiffe dahinrauſchten. Viel artige Worte hörten die Brüder, und wenn der Goldſchmuck der Frauen ſie nicht daran erinnert hätte, daß ſie das Ziel ihrer Reiſe, die Wiedererlangung des Buches, nicht erreicht hatten, wäre wohl zu befürchten geweſen, daß ſie etwas übermütig wurden.

Als die feſtlichen Tage vorüber waren, gaben die Jünglinge ihrer Mutter einen langen Bericht über ihre Erlebniſſe und kündigten ihren Beſuch zum nächſten Frühling an. Ein Kaufmannszug, der gen Frankfurt reiſte, nahm das Schreiben ſowie eine Anweiſung auf hundert Dukaten mit, die ein Frankfurter Kaufmann Gottſchalk von Soeſt für geliefertes Pelzwerk ſchuldete.

Henning war den ganzen Winter über als wohlbeſtallter Zeugmeiſter des Rates mit der Verbeſſerung des Geſchützweſens beſchäftigt. Er bildete einen Stab von tüchtigen Büchſenmeiſtern und Feuerſchützen heran, die mit den neuen Hagelgeſchützen umzugehen verſtanden. Die Steinbüchſen wurden abgeſchafft, die eiſenſchießenden Büchſen wurden allgemein eingeführt. Auch das Schießen mit glühenden Kugeln wurde fleißig geübt.

Die Schweſterſtadt Hamburg verfolgte die Einführung der neuen Waffen, deren Überlegenheit ſich in den Kämpfen gegen die Seeräuber erwieſen hatte, mit größter Aufmerkſamkeit. Henning nahm eine Einladung des Hamburger Rates an und tauſchte mit den dortigen Büchſenmeiſtern Wiſſen und Erfahrungen aus.

Gerd wandte ſich inzwiſchen der Bildſchnitzerei zu, um bei dieſem edlen Handwerk die blutigen Kriegsſzenen zu vergeſſen.

Anfangs ſchien es Henning, als ob die Verſuche ſeines Bruders ſchlecht vorwärts kämen. Denn dieſer verbrachte die Tage mit einſamen Spaziergängen oder ſaß zeichnend oder träumend im Zimmer. Schließlich zog er ſich ganz in ſeine Werkſtatt zurück, die in einer der ſtillen Straßen auf der vom Hafen abgewendeten Seite der Stadt lag. Henning, der viel unterwegs war, bekam ihn kaum zu ſehen. Wenn er ihn dann nach ſeinen Arbeiten fragte, erhielt er ausweichende Antworten. Henning befürchtete ſchon, daß Gerd infolge der Anſtrengungen der Kriegsfahrt ernſtlich erkrankt ſei.

Aber als Henning in den erſten Vorfrühlingstagen von einer Reiſe zurückkehrte, empfing ihn Gerd freudeſtrahlend. Seine blaſſen Wangen hatten wieder Farbe bekommen, er nahm den Bruder an der Hand und zog ihn mit Ungeſtüm in ſeine Werkſtatt.

Dort ſtand auf der hohen Diele ein gewaltiges Kunſtwerk, das faſt die Decke berührte.

„Gerd, wer hat dich das gelehrt?“, rief Henning bewundernd aus. Er trat näher und betrachtete das Werk von allen Seiten.

Auf einem wuchtigen Felſen baut ſich das Bild des edlen Ritters Sankt Georg, des Drachentöters auf. Am Boden windet ſich der ſcheußliche Wurm in Todesnot. In ſeinem ſtacheligen Halſe ſteckt die abgebrochene Lanze des Helden. Über dem wunden Untier bäumt ſich ſchnaufend der weiße Hengſt, an deſſen mit Edelſteinen geziertem Zaumzeuge die goldenen Schellen klingen. Der ritterliche Held ſteht hochgereckt in den Steigbügeln, mit der Linken das Pferd zügelnd, mit der Rechten das flammende Schwert ſchwingend, um zum Todesſtreiche auszuholen. Seine goldene Rüſtung blinkt im Strahle der erſten Frühlingsſonne. Die Kleinodien an ſeinem Schwertgürtel brennen wie rotes Feuer. Seine blauen Augen heften ſich auf den beſiegten Feind, die blonden Locken wallen über die Halsberge herab. Denn der ſchimmernde Goldhelm iſt ihm in der Wut des ſchrecklichen Kampfes vom Kopfe gefallen und liegt auf dem Boden, mitten in dem Blute des Lindwurmes, das als ein breiter ſchwarzer Strom aus der Halswunde quillt.

Um den Fuß des Todesfelſens ſpielt die ekelhafte Drachenbrut und benagt in hungriger Gier die modernden Reſte der Unglücklichen, die dem Wurme zum Opfer gefallen ſind. Die morſchen Gebeine ſind mit gräßlicher Wahrheitstreue gemeißelt, das Grauen des Todeskampfes ſcheint noch in den leeren Augenhöhlen zu wohnen. Neben der Stätte des Entſetzens aber kniet die lichte Geſtalt der gefangenen Prinzeſſin, in Samt und Seide gekleidet, Die Jungfrau hebt ihre Hände flehend zum Himmel, aber ihre Augen ſind voll Bewunderung auf ihren Befreier gerichtet. Und wie der heilige Ritter in Geſtalt und Zügen Henning gleicht, ſo ähnelt die Prinzeſſin der einſtigen Geſpielin der Kinderheit, nur iſt ſie reifer und jungfräulicher dargeſtellt.

„Gerd“, ſagte Henning, ſeinen Bruder an ſich ziehend, „was du geſchaffen haſt, erfüllt mich mit Stolz und Freude, aber Richter darüber ſein kann ich nicht, und ich glaube, daß heute noch kein Menſch die Schönheit deines Werkes ganz ermeſſen kann. Wie du da den breiten Felſen, das ſcheußliche Ungeheuer, das ſchwere Streitroß, die lichte Heldengeſtalt, das edle Haupt des Jünglings und die blitzende Klinge aufeinander getürmt haſt, das werden die Späteren noch viel mehr bewundern, als wir es können.“

Henning hatte wahr geſprochen. Die Fachleute und die große Menge bewunderten am meiſten die prächtige Bemalung und Vergoldung des Kunſtwerkes und die ſaubere Kleinarbeit an der Rüſtung des Helden.

In der Amtsſtube der Schilderer gab es eine erregte Morgenſprache.

Wilde Schreier ſchlugen vor, das Machwerk des Böhnhaſen zu vernichten.

Klügere beantragten ein kräftiges Schreiben an den Rat zu richten, daß dieſer den Hergelaufenen für ſein dem löblichen Handwerk ſchädliches Treiben beſtrafe.

Von dieſen Spänen erhielt der Rat Kenntnis. Er beauftragte Gottſchalk von Soeſt mit der Beilegung des Zwiſtes. Dieſer riet zur Vernunft. Nach längerem Hin und Her einigte man ſich, dem Rate wie folgt zu ſchreiben:

„Sintemalen der junge Gerd Freyermuth, aus freiem Geſchlecht geboren, kein Wende und keines Schinderers und Barbiers Sohn, infolge Armut und Kriegsläuften das ehrſame Handwerk der Schilderer nicht den Satzungen gemäß erlernen konnte, aber Proben ſeines Könnens mannigfach gezeigt habe, wolle der Rat ihm die Lehrjahre gnädig erlaſſen und dem Amte geſtatten, beſagten Gerd als Meiſter aufzunehmen, auch das kürzlich angefertigte Sankt-Jürgen-Bild als Meiſterſtück gelten laſſen.“

Als aber der Malerälteſte nach der langen Sitzung ſpät nach Hauſe kam und der Frau Meiſterin mit etwas ſchwerer Zunge von den weiſen Beſchlüſſen des Amtes erzählte, da klang es meſſerſcharf zurück:

„Du beſapen Kirl, ick glöv, du heſt dien fief Sinn nich toſam. Denk ock mal een beeten an Fru un Kinner. Greten un Telſche ſind noch to Hus un Tebbel is ok all’n ſtramme Deern. Dat müt anners warn, oder ick ſeg nee!“

Und an den Brief kam ein Schwanz, der lautete:

„Wobei es aber bei der alten Ordnung bleibt, daß der Jungmeiſter ſich binnen Jahresfriſt die Tochter eines hieſigen Meiſters zur Eheliebſten zu erwählen hat.“

So wurde Gerd Meiſter, wie ſich Henning brüderlich offen auszudrücken beliebte, ſeiner ſchönen Augen wegen.

Der Rat kaufte das Kunſtwerk an und ſchenkte es der Sankt-Jürgen-Kapelle zur Erinnerung an den glorreichen Sieg und als Dankesopfer für den Schutzpatron der Kriegsleute.

So wirkten Henning als Meiſter der Kriegskunſt und Gerd als gottbegnadeter Künſtler in Lübecks Mauern.

Der Rat, dem daran lag, die fähigen Jünglinge zu halten, bot beiden Lebensſtellungen und Grundbeſitz an. Beſonders Gottſchalk von Soeſt, der inzwiſchen zweiter Bürgermeiſter geworden war, drang in Henning, dieſes ehrenvolle Anerbieten anzunehmen, und verſprach den Brüdern die Aufnahme unter die ratsfähigen Geſchlechter.

Er nahm ſie mit in das Haus der Junkerkompanie und auf die Olavsburg, die vor dem Hüxtertore an der ſchilfverwachſenen, buchtenreichen Wakenitz lag. Dort verbrachten ſie frohe Stunden bei der Reiherbeize, beim Fiſchen und Schwimmen und beim Tanze auf grünem Raſen. Wie luſtig, wie freundlich waren hier die ſonſt ſo zurückhaltenden Patrizier!

Henning und Gerd waren ſchon entſchloſſen, dauernden Aufenthalt in Lübeck zu nehmen, als ein Ereignis eintrat, das ſie wieder an ihr Ziel, die Rückgewinnung des Buches erinnerte.

Merten Voß, ſoeben von einer Bergenreiſe zurückgekehrt, ſandte ihnen Botſchaft, ſie möchten am Abend in das Schifferhaus kommen, er habe für ſie eine wichtige Nachricht.

„Das war eine ſchnelle Reiſe“, begrüßte Merten ſie dort. „Immer platt vor dem Winde, da kann auch eine alte Frau ſegeln. Aber dies wollte ich euch nicht erzählen. Ihr werdet ſtaunen: Ich habe eine Spur von eurem alten Freunde und Widerſacher gefunden.“

„Von Doktor Nauheim?“

„Ja, von dem Klabautermann des Raubſchiffes. – Doch zuerſt wollen wir uns ſetzen. Ich habe einen Schifferbruder mitgebracht, Pawel Michelſen aus Danzig, mit dem ich als junger Seemann manche gemeinſame Reiſe gemacht habe.“

Sie begrüßten den Danziger, und als der Bierkrug herumgegangen war, ſagte Merten:

„Nun hört zu, was mein Freund erlebt hat.“

Pawel Michelſen nahm noch einen Schluck, er wiſchte ſich den Mund und begann:

„Es war im Sommer vor zwei Jahren. Ich hatte in Danzig polniſches Holz geladen und war nach Wismar beſtimmt. Bis hinter Bornholm hatten wir gutes Wetter. Dann gerieten wir in einen ſteifen Nordoſt, die See ging hoch, und wir mußten die Bonnets abnehmen. Wir paſſierten treibende Schiffstrümmer. Da dachten wir uns, daß dort wohl ein Unwetter gehauſt hatte, und hielten gut Ausſchau, ob wir Schiffbrüchige finden würden. Dabei ſichteten wir einen größeren ſchwimmenden Gegenſtand. Wir hielten darauf zu und bemerkten einen Mann, der ſich auf einem Wrackteil feſtgebunden hatte. Ich ließ das Boot ausſetzen, und ſo bargen wir den Mann. Er war ganz erſchöpft und lag zuerſt wie tot da. Als der Mann endlich wieder zu ſich kam, erzählte er, er ſei in Stockholm geweſen, um für ein Handelshaus Geld einzutreiben und Kupfer aufzukaufen. Aus dem Sturme habe er nichts gerettet, als ein Buch, das er ſeinem Herrn überbringen ſolle. Das Buch hatte er in einer Hülle von Segeltuch. Er freute ſich ſehr, als er ſah, daß das Buch wenig gelitten hatte. Nur auf einigen Blättern war die Tinte am Rande verwiſcht.“

Henning und Gerd ſahen ſich an.

„Und was war dies für ein koſtbares Buch?“, fragten ſie.

„Ein Buch mit vielen Zeichnungen von Maſchinen und Geräten, Glocken, Geſchützen und dergleichen“, entgegnete der Schiffer.

„Beſchreibt uns noch die Geſtalt des Mannes!“

„Er war nicht mehr jung, er ging krumm, hatte eine lange gebogene Naſe und ſtechende Augen.“

„Und wo iſt er geblieben?“

„Der Mann iſt bald nach unſer Ankunft in Wismar mit einem Kaufmannszuge nach dem Oberland abgereiſt.“

Die Brüder waren von dieſer Mitteilung wie betäubt.

Alſo ſo nahe waren ſie dem Manne geweſen! Jetzt aber war er wieder verſchwunden, und damit auch das Buch ihres großen Meiſters, und niemand wußte, wohin.

Sie baten die Schiffer um Urlaub und eilten in ihre Wohnung. Ihr Entſchluß war gefaßt. Sie wollten fort, dem Schurken nach! Was brauchten ſie noch den reichen Sold, den ihnen Lübeck anbot, wenn ſie ſich mit Hilfe des Buches jede beliebige Menge Gold aus feilem Metall, ja aus dem Nichts herſtellen konnten! Je mehr ſie darüber nachgedacht hatten, deſto mehr Beweiſe für die Möglichkeit der Metallverwandlung, der transmutatio metallorum, hatten ſie gefunden. Die Weltreiſenden berichteten ſogar, daß die Sonne in den fernen Ländern des Orients ungeheure Mengen Goldes hervorbringe, ja an einzelnen Stellen ſolle das gleißende Metall wie Kraut aus der Erde ſchießen.

Ihr Anteil an der Beute genügte völlig, um die langwierigen, teuren Verſuche zu bezahlen. Es fehlte nur das Buch. Und das mußte wiedergewonnen werden!

Gefangen

Henning kündigte dem Rate ſeinen Dienſt auf.

„Junker Freyermuth“, ſprach der erſte Bürgermeiſter, „wir würden euch und euren Bruder gern hier behalten. Beſinnt euch nochmals!“

Henning entgegnete: „Es wird uns nicht leicht, Lübeck zu verlaſſen, aber unaufſchiebbare Geſchäfte rufen uns in die Heimat zurück.“

„Wohl, ſo zieht“, ſprach der Greis. „Aber wiſſet, Lübeck nimmt euch allzeit freudig wieder auf. Denn groß iſt der Nutzen, den ihr der Stadt brachtet.“

Er reichte Henning und Gerd freundlich die Hand zum Abſchied.

Schwer fiel ihnen die Trennung von Merten Voß, ihrem einſtigen Baas und ſpäteren Waffengefährten vom „Löwen“ und „Adler“.

Der kernige Seebär ſchluckte und räuſperte ſich; dann quetſchte er ihnen die Hände zwiſchen ſeinen breiten Fäuſten faſt zu Brei.

„Jungs“, ſtieß er endlich hervor, „ich ſtehe allein in der Welt, hab nicht Weib noch Kind, aber mir ſeid ihr, wie wenn ihr meine Söhne wäret. Genau weiß ich noch, wie ihr Heuer nahmt, wie ihr unter dem Schiffsvolk auffielt wie zwei Falken unter ſtruppigen Krähen.

Und dann dein Meiſterſchuß, Henning, und Gerds ſchönes Bild, und die Rettung des ‚Löwen‘ und euer Aufſtieg zu Ehre und Ruhm. Wie war ich ſo ſtolz auf euch, und wie freute ſich mein einſames Herz, als ihr auch dann den einfachen Schiffer nicht verachtet habt. Ihr ſteuert jetzt anderen Kurs. Glückliche Fahrt!“

Haſtig fuhr er ſich über die Augen und ging breitbeinig davon, ohne ſich umzuſehen.

Am Nachmittage waren die Brüder bei Gottſchalk von Soeſt.

Der Ratsherr ſprach warnend: „Wappnet euch gut. Denn der Weg iſt weit und die Straße in manchen Gegenden unſicher.“

Henning und Gerd packten ihre Habe in die Mantelſäcke und verſtauten Geld und Koſtbarkeiten in den Satteltaſchen. Am nächſten Tage, beim Frührotſcheine, beſtiegen ſie wohlgerüſtet ihre Pferde, Henning den dunkelbraunen Hengſt, der ihn ſchon nach dem Siegerland getragen hatte, Gerd einen kräftigen Rappen.

Gottſchalk erſchien mit einem halben Dutzend Gewappneter, um ſie einen Tagesritt zu begleiten, und dann ritt die Schar durch die ſtillen Straßen und das dunkle Stadttor hinein in den erwachenden Frühlingsmorgen.

Bei der Sankt-Jürgen-Kapelle ſtiegen ſie ab und traten vor Gerds Meiſterwerk, wo ſie in Andacht verweilten. Wehmütige Gedanken überkamen plötzlich die Jünglinge. War es der Trennungsſchmerz, war es eine Ahnung neuer Stürme und Gefahren, die ſie bedrohten?

„Sankt Jürgen möge uns auf unſerer Fahrt beſchirmen“, ſprach Henning leiſe.

Als ſie wieder auf den Pferden ſaßen, ſagte Gottſchalk:

„Nie werde ich dieſe Straße ziehen, ohne bei St. Jürgen abzuſteigen und euer zu gedenken.“

Gottſchalk gab ihnen das Geleit bis nach Mölln, wo ſie gemeinſam in einer Herberge übernachteten.

„Leb wohl, Waffenbruder“, ſprach Gottſchalk am nächſten Morgen zu Henning und drückte dieſen kräftig an die Bruſt. „Unter dem lübſchen Adler haben wir gemeinſam gekämpft, in Friedenszeiten gemeinſam gearbeitet. Auch manche glückliche Stunde hat uns in froher Geſellſchaft vereint. So haben wir Not und Gefahr gemeinſam überwunden und Luſt und Freude geteilt. Nun ſcheiden ſich unſere Wege, aber Freunde bleiben wir bis zum Tode.“

Auch von Gerd nahm er herzlich Abſchied.

Dann wandte er mit ſeinen Reitern die Roſſe gen Lübeck zurück.

Die weitere Reiſe der Brüder verlief einſtweilen ohne bemerkenswerten Zwiſchenfall.

Die aufblühenden Städte hatten die Straßen gut von Geſindel geſäubert. Einige verwegen ausſehende Geſellen, die hinter den Wacholderbüſchen der großen Heide auftauchten, wünſchten höflich eine gute Reiſe. Denn die ſcharfen Waffen und das kriegeriſche Ausſehen der Brüder flößten den Schnapphähnen Achtung ein.

So erreichten Henning und Gerd unangefochten die große Stadt Braunſchweig.

Der Herbergswirt warnte ſie vor den Raubſchlöſſern des Harzes. „Das Stegreifreiten“, ſagte er, „betreiben ſie faſt alle, die edlen Herren des Landes. Den ſchlimmſten Ruf haben die Altenſteiner, der Junker von Schroffeneck und der Schadecker.“

„Man ſollte die Raubneſter brechen, und die Ritter an der Landſtraße aufhängen“, rief Henning aus.

„Ja, wenn das ſo leicht wäre“, meinte der Wirt. „Der Herzog läßt ſeinen tapferen Kriegsmannen kein Härchen krümmen und drückt beide Augen zu, wenn ſie ihren Sold auf der Landſtraße bei den Städtern einkaſſieren. Denn auf die frechen Bürger iſt er ſchlecht zu ſprechen. Überdies kann man keinem Burgherrn eine beſtimmte Tat nachweiſen. Es ſteht aber feſt, daß in jenen Gegenden Reiſende mit Geld und Gut ſpurlos verſchwunden ſind. Andere find von Vermummten niedergeworfen und erſt nach Zahlung eines hohen Löſegeldes freigelaſſen worden. Wo ſie im Turm gelegen haben, wußten ſie nicht. – Ja, ja“, ſchloß der Wirt, „die Harzburgen ſind feſt, und ihre Verließe ſind tief. Ich rate euch gut: Wartet einen Geleitzug ab.“

Dieſe Worte verfehlten ihren Eindruck nicht. Ein unbeſtimmtes Gefühl der Unruhe überkam die Brüder.

Ein abendlicher Gang durch die engen Straßen der Stadt brachte ihnen keine Erquickung, und die Empfindung, daß eine unſichtbare Geſtalt ihnen lautlos folge, verließ ſie nicht.

In der Herberge ließen ſie ſich eine beſondere Kammer anweiſen. Henning legte die Geldkatzen unter ſein Kopfkiſſen und das blanke Schwert griffbereit neben ſich. Er ſchlummerte bald ein. Der Schlaf überkam auch Gerd endlich, aber ein Alpdruck quälte dieſen. Aus dem Dunkel ſchlich ein unheimliches Weſen mit fratzenhaft verzerrtem Geſicht, mit ſtechenden Augen und gebogener Naſe heran. Das Geſpenſt griff mit ſeinen Krallen nach dem Geldſack unter Hennings Kopf. Gerd wollte ſchreien, aber der Mahr lag zu ſchwer auf ſeiner Bruſt. Nur ein heiſeres Röcheln entrang ſich ſeiner Kehle.

Von dieſem Stöhnen erwachte Henning, er griff nach dem Schwerte und rief ſeinen Bruder an. Gerd, der in Schweiß gebadet mit wirrem Kopfe erwachte, berichtete haſtig, was er empfunden hatte. Henning ſprang auf und ſchlug Licht. Aber nichts war zu ſehen, und keine Spur fand ſich in dem Gemach.

Am Morgen fragten ſie den Wirt, ob noch andere Gäſte im Hauſe weilten.

„Nur ein frommer Mönch“, entgegnete dieſer. „Er hat geſtern die Kirchen beſucht und iſt heute Morgen in der Frühe zum heiligen Blute nach Wilsnack weiter gepilgert.“

Das Äußere des Mönches konnte der Wirt nicht näher beſchreiben, da der ehrwürdige Vater ſtets ſtill in ſeiner Ecke geſeſſen und ſich über ſein Brevier gebeugt hatte.

Die Brüder ſchämten ſich nun ihrer Mutloſigkeit; auch waren im Sonnenlichte die letzten Nachwehen des nächtlichen Spukes vergangen. Sie beſchloſſen unverzüglich abzureiſen, da der nächſte Geleitzug erſt in einer Woche abgehen ſollte.

In raſchem Ritt näherten ſie ſich dem Bergland des Harzes.

Der Weg führte durch enge Täler, durch ein Gewirr ſteiler Felſen und mächtiger Steine.

Über eine tiefe Schlucht, auf deren Grunde ein helles Bächlein floß, führte eine hölzerne Brücke, die aus nebeneinanderliegenden Baumſtämmen roh gezimmert war.

Hennings Roß ſcheute vor der Brücke und blieb mit ſchnaubenden Nüſtern ſtehen. Henning glaubte, das Pferd würde vor der Tiefe erſchrecken. Er klopfte dem Tiere den ſchlanken Hals und ſprach ihm ſchmeichelnd zu.

Als das Pferd ſich noch immer ſträubte, die Brücke zu betreten, ſtieg Henning ab und führte es am Zügel über den Steg. Das Tier folgte langſam und widerwillig.

Gerd war ſchon vorausgeritten und wartete am jenſeitigen Rande der Schlucht. Henning ſchwang ſich wieder in den Sattel und ſie ritten weiter.

Als der Weg um einen vorſpringenden Felſen bog, fanden ſie die Straße durch einen Verhau geſperrt. Im Tannendickicht raſchelte es verdächtig.

„Zurück!“, ſchrie Gerd.

Beide ſchloſſen die Viſiere, riſſen ihre Pferde herum und jagten mit verhängten Zügeln zurück.

Aber als ſie an der Schlucht ankamen, fanden ſie die Brücke abgeworfen. Eine Stimme rief ihnen aus dem Dickicht am Wege barſch zu:

„Ergebt euch, oder wir ſchießen euch nieder!“

„Feige Straßenräuber!“, brüllte Henning, „ſtellt euch zu ehrlichem Kampfe!“

Höhniſches Gelächter antwortete.

Henning ſpornte ſein Pferd zum Sprunge über den Abgrund. Da ſchwirrte ein Bolzen heran und traf ſein Tier. Dieſes ſtürzte tödlich getroffen und begrub im Falle den Reiter unter ſich. Gerd ſprang aus dem Sattel und verſuchte ſeinen Bruder unter dem Leib des Tieres hervorzuziehen.

Schon eilten die Strauchritter herbei. Gerd riß das Schwert aus der Scheide und ſtellte ſich zum Kampfe, aber die Überzahl war zu groß. Er wurde von hinten niedergeriſſen und gefeſſelt, ehe er ſich’s verſah.

Henning, der wehrlos unter dem toten Pferde lag, wurde hervorgezogen und gleichfalls gebunden.

Einige Räuber wollten die Gefangenen niederſtechen, aber ein Geharniſchter mit geſchloſſenem Viſier wehrte es ihnen.

Die Räuber nahmen dem toten Pferde Zaumzeug, Sattel und Mantelſack ab, verbanden den Beſiegten die Augen und hoben Henning auf ein lediges Pferd. Gerd mußte hinten aufſteigen und ihn ſtützen. Die Räuber faßten die Zügel und jagten mit den Gefangenen in ſauſendem Galopp davon.

Nach einem kurzen Ritt merkten die Brüder an dem langſamen Gange und dem Keuchen der Pferde, daß der Weg ſteil bergauf führte.

Nach einiger Zeit polterten die Hufe der Roſſe auf einer hohl liegenden Holzbahn.

„Wir reiten über die Zugbrücke“, dachte Gerd.

Da hielt ihr Pferd mit kurzem Ruck. Rohe Hände riſſen die Brüder zur Erde und ſtießen ſie eine Wendeltreppe abwärts. Ein abſcheulicher Geſtank von Unrat und Moder ſchlug ihnen entgegen. Als endlich die Binden von ihren Augen fielen, befanden ſie ſich in einem finſteren Turm. Vor ihnen ſtand der Gewappnete, der jetzt ſein Viſier geöffnet hatte. Sie erkannten im Halbdunkel einen kräftigen Mann mit vornehmen Zügen, die durch ein rohes Leben entſtellt waren. Das eckige Kinn verriet Mut und Zähigkeit, aus den Augen ſprachen Klugheit und Liſt.

Der Ritter muſterte die Gefangenen mit höhniſchem Lachen und fragte ſie barſch nach der Herkunft des Goldes und dem Zweck ihrer Reiſe.

Gerd antwortete in ohnmächtiger Wut:

„Wir ſind ſchwäbiſche Edelleute und ſtanden im Dienſte des Rates von Lübeck. Das Gold haben wir uns im Kriege gegen die Seeräuber ehrlich verdient.“

Zornig ſtampfte der Raubritter den Boden.

„Ehrlich verdient, ſagſt du? Schurken ſeid ihr! Euren Adel habt ihr geſchändet, indem ihr für feilen Lohn den Krämern halft, den freien Ritterſtand und alle Feinde des Wuchers zu Grunde zu richten. Jetzt ſeht ihr: Unrecht Gut gedeihet nicht! Danket Sankt Georg auf den Knien, daß er euch in meine Gewalt gegeben hat. Denn es iſt ſein heiliger Wille, daß wir euch den ſchändlich erworbenen Mammon wieder abnehmen und ihn beſſer verwenden, als ihr Dummköpfe es könnt.“

Die Brüder gaben auf die läſternde Rede keine Antwort.

„Hat eure Freundſchaft Geld, um euch auszulöſen, und wollt ihr Urfehde ſchwören?“, fragte der Ritter weiter.

Henning richtete ſich mühſam auf. Wütend ſagte er:

„Unſere Mutter iſt eine arme Witwe, und ehe wir den Lübeckern ſchreiben und unſere Torheit an den Tag geben, wollen wir lieber in dieſem Turm verhungern und verfaulen.“

„Das hat hier ſchon mancher geſagt, der nachher um ſein elendes Leben bettelte“, entgegnete der Burgherr. „Vorläufig ſollt ihr am Leben bleiben. Denn ich kann euch kräftige Burſchen gut zur Arbeit gebrauchen. Auf ritterliche Haft habt ihr kein Anrecht; ich werde euch behandeln, wie ich mit den Heringsbändigern verfahre, denen ihr dient. Und wenn ihr nicht arbeiten wollt, laß ich euch hier verrecken.“

Klirrenden Schrittes verließ der Ritter den Turm.

Gebrochen ſanken die Brüder auf ihr Lager, einen Haufen faulendes Stroh.

Sie lagen lange wach, Hennings zerſchundene Glieder ſchmerzten. Dennoch verſuchte dieſer Gerd aufzurichten, den der raſche Wechſel von Glück und Unglück völlig gebrochen hatte.

Endlich kam doch der große Tröſter aller Unglücklichen, der Schlaf, zu ihnen und legte um ihre Stirnen den Schleier des Vergeſſens. Sie ſchlummerten friedlich und feſt wie Kinder.

Ein Wiederſehen

Die Sonne ging hinter den Bergen des Harzes auf, breitete die Fülle ihres Lichtes über Felſen und Bergkuppen aus, ließ ihre goldenen Pfeile um die Dächer und Türme des Raubneſtes ſchwirren, leuchtete in die Talſchluchten und drang endlich durch die ſchmale Schießſcharte in den Kerker der gefangenen Brüder ein.

Da erwachten beide neugeſtärkt. Der Schlaf hatte ihrer Seele das Gleichgewicht wiedergegeben. Ruhig und gefaßt beſprachen ſie ihre Lage. Warum ſollten ſie verzweifeln, waren ſie doch größeren Gefahren unverſehrt entronnen. Auch aus dieſem Kerker würde eine Pforte in die Freiheit führen! Ihr Leben war vorläufig nicht bedroht. Zwar war das hanſiſche Gold verloren, aber ihr größter Schatz, die Aufzeichnungen aus dem Buche ihres Meiſters, waren dem Späherblick der Räuber entgangen. Auch aus dieſer Not mußte ihnen das Buch helfen! Sie verbargen die Abſchrift ſorgfältig in einer Mauerſpalte und verſtopften die Öffnung mit Sand und Steinen.

Sie beſchloſſen, dem Burgherrn in allem gefügig zu ſein, ſo weit es ſich mit ihrem Gewiſſen vereinbaren ließ. Sie wollten durch die Künſte, die ſie dem Vermächtnis ihres Meiſters verdankten, und durch ein fröhliches Weſen das Vertrauen der ungebildeten Räuber gewinnen und dadurch eine Gelegenheit zur Flucht finden.

„Der Braunſchweiger Herbergswirt hat Recht behalten mit ſeiner Warnung. Wären wir ihm gefolgt!“, ſagte Gerd.

„Darüber nachzudenken hat wenig Zweck“, entgegnete Henning. „Wenn wir nur wüßten, wo wir uns befinden“, meinte Gerd.

Henning erwiderte:

„Auf dieſe Frage werden wir keine Antwort erhalten. Auch einen Wappenſtein wirſt du hier vergeblich ſuchen. Unſer Wirt wird ſich hüten, ſeinen Namen groß und breit an ſeine Haustür zu ſchreiben.“

Da knirſchte der Riegel, die plumpe Bohlentür öffnete ſich knarrend, ein wild ausſehender Kerl trat ohne Gruß ein und brachte ihnen das Frühmal, einen Krug Waſſer und ein Stück hartes verſchimmeltes Brot.

„Guter Freund“, lachte Henning, „euer Wein iſt dünn, und an dieſem Braten beißt man ſich die Zähne ſtumpf.“

„Laßt die unnützen Reden und beeilt euch mit eurem Fraß. Ihr ſollt arbeiten. Umſonſt werdet ihr hier nicht gefüttert“, fauchte der Knecht ſie an wie ein Wildkater.

Die Brüder tranken einen Schluck Waſſer, ſteckten das Brot in den Wams und ſtiegen, gefolgt von dem ungeduldigen Knechte, die Wendeltreppe empor.

Auf dem Burghofe befahl der Knecht: „Halt!“

Henning und Gerd ſahen aufmerkſam um ſich.

Die Feſte bildete ein langgezogenes Bauwerk, an deſſen Enden ſich zwei Türme erhoben. In der Mitte der einen Mauer ſtand der niedrige Torturm. An die Ringmauer lehnten ſich rechts der Pallas und links eine Gruppe von ärmlichen Wirtſchaftsgebäuden an.

„Unſer freundlicher Wirt ſcheint ein Herr von Habenichts zu ſein“, meinte Henning und wies auf die ſchadhaften Dächer und die verwahrloſten Mauern, in deren Fugen Gras und Geſtrüpp wucherten.

Der Knecht fuhr ihm grob in die Rede, er wies die Jünglinge an, aus dem tiefen Ziehbrunnen im Burghofe Waſſer hochzuwinden und den ſteinernen Trog zu füllen.

Henning ließ die Eimerkette langſam abrollen. Plötzlich hielt er die loſe Kurbel in der Hand, der Wendelbaum drehte ſich wie raſend, die Kette klirrte und der Eimer ſauſte in die Tiefe.

Die Brüder beſahen den Schaden, der Splint, der die Kurbel auf dem Zapfen des Wendelbaums ſichern ſollte, fehlte. Vorſichtig wanden ſie den Eimer wieder hoch. Als das Gefäß am Brunnenrande erſchien, erwies es ſich als halb leer. Nun unterſuchten die Brüder den ganzen Bau des Brunnens mit fachmänniſchem Blick. Der Wendelbaum war morſch, die Zapfenlager waren ausgefahren, und der Eimer leckte am Boden.

„Was iſt das für eine liederliche Wirtſchaft“, wandte ſich Henning an den Knecht. „Mit ſolchem Schund kann niemand arbeiten. Wir wollen zuerſt den lecken Eimer abdichten und dann in die Schmiede gehen und den Haſpel in Stand ſetzen.“

Der Knecht bekam Augen ſo rund wie ein Froſch, er widerſprach aber nicht. Denn Hennings ſicheres Auftreten machte Eindruck auſ ihn.

Die Brüder trieben mit geſchickten Händen die Ringe um die Dauben des Eimers an, nahmen Wendelbaum und Lager ab und zogen, von der Wache begleitet, zur Schmiede. Dort blieſen ſie das Feuer an und begannen die Arbeit.

Das laute Klingen des Amboſſes und die hellen Hammerſchläge tönten durch die ganze Burg. Die Knechte blieben lauſchend ſtehen, und als dann noch ein luſtiges Lied taktmäßig in das Hämmern klang, traten ſie herzu und beſahen ſtaunend die fröhlichen Gefangenen. Auch die dicke Schaffnerin, der gefürchtete Burgdrache, kam behäbig herbeigewatſchelt, ſtemmte die runden Arme in die Seiten und beſah ſich den Spaß. Ihr breites Geſicht verzog ſich zu einem vergnügten Lachen.

„Da habt ihr ein Paar luſtige Vögel gefangen. Wenn ſie euch nur nicht bald wieder davonfliegen.“

Henning begriff hellhörig den Sinn ihrer Worte und flüſterte Gerd zu:

„Du ſollſt ſehen, wie bald dieſe ungelenken Bären nach unſerer Pfeife tanzen.“

Der ſchadhafte Wendelbaum war raſch wiederhergeſtellt, und die Brüder zogen zum Brunnen zurück, gefolgt von der Wache, die wie ein Bullenbeißer mürriſch hinterhertrabte.

Sie bauten die Lager wieder ein und ſchmierten ſie mit etwas Fett, das aus einer Wagennabe hervorquoll. Dann legten ſie den Wendelbaum ein, befeſtigten die Kette ſachgemäß und ließen den Eimer ablaufen. Beim Heraufziehen achteten ſie darauf, daß ſich die Kette in regelmäßigen Windungen auf den Wendelbaum aufwickelte. Die Winde lief jetzt leicht und ruhig, und der Eimer kam bis zum Rande gefüllt herauf. Nach einer Stunde floß der große Steintrog über.

„Jetzt müſſen wir das Dach des Pferdeſtalles flicken“, ſagte Gerd, der nun gleichfalls Mut gefaßt hatte, zu dem Wächter. „Kein ordentlicher Reitersmann läßt ſeine Pferde im Regen ſtehen; an die Arbeit!“

Die Umſtehenden lachten, der Kerl wollte aufbegehren, aber er beſann ſich und ſchwieg.

Bald ſaß Gerd hoch oben auf dem Firſt des Schuppens und deckte geſchickt die Ziegel ab, die er mit lächerlicher Grazie wie ein Jahrmarktkünſtler ſeinem Bruder zuwarf. Dann begann das Abnehmen der faulen Sparren und Balken.

Der Burgherr, der ſich die Schauſtellung auf dem Hofe einige Zeit vom Pallas aus angeſehen hatte, kam herunter, aber er verſchwand raſch wieder, als er einige der Späße gehört hatte, mit denen die Gefangenen zur Freude der Knechte ihre Arbeit würzten.

„Ich glaube, wir haben Till Eulenſpiegel gefangen“, dachte er, „der Halunke hat ſich in zwei Kerle verwandelt.“

In der Mittagspauſe warf Gerd mit einem Stück Rötel ein getreues Bild der behäbigen Schaffnerin auf die Küchentür. Die würdige Dame war mit ihrer reſpektablen Fülle wohl getroffen. Ihr rundes Geſicht zeigte ſein freundlichſtes Lächeln. Das ganze Geſinde ſtand ſtaunend davor, und die im Grunde ihrer Seele gutmütige Schaffnerin betrachtete freudeſtrahlend ihr Konterfei.

„Schaffnerin, nun ſeid ihr gemalt, wie die Ahnen unſeres Herrn auf dem Altarbilde unten in der Kirche“, meinte ein Knecht.

Die Schaffnerin machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube und ſpendete den Brüdern zum Lohne einen Topf nahrhafter Suppe mit reichlich Fleiſch darin.

„Habe ich es dir nicht gleich geſagt, daß es ſo kommen werde“, flüſterte Henning ſeinem Bruder zu. „Die gewichtigſte Perſönlichkeit der Burg haben wir ſchon gewonnen.“

Die Schaffnerin, die im Haushalte des einſpännigen Burgherrn unumſchränkt herrſchte, verlangte am nächſten Morgen die kunſtfertigen Gefangenen für Ausbeſſerungen an den Küchengeräten.

Hier fehlten Henkel an den Töpfen, dort war ein Zuber undicht, und der ſchwere Keſſelhaken war zerbrochen.

Henning und Gerd begannen die Arbeit großzügig.

Sie räumten zuerſt die Küche aus und ſtrichen dann den niedrigen verräucherten und verrußten Raum von oben bis unten mit Kalk. Alle Geräte wurden ausgebeſſert, neue Henkel an die Töpfe genietet, die Zuber und Bottiche geflickt.

Henning ſchmiedete einen neuen Keſſelhaken, über den ſich die Schaffnerin ſehr freute. Denn ein kunſtvoller Keſſelhaken war der Stolz jeder Küche.

Als dieſe Arbeiten am Mittag des dritten Tages vollendet waren, blieben noch einige Stunden Zeit. Die Brüder verfertigten für die behäbige Küchenfee einen genügend breiten bequemen Lehnſtuhl. Auf der ſchön gehobelten Lehne prangten die kunſtvoll verſchlungenen Initialen: A. M. Denn Anna Möllerſche war der Name der Geſtrengen, wie die Brüder bereits herausgefunden hatten.

Darüber kam der Abend. Die Gefangenen durften bei Frau Anna noch ein Stündchen in der Küche ſitzen.

Das Herdfeuer flackerte, die Abendſuppe brodelte in einem mächtigen Keſſel, der an dem neuen Feuerhaken hing. Frau Anna thronte auf ihrem breiten Achterkaſtell, wie Henning ſich ſeemänniſch auszudrücken erlaubte, geruhſam in dem neuen Lehnſtuhl, um deſſen Beine die graue Katze ſchnurrend ſtrich, und beſchäftigte ſich mit Nähen und Flicken. Sie befand ſich in fröhlicher Stimmung, ſchwatzte, ſang mit den Gefangenen zweiſtimmig Volkslieder von Liebesluſt und Liebesleid und ſah dabei nicht, daß ſich die Jünglinge die beſten Brocken aus der dampfenden Suppe herausfiſchten. Denn ſie war etwas kurzſichtig, wenigſtens wenn ſie es ſein wollte.

Die wackere Frau hatte für den nächſten Tag einen neuen Auftrag. Schon lange wurmte es ſie, daß die kleine Burgkapelle im Hauptturm verwahrloſt und jedes Schmuckes entkleidet war. Henning und Gerd ſollten die Kapelle aufräumen und tünchen. Die Brüder frohlockten im Stillen. Denn keine Arbeit konnte ihnen eine beſſere Gelegenheit geben, ihr Können zu zeigen, als dieſe.

Nachdem ſie den Raum geweißt und das Geſtühl ausgebeſſert hatten, bat Gerd, ihm Farben zu beſorgen, und fertigte ſich feine Pinſel aus Haſenhaar an. Nun begann er die Kapelle ſo farbenfroh mit Girlanden, Heiligenfiguren und Engelbildchen auszumalen, daß Frau Anna und ſogar der Ritter aus dem Staunen nicht herauskamen.

Am nächſten Morgen erklärten Henning und Gerd, daß ſie auf dem feuchten Stroh des Turmes Gliederreißen bekämen und deshalb nicht gut arbeiten könnten. Mit Einwilligung des Burgherrn wies ihnen die Schaffnerin am Abend eine Kammer an, deren Tür hinter den Brüdern verſchloſſen wurde, während man die Fenſterläden von außen verriegelte.

„Das hätten wir alſo erreicht“, ſagte Henning zufrieden, als er ſich neben Gerd auf einem richtigen Bette ausſtreckte, und beide ſchliefen den ſchönſten Schlaf ihres Lebens.

Nach einer Woche war die Ausſchmückung der Kapelle vollendet. Gerd ſuchte ſich ein Stück trockenes Eichenholz ohne Knäſte aus und begann unaufgefordert ein Marienbild für den Altar zu ſchnitzen.

Henning beſah ſich inzwiſchen die Burg. Auf einem Gang durch die Ställe fand er das ſchwere Streitroß des Ritters mit hängendem Kopfe und glanzloſen Augen. Der Stallknecht klagte ihm ſeine Not:

„Das Tier frißt ſchon ſeit zwei Tagen nicht mehr. Der Ritter bringt mich um, wenn das Pferd eingeht, und der alte Hirt weiß keinen Rat.“

Henning entſann ſich, daß im Buche des Meiſters Buſſengeter Rezepte zu mancherlei Heiltränken für Menſch und Tier enthalten waren, aber die Aufzeichnungen lagen im Turm verſteckt und waren ihm unzugänglich.

Nach einiger Überlegung vertraute ſich Henning der Schaffnerin an.

„Frau Anna“, ſagte er, „ich kann dem Pferde helfen.“

Die Schaffnerin ſtaunte.

„Wie willſt du ein Tier heilen, das der alte Hirt aufgegeben hat?“

„Es ſtimmt, was ich ſage“, nickte Henning. „Wir haben ein gutes Buch mit vielen nützlichen Rezepten, auch ſolchen zum Heilen von Menſch und Vieh. Es liegt unten im Turm in der Mauer verborgen. Ihr müßt uns das Buch wieder verſchaffen. Aber verraten dürft ihr uns nicht.“

Die Frau klopfte dem Jüngling beruhigend auf die Schulter.

„Mein Junge, wenn du wüßteſt, worüber die Möllerſche nicht ſchon hat ſchweigen müſſen! Ihr ſollt euer Buch bekommen. Aber ihr müßt mir daraus alle Vorſchriften vorleſen, die ich für Küche und Haushalt brauchen kann.“

Die Knechte ſaßen beim Abendeſſen, das die Schaffnerin beſonders reichlich zubereitet hatte. Inzwiſchen nahm die Frau den Kerkerſchlüſſel aus der Wachtſtube und gab ihn Henning. Dieſer eilte in den Turm, wo er das Buch wohlerhalten auffand. Er fand auch das geſuchte Rezept. Frau Anna ſammelte die erforderlichen Kräuter und braute daraus den Trank. Der Hengſt, der vorher kaum noch ſtehen konnte, fraß am nächſten Morgen wieder den vorgeſchütteten Hafer und begrüßte ſeinen Herrn mit freudigem Wiehern.

Henning hatte bald auch Gelegenheit, die Heilkünſte ſeines Meiſters an einem Menſchen zu erproben.

Steffen, der Leibknecht des Ritters, war bei einem Scharmützel am Knie verwundet worden, er hatte den Ritz nicht beachtet, bis er ſtarke Schmerzen verſpürte und das Wundfieber in ſeinen Adern klopfte. In dieſem Zuſtand kam er zu Henning und zeigte ihm das eiternde brandige Knie. Der Jüngling erſchrak, als er die angeſchwollenen Wundränder ſah, und fürchtete, daß dem Manne nicht mehr zu helfen ſei. Trotz ſeiner Zweifel bereitete er nach den Aufzeichnungen ſeines Meiſters eine Wundſalbe, und wirklich brachte dieſe zuſammen mit einem Fiebertranke Heilung und Geneſung.

Obgleich Henning jeden Dank ablehnte, ſang der Geheilte das Lob der klugen Gefangenen in allen Tönen. Der Ritter ließ Henning zu ſich kommen und fragte ihn, ob er auch etwas von Befeſtigungen verſtehe. Als dieſer die Frage bejahte, beging der Burgherr mit ihm die Wehren, wobei Henning den Ritter durch ſeine klugen Fragen und Ratſchläge überraſchte.

„Junker Henning“, ſprach dieſer endlich, „du mußt mir deine Gedanken in einem ſauberen Riß zu Papier bringen. Die Burg bedarf der Verſtärkung, oder die Krämer ſchießen ſie mit ihren verfluchten neuen Büchſen in Trümmer.“

Als der Ritter allein war, rieb er ſich ſchmunzelnd die Hände:

„Da ſind mir wirklich zwei prächtige Vögel ins Garn gegangen; die ſollen mir noch viele goldene Eier legen. Frau Anna hat Recht, ich muß gut paſſen, daß ſie mir nicht eines Tages davonfliegen. Aber dafür werde ich ſorgen.“

Er ließ die Brüder zu ſich kommen und ſagte zu ihnen:

„Ihr habt gezeigt, daß ihr tüchtige Kerle ſeid. Ich will euch in ritterlicher Haft halten, wenn ihr gelobt, nicht heimlich zu entweichen, nicht auszukundſchaften, wo ihr ſeid, und nachher nicht zu verraten, wo ihr geweſen ſeid.“

Henning und Gerd zögerten nicht, dies auf ihr adeliges Wort zu geloben.

Sechs Wochen vergingen den Brüdern, die ſich mit dem unbekümmerten Sinn der Jugend in ihr Schickſal gefunden hatten, bei ihrer eifrigen Tätigkeit wie im Fluge. Das ihnen bisher unbekannte Leben auf einer kleinen Bergfeſte hoch oben im grünen Walde bot ihnen ſo viel Neues und Feſſelndes, daß ſie an den Verluſt ihres Vermögens nur ſelten dachten. Als Gerd eines Tages davon ſprach, daß ſie wieder bettelarm geworden waren, tröſtete ihn Henning:

„Geld und Gut können wir uns wieder erwerben, wir ſind jung genug, um nochmals von vorn anzufangen, und wenn wir erſt das Buch des Meiſters Buſſengeter zurückerlangt haben, iſt das, was wir verloren haben, gegenüber dem, was uns die Alchemie bringt, wie ein Tropfen im Vergleich zum Meere. Bald wird der Tag kommen, der unſere Gefangenſchaft beendet und uns zu größeren Taten und Erfolgen führt.“

*

Eines Tages fand ein Bote den einſamen Weg zur Burg. Der Herr ließ die Schaffnerin rufen, und bald wußten es alle:

„Unſer Fräulein kommt in einigen Tagen heim.“

Dieſe Nachricht veranlaßte eine eifrige Tätigkeit. Alle Räume und der Burghof wurden gereinigt, das kleine Gärtlein, das auf einem überhängenden Felſen klebte, wurde geputzt, die Mauern wurden ausgebeſſert, und die morſchen Dielen der Zugbrücke wurden durch neue erſetzt.

Während die Schaffnerin in Haus und Garten wirkte, wieſen Henning und Gerd den Knechten die anderen Arbeiten an und fanden immer neue Mängel heraus, die beſeitigt werden mußten.

Alle fügten ſich willig den Anordnungen und zeigten einen Eifer, der die Brüder in Erſtaunen verſetzte. Am Abend des dritten Tages war die Burg zum Empfang des Gaſtes gerüſtet.

Der Sonntag, an dem das Fräulein eintreffen ſollte, fand die Burgbewohner in freudiger Erwartung, ſelbſt der ſonſt ſchweigſame Burgherr ſprach manch freundliches Wort. Schon ſeit dem frühen Morgen ſpähte der Wächter auf dem Bergfried in die Tiefe, wo ſich der Weg durch die Wälder und Felſen wand, um als erſter die Ankunft des Fräuleins zu melden.

Am Nachmittage erklang endlich ſein Horn. „Sie kommen“, riefen die Knechte und ſtiegen auf den Wehrgang, um die Nahenden ſchon aus der Ferne zu begrüßen.

Zwei Reiter klommen langſam den ſteilen Burgpfad hinan. Die Zugbrücke fiel raſſelnd nieder. Der Burgherr und die Schaffnerin traten vor, um die Ankommenden zu empfangen, während ſich hinter ihnen das Geſinde verſammelte. Auch Henning und Gerd traten hinzu, begierig das Weſen zu ſehen, an dem die Herzen dieſer rauhen Krieger und Schnapphähne mit ſolcher Liebe hingen.

Da erklang die Brücke unter Pferdehufen. In flottem Trab ſprengte ein vielleicht ſechzehnjähriges Mädchen auf ſchneeweißem Zelter in den Hof, ihren Begleiter, einen alten Waffenknecht, weit hinter ſich laſſend. Die ſchlanke Reiterin trug einen braunen Mantel, der am Halſe durch eine goldene Spange gehalten wurde. Darunter leuchtete ein langes meergrünes Kleid, das mit ſilbernen Lilien bedruckt war. Unter dem wehenden Schleier am zierlichen Häubchen fiel ihr Blondhaar in dicken Zöpfen bis auf die Kruppe des Pferdes herab.

Vor dem Burgherrn hielt das Mädchen den Zelter an.

„Mein Täubchen, endlich haben wir dich wieder“, rief der Ritter und fing die vom Pferde gleitende in ſeinen Armen auf. Das Fräulein wandte ſich dann zu Frau Anna, deren gutmütiges Geſicht vor Freude und Liebe ſtrahlte, fiel ihr ſo ſtürmiſch um den Hals, daß dieſer die Haube zerknittert wurde, und küßte ſie auf beide Wangen. Dann ſchwenkte ſie fröhlich ihr Tüchlein und begrüßte die Knechte. Lachend ſah ſie in die Runde, da fielen ihre Blicke auf die Brüder, ſie ſtutzte einen Augenblick, und dann ertönten drei jauchzende Rufe:

„Lisbeth!“, „Gerd!“, „Henning!“

Die Brüder eilten auf das Mädchen zu. Das war ein Lachen, ein Jubeln, ein Händeſchütteln, ein Umarmen, ein haſtiges Fragen. Lisbeth weinte und lachte in einem Atem.

Das Burggeſinde betrachtete das Schauſpiel mit offenem Munde. Die Jünglinge, die an Leib und Leben gefährdet im Turm gelegen hatten, die dann Menſch und Tier geheilt und ſolche Künſte gezeigt hatten, daß man ſie in der Burg frei umhergehen ließ, ja die man mit Achtung behandelte, waren alſo alte Bekannte ihres Fräuleins und damit wohl auch dem Burgherrn, dem Oheim des Fräuleins, nicht fremd. Sollte nicht das ganze Abenteuer ein Scherz geweſen ſein, um das Fräulein zu ergötzen und zu überraſchen?

Frau Anna zupfte an ihrer zerknitterten Haube, faſſungslos vor Staunen, in Rührung zerfließend.

Der Burgherr aber war wie vom Schlage getroffen. Er hatte Freunde ſeiner Nichte niedergeworfen und beraubt!

„Henning, Gerd, wie kommt ihr hierher?“, fragte endlich Lisbeth, nachdem der erſte Jubel vorüber war.

Aus dem Geſichte des Ritters wich alles Blut. Jetzt erfuhr ſein Liebling, daß er ein Wegelagerer war, daß alles, womit er ſie beſchenkte und ſchmückte, geraubtes Gut war, an dem Blut klebte. Aber Henning blieb geiſtesgegenwärtig Herr der Lage, er ſah den Ritter feſt an und antwortete:

„Das iſt ein langes Stück zu erzählen. Wir ſtanden im Dienſte des Rats von Lübeck und waren auf der Heimreiſe. Unterwegs trafen wir die Burgmannen von Schadeck. Dieſe luden uns ſo dringend ein auf die Burg zu kommen, daß wir uns nicht weigern konnten.“

Ein dankbarer Blick des Ritters traf die Brüder. Ein verrohtes Herz hatte den Glauben an die Menſchen wiedergefunden.

„Nun fangt aber nicht an, lange zu erzählen“, fiel der Burgherr ein, um ſeine Rührung zu verbergen, „kommt in die Halle zum Abendeſſen, nachher plaudern wir auf dem Söller weiter.“

Er faßte Lisbeths Hand und ging mit ihr in den Pallas, während Frau Anna mit den Brüdern folgte. Gar zu gern hätte dieſe jetzt ſchon ihre Neugierde geſtillt, aber Henning lachte:

„Geduld, Frau Anna, bei Tiſch ſollt ihr alles erfahren.“

Das gab eine fröhliche Tafelrunde, wie ſie die Halle lange nicht mehr geſehen hatte.

Lisbeth betrachtete ſtaunend die ritterlichen Geſtalten ihrer Jugendgeſpielen, und immer wieder hing ihr Blick an Gerds klugen Augen. Die Brüder aber konnten es kaum faſſen, daß dieſe erblühende Jungfrau, die vor ihnen ſaß, zart und duftig wie eine Roſenknoſpe, hold und ſchön wie ein junger Maientag, die kleine Lisbeth war.

Nach dem Mahle ſaßen die Männer mit Lisbeth und Frau Anna auf dem Söller.

Der Tannenforſt rauſchte leiſe im Abendwind. Tief unten dehnten ſich die grünenden Felder der Ebene aus, und wo der Horizont das Blickfeld abſchloß, ſchienen Himmel und Erde in zartblauen Schleiern ineinander zu verfließen.

Lisbeth hatte ſchon bei Tiſch erzählt, daß der Oheim ſie damals glücklich von Falkenberg nach Burg Schadeck gebracht hatte. Jetzt war ſie bei den frommen Frauen in Gandersheim.

„Zwei Monde kann ich hierbleiben, ehe ich ins Kloſter zurückkehren muß. Oh, wie glücklich bin ich!“, rief ſie und küßte Frau Anna in ihrer Freude.

Dann erzählten die Brüder von ihren Fahrten und Abenteuern. Sie berichteten von ihren Lehrjahren in Frankfurt und erzählten lange von ihren Seereiſen und den Kämpfen mit den Seeräubern, nur davon ſagten ſie nichts, daß ſie den Doktor Nauheim wiedergeſehen hatten. Obgleich ſie wenig von ihren eigenen Leiſtungen und viel von Merten Voß und Gottſchalk von Soeſt ſprachen, mußten ſie doch erwähnen, daß ſie in Lübeck zu Ehre und Ruhm gelangt waren.

Bewundernd hingen die Blicke der Schadecker an den Lippen der Jünglinge.

„Bei Gott“, ſagte ſich der Burgherr, „das ſind zwei Junker, von denen ich wünſchte, daß ſie meine Söhne wären. Was ſoll man mehr an ihnen bewundern, ihren Mut oder ihre Klugheit, ihre Tatkraft oder ihre Beſonnenheit? In den Adern dieſer Jünglinge fließt kein Tropfen falſchen Blutes. Das habe ich heute Mittag geſehen. Das geht ja auch aus der Befreiung des Schurken Nauheim hervor, deren Geheimnis alſo Lisbeth richtig erraten hat.“

Laut aber ſprach er:

„Was adelig Blut iſt, bleibt adelig Blut. Haltet euch immer ſo!“

Während dieſer Erzählungen kam unmerklich die Nacht. In dunkle Schatten verſanken Forſt und Felſen.

Tauſend Sterne ſtanden am Himmel, und zwiſchen ihnen zog der Mond dahin wie ein ſilbernes Boot auf ſtillem Waſſer.

Der linde würzige Tannenduft ſtieg aus der Tiefe empor. Fledermäuſe kamen aus ihren Schlupfwinkeln und umzogen in ſchaukelndem Fluge die Feſte. Eulen ſchwebten wie große Schatten geiſterhaft auf lautloſen Fittichen um Zinnen und Turm. Und dann ſchlug eine Nachtigall. Hell und rein klang ihr Lied. Bald waren die Töne jubelnd und jauchzend, bald ſehnſüchtig und klagend, bald bittend und flehend, einer Kette ſchimmernder Perlen vergleichbar.

Das Geſpräch verſtummte. Alle horchten wortlos dem Liede des kleinen Sängers.

Endlich ſprach der Ritter:

„Wir wollen uns nach dieſem ereignisreichen Tage zur Ruhe begeben. Morgen früh kann Lisbeth ſich ausſchlafen und beginnt dann ihre Arbeit in Küche und Kammer. Ich will mit den Junkern ausreiten und mit ihnen Wichtiges beſprechen.“

Mit glückerfüllten Herzen ſuchten die Brüder ihre Lagerſtatt auf. Bevor ſie einſchliefen, dankten ſie Sankt Georg, dem Schutzpatron der Kriegsleute, daß er ſie zur Burg Schadeck geführt hatte.

Der Kupferberg

Am anderen Morgen ritt der Schadecker mit den Junkern in den Wald.

Mit vollen Zügen ſogen die Brüder die friſche Waldluft ein, die blinkenden Rüſtungen klirrten leiſe, wie Trommelwirbel klangen die Hufe der Roſſe auf den moosbewachſenen Waldwegen.

Das wunderſame Gefühl der wiedergewonnenen Freiheit durchzog die Jünglinge. Frei waren ſie, frei wie das zierliche Eichhörnchen, das da blitzſchnell am Stamme einer mächtigen Tanne hinaufjagte, frei wie der Falke, der hoch über den Wipfeln kreiſte.

Der Burgherr ritt ſchweigend voran. Bei einer Felswand, an deren Fuß ein klarer Quell zu Tage trat, zügelte er ſein Roß. Die Reiter ſprangen von den Pferden und ſetzten ſich auf die moosbewachſenen Steine, die das Wäſſerlein umſäumten.

Der Ritter ſah eine Weile nachdenkend vor ſich hin. Dann hob er entſchloſſen den Kopf und begann:

„Ich bin euch eine Aufklärung ſchuldig, und ihr ſollt ſie haben. Hört mich an und dann richtet. Ihr kommt aus den Städten, wo Handel und Wandel blühen, wo Wohlſtand und Reichtum herrſchen. Aber wie es dem kleinen Landadel ergeht, das wißt ihr nicht. Wir Edelleute haben keine anderen Einkünfte als den Zins, den uns die armen Bauern entrichten, und dieſe können kaum ſelbſt ihr Leben friſten. Der Heerbann drückt uns. Roß, Reiter und Bewaffnung koſten viel Geld, und mancher Ritter kehrt ſiech aus dem Felde zurück. Unſere Knechte taugen nicht viel. Denn die Tüchtigeren laufen uns davon in die Stadt. Dort führen ſie ein beſſeres Leben als auf den einſamen Waldburgen, die im Winter unter Eis und Schnee begraben liegen. In der Stadt hat der Tüchtige freie Bahn, und mancher Sohn eines davongelaufenen Knechtes iſt dort ein reicher Mann oder ein hoher Herr geworden! Wir dürfen unſere Armut nicht zeigen, ſonſt lachen uns die feiſten Bürger aus. Wir müſſen nach Ritterſitte leben, Fremde gaſtlich bewirten, zu Hofe und zu Turnieren reiten und überall reichlich Spenden geben.

So iſt auch vom Schadecker Beſitz ein Dorf nach dem anderen dahingegangen. Mein Ahn beſaß zwanzig Dörfer mit allen Gerechtſamen und Gefällen. Jetzt ſind nur noch Burg und Berg, dieſer Wald und zwei armſelige Dörfer im Tale mein Eigentum. Damit Lisbeth ſo erzogen wird, wie es ſich für ein Edelfräulein geziemt, habe ich bei den Braunſchweigern Geld aufgenommen, und als ich die Zinſen nicht bezahlen konnte, und die Burg meiner Ahnen verkaufen ſollte, da blieb mir nichts anderes übrig, als mit meinen Knechten auf die Landſtraße zu reiten und die Kaufleute niederzuwerfen.

Oh, ein abſcheuliches, unchriſtliches Laſter iſt der Wucher. Einem Freunde leiht auch der Edelmann, aber er nimmt ihm für dieſe Gefälligkeit keine Zinſen ab. Verzeiht mir, was ich euch angetan habe, ich konnte nicht anders.“

Der Ritter ſenkte den Kopf und ſchwieg.

Da ſprangen die Jünglinge auf und ergriffen tröſtend ſeine Rechte. Nach einer Pauſe fragte Henning:

„Wir waren doch nur zwei magere Jünglinge ohne Geleit und Diener. Wie kamt ihr dazu, grade uns zu greifen?“

„Ihr werdet ſtaunen. Kein anderer als der Doktor Nauheim, dem ihr das Leben gerettet habt, hat euch verraten. Er iſt euer Todfeind. Wie iſt dies möglich?“

„Doktor Nauheim? War er hier?“

„Ihr wißt nicht, daß die Ritter, die von der Straße leben, Späher und Zuträger haben, die ihnen die Kaufmannszüge mit wertvollen Ladungen und die Reiſenden mit Geld und Gut auskundſchaften und anzeigen. Iſt ein Zug geglückt, ſo verſchärfen dieſe Kerle – meiſt ſind es Wirte verrufener Herbergen und Juden – die Beute. Dabei verdienen ſie dann mehr als wir ſelbſt, die Leib und Ehre aufs Spiel ſetzen. Zu dieſer Schelmenzunft gehörte der Nauheim. Über ein Jahr trieb er ſich hier im Lande umher, als Arzt und Zauberkünſtler oder als Mönch verkleidet. Der Verrat an euch war ſeine letzte Tat. Denn der Boden war ihm hier unter den Füßen zu heiß geworden. Er iſt ſeitdem verſchwunden, und niemand weiß wohin.“

„Gab er an, wer wir ſind?“

„Oh, nein, er hatte in der Herberge bemerkt, daß ihr viel Gold und Silber bei euch führtet. Er ſagte mir, es kämen zwei Boten der reichen Krämerſtadt Lübeck, um den Städten am Harz Geld zum Kampfe gegen den Adel zu überbringen, es ſei leicht, eine große Beute zu machen.“

„Aber er mußte doch befürchten, daß wir ihm hier begegnen oder daß ihr unſere Herkunft erfahren werdet“, ſagte Henning.

„Wie leicht konnte Lisbeth uns hier erkennen“, ſetzte Gerd hinzu.

Der Ritter zögerte mit der Antwort. Dann ſagte er leiſe:

„Er berichtete, ihr ſeiet weithin bekannt als meineidige Schurken und als abgefeimte Spitzbuben. Da verſprach ich ihm, euch gleich totzuſchlagen. Aber als ich euch in eurer Leibesnot ſo wacker kämpfen ſah, da jammerte mich euer junges Blut, da dachte ich, daß ihr nicht viel älter ſeid als meine Lisbeth. – Bei Gott, hätte dieſer Schuft mir geſagt, daß ihr es wart, dem er Freiheit und Leben verdankt, mit den Hunden hätte ich ihn von der Burg gejagt! Er mag ſich hüten, mir noch einmal unter die Augen zu kommen.“

Der Schadecker runzelte wütend die Stirn.

„Das wollen wir nun vergeſſen“, ſagte Gerd, „es hat ſich alles zum Beſten gewendet.“

Der Burgherr atmete ſchwer.

„Von eurem Golde hab ich die Braunſchweiger bezahlt. Ich kann euch nur die Hälfte zurückgeben.“

Die Jünglinge ſaßen ſchweigend da. Von dem Standpunkte des Ritters aus hatten ſie den Kampf zwiſchen Adel und Städten früher nicht betrachtet.

Gerd ſagte endlich weich:

„Ritter, wir brauchen das Gold einſtweilen nicht. Nehmt es ohne Zinſen. Wir haben auch geſehen, wie gefährlich es iſt, mit Geld und Gut zu reiſen. Behaltet es, ſo lange ihr wollt – um Lisbeths willen.“

Henning aber ſah weiter und ſprach verſtändig:

„Gerd hat Recht, aber damit iſt euch auf die Dauer nicht geholfen. Der Adel, der Grundbeſitz, muß neue Quellen des Erwerbes ſuchen, wenn er ſich gegen den Bürgerſtand halten will.“

„Sollen wir auch Krämer werden, Geld ausleihen und Wucher treiben?“, fragte bitter der Burgherr.

„Nein“, entgegnete Henning, „zwar iſt der Handel ein ehrlicher Beruf, und wir haben Kaufleute kennen gelernt, die ſich vor Herren und Fürſten nicht bücken, doch ich meine, ihr ſollt euch rühren und nicht untätig zuſehen, wie euer Beſitz ſtückweiſe verfällt. Mit dem Schwerte haben eure Ahnen dieſes Land den Heiden abgerungen. Eine neue Zeit iſt angebrochen, in einem anderen Kampfe gilt es die Waffen zu führen. Und ihr müßt auch in dieſem Streite an der Spitze ſtehen.“

Gerd ſah gedankenvoll auf die ſteile Felswand, die vor ihnen wohl hundert Fuß faſt ſenkrecht emporragte.

„Könnt ihr nicht aus dieſem Walde, aus dieſem Berge Nutzen ziehen? Steckt darin nicht wertvolles Geſtein?“

„Der Berg iſt ein Kupferberg“, entgegnete der Schadeckter. „Schon viele haben ihr Gut darangeſetzt, das Erz zu gewinnen. Mein Ahn hat für dieſe Verſuche manches Dorf verkauft. Der Berggeiſt hütet ſeine Schätze gut. Vor dem Erze liegt eine dicke Schicht feſten Quarzes, die nicht zu durchbrechen iſt. Auch von oben kann man nicht an das Erz heran. Denn der Berg ſteckt voll Waſſer, und alle Schächte, die man abgeteuft hat, ſind erſoffen. So liegt der Reichtum beinahe greifbar und iſt doch nicht zu gewinnen. Das Mutungsrecht gehört den Schadeckern, wie gern würde ich es verkaufen.“

Henning ſprang auf:

„Gerd, hier iſt eine Aufgabe für uns. Was vor einem Menſchenalter mißlungen iſt, das iſt heute möglich. Wir haben die feſteſten Mauern bezwungen und werden auch dieſen Fels meiſtern. Sagt an, Ritter, wo liegt das Erz?“

Der Schadecker gab ihnen nähere Auskunft über die Erzgänge und riet ihnen den alten Grubenriß einzuſehen, den er auf der Burg verwahrte.

Mit Feuereifer gingen die Jünglinge ans Werk, ſie ſtudierten den Riß, der von ungeübter Hand, aber ziemlich genau angefertigt war, beſuchten die Pingen, ſprachen mit den ortskundigen Hirten, unternahmen Probeſchürfe und laſen am Abend im Bergbuche ihres alten Meiſters. Wegen der ſtarken Waſſerzuflüſſe entſchloſſen ſie ſich zum Bau eines Stollens, deſſen Anſatzpunkt ſie tief im Tale feſtlegten. Mit dem hanſiſchen Golde wurden fremde Bergleute angeworben und Gezähe und Geräte angeſchafft.

Der Vortrieb des Gutehoffnungsſtollens, wie ihn die Brüder nannten, ging raſch zu Felde, denn das anſtehende Gebirge beſtand aus mildem Sandſtein, der leicht zu durchörtern war. Nach den erſten zwölf Lachtern ließ Gerd am unteren Schrot entlang Wetterlutten legen und durch Blaſebälge und Windräder friſche Wetter vor Ort treiben.

Als der Berg zwanzig Lachter erſchloſſen war, brach das Waſſer ein. Es tropfte und rieſelte aus den Sprüngen und Klüften im Hangenden, ſprühte aus den Seitenſtößen und quoll unter dem Schlage des Gezähes aus dem Ortſtoß. Dies verzögerte die Arbeit. Denn die Bergleute waren nach kurzer Zeit vollſtändig durchnäßt.

Henning tröſtete ſie:

„Freuen wir uns darüber. Denn wo Waſſer iſt, da findet ſich auch Erz; führt doch das Waſſer die Grundſtoffe mit, aus denen die Lager und Gänge des Erzes ſich aufbauen. Dies ſchreiben die großen Philoſophen.“

Die Brüder erhöhten das Gedinge und ließen den Stollen, der ſonſt unverzimmert ſtand, an den feuchten Stellen mit Eichenholz verbauen.

Der Stollen wurde nun anſteigend aufgefahren und in der Sohle eine Röſche nachgeführt, durch die das Waſſer abfloß.

Nachdem der Stollen faſt hundert Lachter zu Felde getrieben war, wurde die berüchtigte Quarzwand angefahren.

Mit gut verſtählten und geſchärften Eiſen verſuchten die Bergleute die Quarzwand zu durchörtern. Als dieſe auch mit dem beſten Gezähe und ſteiriſchem Stahl nicht zu bezwingen war, verſuchten ſie es mit Feuerſetzen. Aber es fehlte an friſcher Luft, und das Feuer kam nicht richtig zum Brennen. Als man endlich durch den Qualm in den Vortrieb gelangte und das ungenügend erhitzte Geſtein mit Waſſer begoß, um es durch die plötzliche Abkühlung riſſig zu machen, war der Erfolg gering. Die Brüder verſuchten das Verfahren zu verbeſſern, aber trotz aller Mühen erreichten ſie wenig.

Da zogen die fremden Bergleute, in ihrer Hoffnung auf reichen Gewinn getäuſcht und an ihrer Kunſt verzweifelnd, bei Nacht und Nebel auf und davon. Als die Brüder am Morgen den Stollen befuhren, fanden ſie das Ort leer und verlaſſen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als heimzukehren und dem Ritter ihr Mißgeſchick zu melden.

Noch nie war ihnen der Aufſtieg zur Burg ſo beſchwerlich erſchienen wie heute. Gerd erſchöpfte ſich in nutzloſem Grübeln, während Henning ſeinem Zorn über die ungetreuen Bergleute freien Lauf gab, die ihn im Stich gelaſſen hatten.

Der Ritter hatte dieſen Ausgang des Unternehmens erwartet und behielt bei ihrem Berichte klaren Kopf.

„Ihr habt mir von der Pulvermine vor Falkenberg erzählt. Sprengt den Fels mit Pulver auseinander.“

„Daran haben auch wir ſchon gedacht“, entgegnete Gerd, „aber es geht nicht. Denn das Pulver muß in den Fels hineingebracht werden, damit es wirken kann. In den harten Quarz aber kann man kein Loch hauen.“

Der Burgherr ſchwieg, dann ſprach er kurz:

„Wartet eine Weile, ich will euch etwas zeigen.“

Als er zurückkam, legte er vor den Brüdern einen zugehauenen und geſchliffenen Stein auf den Tiſch.

„Seht dieſes Steinbeil aus der Hünenzeit. Die Bauern haben es vor Jahren im Acker gefunden. Der Stein iſt noch härter als Quarz, und doch haben die Hünen ein Loch hineinbohren können.“

Henning beſah den Fund von allen Seiten und reichte ihn Gerd. Dieſer meinte:

„Was die dummen Rieſen gekonnt haben, müßte auch uns gelingen. Man ſchneidet ſogar die harten Edelſteine.“

Die Brüder ſuchten in ihren Aufzeichnungen das Buch des Meiſters über die Steinſchneidekunſt auf und fanden das Kapitel, in dem das Schneiden mit Schmirgel beſchrieben wird. Sie beſchafften ſich in Braunſchweig für ſchweres Geld groben Schmirgel und begannen mit Hilfe der Knechte des Schadeckers zu bohren. Dazu diente ein mäßig langer runder Stab aus hartem Holz, der gegen die Quarzwand gepreßt und mittels der Sehne eines Fiedelbogens gedreht wurde.

Die Arbeit war mühevoll und ſchwierig. Obgleich man immer wieder friſchen Schmirgel aufgab, dauerte es mehrere Tage, ehe das Bohrloch die Tiefe von einigen Zoll erreichte. Die erſten Schüſſe blieben wirkungslos. Der Beſatz hielt nicht, und die Ladungen pfiffen aus. Erſt nach und nach lernten die Brüder ein Sprengpulver zu machen, das genügend ſchnell verbrannte.

„Büchſenpulver und Sprengpulver ſind zweierlei, das wiſſen wir nun“, ſagte Gerd, als ſie endlich vorwärts kamen.

Zwei Wochen dauerte es, bis die Knechte die Technik des Bohrens beherrſchten, weitere zwei Wochen vergingen, bis die Brüder das Anſetzen der Löcher verſtanden, ſo daß der Einbruch gelang. Nach zwei Monaten waren ein und einhalb Lachter der Quarzwand hereingewonnen. Der ungeduldige Henning wollte es mit ſchweren Schüſſen verſuchen und ließ ein Bohrloch anſetzen, das vierzig Zoll tief werden ſollte. Gerd warnte ihn:

„Du willſt wieder Hals über Kopf vorwärts und möchteſt alles auf einmal zwingen. Denke an die geplatzte Steinbüchſe und an den Riß im Drachen, damals vor der Seeburg!“

Henning gab nicht nach.

„Vorwärts will ich und vorwärts muß ich“, rief er aus und löſte Steffen, den Leibknecht des Schadeckers, beim Bohren ab, der einer der eifrigſten war, weil er zu den Kenntniſſen der Junker unbedingtes Vertrauen hatte.

Als ſie ein und einhalb Ellen tief gebohrt hatten, fuhr der Bohrer plötzlich ins Leere.

„Wir haben eine Kluft angebohrt“, rief Henning.

„Oder eine Druſe“, meinte Gerd bedächtig und prüfte die Tiefe der Höhlung mit einer biegſamen Weidenrute. Dann ſprach er:

„Nein, eine Druſe iſt es nicht.“

Der Ritter ſagte:

„Ihr dürftet eine Kluft angetroffen haben, wie man ſie häufig vor den Erzlagern findet. Der Spalt ſcheint aber nur klein zu ſein. Denn er iſt trocken.“

„Das iſt ja, wie für uns beſtellt“, rief Henning aus, „Der Berggeiſt iſt uns gewogen. Pulver her! Wir füllen den ganzen Spalt mit Pulver und legen den Erzgang auf einmal frei!“

Die Knechte rollten die Pulverfäſſer herbei, Henning beſetzte ſelbſt und führte mit dem Holzſtampfer wohl einen Zentner Pulver in den Spalt ein. Dann legte er eine aus dem Bohrloch herausragende Lunte und verdämmte ſorgfältig.

Nun wollte Henning die Lunte um ein gutes Stück verlängern, als ſich herausſtellte, daß nur noch ein Stück Lunte von knapp ein Fuß Länge vorhanden war.

Gerd ſchlug vor zu warten, bis man von der Burg einen Vorrat Lunte herbeigebracht hatte, aber Henning lehnte den Vorſchlag ab. „Das Pulver könnte feucht werden, wir haben flinke Beine und ſind aus dem Stollen, ehe das Pulver angeht. Ich bleibe hier, ihr anderen ſollt euch zum Ausgang begeben, damit ihr mich nicht beim Laufen behindert. Bedient fleißig die Windräder, damit die Schwaden raſch abziehen.“

Gerd ſchüttelte den Kopf:

„Ich verlaſſe dich nicht, wenn du in Gefahr biſt.“

Die Knechte deckten die Wand durch angelehnte Baumſtämme ab, um die Sprengſtücke abzufangen, und verließen mit dem Ritter das Ort. Die Brüder ſahen den Ausfahrenden ſchweigend nach. Die Lichter ſchwebten wie Irrwiſche auf und nieder, bis ihr Schein endlich im Stollenmundloch erloſch, das in der Ferne wie ein heller Stern ſchimmerte, Beide waren ſehr ernſt geworden und Gerd betete leiſe:

„Sankt Barbara, gib dem Bergmann Schutz,
Zu deiner Ehr, zu ſeinem Nutz.“

Dann brannten ſie die Lunte mit ſicherer Hand an ihrem Geleuchte an und liefen in langen Sätzen davon.

Währenddeſſen ſpähten die Schadecker mit angſtvoller Sorge in den Stollen. Immer näher kamen die Lichter der Brüder. Als dieſe noch etwa dreißig Schritte vom Eingang entfernt waren, erſchütterte ein furchtbarer Schlag die Grundfeſten des Berges. Die Lichter erloſchen, und vom Luftdruck getrieben taumelte Gerd halbbetäubt ins Freie.

„Mein Bruder!“, ſchrie er und ſank zu Boden.

Der Burgherr und Steffen drangen in den Stollen ein und fanden Henning durch die Rauchſchwaden betäubt auf der Sohle liegend. Mit angehaltenem Atem luden ſie den Beſinnungsloſen auf ihre Schultern und brachten ihn zu Tage.

„Sankt Barbara ſei Dank!“, ſprach der Ritter, als Henning erwachte.

Umgeben von den Burgmannen, ſaßen die Brüder müde vor dem Stollen. Endlich erhob ſich Henning, ſtraffte ſeinen Körper und ſprach:

„Wir waren Toren: hätten wir die Windräder nicht drehen laſſen, ſo hätten die Schwaden mich nicht ereilt. Jetzt aber ſind die giftigen Dämpfe abgezogen. Wir wollen einfahren und ſehen, was wir erreicht haben.“

Vorſichtig, immer wieder halt machend, gingen ſie, einer dem anderen in größerem Abſtand folgend, durch den Stollen. Steffen, der vorausging, hob, vor Ort angekommen, das Geleuchte empor und betrachtete den Stoß. Ein jubelnder Ruf hallte durch den Stollen.

„Das Erz liegt frei.“

Ein mächtiger Gang, deſſen Ausdehnung ſich einſtweilen nicht feſtſtellen ließ, war angefahren.

Nun mußte die Arbeit eine ganze Woche ruhen. Denn gewaltige Waſſermaſſen rauſchten an den Salbändern des Erzganges nieder. Alle Waſſer, die ſich in den alten Schächten angeſammelt hatten oder in den Klüften des Berges über der Stollenſohle ſtanden, floſſen ab und bildeten eine ſolche Flut, daß die Röſche überlief.

Gerd freute ſich.

„Wir haben die Waſſer gelöſt, auch die Schächte werden jetzt trocken.“

Nach dem Abfluß des Waſſers wurde ein Aufbruch gemacht und die Verbindung mit einem alten Schachte hergeſtellt. So brauchten die Wetter nicht mehr durch Blaſebälge und Windräder in den Berg getrieben zu werden.

Die Brüder beſchäftigten ſich inzwiſchen am großen Herde der Burgküche mit der Unterſuchung des Erzes.

Frau Anna ſegnete den Tag des Einzuges der beiden „Abenteurer“ nicht mehr.

Bitter beſchwerte ſie ſich beim Burgherrn über die Alchemiſten, die ihr die Speiſen verdürben, ſie drohte ſogar, die Burg zu verlaſſen. Die Brüder räumten der ſtreitbaren Frau das Feld und richteten ſich im Gemüſekeller ein.

Dort bauten ſie Schmelz- und Deſtillieröfen, ſchmolzen, kochten und probierten, wobei ſie den Raum mit Rauch und Dunſt verſtänkerten und ſchwärzten und mit Lehm und Kohlen eine fürchterliche Schmutzerei machten.

Die Möllerſche ſchimpfte, Henning und Gerd lachten.

„Jeder wirke an ſeinem Orte. Frau Anna, wollet dafür ſorgen, daß heute der Rehrücken beſſer gerät als geſtern die Wildſchweinskeule. Unſere Arbeit iſt es, die leeren Truhen des Schadeckers zu füllen, eure, für unſern leeren Magen zu ſorgen.“

Und ſie verſchwanden in ihrer Hexenküche, in die ſich die würdige Frau nicht zu begeben wagte, weil ſie in den Dünſten den Stickhuſten bekam.

Die Proben brachten ein überraſchendes Ergebnis: Das Erz enthielt Silber, und zwar etwa ein halbes Pfund auf den Zentner Kupfer.

Eine größere Probe ergab ſogar, daß in dem Silber etwas Gold vorhanden war. Lisbeth ſchaute neugierig die goldig glänzenden Flitter, die im Scheidewaſſer auf dem Boden des Glaſes lagen.

Da das Auffahren des Stollens und die Beſchaffung der notwendigen Geräte und Maſchinen den Reſt des hanſiſchen Goldes beinahe aufgezehrt hatten, konnte zuerſt nur die Kupferhütte errichtet werden. Dazu holte man kundige Hüttenleute herbei. Mit ihrer Hilfe erbauten Henning und Gerd die Kupferhütte im Tale unterhalb des Stollenmundloches.

Als der Betrieb lief und das erſte Kupfer nach Braunſchweig verkauft war, gingen die Brüder an die Ausſcheidung der Edelmetalle. Deren Gewinnung aus dem roten Kupfer war ſchwieriger. Da aber die Brüder aus dem Buche des Meiſters Hans Buſſengeter die Kapitel über das Scheiden der Metalle abgeſchrieben hatten und die Hüttenleute die Arbeit kannten, kam die Saigerhütte bald in Betrieb. Dort ſchmolz man das Kupfer in einem offenen Herde mit etwas Blei ein. Aus dem bleihaltigen Kupfer wurden Scheiben gegoſſen, die auf einem Steintiſch wie eine Reihe Teller Aufſtellung fanden. Ringsherum kamen brennende Kohlen, und das Blei floß aus, wobei es das Silber mit ſich nahm.

Dieſes ſilberhaltige Blei wurde ſodann nochmals eingeſchmolzen und endlich auf dem Treibherd abgetrieben, das heißt durch Holzfeuer und viel Wind aus ſtarken Blaſebälgen verſchlackt. Die Bleiglätte floß ab und ließ das Silber zurück.

Bald konnten die Brüder dem Schadecker den erſten Klumpen Feinſilber überbringen. Der Ritter ſah mit Staunen auf das funkelnde gleißende Edelmetall, das Gerd ihm mit den Worten darbot:

So iſt das gute Werk erprobt,
Drum ſei Sankt Barbara gelobt.
Bergherr, Glückauf!

Die Gottesſegengrube

Ein ganzes Jahr war mit angeſtrengter, aber erfolgreicher Arbeit vergangen.

Der Burgherr von Schadeck war wie umgewandelt. Vom berüchtigten Strauchritter, den man weit in der Runde als den „Landſchaden von Schadeck“ verwünſcht und verflucht hatte, war er zum reichen Berg- und Hüttenherrn, zum geachteten adligen Gewerken emporgeſtiegen.

In der Tiefe ſeines Bergwerkes klangen Schlägel und Eiſen Tag für Tag gegen die glänzende Erzwand. Wo das Geſtein zu feſt war, ſetzte man den Fiedelbogen an, und der Bohrer nagte ſich knirſchend in den Quarz ein. Dann rollte der dumpfe Hall der abgetanen Schüſſe durch die Baue, die Schwaden ſtiegen als graue Nebel aus dem Wetterſchachte, und das hereingewonnene Geſtein lag hoch aufgeſchüttet vor Ort.

Die Belegſchaft war guten Mutes. Denn das Gedinge war ausreichend. Auch ſchien der Berggeiſt der Grube gewogen zu ſein. Denn Firſte und Schrote ſtanden, und die eingebrachte Zimmerung hielt,

Hinter der Quarzwand ſcharte ſich nach einigen Lachtern ein ſchwächerer Gang mit dem Hauptgange. Der junge Steiger erklärte, daß nach bergmänniſcher Erfahrung eine zweite ſtarke Erzader vorhanden ſein müſſe. Deshalb wurde ſpitzwinkelig hinter der Quarzwand ein neuer Stollen aufgefahren, den die Bergleute Sankt-Eliſabeth-Stollen nannten. Nach zwanzig Lachtern traf der Eliſabethſtollen auf einen zweiten Erzgang von gleicher Mächtigkeit wie der zuerſt angefahrene. So war die Vermutung des Steigers beſtätigt und die Zukunft der Grube auf über hundert Jahre geſichert.

Das Bergwerk erhielt den Namen: „Gottesſegengrube“.

Aus der Gottesſegengrube rollten durch den Gutehoffnungsſtollen die erzbeladenen Hunte polternd auf den Tramwegen der Hütte zu. Vom frühen Morgen bis zum ſpäten Abend hallte das Waldtal von den Axthieben der Holzfäller und vom munteren Peitſchenknall der Fuhrleute wider. Meiler rauchten, Fluten rauſchten über die Erzwäſche und auf die Waſſerräder, Hämmer pochten, Blaſebälge fauchten, Flammen ſchlugen aus den Öfen, Erze kochten in den Gluten, Bäche geſchmolzenen Metalles floſſen leuchtend ab.

Um die Hütte erſtand eine kleine Siedlung, in deren ſchmucken Holzhäuſern die Berg- und Hüttenleute mit Weib und Kind beſcheiden, aber zufrieden hauſten. Daraus entwickelte ſich ein Städtlein, das zu Ehren der Schutzpatronin der Bergleute den Namen St Barbara erhielt.

„Freuet euch, es iſt ein Bergwerk erſtanden!“, riefen die Bergleute, wenn ſie morgens einfuhren, und wenn ſie abends den Lohn heimbrachten, die Krämer der Stadt, wenn ſie ihre Ware gegen klingende Münze verkauften, die Handwerker, wenn ſie für Grube und Hütte Aufträge erhielten, und vor allem die Bauern, die nun als Fuhrleute der Hütte ihr gutes Auskommen hatten, während ſie früher an den drei freien Tagen mühſam ihr karges Feld beſtellen mußten.

Der Bergherr ſah das Werk wachſen und gedeihen. Mit ganzer Seele wandte er ſich der neuen Arbeit zu und leitete das Unternehmen mit der Kraft und Ausdauer, die ſein kampfgeſtähltes Geſchlecht auszeichneten.

Die liſtige Klugheit, die er gezeigt hatte, als er den Warenzügen auflauerte und vor den Verfolgern ſeine Spuren verwiſchte, bewies er jetzt im Handel mit Kupfer und Silber. Aus dem Gewerken wurde der Kaufherr. Bis an die kaiſerliche Münze ſandte der Schadecker das Silber, und manches Schreiben des Kaiſers an ſeinen „Lieben und Getreuen“ lag wohlverwahrt in ſeinem Schreibpulte.

Und wie der Herr, ſo nahm auch das Geſinde ein anderes Weſen an. Die rohen Knechte wurden zu geſitteten Forſtleuten und Dienern, die in ſtattlicher Livree einherſtolzierten, und Steffen, der Leibknecht, bildete aus den zerlumpten Söhnen der Hörigen den Kern der dreißig auserleſenen Waffenknechte, die der Ritter in ſeinen Dienſten hielt, um die ſchweren Laſtzüge mit ihren wertvollen Gütern zu geleiten.

Anfangs hatte der Ritter die Abſicht gehabt, geübte Söldner anzuwerben, aber Henning hatte ihm abgeraten.

„Nehmet nach Vermögen eure eigenen Leute und gebt ihnen einen hohen Sold. Dann wird euer Eigentum geleitet, als wäret ihr ſelbſt dabei. Und das iſt von großem Nutzen für euch, wie ihr wißt.“

Der Schadecker lachte, denn er verſtand die Anſpielung auf ſein altes Gewerbe, aber er folgte dem Rate des Junkers und ſollte es nicht bereuen. Dem zweiten Warenzuge, der unter Steffens Führung nach der alten Hanſeſtadt Salzwedel ging, wo die Junker durch Gottſchalk von Soeſt Verbindungen angeknüpft hatten, lauerte in einer Schlucht eine Bande Schnapphähne auf. Aber Steffen ſtöberte ſie durch ſeine Hunde auf. Die Schadecker fielen ihnen in den Rücken und hieben auf die Überraſchten ſo kräftig ein, daß die eine Hälfte tot im Sande lag und die andere Ferſengeld gab. Dies wiederholte ſich noch einige Male, und dann wußten die Stegreiter, daß bei einem Angriff auf die Wagen der Hütte von St. Barbara nichts zu holen war außer Tod und Wunden, und die Wagenzüge, deren Bedeckung das Schadecker Wappen trug, konnten unangefochten ihres Weges ziehen.

*

Der Juli kam und damit der Namenstag des Fräuleins. Der Ritter ſetzte auf dieſen Tag das Bergfeſt an. Der Tag der Schutzpatronin Sankt Barbara fiel ja in den Dezember, und in Eis und Schnee ließ ſich nicht gut ein Feſt im Freien feiern. Auch wollte der Bergherr ſeinen Leuten nach den langen harten Arbeitswochen einen frohen Tag bereiten.

Am Vorabend kam das Fräulein aus Gandersheim herüber und wurde von allen herzlich begrüßt.

Am nächſten Morgen läutete das Schichtglöcklein nicht zur Einfahrt, ſondern zum Feſt.

Bald ſtolzierten die jungen Hauer ſchmuck und ſtattlich in den Gaſſen umher in ihren weißen Arbeitskleidern mit dem ſchwarzen Bergleder; ruhig und gemeſſen kamen die älteren aus ihren kleinen Häuſern. Als dann die Glocke vom ſchlanken Turm der zierlichen Kirche auf dem Markte zum Hochamt rief, zogen ſie ein, die Bergbarte in der Rechten, das brennende Geleucht in der Linken. Ihnen folgten die Hüttenleute im Schmucke ihrer weißen Mäntel, alle wohlgerüſtet mit der kurzen Wehr. Denn die Männer, die der grünen Fahne mit dem ſilbergeſtickten Bildnis Sankt Barbaras folgten, waren nicht leibeigen, ſondern frei, freie Bürger einer freien Bergſtadt. Da kamen die Förſter und Waldläufer, bewehrt mit dem Hirſchfänger und der Saufeder, da kamen die breitſchultrigen Holzfäller und Köhler, die Waffenknechte im blanken Harniſch und die Knechte und Mägde der Burg. Im Herrſchaftsgeſtühle unter dem geſchnitzten Wappen ſaß der Ritter mit dem Fräulein und den beiden Junkern. Nur Frau Anna fehlte. Denn ſie hatte ſchon die Frühmeſſe beſucht, weil ſie höchſtſelbſt die Zubereitung des Feſtmahls überwachte.

Nach Beendigung des Gottesdienſtes ſtellten ſich die Berg- und Hüttenleute vor der Kirche auf und warteten, bis der Bergherr mit dem Fräulein und den Junkern aus dem hohen Portale trat. Dem Schadecker ſtand die geſtickte weiße Galakleidung mit den ſchwarzen Kniekappen und dem ſchwarzen Fahrleder gut zu Geſicht. Die Barte ſeines Bergſtocks gleißte ſilbern, an ſeiner linken klirrte das breite Schwert. Neben ihm ſchritt das Fräulein, leichtfüßig wie ein Reh, ſchön wie der junge Tag; ſie trug ein Kleid aus weißer Seide, die mit grünen Tannen beſtickt war. Denn weiß und grün waren die Schadecker Farben. Ihnen zur Seite gingen Henning und Gerd, die Bergjunker, wie ſie vom Volke genannt wurden. Sie waren in den freyermuthſchen Farben gelb und blau gekleidet und trugen den leichten Bruſtharniſch, in den der ſpringende Hirſch, ihr ſtolzes Wappentier, mit Gold eingelegt war.

Da ſchwenkte der Fähnrich die Sankt-Barbara-Fahne und laute Zurufe erklangen:

„Glückauf dem Bergherrn!“

Der Schadecker erwiderte den Gruß mit gezogenem Barett.

Der Zug ordnete ſich, voran Trommler und Pfeifer, dann der Fahnenträger, hinter dieſem die Herrſchaft, darauf die Bergleute geführt von dem Steiger mit dem ſilbernen Häkchen, weiter der Hüttenmeiſter mit den Hüttenknechten und zum Schluß die Frauen und Kinder, mit bunten Tüchern feſttäglich geſchmückt. So ging der Zug zum Städtchen hinaus auf die Wieſe, die umrahmt von mächtigen Eichen im ſchattigen Grunde lag. Hier waren lange Tiſche aufgeſtellt, an denen alle Platz nahmen. Am Kopfende des mittleren Tiſches ſaß der Bergherr, an den beiden anderen hatten die Junker den Vorſitz.

Unter den Bäumen waren Kochſtellen errichtet, über deren Feuern ſchwere Eber am Spieße brieten. Frau Anna war hier in eifriger Tätigkeit, ſie lief mit hochrotem Kopfe geſchäftig hin und her und drehte ſich wie ein Kreiſel.

Die Gäſte brauchten nicht lange zu warten. Schon trugen Forſtleute die Braten auf und zerlegten ſie kunſtgerecht. Dieweil ſprach Junker Henning mit lauter Stimme den Tafelſpruch:

„Es ſteht des Berges köſtlich Gut
In Gottes und Sankt Barbaras Hut,
Es bricht der Bergleut’ ſtarke Hand
Das Erz aus ſtarrer Felſenwand,
Und was da ſchafft der Bergleut’ treuer Sinn,
Das bringt dem Bergherrn viel Gewinn.
Und auch die braven Hüttenleut’,
Die ſchmelzen, was das Bergwerk beut.
Das Kupfer rot, das Silber weiß,
Das bringt den Hüttenleuten Preis.
Drum weiß der Bergherr frei und frank
Den Berg- und Hüttenleuten Dank.
Ihr lieben Leute gut und fromm,
Daß dieſes Mahl euch wohl bekomm’.“

Nachdem man ſich mit Speis und Trank erquickt hatte, dankte ein alter Bergknappe dem Herrn in ſchlichten Worten. Junge Bergleute traten vor und legten dem Erbfräulein allerlei Seltenheiten aus des Berges Tiefe zu Füßen. Da war lichtes Rotgültigerz, ſchön kriſtalliſiertes Buntkupfererz, weißer, durchſichtiger Bergkriſtall, ſattroter Granat, meergrüner Flußſpat und köſtlicher Roſenquarz. Mit lebhafter Freude nahm Eliſabeth die blinkenden Funde entgegen.

Darauf gingen Henning und Gerd mit Eliſabeth von Tiſch zu Tiſch. Die Junker trugen eine Truhe, die mit funkelnagelneuen Silberſchillingen bis zum Rande gefüllt war, und das Fräulein händigte jedem Berg- und Hüttenmann eine Anzahl dieſer glänzenden Vögel aus.

Nun war der Jubel grenzenlos. Denn das war der Verdienſt eines ganzen Monats.

Am Nachmittag tanzten die Bergknappen auf der Feſtwieſe den Bergreigen, und dann ſchoſſen alle Männer mit der Armbruſt nach dem Vogel auf der hohen Stange. Ein zierlicher Silberbecher war der Lohn des Siegers.

Auf der Feſtwieſe entwickelte ſich ein frohes Treiben. Wahrſager, Zauberkünſtler, Degenſchlucker, Schlangenbändiger und Akrobaten hatten ſich eingefunden und unterhielten und erheiterten Jung und Alt. Auch wurden die munteren Äffchen beſtaunt und die brummenden Tanzbären furchtſam bewundert. Als die Nacht herniederſank, drehte ſich alles in frohem Tanze. Dazu leuchteten die Lampen der Bergleute.

Um Mitternacht gab der Bergherr das Zeichen zum Schluß, dem alle willig Folge leiſteten. Ungetrübt war das frohe Feſt verlaufen. Denn Bergleute hielten und halten auf Zucht und Sitte.

*

An einem der folgenden Tage ſtanden Henning und Gerd vor der Treibhütte. Sie erwarteten Beſuch. Denn ſie hatten Frau Anna auf dem Bergfeſte verſprochen, ihr den Silberblick zu zeigen, und Eliſabeth hatte zugeſagt, ſie zu begleiten. Gerd ſpähte ungeduldig nach den Gäſten aus. Henning ſah ſinnend die flimmernden Flitter des Sonnengoldes, welche die Lebenſpenderin verſchwenderiſch über die ſommerliche Erde ausſtreute. Seine Gedanken kreiſten um die Geheimniſſe der Goldmacherkunſt, die ihn hier auf der Metallhütte ſtärker denn je beſchäftigten. Er beſchloß, ſich neue Schriften über die Alchemie zu beſorgen.

Die Schaffnerin war jeder unnötigen Eile abhold. Die Brüder mußten lange warten, bis neben ihrer maſſigen Geſtalt Eliſabeths ſchlanke Erſcheinung an der Wegecke ſichtbar wurde.

„Jetzt wollen wir uns einmal eure Kochkünſte anſehen“, ſagte Frau Anna, als ſie dem Meiſter der Treibhütte die Hand reichte.

Dieſer führte die Gäſte zuerſt zu dem einen der beiden Öfen, der außer Betrieb war. Der mit breiten Eiſenſchienen und Ringen gebundene Treibhut war mit dem Drehkran abgehoben und beiſeite geſchwenkt worden. Auf dem runden Herde ſtand ein Arbeiter und ſtampſte dieſen, im Kreiſe herumgehend, mit einem Stößel feſt, ſo daß ein flacher Teller entſtand. Der Meiſter beſchrieb den Frauen mit vielen Worten, wie man den Treibherd bauen muß, und betonte, daß dazu nur gut ausgelaugte Aſche brauchbar ſei. Beſonders geeignet ſeien die Rückſtände der Waſchlauge.

„Deshalb, Schaffnerin“, ſo ſchloß er ſeine langatmige Erklärung, „ſorget dafür, daß dieſe Rückſtände für die Treibhütte aufgehoben werden.“

Das Fräulein fand im Stillen die Lehre langweilig und hatte Mühe, das Gähnen zu unterdrücken. Frau Anna dachte, daß ihr kleiner Garten auf dem Burgfelſen die Aſche noch nötiger habe als die Treibhütte. Aber als der Meiſter die Beſucher dann zu dem im Feuer befindlichen Treibofen führte, ſchwanden Langweile und Unmut.

Zwei vom Waſſerrad bewegte Bälge blieſen ſtoßweiße ihre Windſtröme in den Ofen. Vor den Düſen angebrachte laut klappernde Ventile verhinderten, daß die Bälge beim Aufwärtsgang das Feuer einſaugten. Auf Rollen waren mächtige Tannenſtämme gelagert, deren Enden in den Herd hineinragten, wo ſie kniſternd abbrannten. Ihre roten Flammen ſchlugen unter dem Treibhute hervor und ſandten einen Funkenregen in die Kaminöffnung des Daches. Die ſchwarze Bleiglätte floß durch eine ſchmale Gaſſe ab, die der Treiber in den niedrigen Rand des flachen Herdes geſchnitten hatte.

Die Frauen ſchützten ihr Geſicht durch vorgehaltene Tücher gegen die Glut und die giftigen Dämpfe und traten ängſtlich näher. Neugierig ſchauten ſie in den Ofen und beobachteten, wie die geſchmolzene Glätte vom Winde der Bälge im Herde herumgetrieben wurde und gegen den Rand brandete wie das ſturmgepeitſchte Meer.

„Wenn Nickel und Kobalt uns keine Streiche ſpielen, iſt das Silber bald gefeint“, ſagte der Meiſter.

Nach einer Weile erſchienen in der dunklen Schmelze helle, faſt weiße Flecke.

„Aufgepaßt!“, rief der Meiſter. „Jetzt erſcheint der Silberblick.“

Alle ſchauten angeſpannt in den Ofen.

Da zerriß die ſchwarze Decke, das flüſſige Silber erglänzte in wunderbarer Klarheit und ſtrahlte mit leuchtenden Farben das Bild des Ofengewölbes und der Feuerbrände wieder wie ein Zauberſpiegel.

Und wieder ſprach Eliſabeth in kindlicher Freude: „Wie groß und ſchön war das.“

Der Silberblick

Es wurde Nachmittag, ehe ſich die Frauen, von den Brüdern begleitet, auf den Heimweg begaben. Die Schaffnerin war von dem Geſchauten reſtlos begeiſtert, ſie verſprach, fleißig Aſche für den Treibherd zu liefern. Auch wollte ſie die Knochen aus dem Hundezwinger ſammeln. Denn der Probierer hatte ihr geſagt, daß die Aſche von Hundeknochen die beſten Kupellen für die Silberprobe ergab.

Lebhaft plaudernd folgte die Geſellſchaft dem Hüttenwege und bog dann in eine Schlucht ein, deren Sohle ſtetig anſtieg. In grauem Schroffen baute ſich die Wucht des Urgeſteins auf, zu ſchwindelnder Höhe ragten darüber die Tannen empor. Neben dem Pfade rauſchte ein Wildwaſſer zu Tal. Schlanke Forellen ſtanden in den Kolken, oder ſchoſſen pfeilgeſchwind mit der Flut herab.

Die Schlucht weitete ſich. Ein Wäſſerlein, das dem Wildbach zufloß, ſtäubte wohl zwanzig Klafter über die ſchartige Felswand hernieder. Ein Regenbogen glänzte über dem ſchäumenden Waſſer, das wie ein zarter heller Schleier an dem ſchrundigen Geſtein herniederrieſelte. Ein kleiner Weiher fing die Flut auf.

Alle blieben bewundernd ſtehen. Das Fräulein ſetzte ſich auf einen vom Sturm niedergebrochenen Baumſtamm.

„Wir wollen uns hier ausruhen“, beſtimmte ſie. „Ich bin müde, und meine Schläfen ſchmerzen von den Dünſten der Treibhütte.“

Die Schaffnerin ſchüttelte tadelnd den Kopf.

„Sind die Mädchen zimperlich, heutzutage. In meiner Jugend kannte man kein Kopfweh.“

„Nun“, meinte Gerd, „das iſt auch ſchon lange her, so um die Zeit, als hier noch die Rieſen hauſten.“

Frau Anna warf ihm einen ſtrafenden Blick zu.

„Und höflicher waren die Jungmänner auch zu meiner Zeit!“

Sie ſah den Schalk in Gerds Augen und lachte.

„Da hat er mich doch richtig wieder auf den Eſel gehoben.“

Sie wandte ſich an Henning.

„Ich muß zur Burg und das Abendeſſen rüſten. Komm! Du wirſt eine ſchwache Frau nicht allein durch den Wald wandeln laſſen.“

Henning lachte:

„Ich beſchütze euch gegen jeden Feind, ſchöne Frau.“

Das ungleiche Paar ſtieg einträchtig nebeneinander bergan.

Das Mädchen ſtand auf, ſchlüpfte zwiſchen den mit Brombeeren überwucherten Felstrümmern durch, die neben dem Weiher unter der Felswand lagen, und trat zu einer Wildroſenhecke, deren halbgeöffnete weiße und hellrote Knoſpen ſie zu einem Strauß ſammelte.

Gerd beobachtete ſie aufmerkſam. Er zog Papier und Feder hervor und begann zu zeichnen.

In der Ferne lachte ein Schwarzſpecht, bisweilen ächzte der Wipfel einer der hohen Tannen über der Schlucht, ſonſt war ringsum Stille.

Eliſabeth ſah das Blatt in Gerds Hand.

„Du haſt gezeichnet? Laß ſehen!“

Er zeigte es ihr.

„Du haſt mich gut getroffen. Willſt du mir das Bild ſchenken?“

„Nein, Eliſabeth, das Bild bleibt bei mir. Es ſoll mich ſtets an dieſen Tag erinnern, wenn ich im nächſten Sommer mit Henning irgendwo in der weiten Welt bin.“

„Du willſt mich – ich meine, du willſt Schadeck verlaſſen?“

Er zog das Mädchen an ſeine Seite.

„Ja, Eliſabeth. Höre mich ruhig an. Wir müſſen fort. Bergwerk und Hütte brauchen uns nicht. Denn dort ſind erfahrene Steiger und Meiſter, die das Handwerk beſſer verſtehen als wir. Nur zur Gründung des Werkes waren wir nötig. Wir müſſen weitere Künſte erlernen. Auch hat unſer alter Meiſter uns eine große Aufgabe hinterlaſſen, die wir löſen müſſen. Denn unſer Glück hängt davon ab.

Du haſt heute geſehen, wie das edle Silber geläutert wird. Man treibt es durch viele Feuer, mengt es unter das häßliche Blei, wirbelt es mit dem Winde durcheinander, und dann erſt zeigt es ſeine Reinheit. So müſſen auch wir durch viele Feuer und Prüfungen hindurchgehen, ehe wir alle Schlacken und alle Erdigkeit verlieren und die Feuerprobe beſtehen.“

Eliſabeth hörte ihn ſchweigend an. Ihre Hand zuckte in ſeiner Rechten. Aus ihren Augen rollten zwei Tränen. Dann ſang ſie leiſe, und ihre Stimme klang wie die eines trauernden Vogels:

„Es ſtehen im Blütenkleide
Die Räume nah und fern,
Wie köſtliches Geſchmeide
Erglänzt manch’ Blumenſtern.

So ſind in Sommertagen
Viel Luſt und Freud’ vereint.
Und dennoch muß ich klagen,
Mein Herz in Liebe weint.

Noch gehſt du mir zur Seite,
Du Trautgeſelle mein,
Bald ziehſt du in die Weite,
Und ich bin ganz allein.“

Das Lied verklang in verhaltenem Schluchzen. Da ſprang Gerd auf. Aus voller Bruſt ſchmetterte er das Bekenntnis ſeiner Liebe in den grünen Wald:

„Es prangt in jedem Jahre
Der Blumen Pracht auf’s Neu,
Mein Herz ich dir bewahre,
Feinslieb, ich bleib’ dir treu!“

Das Mädchen flog mit einem unterdrückten Jubelruf in ſeine Arme. –

Am nächſten Tage kehrte Eliſabeth, nun Gerds erklärte Braut, nach Gandersheim zurück, und in Burg und Hütte trat die Arbeit wieder in ihre Rechte ein.

Der Beſitz des Bergherrn mehrte ſich zuſehends. Das Eigentum der Brüder ruhte längſt bei guten Goslarer und Braunſchweiger Handelshäuſern, vermehrt um ein Neuntel der Ausbeute der Gottesſegengrube, das der Ritter den Brüdern durch Schenkung von Kuxen als Belohnung zugeſtanden hatte.

Der Schadecker kaufte nach und nach alle verlorenen Beſitzungen ſeiner Ahnen zurück und erwarb dazu große Wälder, Dörfer und Weiler, die benachbarte Adlige verpfändet hatten.

In Braunſchweig, wohin ihn öfters die Verhandlungen mit den Kaufhäuſern führten, richtete er ſich einen eigenen Hof ein, den „Schadecker Hof“. Nun konnte der reiche Bergherr in der Handelsſtadt im eigenen Hauſe abſteigen.

Die Burg wurde unter Hennings Aufſicht ſtärker befeſtigt. Denn der Reichtum des Schadeckers konnte die Nachbarn wohl zu Angriffen locken. Zuerſt wurden die Wehrgänge, Mauern und Türme verſtärkt. Dann erbaute Henning auf dem Felſen, der die Burg überragte und ihr vorgelagert war, einen gewaltigen runden Batterieturm, der die Angriffsſeite deckte.

Der Herr von Schadeck, deſſen Grundbeſitz den mancher Grafſchaft weit übertraf, und der reicher war als mancher deutſche Fürſt, richtete nun an den Kaiſer die demütige Bitte, ſeinen Beſitz zu einer Reichsherrſchaft zu erheben.

Seine kaiſerliche Majeſtät vernahm huldvoll dieſes Geſuch des edlen und ehrenfeſten Ritters.

Aber der reiche Schadecker hatte Neider und Feinde. Da dieſe nicht offen vorgehen konnten, verſuchten ſie es mit dem Minenkrieg, wie einſt der Pfalzgraf bei der Belagerung Falkenbergs. Der Angriff richtete ſich gegen Eliſabeth, für die der Ritter gleichzeitig die Standeserhebung beantragt hatte.

Eliſabeths Mutter war die Tochter eines Apothekers der Reichsſtadt Goslar geweſen, und der kaiſerliche Wappenherold wollte die Ritterbürtigkeit des Fräuleins nicht anerkennen.

Vergebens beſcheinigten der Rat und die Junkerkompanie von Goslar die Ratsfähigkeit der Familie, vergebens wurde der Wappenbrief des reichen Patriziers an den Hof geſchickt.

Erſt als der Schadecker recht tief in die Geldtruhe griff, ſah die kaiſerliche Kanzlei die Lehnsfähigkeit des Fräuleins ein. In das Wappen der Reichsfreiin von Schadeck kamen auf dieſe Weiſe über die Schadecker Tanne die ſo kriegeriſch ausſehenden fünf Kugeln, die in Wirklichkeit nichts anderes ſind als die Pillen des urgroßväterlichen Apothekerwappens.

Für Henning war Eliſabeths „gebeſſertes“ Wappen eine Quelle luſtiger Scherze, bei denen ſich Frau Anna vor Lachen den Leib hielt. Beide wußten nicht, daß auch das Stadtgeſchlecht, das am höchſten geſtiegen iſt, die Pillen im Wappen führt. Das Zeichen, das die Medici in Marmor gehauen über den Torbogen ihrer ſtolzen Paläſte und bald an einer der heiligſten Stätten der Chriſtenheit anbringen ließen, konnte wohl auch das Wappen eines ſchlichten Edelfräulein auf einer ſtillen deutſchen Waldburg zieren.

Die Glasmacher im Böhmerwald

Der Sommer welkte dahin, der Herbſt verwehte und der Winter trat ſeine Herrſchaft an. Auf der einſamen Höhe des Blocksberges ſtand ſeine graue Wolkenburg. Aus ihren Toren ritten allnächtlich eisgepanzerte Rieſen zu Tal, zwangen die munteren Bäche und Waſſerräder in harte Feſſeln und blieſen die Feuer der Schmelzöfen aus. Durch die Gründe und über die Hänge trabte der weiße Schneewolf und verſchlang alles, was auf Erden wuchs und wandelte. Da mußte auch die Gottesſegengrube feiern. Die grimme Kälte des ſcharfen Nordwindes drang ſelbſt durch die dicken Fenſterläden und Mauern der Burg Schadeck. Das Geſinde hielt ſich bei Tage in den warmen Ställen auf und drängte ſich abends um das Feuer auf dem Küchenherd, während der Burgherr mit den Brüdern um den großen Kamin in der Winterſtube ſaß, auf deſſen kunſtvoll geſchmiedeten Feuerböcken mächtige Tannenſcheite praſſelten.

Henning wandte ſich in dieſen Tagen unfreiwilliger Muße ganz der Goldmacherkunſt zu. Die Kaufmannszüge hatten ihm dickleibige Folianten mitgebracht, deren Schnörkelſchrift er beim flackernden Kaminfeuer mit Eifer entzifferte. Denn die Transmutationslehre hatte ihn wie ſo manchen anderen klugen Mann ſeiner Zeit völlig in ihren Bann gezogen.

Selbſt am Weihnachtstage, da blanker Rauhreif die Wälder und Höhen verſilbert hatte, kamen ihm bei der Chriſtmette in der Kirche der Bergſtadt die unheiligen Gedanken an die Goldmacherkunſt. Und als das Glöcklein leiſe mit ſilberhellem Ton zur Wandlung klang, als der Prieſter, die heiligen Worte ſprechend, Brot und Wein hoch emporhob, grübelte er darüber nach, ob nicht durch die Gnade Gottes auch die Wandlung der gemeinen Stoffe in reines Gold möglich ſei. Stand doch in einem ſeiner Bücher geſchrieben, daß der heilige Johannes, von Gott begnadet, Gold gemacht habe, und der Vers eines uralten Hymnus zu Ehren des Apoſtels kam ihm in den Sinn:

Sankt Johannes ſei uns hold,
Der aus Zweigen machte Gold,
Der die Kieſel, die gemeinen,
Wandelte zu Edelſteinen.

Auf dem Heimwege trug er Gerd ſeine Gedanken vor. Dieſer meinte: „Es iſt den großen Alchemiſten der Heidenzeit gelungen, das rote Kupfer mit Ofenbruch golden zu färben. Das gefärbte Kupfer, das Meſſing, iſt zwar kein gutes Gold, aber es iſt viel heller, edler und feſter als das gewöhnliche Kupfer. Gibt es einen beſſeren Beweis für die Transmutation als dieſen? Im Bistum Lüttich und bei der großen Stadt Nürnberg wird viel Meſſing hergeſtellt, und die Kunſt ernährt zahlloſe Menſchen.“

Aber wie das Verfahren im Einzelnen ausgeführt wird, wußten die Brüder nicht. Aus dem Buche ihres Meiſters hätten ſie dieſe und viele andere Künſte lernen können. Sie mußten das Buch haben, und koſtete es auch ihr Leben!

Zwei lange Jahre hatten ſie bereits auf Schadeck verloren. Sollte nicht inzwiſchen der ſchurkiſche Nauheim das Geheimnis der Goldmacherei entdeckt haben?

Sie konnten nicht länger warten.

Als die Oſterzeit herannahte, teilten die Brüder dem Freiherrn mit, daß ſie nach dem Feſte von dannen ziehen wollten, um neue Künſte zu erlernen, um fremde Länder zu ſehen, und baten um gnädigen Urlaub.

Ernſt ſprach der Ritter:

„Meiner Erlaubnis zu reiſen bedürft ihr nicht. Denn ihr ſeid frei. Aber mich habt ihr mit Feſſeln gebunden, die ſtärker ſind als die ſchwerſten Eiſenketten. Ihr müßt wiederkommen. Denn wer ſoll nach meinem Tode die Burg meiner Ahnen bewohnen und ſchützen, wer ſoll die Gottesſegengrube und die Hütte von St. Barbara leiten? – Ach, ich wage es nicht, Eliſabeth dieſe Nachricht zu bringen.“

Gerd ſah den Ritter an:

„Eliſabeth iſt meine Braut, ich habe ihr verſprochen, daß wir nach drei Jahren zurückkehren werden.“

Der Ritter nickte: „Ich weiß, daß du ihr die Treue halten wirſt. Mögt ihr geſund heimkehren!“

Die Abſchiedsſtunde kam. Über Frau Annas wohlgepolſterte Wangen rollten die dicken Tränen unaufhaltſam wie Bächlein. Eliſabeth verſuchte vergeblich ſich tapfer zu halten, um den Brüdern den Abſchied zu erleichtern.

„Drei Jahre“, flüſterte ſie Gerd mit erſtickter Stimme zu. „Drei Jahre! Vergiß es nicht!“

Der kleine Zug ritt langſam den Burgberg hinab und gewann die Kaufmannsſtraße. Vom Bergfried wehten zwei Tücher letzte Grüße, bis der dunkle Tannenforſt die Reiter aufnahm.

Der Schadecker gab den Brüdern bis an die Grenze ſeines Beſitzes das Geleite. Beim Scheiden ſprach er:

„Seid verſichert, daß der Reichsfreiherr von Schadeck nimmer vergeſſen wird, was ihr für ihn getan habt.“

Und zu Gerd gewandt, ſetzte er hinzu:

„Denket daran, Junker Gerd! In drei Jahren.“

Eliſabeth kniete derweilen in der Kapelle vor Gerds Marienbild.

„Schütze die Brüder, ſchütze meinen Gerd“, betete ſie.

*

Die Brüder hatten beſchloſſen, nach Nürnberg zu reiten, um ſich dort das Färben des Kupfers anzuſehen. Durch Vermittlung eines Nürnberger Verlegers des Freiherrn erhielten ſie Zutritt zu einem Meſſinghammer, der an der Pegnitz in einem lieblichen Wieſentale lag.

In einem Ofen, der mit Holz gefeuert wurde, ſtand eine Reihe von Tiegeln, die mit Kupfer und Ofenbruch beſchickt waren. Die Meſſinggießer vergoſſen das geſchmolzene Metall in Formen von Lehm und Sand zu Gegenſtänden der verſchiedenſten Art. Auch goſſen ſie es auf Eiſentiſchen zu Platten aus, die unter dem leichten Schwanzhammer dünn ausgeſchlagen wurden. Wenn die Bleche dann geſcheuert und poliert waren, glichen ſie lauterem Golde. Es war eine Freude, den geſchickten Arbeitern in der lärmenden Werkſtatt zuzuſehen, und die glänzenden Leuchter, Schnallen, Mörſer, Becken, Beſchläge und Nägel zu bewundern, die fertig im Vorratsraume lagen.

Der Meiſter machte die Brüder auf ein Geheimnis bei der Meſſingfabrikation aufmerkſam, deren Weſen damals noch völlig unaufgeklärt war, weil man das metalliſche Zink noch nicht kannte.

„Die ſchöne Goldfarbe“, ſprach er, „bildet ſich nur, wenn man mit dem Ofenbruch Glas in den Tiegel einſetzt; ſonſt verraucht die Farbe und gibt einen giftigen Dampf.“

Lange dachten die Brüder über dieſe wunderbare Wirkung des Glaſes nach und wurden ſo auf die Glasmacherkunſt aufmerkſam. Als ſie bald darauf in der Herberge Händler trafen, die Glaswaren aus den böhmiſchen Wäldern holen wollten, boten ſie dieſen ihre Begleitung an. Gern willigten die Kaufleute ein. Denn die Jünglinge waren gut bewaffnet, und die Reiſe führte durch einſame und verrufene Gegenden.

Urwald, unberührter, jungfräulicher Forſt, aus Buchen, Eichen und Fichten gemiſcht, bedeckte ſchier endlos die runden Kuppen des böhmiſchen Gebirges.

Meilenweit waren weder Haus noch Weiler, weder Menſch noch Vieh zu ſehen. Bär, Luchs und Wildkatze waren die einzigen Bewohner der dichten Wälder. Nachts klang das Geheul der Wölfe um das Lager der Reiſenden, das mit einem dichten Wall aus Geſtrüpp umgeben werden mußte, um den Tieren der Wildnis den Zutritt zu verwehren. Glühende Augen leuchteten aus dem Geäſt der Bäume, und lautlos flog der Uhu durch die Kronen.

Wie gewaltige Mauern ſtanden die Felſen zu beiden Seiten der Straße, die oftmals nur durch Wagenſpuren angedeutet war. Bisweilen mußten große Moore mit trügeriſcher Pflanzendecke auf langen Umwegen umgangen werden. Dann wieder kamen ſie an reißende Bäche, die ſie durchreiten mußten, wenn der morſchen Brücke nicht zu trauen war. Nur ſelten boten arme Dörfer und kleine Städte eine beſcheidene Unterkunft.

Endlich waren ſie am Ziel.

Die Glashütte lag mit den wenigen dazu gehörenden Blockhäuſern, von einem ſtarken Plankenzaun umgeben, in einem Tale, aus deſſen Grund man den Wald mühſam vertrieben hatte. Unfern plätſcherte ein kühler Bach, in dem ſich die Forellen tummelten.

Der Hüttenmeiſter und ſeine Familie nahmen die Brüder freundlich auf. Denn in dieſer Einſamkeit, in die ſich ein Fremder nur ſelten verirrte, wurde die Gaſtfreundſchaft noch hoch geachtet.

Der Meiſter zeigte den Brüdern die Glashütte.

Das Gebäude wurde faſt ganz von dem gewölbten Ofen eingenommen, der ſich in der Mitte der Hütte erhob.

Im Feuerraum unter dem Ofen praſſelte eine lodernde Flamme, die ununterbrochen mit Holzſcheiten genährt wurde. In Flurhöhe ſtanden rings im Ofen die Häfen mit dem geſchmolzenen Glaſe. Bei jedem dieſer Gefäße war ein Loch in der Ofenwand, an dem ein Glasbläſer mit ſeiner Pfeife arbeitete. Der Ofen war überwölbt; durch eine Öffnung des Gewölbes ſchlug die Flamme in einen oberen Raum, der die Kuppel des Ofens einnahm und die Kühlkammer zum Abkühlen der Glasgefäße bildete.

Ein einfach gebauter Flammofen diente zum Vorſchmelzen der Glasmaſſe, zum „Fritten“, wie der Meiſter es nannte.

Die Glasbläser

Die Glasmacher erkannten bald, daß die Brüder vielſeitige techniſche Kenntniſſe beſaßen, und zeigten ihnen bereitwillig alle Einzelheiten des Betriebes.

Es kam den beiden Jünglingen, die in den letzten Jahren nur mehr in leitenden Stellungen tätig geweſen waren, zuerſt nicht leicht an, nun wieder den Lehrling zu ſpielen, aber ſie fügten ſich in das Unvermeidliche.

Sie verfolgten den Werdegang des Glaſes vom Brennen der Holzaſche und dem Waſchen des Quarzſandes an bis zur Vollendung der Becher, Flaſchen und Schalen, ſie ſtudierten die Miſchung des Glasſatzes, das Schmelzen der Fritte und die Herſtellung der Häfen, ſie beobachteten ſtundenlang die Glasbläſer bei ihrer Tätigkeit und begannen dann ſelbſt alle Arbeiten nachzumachen.

Nichts war ihnen zu gering, nichts zu unbedeutend, wußten ſie doch, daß alle Erfolge nur auf der Beobachtung von Kleinigkeiten beruhen.

Die größte Schwierigkeit bereitete ihnen die Kunſt des Glasblaſens. Wochen vergingen, ehe es ihnen gelang, ein einfaches Glasgefäß herzuſtellen.

Dem Hüttenmeiſter gefiel der Eifer, mit dem die Junker die mühevollſten Arbeiten anfaßten, und er gab ihnen wichtige Fingerzeige. Beſonders Gerd war beſtrebt, durch Ausdauer und Fleiß beim Glasblaſen ſeinen Dank zu zeigen. Endlich gelang es ſeinen geſchickten Händen ſogar, die erfahrenen Glasbläſer zu übertreffen. Der Meiſter lobte den Pokal, den ihm Gerd voll Stolz zeigte, mit ehrlicher Freude.

„Ihr ſeid fleißig und geſchickt, Junker, und habt ein Geſellenſtück gemacht, wie es wohl in Böhmens Wäldern noch keinem gelungen iſt. Aber wir dürfen auf unſere Kunſt, die Kunſt der deutſchen Glasmacher, nicht pochen und nicht allzu ſtolz ſein. Unſer Glas iſt doch nur Waldglas und wird von jeder anderen Glashütte in gleicher Güte hergeſtellt. Jetzt will ich euch zeigen, welche Gläſer die Venezianer auf der Inſel Murano anfertigen.“

Er trat zu einem wuchtigen Schranke, der auf der Diele des beſcheidenen Herrenhauſes ſtand, öffnete mit einem großen Schlüſſel umſtändlich die ſchwere Eichentür und holte behutſam einen Glaskelch von außerordentlicher Zierlichkeit und edelſter Geſtaltung hervor.

Sorgſam putzte er das kunſtreiche Gebilde mit einem Seidentuche und hielt es in die Sonne.

Da ſprühte helles Licht aus dem edlen Glaſe wie aus einem geſchliffenen Edelſteine. Hundertfach glühte und glitzerte der Kelch, wie ein Tautropfen im Sonnenſchein.

Der Blick des Meiſters glitt liebkoſend über das Glas.

„Das iſt mein koſtbarſter Beſitz“, ſprach er. „Ach, wenn uns ein ſolches Werk gelänge!“

Die Brüder ſtanden in wortloſes Staunen verſunken. Ihre Blicke wurden wie mit magiſcher Gewalt von den Strahlen angezogen, die das Kunſtwerk ausſendete.

Endlich ſtieß Henning hervor:

„Das muß uns doch auch gelingen.“

„Es iſt ſchwierig, wenn nicht unmöglich“, meinte der Hüttenmeiſter bedächtig. „Niemand weiß, wodurch es den Venedigern gelingt, ſolche koſtbare Gläſer zu erſchmelzen. Vor einiger Zeit habe ich einen alten Traktat über die Glaskunſt erſtanden. Darin ſteht geſchrieben, daß die Glasmacher auf Murano nicht Holzaſche, ſondern Aſche von Strandpflanzen verwenden. Ich nehme an, daß ſie auch noch einen beſonderen Zuſatz machen. Das venezianiſche Glas iſt leichter ſchmelzbar als unſeres, gleichmäßiger im Stoff und reiner und klarer in der Farbe.“

Die Brüder horchten auf.

„Wer gab euch den Traktat?“

„Das iſt eine ſeltſame Geſchichte“, erzählte der Hüttenmeiſter. „Ich war im Walde bei den Holzfällern geweſen. Auf dem Heimwege wollte ich ein Stück des Weges abſchneiden. Dabei geriet ich in ein Gewirr von Felſen und dichtem Unterholz. Plötzlich vernahm ich das Jammern eines Menſchen. Ich ging der Stimme nach und fand in einer Höhlung einen kranken, hilfloſen Mann. Ich labte ihn und ließ ihn in unſer Haus bringen. Da hat ſich dann meine Frau ſeiner angenommen und hat ihn gepflegt. Ich weiß nicht, ob ſie hiermit ein gutes Werk getan hat. Aus den wirren Reden, die der Mann im Fieber hielt, entnahm ich, daß die Nürnberger ihn ſuchten. Denn er hatte Geld gefälſcht. Trotzdem hatte ich Mitleid mit ihm. Er ſchien aus gutem Hauſe zu ſein und beſaß viele Kenntniſſe.

Dieſer Mann verkaufte mir den Traktat. Ich weiß nicht, ob er ihn ehrlich erworben hat. Er wollte nach Italien reiſen, weil es ihm, wie er ſagte, in Deutſchland nicht mehr gefiel. Und dies iſt kein Wunder!

Der Mann bot mir an, in Venedig noch mehr über die Glashütten auszukundſchaften, als der Traktat enthält. Ich warnte ihn vor dem gefährlichen Unternehmen. Denn Venedig beſtraft die Auskundſchaftung der Geheimniſſe Muranos mit dem Tode, aber der Mann ſchlug meine Warnung in den Wind. Als er wieder bei Kräften war, ſchien er von ungewöhnlichem Unternehmungsmute beſeelt zu ſein.“

Die Jünglinge dachten an das Buch ihres alten Meiſters und verbargen kaum ihre Erregung. Sie baten den Traktat ſehen zu dürfen.

Der Meiſter brachte die Schrift. Die Brüder ſahen, daß die Blätter aus einem größeren Buche herausgelöſt waren. Denn ihre Zählung begann mit einer höheren Nummer.

Ein Blick genügte den Brüdern, um die Schrift wiederzuerkennen.

Sie hielten Aufzeichnungen Hans Buſſengeters in ihren bebenden Händen!

Ein Teil des Buches war gefunden!

Henning ſtieß haſtig hervor:

„Dieſe Blätter ſtammen aus einem Buche, das uns gehört. Es iſt uns entwendet worden. Wir wollen euch den Traktat abkaufen.“

Die Brüder erzählten dem erſtaunten Meiſter kurz von ihrem alten Freunde, berichteten, daß dieſer ihnen das Buch hinterlaſſen habe, und wie ihnen das koſtbare Erbe verloren gegangen war. Gerd beſchrieb dann anſchaulich die Geſtalt ihres Feindes, und der Hüttenmeiſter zweifelte nicht, daß dieſer es geweſen war, dem er Schutz und Hilfe gewährt hatte.

Der Meiſter wollte ihnen den Traktat ſchenken, aber die Brüder zahlten ihm den Betrag, den er ſelbſt dem Fremden dafür gezahlt hatte.

Die Erinnerung an das Buch rüttelte in Henning wieder alles wach, was in ſeiner Seele an kühnen Plänen geſchlummert hatte. Er dachte wieder an alle Schriften und Aufzeichnungen über die Alchemie, die er auf Schadeck geleſen hatte, er berauſchte ſich förmlich durch die Erinnerung an die, ſeiner Meinung nach, halbgeglückten Verſuche zur Erzeugung künſtlichen Goldes.

Und wenn er hier das Werden des Glaſes verfolgte und beobachtete, wie ſich deſſen Grundſtoffe im Feuer des Ofens allmählich wandelten und läuterten, wenn er an das edle venezianiſche Kelchglas dachte und ſich ſagte, daß dieſes gleißende demantenklare Kunſtwerk aus unſcheinbarem Sande und grauer Aſche gebildet war, dann hätte er bei ſeinem Leben beſchwören mögen, daß auch das gelbe Gold aus geringerem Stoff gewandelt werden könne.

Auch Gerd war der Anſicht, daß dies gelingen müſſe.

Die tieferen Geheimniſſe der Glasmacherkunſt, die nur auf Murano zu ergründen waren, würden ſie dem Ziele näher bringen.

Und das Buch des Meiſters mußten ſie haben, das war ihr Gedanke vom Morgen bis zum Abend!

Nach einigen Tagen brachen ſie auf.

Gen Welſchland ging die Reiſe. Ein altes Buch mit unverſtändlichen Rezepten lockte ſie über die ſchneebedeckten Alpen. Ein zerbrechliches Glas leuchtete ihnen voran wie ein heller Stern dem Schiffer in dunkler Nacht.

Aber war es wirklich ein wegweiſender Stern? War es nicht eher ein flackerndes Irrlicht, das den, der ihm folgte, in Nebel und Bruch lockte?

„Glück und Glas, wie bald bricht das“, ſagt das Sprichwort.

Galeerenkämpfe

Der Weg über die gletſchergepanzerte Alpenmauer, die gleich einem ungeheuren Wall Deutſchland von dem ſonnigen Italien, dem Sehnſuchtstraum aller Nordländer, ſcheidet, war mühſam und beſchwerlich.

Henning und Gerd folgten der alten Handels- und Kriegsſtraße, die über den Brenner führt. Auf dieſem Wege war ſchon mancher ihrer Ahnen als tapferer Kriegsmann mit den Staufenkaiſern gen Welſchland gezogen.

Muranos Geheimniſſe lockten.

Aber die Brüder wußten, daß die Republik Venedig mit ängſtlicher Sorge über die Geheimhaltung der Rezepte zur Herſtellung ihres köſtlichen Glaſes wachte, und daß Todesſtrafe dem Verwegenen drohte, den es gelüſtete, die Geheimniſſe ihrer Glashütten zu erkunden.

Die Brüder gingen mit aller Vorſicht zu Werke. Sie wollten erſt die italieniſche Sprache erlernen und ſich mit den Landesſitten vertraut machen, ehe ſie die Ausführung ihres abenteuerlichen Vorhabens wagten.

Sie zogen nach dem ſchönen Florenz, deſſen Kunſtwerke und Marmorpaläſte gewaltigen Eindruck auf ſie machten, und wanderten dann nach Rom. Da aber in der heiligen Stadt Peſt und Bürgerkrieg wüteten, zogen ſie weiter ſüdwärts nach Neapel. Vor ihnen breitete ſich das Meer aus, blau und klar, darüber ſpannte ſich der Himmel im hellſten Azur.

Und dort wuchs der berühmte Feuerberg, der mons Vesuvius, empor. An ſeinem Fuße breiteten ſich heitere Dörfer aus, ſeine grünen Hänge waren mit üppigen Öl- und Weinpflanzungen bedeckt, aber über dem kahlen Gipfel des Titanen ſchwebte eine ſchwarze Rauchwolke und verkündete, daß unter den ſonnigen Gefilden unheimliche Gewalten ſchlummerten, die jeden Augenblick erwachen und alles vernichten konnten, was Natur und Menſchen hier an Schönem geſchaffen hatten.

Jenſeits des Horizontes lag, dem Auge unerreichbar, aber der Phantaſie lockend nahe, die Wunderwelt Afrikas und des Orients.

Eine genueſiſche Galeere glitt über die leicht plätſchernden Wogen des Golfes.

Mit Entzücken ſahen die ſeekundigen Nordländer das ungewohnte Bild.

An langen, ſchrägen Rahen hingen die beiden dreieckigen Segel. Leicht gebauſcht vom Südwind, ſchwanenweiß und faltenlos, glichen ſie jagenden Wolken.

In gleichmäßigem Takte zogen wohl ſechzig Ruder durch das Waſſer. Der meſſerſcharfe, weit ausladende Bug der Galeere durchſchnitt die Wellen lautlos, ohne Giſcht und Schaum zu bilden. Golden glänzten die Mündungen der drohend nach vorn gerichteten Hauptgeſchütze.

Auf dem Vorderkaſtell ſtanden Männer in roten Seidenmänteln und leuchtenden Rüſtungen.

Vornehme Herren und Damen ſaßen auf dem hohen Achterdeck unter einem breiten Baldachin.

Von den Maſtſpitzen und Rahnocken flatterten lange Wimpel mit dem Genueſerkreuz.

Die Brüder dachten zurück an die hochbordigen breiten Hanſekoggen, die ihnen bei dieſem Anblick wie plumpe Kröten erſchienen.

Ein ſchmetternder Trompetenſtoß erklang, die Steuerbordruderer arbeiten vorwärts, die Back ruderte rückwärts, die Braſſen wurden eingeholt, und das ſchlanke Schiff drehte ſich wie ein Teller.

Wenige Minuten ſpäter lag es am Geſtade.

Henning und Gerd hatten raſch ihren Plan gefaßt. Sie begaben ſich an Bord und boten ihre Dienſte als Kriegsleute an. Der Kapitän muſterte die kräftigen Männer ſofort an und gab ihnen Handgeld.

Am nächſten Tage ſtach die Galeere mit ſüdlichem Kurs wieder in See.

So schön wie Henning und Gerd es ſich vorgeſtellt hatten, war das Leben auf dem Genueſer Schiffe nicht.

An Bord befanden ſich faſt dreihundert Ruderer, zum größten Teile Sträflinge und Sklaven, der Reſt war ſchmutziges Geſindel. Dazu kamen zweihundert Söldner, Seeleute, Zimmerleute, Büchſenſchützen, Bäcker, Köche und höhere Offiziere.

Infolge der Hitze und der vielen Menſchen, die auf dem engen Raume zuſammengedrängt lebten, ſtieg ein übler Geſtank aus dem Innern der Galeere auf, und in den unteren Räumen wimmelte es von Ratten.

Henning und Gerd waren zur Genüge durch die harte Schule des Lebens gegangen und ertrugen gelaſſen dieſe Unannehmlichkeiten. Mit der Gründlichkeit, die ihnen zur Gewohnheit geworden war, drangen ſie in alle Einzelheiten des Galeerendienſtes ein und ſahen viel Neues, das ſie feſſelte. Nur die Roheit, ja Grauſamkeit, mit der die Ruderſklaven, beſonders die Türken, behandelt wurden, widerte ſie an. Sie ſahen als Deutſche in jedem Menſchen ein Geſchöpf des Ewigen, das gleich ihnen nach Freude und Liebe dürſtete. Dieſe an die Bänke angeketteten Ruderer wurden ſchlechter behandelt als in ihrer Heimat das Vieh und bei jeder Gelegenheit mit der Peitſche angetrieben. Die Brüder bemühten ſich, die Lage der Unglücklichen durch kleine Handreichungen zu verbeſſern. Sie gaben den dürſtenden Sklaven Waſſer, ſie behandelten und verbanden deren Wunden.

Die Brüder erlernten ſo durch den Umgang mit den Moslems manche türkiſchen Worte.

Bald kam ein Erlebnis, das ihnen den Dienſt auf der Galeere gründlich verleidete.

Als das Schiff die Meerenge von Sizilien anſteuerte, ſchoſſen plötzlich hinter den Felſen zwei türkiſche Galeeren hervor.

Der genueſiſche Kapitän wagte den Kampf nicht. Er ließ ſein Schiff wenden und ergriff mit aller Segel- und Ruderkraft die Flucht.

Schweigend und in verbiſſener Wut ſtanden Henning und Gerd an der Reeling. Wie konnte ein gut ausgerüſtetes, wohlbewaffnetes Kriegsſchiff kampflos einem Gegner weichen!

Wenn Merten Voß wüßte, daß ſie feige vor den Sarazenen flohen! Die Brüder glaubten den Schiffer leibhaftig vor ſich zu ſehen, wie er breitbeinig auf dem Achterkaſtell ſtrand und nach einem verächtlichen Blick auf ſie über Bord ſpuckte.

Doch es kam noch ſchlimmer.

Der Abſtand zwiſchen den Verfolgern und den Genueſen verringerte ſich.

Die Brüder ſagten ſich, daß ſie im Kampfe mit den Türken unzweifelhaft unterliegen würden. Denn die Mannſchaft der Genueſen ſchien wenig Kriegsmut zu beſitzen.

Nun kam es nur noch darauf an, welches Schiff das ſchnellere war. Ein Wettrennen auf Leben und Tod begann.

Auf der genueſiſchen Galeere arbeiteten an jedem Ruder fünf Mann. Die Sklaven ruderten ſtundenlang ohne Pauſe. Wie wachſame Hunde liefen die Aufſeher an den Ruderbänken entlang, und wo ein Mann ſchwach wurde, half die furchtbare Peitſche nach, die klatſchend auf die entblößten Rücken niederfuhr.

Einige Türkenſklaven, die von ihren Landsleuten Befreiung erwarteten und die Ruder läſſig handhabten, wurden ſo gepeitſcht, daß ihnen die Haut in Fetzen vom Leibe hing und ſie ohnmächtig niederſanken.

„Werft das Aas ins Meer“, brüllte der Patron.

Schon ſchickten ſich die Söldner an, dem grauſamen Befehle Folge zu leiſten, da erhob ſich ein anderer Sklave, den die Hitze wahnſinnig gemacht hatte, und packte den vorübergehenden Patron an der Kehle.

Wenige Augenblicke ſpäter baumelte der Angreifer hoch an der Rahe.

Die übrigen Sklaven ruderten zähneknirſchend weiter, bis ſchließlich einer nach dem anderen vor Schwäche umſank.

Nun mußte die Mannſchaft an die Ruder.

Henning und Gerd hatten nie ſo geſchuftet wie heute.

Glühend heiß wehte der afrikaniſche Wüſtenwind über das Verdeck. Furchtbar brannte die Sonne hernieder auf die ſtöhnende, ſchwitzende Menſchenmaſſe.

Ein Schwindelgefühl überkam die an ein ſolches Klima nicht gewöhnten Deutſchen, aber mit übermenſchlicher Anſtrengung kämpften ſie den Schwächeanfall nieder, ſie ruderten ja um Freiheit und Leben.

Die Verfolger begannen aus ihren Geſchützen zu feuern. Bald rechts, bald links von der Galeere ſchnellten die Steinkugeln über die glatte Waſſerfläche.

„Wenn die Sarazenen deutſche Büchſenmeiſter an Bord hätten, wären wir längſt verloren“, raunte Gerd ſeinem Bruder zu.

So ging die Jagd weiter bis zum ſpäten Nachmittag. Noch vor Nacht mußte die Entſcheidung fallen. Denn die Genueſen waren erſchöpft und brachen an den Rudern zuſammen, während die Türken immer mehr aufrückten.

Da ſtieß der Matroſe, der im Großmaſte ſaß, einen Freudenſchrei aus:

„Schiffe, chriſtliche Schiffe“, rief er, „nein, keine Sarazenen.“

Ein Aufatmen ging durch die Beſatzung.

Bald bemerkten auch die Verfolger die nahenden Segel und verminderten ihre Fahrt, Als ſich herausſtellte, daß es gut bewaffnete franzöſiſche Schiffe waren, gaben die Sarazenen die Beute verloren und verſchwanden in der hereinbrechenden Facht.

Die Genueſen kehrten nach Neapel zurück.

Die ſchimpfliche Flucht dünkte den Jünglingen kein gutes Vorzeichen zu ſein. Aber war ihre erſte Seefahrt auf der Oſtſee nicht ebenſo unglücklich verlaufen?

Sie fanden bald eine Löſung. Nur mit einer verbeſſerten Artillerie war der fanatiſche Angriffsgeiſt der Türken abzuwehren.

Da ihnen die Luſt zu weiterem Dienſt unter dem Genueſerkreuz vergangen war, verließen ſie die wenig glückhafte Galeere, die ſo ſchimpflich hatte fliehen müſſen.

Am nächſten Tage liefen venezianiſche Kriegsſchiffe in den Hafen ein, und die Brüder boten dem Admiral der Flotte ihre Dienſte als Büchſenmeiſter an. Als der Venezianer erkannte, daß die jungen Männer Deutſche waren, ſtellte er ſie gern ein. Denn die Tüchtigkeit der deutſchen Büchſenmeiſter war in aller Welt bekannt. Die Brüder rieten ihm, aus den veralteten Steinbüchſen Bomben zu ſchießen. Der kluge Kriegsmann billigte den Plan, und die Brüder goſſen bei einem Rotgießer Hohlkugeln aus harter Glockenſpeiſe.

Da die Werkſtatt ſchlecht eingerichtet war, mußten ſie nach dem alten Wachsausſchmelzverfahren arbeiten. Sie überzogen eine Lehmkugel mit Wachs und umgaben dieſe wieder mit einer Lehmhülle. Beim Trocknen der Form, die durch einen hindurchgeſteckten Eiſenſpieß zuſammengehalten wurde, ſchmolz das Wachs aus, und es entſtand ein Hohlraum, den ſie mit geſchmolzener Bronze voll goſſen. Dann füllten ſie die Bomben mit Pulver und ſetzten eine Zündröhre in das Fülloch.

So ausgerüſtet ſtachen die Galeeren wieder in See.

Die Flotte erreichte das Ioniſche Meer. Da ſahen ſie eine Fiſcherbarke, die auf ſie zuhielt. In ihre Nähe gekommen, riefen ihnen die Fiſcher zu:

„Ein großes Unglück iſt geſchehen! Die Sarazenen haben die nach Cypern beſtimmten Schiffe des Andrea della Torre gekapert. Herr Andrea und ſeine Tochter Mafalda ſind in die Hände der Moslems gefallen.“

Andrea della Torre war das Oberhaupt eines der reichſten und vornehmſten Geſchlechter Venedigs.

Welch ungeheures Löſegeld würde der Türke für den Vater verlangen, welch furchtbares Los ſtand der Jungfrau bevor! Und ſchlimmer als dieſes, das Anſehen Venedigs, ja der ganzen Chriſtenheit hatte einen ſchweren Schlag erlitten! Da gab es kein Zaudern.

Mit allen Segeln und mit voller Ruderkraft nahm der venezianiſche Admiral die Verfolgung auf.

Bei der Inſel Zante ſichtete man den Feind.

Die türkiſchen Galeeren, vier an der Zahl, ſtellten ſich zum Kampfe. Es war ein herrliches Schauſpiel, als die beiden Flotten in Kiellinie, voran die Admiralsſchiffe, aufeinander losfuhren. Die Venezianer beſaßen den Vorteil des Windes und waren damit beim erſten Angriff überlegen. Der Admiral wagte aber nicht, das türkiſche Führerſchiff zu rammen, weil deſſen Bug mit einer ſchweren Eiſenſpitze gepanzert war.

Er gab den Büchſenmeiſtern Befehl, das Feuer zu eröffnen.

Beim Donner der erſten Schüſſe, der von dem venezianiſchen Admiralsſchiff über das Meer rollte, blitzte auch das Mündungsfeuer der türkiſchen Geſchütze auf.

Die Steinkugeln der Sarazenen fuhren durch das Takelwerk der Venezianer und durchlöcherten die Segel. Henning und Gerd, die mit deutſcher Kaltblütigkeit den Gegner aufs Korn genommen hatten, trafen beſſer.

Eine Bombe ſchlug durch die Ruder auf der Backbordſeite. Obgleich ſie nicht zerſprang, machte ſie das Schiff manövrierunfähig. Die zweite Bombe platzte auf dem Verdeck, und ihre zackigen Sprengſtücke richteten unter der Mannſchaft ein furchtbares Blutbad an.

Der Admiral ſah die trefflichen Schüſſe ſeiner Büchſenmeiſter. Ein kurzes Kommando, ſein Schiff drehte und jagte in voller Fahrt, ſo daß ſich die Ruder bogen, dem Gegner in die Flanke. Der ſpitze Rammſporn drang in den Rumpf des Sarazenenſchiffes ein wie die Fänge des Adlers in den Leib ſeiner Beute. Ein furchtbarer Stoß, ein Dröhnen, ein Knacken, ein jähes Zerſplittern von Planken und Spanten, und die rieſige Galeere zerbrach in zwei Teile. Das Vorderteil, belaſtet durch die vielen Menſchen und die ſchweren Geſchütze, verſank in den Fluten. Laute Hilferufe, gellende Verzweiflungsſchreie ertönten. Vergebens! Der gurgelnde Strudel verſchlang alles gleich einem unerſättlichen Rachen.

Die Galeere im Kampf

Das Achterende des Wracks, das auf den Rammſporn der venezianiſchen Galeere aufgeſpießt war, ſchwamm noch auf dem Waſſer, wenn auch bis zum Verdeck verſunken. Galeere und Wrack ſchaukelten auf den Wellen, die der Strudel auswarf.

Da glaubten die Brüder aus dem Sarazenenſchiff Rufe zu vernehmen in italieniſcher Sprache.

Schnell ergriffen ſie Beile und ſprangen auf das Verdeck des Wracks.

Die Rufe kamen aus dem Innern des Schiffes.

Sie ſtießen die Schiffbrüchigen beiſeite. Die Tür der Kajüte flog unter ihren wuchtigen Schlägen in Stücke.

Auf der Treppe ſtanden eng umſchlungen ein älterer Mann und ein Mädchen, die an ihrer Kleidung als vornehme Italiener kenntlich waren, Der Mann ſprach beruhigend auf das Mädchen ein. „Macht ſchnell“, rief Gerd dem Manne zu, „ſonſt ſeid ihr verloren.“

Er faßte ihn am Arm und führte ihn über das überſchwemmte, ſchon bedenklich ſchräg geneigte Deck unter den Bug des Venezianerſchiffes. Auf Gerds Zuruf ließ man dort ein Tau herab und zog den Mann an Bord.

Das Mädchen war auf der Treppe ohnmächtig zuſammengeſunken. Henning nahm die Lebloſe auf ſeine ſtarken Arme und ſtieg mit feiner leichten Bürde raſch die Treppe empor.

Als er die Gerettete vorſichtig auf einen Haufen Tauwerk niederlegte, entfloh ein tiefer Seufzer den bleichen Lippen der Jungfrau. Sie ſchlug die großen Augen auf. Mit einem langen Blick umfing ſie das männliche kühne Antlitz Hennings, der ſich ſorgend über ſie beugte. Ihre dunklen Augen, ſchwarz wie Obſidian, tief und rätſelhaft wie ein ſtiller Bergſee, ſahen dankbar zu Hennings blauen Augenſternen auf, als ob ſie das Bild ihres Retters unauslöſchlich in ſich aufnehmen wollten. Ein Lächeln ging über ihre Züge, dann ſchloſſen ſich wieder ihre dunklen Wimpern.

Henning knüpfte mit ſeemänniſcher Gewandtheit das herabgelaſſene Tauende zu einer Schleife und band die Jungfrau damit feſt. Raſch wurde dieſe an Bord der Venezianer Galeere gezogen. Die Brüder bemerkten erſt jetzt, daß das Wrack am Sinken war. Die Fluten überſpülten bereits das ganze Deck. Sie wollten ſich ebenfalls an Bord der venezianiſchen Galeere ſchwingen, da erſcholl dort ein Kommando, die Ruder tauchten ins Meer, das Schiff löſte ſich vom Wrack und fuhr zurück.

An Deck des Venezianers hatte man die Not der Brüder wohl bemerkt. Man wollte ſie retten; da ſah der Admiral, daß eines ſeiner Schiffe von den Sarazenen hart bedrängt wurde, und er mußte dieſem zunächſt Hilfe bringen.

Die Brüder zauderten nicht lange. Sie ſprangen ins Meer, ergriffen ein paar treibende Ruder und ſchwammen eiligſt aus der gefährlichen Nähe des ſinkenden Schiffes fort, um nicht vom Strudel hinabgeriſſen oder von Ertrinkenden in Todesnot unter Waſſer gezogen zu werden.

Als das Wrack in die unergründliche Tiefe ſank, trugen die Wellen Henning und Gerd weit von den Schiffen fort.

Die Seeſchlacht tobte mit unverminderter Heftigkeit weiter.

Die Brüder ſahen das Feuer der Geſchütze aufblitzen, ſie beobachteten, wie ein zweites Schiff, vom Rammſtoß des Gegners getroffen, unterging. Aber ob der Sieg ſich den Venezianern oder den Türken zuneigte, konnten ſie nicht erkennen.

Die kämpfenden Schiffe entfernten ſich immer weiter, und die Brüder trieben verlaſſen auf der endloſen Waſſerwüſte.

Die Oberfläche der See war ruhiger geworden. Kurze, leichte Wellen zogen an ihnen vorüber. Es war dem empfindſamen Gerd, als ruhe ſich ein ſattes Ungeheuer nach der Beute aus, die es ſoeben verſchlungen hatte.

Sonſt war alles ſtill. Eine Schar fliegender Fiſche erhob ſich über den Waſſerſpiegel. Ihre ſchlanken Körper glänzten metalliſch in der Sonne, während ſie durch die Luft dahinſchwirrten, um dann klatſchend in ihr Element zurückzufallen.

Sollte Gott, der ſo den kleinen Fiſchen die Möglichkeit gegeben hatte, ſich dem Tode zu entziehen, der ſie im Waſſer bedrohte, nicht auch für ſie Mittel und Wege zur Rettung haben?

Ein Albatros erhob ſich aus den Wellen. Ach, wenn ſie es doch ihm nachtun könnten!

Aber kein Retter kam.

Müdigkeit überfiel ſie, der Durft quälte ſie entſetzlich. Der ſtrahlende Himmel ſenkte ſich lähmend auf ſie herab, die von der Waſſerfläche zurückgeworfenen Sonnenſtrahlen blendeten ihre Augen. Gerd konnte ſich kaum noch wach halten, doch der ſtarke Henning, der nie verzagte, ſo lange er Kraft in ſeinen Armen ſpürte, verzweifelte nicht.

„Nur nicht den Mut verlieren, Bruder! Da treiben Bretter und Planken. Wir fiſchen ſie auf und bauen uns ein Floß. Dann ſind wir zuſammen, wenn die Dunkelheit hereinbricht, und einer kann dem anderen helfen.“

Er zog eine dicke Planke, die von einer gerammten Galeere herrühren mochte, zu ſich heran. Dann nahm er ihre Gürtel und band die Planke damit an den Rudern feſt.

Dann zerriſſen ſie ihre Kleider in Streifen und drehten daraus Stricke. So befeſtigten ſie weitere Wrackteile an den Rudern. Nun hatten ſie ein primitives Fahrzeug, das ſie beide trug. Sie brauchten ſich nicht mehr an den Rudern feſtzuklammern, und der eine konnte ruhen, während der andere wachte.

Die Sonne näherte ſich dem Horizonte. Gerd hatte ſich auf dem leichten Floß ausgeſtreckt. Henning ſtand aufrecht und ſpähte ſo angeſtrengt in die Runde, als ob er ein rettendes Schiff herbeiziehen wollte.

„Auf, Gerd“, ſchrie er plötzlich. „Ein Segel, ein Schiff, eine Galeere!“

Gerd ſprang auf. Wirklich, ein Segel nahte.

Er zog ſein Hemd aus, ſchwenkte es, winkte und ſchrie.

Das Schiff hielt auf ſie zu.

„Gerettet“, frohlockte es in ihnen.

Die Galeere kam raſch näher. Schon konnten die Brüder undeutlich die einzelnen Leute an Bord erkennen.

Das Fahrzeug, die Beſatzung, die Ausrüſtung erſchienen ihnen fremdartig.

Ihre Befürchtungen wurden bald zur ſchrecklichen Gewißheit. Die Beſatzung des Schiffes trug Turbane, bunte Jacken und weite Hoſen.

Ihre Retter waren – – Sarazenen!

Dieſe Enttäuſchung war zu groß. Eine Ohnmacht überkam erſt Gerd, und dann ſank auch Henning beſinnungslos auf die Planken des Floßes.

So wurden beide von den Türken aufgefiſcht.

Die Salpetermacher von Akkon

Die Türken legten die Geretteten mit dem Geſicht nach unten auf das Deck und bearbeiteten ſie mit kräftigen Fußtritten.

Henning kam zuerſt zur Beſinnung.

Als er ſich umdrehte, ſah er ſich von einer Anzahl Moslems umgeben. Ein weiterer Blick zeigte ihm, daß Gerd noch atmete.

Vor Henning ſtand ein dicker Muſelmann, deſſen Säbelgriff mit Edelſteinen verziert war, und redete ihn in türkiſcher Sprache an. Henning ſchüttelte den Kopf. Ein Nichttürke, wie ſich ſpäter herausſtellte, ein griechiſcher Renegat, übertrug die Fragen in ſchlechtes Italieniſch. Bei dieſem umſtändlichen Verfahren hatte Henning Zeit, ſich ſeine Antworten genau zu überlegen.

Er ſagte folgendes aus:

„Wir ſind Brüder, deutſche Kaufmannsknechte und von unſerem Herrn nach Italien geſchickt, um Salpeter einzukaufen. Wir verſuchten aus Venedig Salpeter zu ſchmuggeln, wurden dabei ertappt und auf die Galeere gebracht. Als wir in der geſtrigen Seeſchlacht verwundete Ruderer ablöſen ſollten, ſprangen wir über Bord, um uns auf ein türkiſches Schiff zu retten.“

Gerd war mittlerweile zu ſich gekommen. Er beſtätigte kopfnickend die Worte ſeines Bruders.

Der Muſelmann ſah die Gefangenen zweifelnd an.

Der ruhige, gelaſſene Blick der Jünglinge flößte ihm einiges Vertrauen ein.

„Verſteht ihr euch auf die Bereitung des Schießpulvers?“, fragte er nach einer Weile.

„Wir ſind erfahren in der Läuterung des Salpeters“, entgegnete Henning. „Die Ware unſeres Herrn wird in Deutſchland hoch geſchätzt und gut bezahlt. Wir können aber auch Schießpulver herſtellen.“

„Die Wahrheit eurer Worte wird ſich erweiſen“, ſprach der Türke barſch, und zu ſeinen Begleitern gewandt, entſchied er: „Die Chriſtenhunde bleiben am Leben. Gebt ihnen zu freſſen und laßt ſie dann rudern; unſere Sklaven ſind ermüdet, Wir müſſen fort. Denn die Franken könnten zurückkommen und uns hier treffen.“

Henning verſtand den Sinn dieſer Worte, er war über ihr vorläufiges Schickſal beruhigt. Wie gut, daß Gerd und er die Gelegenheit benutzt hatten, einige türkiſche Worte zu erlernen. Fleiß und Streben lohnten ſich doch immer!

Die ausdauernde Kraft, mit der die Jünglinge die ſchweren Ruder handhabten, und ihre unerſchrockene Haltung machten Eindruck auf die Anhänger Mohammeds.

Man verwendete ſie auf der weiteren Fahrt als Schiffsmannen. Dabei hatten ſie Gelegenheit, ihre Erfahrungen zu zeigen, und brachten es bald zu einiger Gewandtheit im Gebrauche der türkiſchen Sprache.

Als nach mehrwöchentlicher Kreuzerfahrt das Ziel, die Burg von Akkon, vor ihnen auftauchte, glichen die Brüder äußerlich ganz den Türken und bewegten ſich unter der Beſatzung, als ob ſie ihres Volkes wären.

Wie gut, daß außer ihnen und dem griechiſchen Dolmetſcher keine Abendländer an Bord waren, die ſahen, welche unwürdige Rolle ſie ſpielen mußten.

Die Burg von Akkon war ein rieſiger, düſterer Bau. Schwarze, dicke Mauern, die von gewaltigen Strebepfeilern geſtützt wurden und durch vorſpringende plumpe Türme verſtärkt waren, bildeten die Umfaſſung. Ehemals von den Kreuzfahrern zum Schutze der Verbindung mit der Heimat errichtet, war die Burg ſpäter ein Bollwerk der Sarazenen geworden, eine Zufluchtsſtätte und ein Ausfalltor der türkiſchen Raubgaleeren, die, ob Krieg oder Friede, das Meer unſicher machten. Der Bey hegte und ſchützte die Piraten, die mit ihm die Beute teilten.

Die Brüder wurden zur Burg geführt.

Noch ehe ſie die Feſte betraten, ſahen ſie Beiſpiele dafür, wie die Türken ihre widerſpenſtigen Gefangenen behandelten.

Auf dem niedrigen Tore der Vorburg waren auf Spießen die Köpfe zweier Hingerichteter aufgepflanzt.

Mit ungewöhnlich friſchen geröteten Geſichtern, nicht bleich, wie ſonſt die Toten ausſehen, aber die Züge von Entſetzen verzerrt, blickten die Unglücklichen aus gebrochenen Augen auf die Brüder. Dieſe waren in den grauſamen Marterungen ihrer rohen Zeit genügend unterrichtet, um aus dem Ausſehen der Köpfe zu entnehmen, daß die Unglücklichen den ſchrecklichen Tod der Vierteilung erlitten hatten.

Sie waren bei lebendigem Leibe wie ein geſchlachtetes Schwein zerlegt worden, ihre Eingeweide hatte man aus ihrem Leibe herausgenommen; zum Schluß hatte ihnen der Henker das noch zuckende Herz aus der Bruſt geriſſen und es ihnen hohnlachend vor die brechenden Augen gehalten.

Über dieſem ſchrecklichen Bilde wehte der Halbmond.

Daß dieſe Marter der orientaliſchen Grauſamkeit noch nicht genügte, zeigte den Brüdern ein noch furchtbarerer Anblick, der ſich ihnen am Haupttore darbot.

Dort hing ein gefeſſelter Menſch, dem die Haut in Streifen vom Körper gezogen war; die eiternden Wunden wimmelten von unzähligen ſchwarzen Fliegen. Der Unglückliche war noch bei vollem Bewußtſein und richtete einen ſo entſetzlich hoffnungsloſen Blick auf die Nahenden, daß es den Brüdern durch Mark und Bein ging.

Gerd wäre bei dieſem Anblick beinahe zu Boden geſunken. Henning packte einen Augenblick lang eine ſinnloſe Wut. Er war verſucht, einem der Wächter den krummen Säbel zu entreißen und ſich damit auf die Türken zu ſtürzen.

Aber er beherrſchte ſich und flüſterte Gerd in deutſcher Sprache zu:

„Aus dieſer Hölle können uns nur Beſonnenheit, deutſcher Mut und deutſche Kaltblütigkeit retten.“

Die Folter

Am nächſten Tage begannen die Brüder ihre Arbeit im Arſenal unter den lauernden Blicken der Sarazenen.

Die Türken erkannten bald, daß Henning und Gerd die Wahrheit geſprochen hatten. Die Gjaur verſtanden ihr Handwerk. Der Salpeter, den ſie herſtellten, war weiß wie Schnee, löſte ſich klar in Waſſer auf, hielt ſich an der Luft und brannte vorzüglich!

Nach einigen Wochen begannen die Türken ihre Gefangenen milder zu behandeln, ja ſie zeigten ihnen eine gewiſſe Achtung.

Eines Tages trat der dicke Schiffshauptmann in die Werkſtatt. Er beſah aufmerkſam den von den Chriſtenſklaven geläuterten Salpeter und ſchickte dann die Wachen hinaus. Als dieſe ſich entfernt hatten, ſagte er den Gefangenen freundliche Worte und fuhr dann fort: „Uns iſt Kunde geworden, daß den Franken die Herſtellung des Salpeters aus Erde gelungen iſt. Wir ſchenken euch die Freiheit und geben euch dazu noch eine hohe Belohnung, wenn ihr uns dieſes Verfahren lehrt.“

Gerds Augen leuchteten ſehnſüchtig. Die Freiheit ſollten ſie wieder erhalten? Sie ſollten die Mutter wieder ſehen, und Eliſabeth, und die Heimat im ſchönen deutſchen Vaterland?

Henning warf ſeinem Bruder einen kurzen ernſten Blick zu.

Gerd ſenkte beſchämt den Kopf.

Es konnte nicht ſein: Auch um den hohen Preis der Freiheit durften ſie die Geheimniſſe der Chriſtenheit nicht an die Ungläubigen verraten.

Schnell entgegnete Henning:

„Die Bereitung des künſtlichen Salpeters iſt ein Geheimnis, das nur wenige Meiſter kennen, aber uns einfachen Knechten vorenthalten wird. Gebt uns Zeit und Gelegenheit, und wir wollen verſuchen, ſolchen Salpeter zu machen.“

Der Türke war mit Hennings Worten zufrieden. Er rief die Wachen zurück und wies ſie an, die Brüder bei ihren Verſuchen nicht zu behindern, ſondern ihnen behilflich zu ſein, wenn dieſe es verlangten.

Die Gefangenen zeigten dem Hauptmann nun ab und zu Proben von Salpeter, den ſie angeblich aus Erde hergeſtellt hatten. Das Wohlwollen des Türken gegen die kunſtfertigen Gjaur ſteigerte ſich. Eines Tages machte er ihnen den Vorſchlag, ihren Glauben abzuſchwören.

Henning und Gerd waren zu Tode erſchrocken; ſie erbaten einen Tag Bedenkzeit. Was ſollten ſie tun?

Eins ſtand feſt: Sie wollten lieber ſterben als ihren Glauben verleugnen und damit die ewige Seligkeit verlieren!

Sicher war aber auch, daß die offene Zurückweiſung des Anerbietens ihre Stellung unter den Sarazenen von Grund auf ändern würde. Ein martervoller Tod war in dieſem Falle ihr Los. Damit hätten ſie der Chriſtenheit keinen Dienſt erwieſen.

Nein, ſie wollten nicht unter den Händen des türkiſchen Henkers verbluten. Sollte ihrem jungen Leben hier im fremden Lande ein Ziel geſetzt ſein, ſo wollten ſie das dunkle Tor des Todes nur mit einem Gefolge erſchlagener Feinde durchſchreiten und dann getroſt vor Gottes Thron treten, wie einſt der alten Sage nach die Heerkönige der Vorzeit einzogen in Walhall.

Sie durften deshalb das Anſinnen des Türken nicht rundweg ablehnen. Scheinbar mußten ſie ſich bereit erklären, Anhänger Mohammeds zu werden.

Aber war dies nicht bereits ein Bruch ihres Taufgelöbniſſes, bedeutete es nicht eine Beleidigung aller Heiligen, einen Verrat an Heimat und Vaterland?

Bei ruhiger Überlegung ſchwanden ihre Bedenken.

Sie mußten zunächſt Zeit gewinnen, Zeit, um die Vorbereitungen zu treffen, mit deren Hilfe ſie ſich den Weg in die Freiheit bahnen wollten.

Sie mußten hinaus aus dieſer Hölle! Nur auf dem freien Meere war die Möglichkeit zur rettenden Tat gegeben.

Und das Schießpulver, dem ſie ſo viele Erfolge verdankten, ſollte ihnen das Mittel dazu bieten!

„Gott ſegne das Andenken des alten Hans Buſſengeter“, ſprach Henning.

Und Gerd fügte hinzu:

„Wenn der Meiſter vom goldenen Himmel auf uns herabſchaut, ſoll er wiſſen, daß wir ſeiner würdig ſind im Leben und im Sterben.“

Lange flüſterten die Brüder miteinander in der ehemaligen Mönchszelle, in die man ſie des Abends einſchloß.

Immer wieder raunten ſie von Pulver, Lunten und Höllenmaſchinen.

Aber wie wollten ſie das Pulver entzünden, wer gab ihnen dazu das Feuer? Wie kamen ſie im entſcheidenden Augenblick an die Pulverkammer heran?

Wieder gab das Vermächtnis des alten Meiſters die Antwort auf ihre Fragen.

Es lehrte aus gebranntem Kalk, Kampfer, Harzen, Salpeter und Schwefel einen Stein herzuſtellen, der ſich bei der Berührung mit Waſſer entzündet.

Der Plan war fertig. Am nächſten Tage baten die Brüder den türkiſchen Hauptmann um eine Unterredung. Henning ſprach:

„Euer Gott ſoll nicht von uns denken, daß wir zu ihm kommen, um unſer Leben zu retten. Denn unſere Prieſter haben uns gelehrt, daß euer Glaube falſch iſt. Wir wollen ſehen, ob eure oder unſere Prieſter die Wahrheit ſprechen. Ein Gottesurteil ſoll entſcheiden. Laßt uns auf eurem Schiffe an eurer Seite kämpfen, am liebſten gegen die Venezianer, mit denen wir noch eine alte Rechnung zu begleichen haben. Wir wollen nicht von der Rüſtung beſchirmt werden, mit nackter Bruſt wollen wir uns dem Feinde entgegenwerfen. Wenn ihr dann den Sieg erringt und wir am Leben bleiben, dann laßt uns frei, und wir wollen als freie Männer unſrem Glauben abſchwören.“

Beifällig nickte der Türke. Beim Barte des Propheten, die Männer hatten Mut und einen redlichen Sinn!

„Allah iſt groß und Mohammed iſt ſein Prophet“, ſprach er, „euer Wunſch ſei erfüllt. Es geſchehe, wie es im Buche des Lebens verzeichnet ſteht.“

Im Arſenal gab es viel zu rüſten für die bevorſtehende Raubfahrt. Die deutſchen Sklaven läuterten von morgens bis abends Salpeter, tränkten Lunten und miſchten Schießpulver.

Da man von ihren Kenntniſſen in der Heilkunde erfahren hatte, mußten ſie auch Wundſalbe kochen. Dabei bereiteten ſie gelegentlich eine ſteinige Maſſe, die ſie in Verwahr nahmen.

Henning erklärte auf Befragen, es ſei eine neue Salbe, da ſie aber deren Wirkung nicht ſicher ſeien, wollten ſie das Heilmittel zuerſt an ſich ſelbſt erproben.

Tief unter dem Achterdeck der Galeere lag die Pulverkammer. Die Brüder legten unbemerkt durch eine Fuge in der Bretterwand eine Lunte, die in einem Pulverfaß endete.

Die Fahrt begann.

Das Schiff zog in See ſtark Waſſer. Die Brüder arbeiteten deshalb ſtundenlang im Raum und kalfaterten die Nächte. Sie befeſtigten dabei heimlich den Beutel mit dem Brennſtein am Ende der Lunte und hingen dieſen an einem dünnen Seil auf, ſo daß der Brennſtein über der Kieljauche in der Bilge ſchwebte. Das Halteſeil leiteten ſie über Deck nach der Schanzkleidung. Damit hatten Henning und Gerd das Schickſal des Schiffes in ihrer Hand. Die Sarazenen ahnten nicht, daß in dem Bauche ihrer Galeere der Tod an einem Faden hing. Ein kurzer Ruck genügte, um das Seil zu zerreißen. Dann fiel der Brennſtein in die Bilge, und der kniſternde Feuerfunke ſprang in die Pulverfäſſer.

Die Galeere kreuzte einige Tage erfolglos.

Endlich zeigte ſich bei Sonnenaufgang ein Segel.

Der Sarazene ſetzte die blutrote Piratenflagge und hielt auf das fremde Schiff zu.

Es war ein italieniſcher Kauffahrer. Schwer beladen und plump gebaut, konnte er nicht entweichen.

Die Chriſten ſtellten ſich zum Verzweiflungskampfe.

Ein Schuß blitzte auf, und eine Kugel flog dicht über den Köpfen der Brüder hinweg, die an der Spitze der zum Entern beſtimmten Schar auserwählter Krieger vorn am Bug des Schiffes ſtanden.

Sie führten als Waffe nur Säbel und Enterbeil; bis auf die weite Hoſe waren ſie völlig unbekleidet.

Voll Verwunderung ſah der türkiſche Hauptmann den verklärten Blick, der aus ihren Augen ſtrahlte, und das Lächeln, das auf ihren Lippen ſchwebte.

„Beim Barte des Propheten“, rief Henning, „nun kann der Tanz beginnen“, und er zerhieb ein dünnes Seil, das an der Reeling hing.

Leiſe zählten die Brüder. Nach ihrem Verſuche mußte die Lunte bis zum Pulverfaſſe abgebrannt ſein, wenn ſie bis fünfzig oder ſechzig gezählt hatten.

Durch ihre Köpfe wirbelten angſtvolle Gedanken.

Würde der Plan gelingen?

Hatten ſie dem Buche ihres Meiſters, dem Können deutſcher Büchſenmeiſter nicht zu viel zugetraut? Wenn der Stein verſagte, wenn die Lunte trotz ihres Wachsüberzuges unbrauchbar geworden wäre! –

„Neunundvierzig“, zählte Gerd mit lauter Stimme.

„Maria hilf“, rief Henning und ſprang mit ſchneidigem Sprunge kopfüber ins Meer. Gerd folgte ihm unverzüglich. Als gewandte Taucher ſchwammen ſie unter Waſſer ſo ſchnell wie möglich vom Schiffe fort.

Die Sarazenen hatten ſich von ihrem Erſtaunen noch nicht erholt, als ein furchtbarer Schlag das Schiff erſchütterte. Eine Feuergarbe ſchoß aus dem berſtenden Deck empor, Takelung, Balken, Menſchen und Waſſermaſſen hoch in die Luft ſchleudernd. Die See kochte und ſchäumte.

Die Brüder tauchten auf. Schiffstrümmer bedeckten das Waſſer. Pruſtend und ſprudelnd rief Henning:

„Unſer Salpeter war wirklich ausgezeichnet. Wir wären bei den Ungläubigen Wesire oder Paſchas mit drei Roßſchweifen geworden. – Brr! – Aber was hätte deine blonde Eliſabeth geſagt, wenn du dir außer ihr noch eine ſchwarzhaarige Türkin als Nebenfrau zugelegt hätteſt. – Brr! – Du hätteſt dann auch noch alle drei flachsmähnigen Meiſtertöchter heimführen können. – Brr! – Du weißt doch, die Töchter des Lübecker Schilderers. Eine hat dir ja ſo gut gefallen!“

Gerd drehte ſich lachend zu ihm.

„Die ſchwarzen Mädchen ſcheinen es dir angetan zu haben, ſeitdem die ſchöne Mafalda della Torre in deinen Armen gelegen hat, mir genügt meine Eliſabeth.“

Die Scherze gefielen Henning nicht mehr.

„Laſſen wir die leichtfertigen Reden“, ſagte er, „danken wir unſerem Gott, der wieder einmal gezeigt hat, daß er in Wahrheit der Lenker der Welt iſt.“

Ihre italieniſchen Rufe zeigten dem Kauffahrteiſchiffe, daß Chriſten in Not waren. So wurden ſie glücklich gerettet.

An Bord des Italieners ſtellten ſie die Pulverexploſion als einen Zufall dar und erwähnten nichts von ihrer Teilnahme an der Seeſchlacht bei Zante. Beſonders hüteten ſie ſich davor, von ihrer Tätigkeit als Salpetermacher der Türken zu erzählen. Jeder tiefere Einblick in ihre Erlebniſſe hätte ihnen die Löſung der Aufgabe erſchwert, der ſie ſich jetzt widmen wollten, der Erforſchung der ängſtlich gehüteten Geheimniſſe Muranos und der Wiedererlangung des Buches, das in der Lagunenſtadt zu finden ſein mußte.

Ja, ein Wunderbuch war dieſes Buch wirklich!

Hatte ſich nicht das Erbe ihres alten Meiſters wiederum als treueſter Freund und Helfer erwieſen, war es ihnen nicht durch deſſen Hilfe gelungen, die Feſſeln des Leibes und der Seele zu ſprengen!

Welche Geheimniſſe mochte erſt der Teil des Textes bergen, deſſen Entzifferung ihnen als Knaben nicht gelungen war. Was bedeuteten die Reichtümer, die ſie durch Kriegsfahrten und Bergbau erlangen konnten, im Vergleich zu den Schätzen, die dieſes Buch verſprach!

Und ſie brauchten dieſe Schätze! Nicht um im Reichtum zu ſchwelgen, nicht um im gleißenden Gold, in funkelnden Edelſteinen zu wühlen.

Nur zu einer großen Aufgabe ſollte das künftige Gold dienen. Es ſollte den Sehnſuchtstraum der ganzen Chriſtenheit erfüllen, es ſollte einen gewaltigen Kreuzzug zur Befreiung der heiligen Stätten aus den Händen der Ungläubigen auszurüſten helfen. Es ſollte das Mittelmeer von den Sarazenen befreien!

Zumal der ſonſt ſo beſonnene Henning ward nicht müde, dieſen kühnen Gedanken immer wieder zu erörtern und weiter auszuſpinnen, ſo daß Gerd ſich oft im ſtillen fragte, ob ſein Bruder in Venedig nicht ſehnſüchtiger als Glas und Gold zwei ſtrahlende dunkle Edelſteine ſuchte, die zu erringen doch unmöglich ſchien.

In Ancona ſtiegen die Brüder als ſchlichte Matroſen an Land.

Auf dem kürzeſten Wege begaben ſie ſich zur Dogenſtadt.

Venedig

In ihrer Heimat hatten die Brüder ſchon viel von Venedigs gebietender Macht und ſtolzer Größe gehört, aber als ſie nun die feſten Kaſtelle, die prächtigen Paläſte, die breiten Speicher des Fondaco dei Tedeschi, den Wald von Maſten am Lido ſahen, als auf dem Markusplatze Worte aller Zungen an ihr Ohr ſchlugen, wenn mit dem hochgewachſenen deutſchen Faktor der ſchlaue Grieche handelte, wenn der trotzige Sohn der ſchwarzen Berge mit dem dunkelhäutigen Mohren zankte, da erkannten ſie erſt die gewaltige Macht Venedigs; und kühn, ja verwegen erſchien ihnen der Plan, die Königin der Adria überliſten zu wollen.

Trotzdem war und blieb ihr einziger Gedanke: Murano.

Dort auf der meerumſpülten Inſel lag das Ziel ihrer Wünſche, dort bargen die Laboratorien und Schmelzhäuſer der Glashütte das Geheimnis, für das ſie ihr Leben wagen wollten!

In Murano fehlte es an Ofenſchürern. Die Arbeit des Schürens der Glasöfen erforderte weder beſondere Kenntniſſe noch Geſchicklichkeit, aber dafür um ſo mehr Schweiß. Nur hergelaufenes Geſindel, dem man keine beſſere Arbeit anvertraute, ließ ſich dazu anwerben. Beſonders in den Sommermonaten, wenn ſich das brennende Feuer der Sonne mit den Gluten der Glasöfen vereinigte, war das Schüren der Öfen eine martervolle Qual.

Den Brüdern war dies unbekannt und ſie prieſen ſich glücklich, als ſie bei ihrer Bewerbung ſofort als Schürer eingeſtellt wurden.

Tage und Wochen ſchwerſter Arbeit folgten. In der Hitze verdorrte ihnen ſchier das Mark in den Knochen; ſelbſt der ſtarke Henning ſchien den Anſtrengungen des neuen Berufes nicht gewachſen zu ſein.

Und doch beſtanden die geſtählte Geſundheit und der feſte Wille der Brüder auch dieſe Prüfung.

Da überfiel das Sumpffieber ihre geſchwächten Körper. Zuerſt erkrankte Gerd, und als dieſer kaum geneſen war, ſein Bruder. Von Fieberſchauern gerüttelt, hohlwangig und blaß, mit brennenden Augen und zuſammengebiſſenen Zähnen arbeiteten beide weiter. Still und wortkarg verrichteten ſie ihre Arbeit und unterließen alles, was den Argwohn der Meiſter erregen konnte.

Monate vergingen, ohne daß die Brüder ihrem Ziele auch nur einen Zoll näher kamen.

Der Ofenbau, das Schmelzen der Fritte und die Verarbeitung des Glaſes zeigten keine Beſonderheiten, die für ſie von Wert waren.

Wie ſie beſtätigt fanden, lagen die Vorzüge des venezianiſchen Glaſes nur in der Zuſammenſetzung der Glasmaſſe, die aus einer in Schiffen herbeigeführten Aſche und reinem Sande bereitet wurde, und in dem wundervollen Farbenglanze der fertigen Gläſer.

Das ſchönſte Erzeugnis Muranos waren die künſtlichen Edelſteine. Dieſe wurden in den verſchiedenſten Farben hergeſtellt und gingen, wie echte Steine geſchliffen, in alle Welt.

In ihren freien Stunden weilten die Brüder oft in den Glasſchleifereien. Ihre Neugierde erregte kein Aufſehen. Denn ihre unverhohlen geäußerte Freude über die rot, gelb, grün, blau und violett ſchimmernden Schmuckſteine war ſo ungekünſtelt, daß die Meiſter an den jungen Männern ihre Freude hatten.

Das Schleifen erfolgte mit Schmirgel auf Scheiben aus Blei und Kupfer. Dieſe wurden mit Hilfe einer Seilſcheibe durch eine Handkurbel in raſche Umdrehungen verſetzt. Die Maſchine zum Schneiden der Gläſer war ähnlich gebaut, doch hatte ſie waagerechte Achſen. Um eine große Kurbelſcheibe lief eine endloſe Sehne, die eine kleine Meſſingſpindel antrieb. Die Spindel war hohl; darin ſteckten Nägel, an die winzige Kupferſcheiben angelötet waren. Die Glasſchneider brachten feuchten Schmirgel auf die Scheibchen und drückten dann mit der rechten Hand das zu verzierende Glas dagegen, während ſie mit der linken die Kurbel drehten. Zum Schluß wurden die Gläſer in der Maſchine mit Tripel poliert. Dieſer war auf einen kleinen Pinſel aufgetragen, den man auch in die Meſſingachſe ſteckte.

Die Umwandlung gemeiner Erden durch das läuternde Feuer in leuchtende Edelſteine deuchte die Brüder von allen Wundern der Chemie das größte zu ſein.

Aus Meiſter Hans Buſſengeters Traktat über die Glaskunſt wußten ſie, daß die Färbungen durch Zuſätze zur Glasmaſſe bewirkt werden. Durch Beimiſchung von Eiſenerz erhält das Glas die grüne Farbe des Smaragds, mit Kupferhammerſchlag verſetzt leuchtet es hellblau wie Saphir, Braunſtein verleiht den violetten Schimmer des Amethyſt und Zaffer färbt tiefblau; dies alles war den Brüdern bekannt. Aber ſie konnten ſich nicht erklären, wodurch das Glas von Murano den eigenartigen wundervollen Glanz bekam, der auch den ungefärbten Edelgläſern eigen war!

Die Herſtellung der edelſten Gläſer erfolgte in einer abgeſchloſſenen Werkſtatt, die von einer hohen, das Gebäude überragenden Mauer umgeben war. In dieſes höchſte Heiligtum der Glaskunſt eindringen zu wollen, wäre Wahnſinn geweſen. Nur ein Zufall oder der Scharfſinn konnte helfen.

Eines Tages fanden Henning und Gerd auf dem Schutthaufen in der Nähe der ummauerten Hütte einen zerſprungenen Tiegel, der noch Reſte des Glasſatzes enthielt. Sie ſammelten dieſe ſorgfältig und nahmen am nächſten Abend eine Probe mit, als ſie nach der Arbeit zum Baden an den Strand gingen. Im flachen Waſſer ſtehend, wuſchen ſie die Maſſe in der hohlen Hand, wie die Goldſucher den goldhaltigen Sand waſchen. Das Ergebnis war überraſchend. Nach dem Abſchlämmen des Glaspulvers blieb eine gelbliche, ſchwere Maſſe zurück, in der die erfahrenen Hüttenleute die ihnen wohlvertraute Bleiglätte vermuteten. Am nächſten Tage legten ſie eine kleine Probe der Maſſe auf die heiße Ofenwand. Der dunkle Farbton, den die Maſſe in der Wärme annahm, bewies ihnen die Richtigkeit ihrer Vermutung.

Alſo hierin lag das Geheimnis des hohen Glanzes der edelſten Gläſer Muranos! Bleiglas ſtellten die Venezianer her! Blei, das unerſetzbare Hilfsmittel zur Gewinnung von Gold und Silber, auch im edelſten Glaſe! Das gab zu denken! Das mußte näher unterſucht werden!

Die Brüder ſammelten Proben von allen Rohſtoffen und Schmelzen, deren ſie habhaft werden konnten, und verſteckten den koſtbaren Raub in den Winkeln der Hütte oder verſcharrten ihn am Strande.

Es kam nun darauf an, die Proben unbemerkt von Murano fort zuſchaffen.

Die Brüder wählten zu ihrem Vorhaben den Tag des heiligen Markus, des Schutzpatrons der Dogenſtadt.

An dieſem höchſten Feſttage der Republik ruhte alle Arbeit. Denn die Glasmacher eilten ſchon am frühen Morgen nach Venedig.

Die Brüder blieben unter der Aufſicht eines alten Meiſters in der Hütte zurück, um die Öfen unter Feuer zu halten.

Henning hatte einen Krug ſchweren, goldgelben Weines erſtanden. Er gab dem Alten reichlich davon zu trinken. Von den Geiſtern des Weines beſiegt, legte dieſer ſich gegen Abend zwiſchen den Öfen zum Schlafe nieder, nachdem er den Brüdern mit ſchwerer Zunge befohlen hatte, gut auf die Öfen zu achten.

Henning und Gerd holten ihre Proben aus den Verſtecken und verpackten ihren Schatz in einem ledernen Sack. Gerd blieb bei den Öfen, Henning beſtieg eine leichte Gondel und ruderte der hell erleuchteten Stadt zu.

An einem der verſchwiegenen Kanäle lag ein verfallenes Bauwerk aus der Römerzeit, die Überreſte eines Grabmales. Die abergläubiſche Phantaſie der Venezianer bevölkerte dieſe Ruheſtätte eines reichen Römers mit Geiſtern und Geſpenſtern, und der verrufene Ort wurde vom Volke gemieden.

Die Gondel ſtieß mit leichtem Knirſchen auf den Sand des Ufers. Wie ein Schatten ſtieg Henning ans Land. Vorſichtig näherte er ſich dem Gemäuer, über dem ſchlanke Cypreſſen wie rieſige Grabeswächter ſtanden.

Der junge Deutſche ſah ſich nach allen Seiten ſpähend um. Dann ſuchte er zwiſchen den Marmortrümmern und Schlingpflanzen unerſchrocken den Eingang zur Gruft. Er ſchlug Licht und verbarg ſeinen Schatz in dem leeren Sarkophage.

Mitternacht war vorüber, als Henning mit lautloſen Ruderſchlägen ſeine Gondel ſeewärts lenkte.

Die Stadt war noch vom Feſtestrubel erfüllt. Aus den Fenſtern der Tavernen und von den Gaſſen her klang die ſchmeichelnde Muſik der Lauten, übertönt von den lockenden Weiſen der Trink- und Liebeslieder. Lachende Rufe hallten über das ſchwarze Waſſer der Kanäle.

Henning trieb ſein leichtes Fahrzeug schnell durch einen ſtillen Seitenkanal, wobei er ſich vorſichtig im Schatten der Häuſer hielt. Plötzlich öffnete ſich die Tür zu einer Loggia. Wie ein Fluch klang der ziſchende Ruf einer Stimme:

„Die Fiſche ſollen dich freſſen, du Schurke!“

Ein zuſammengeſchnürter menſchlicher Körper flog dicht neben Hennings Gondel ins Waſſer. Die Tür ſchloß ſich ſofort wieder. Ehe der Körper verſank, tônte ein verzweifelter Hilferuf über die Wellen.

Henning horchte auf. Hatte er nicht deutſche Worte gehört?

Ein Landsmann war in Todesgefahr!

Das Mitleid ließ den jungen Deutſchen alle Vorſicht vergeſſen. Er hielt ſeine Gondel an und wendete ſie nach der Stelle, wo der Menſch verſunken war.

Es gelang ihm, den Untergegangenen mit dem Ruder aufzufiſchen. Er griff zu und zog den Körper in ſein Fahrzeug.

Schnell löſte er die Bande, ſchüttelte den Lebloſen und bearbeitete deſſen Bruſt.

Um beſſer ſehen zu können, lenkte er die Gondel unter ein erleuchtetes Fenſter. Als er ſich über das bleiche Geſicht des Geretteten beugte, ſchlug dieſer die Augen auf.

Entſetzen lag auf dem Angeſichte Hennings und – ſeines alten Feindes, des Doktor Nauheim!

Die neue Todesangt brachte den Mann zur vollen Beſinnung. Er ſprang auf, ſo daß die leichte Gondel ſchwankte, und ſtürzte ſich mit dem italieniſchen Rufe: „Mörder! Hilfe! Hilfe!“ in das Waſſer.

Henning hatte ſein Fahrzeug kaum wieder in der Gewalt, da tauchte eine lange Gondel mit vielen Ruderern auf. Im Fackelſcheine leuchteten Schwerter und Rüſtungen.

„Die Sbirren“, durchfuhr es ihn.

Mit übermenſchlicher Kraft führte er das Ruder. Seine Gondel ſchoß pfeilſchnell dahin und verſchwand im Schatten der Nacht. Das Polizeiboot, das erſt den im Waſſer Treibenden auffiſchte, fand ihn nicht mehr.

Auf Umwegen ruderte Henning nach Murano zurück. Kurz vor Tagesgrauen machte er ſeine Gondel an der Inſel feſt. Ungeſehen gelangte er zur Glashütte. Auch der noch immer ſchlafende Aufſeher hatte ſeine Abweſenheit nicht bemerkt.

Gerd begrüßte freudig den Zurückgekehrten, als er aber Hennings verſtörten Blick bemerkte, wußte er, daß etwas Schlimmes geſchehen war.

Haſtig berichtete Henning von dem Abenteuer ſeiner Fahrt.

„Wir ſind in Murano nicht mehr ſicher“, ſchloß er, „der Schurke wird nicht eher ruhen, als bis er uns gefunden hat. Und dann ſind wir verloren. Wir müſſen ſofort fliehen.“

Nun waren die Brüder gerade daran, das Geheimnis des Millefioriglaſes zu ergründen.

Dieſes herrliche Glas wurde in einer verſchloſſenen Werkſtatt hergeſtellt, und nur wenige auserwählte Glasmacher kannten das Verfahren.

Henning und Gerd hatten ſich ſchon einmal in den Raum eingeſchlichen und, in einem kalten Glasofen verſteckt, den Vorgang teilweiſe beobachtet. Es bedurfte nur noch einer Wiederholung dieſes gefährlichen Unternehmens, um volle Klarheit über das ängſtlich gehütete Geheimnis zu erlangen.

Die Brüder erwogen das Für und Wider.

„Sollen wir kurz vor dem Ziele einem nächtlichen Spuke weichen?“, meinte Gerd.

„So kurz vor dem Ziele geben wir unſere Sache nicht auf. Wir bleiben“, entſchied Henning.

Aber wie die Verbrecher in Italien entſchloſſener und verſchlagener vorgingen als die deutſchen, ſo arbeiteten auch die Häſcher Venedigs mit einer Sicherheit und Schnelligkeit, die Henning und Gerd nicht vermuteten und ihnen zum Verderben wurde.

Drei Tage nach Hennings nächtlicher Fahrt erſchienen die Sbirren in der Glashütte und nahmen die Brüder feſt.

Dieſe hatten in Welſchland die Kunſt der Verſtellung gelernt, ſie ſtellten ſich höchſt entrüſtet und verlangten den Grund ihrer Verhaftung zu wiſſen.

Ruhig ſprach der Anführer der Sbirren:

„Ihr ſeid deutſche Späher.“

Die Brüder erklärten, kein Wort deutſch zu verſtehen.

Der Offizier lächelte überlegen, Er rief einen italieniſchen Arbeiter herbei, einen rohen Menſchen, dem Henning kürzlich wegen Mißhandlung eines Kameraden gedroht hatte. Dieſer erklärte höhniſch grinſend, daß er des öfteren zugehört habe, wie die Brüder deutſch miteinander redeten.

Henning und Gerd ſchwiegen.

„Ihr gebt alſo zu, Späher zu ſein?“

„Nein“, rief Gerd aus, „wir wollten eure Glaskunſt erforſchen, weil wir daraus lernen können, wie man Gold macht.“

Der Offizier, der wie die meiſten Italiener nicht an die Künſte der Adepten glaubte, zuckte verächtlich die Achſeln.

„Feige Lügner, mich beſchwatzt ihr nicht. – Vorwärts!“

Mit Eiſenfeſſeln an den Händen wurden ſie gleich Schwerverbrechern nach Venedig gebracht.

Am Markusplatz legte das Polizeiboot an.

Als die Brüder, von den Bewaffneten umgeben, über den volkreichen Platz zum Palazzo Munizipale geführt wurden, ſtand die Menge in lüſterner Neugierde, und hunderte von Augenpaaren ſtarrten die Gefangenen an.

Unter den Arkaden des Palaſtes ſtand halbverborgen und zuſammengeduckt ein Mann. Hämiſche Schadenfreude ſpielte um ſeinen Mund. Seine ſtechenden Augen ſahen mit dem Ausdruck höhniſchen Triumphes und geſättigten Haſſes auf die gefeſſelten Brüder.

Gerd zuckte zuſammen und wandte den Kopf ſchaudernd zur Seite. Wie ein giftiges Reptil, das eine ſichere Beute vor Augen hat, erſchien ihm der Mann, dem ſie zweimal das Leben gerettet hatten. Henning aber erhob das Haupt und aus ſeinen blauen Augen ſchoß ein funkender Blick wie ein Blitzſtrahl auf ihren Todfeind. Da erſtarrte das höhniſche Lächeln auf den Zügen des Schurken, und wie ein geprügelter Hund ſchlich dieſer ſcheu zur Seite.

Zum Tode verurteilt

Strahlend in Macht und Schönheit, prunkend im Schmucke reicher Paläſte, geziert mit den herrlichſten Werken der größten Künſtler aller Zeiten, ſo ſtand Venetia, die Stolze, die Königin der Adria, auf der Höhe ihres Ruhmes.

Die Schätze der ganzen Welt waren in ihren Mauern zuſammengefloſſen, und ein unfaßbarer Reichtum hatte orientaliſchen Prunk und Glanz an der Schwelle das Abendlandes erſtehen laſſen.

Orientaliſch grauſam waren auch die Mittel, die man hier anwandte, um die Gefangenen zum Geſtändnis zu bewegen.

Henning und Gerd ſaßen ſeit zwei Wochen eingekerkert unter den glühenden Dächern der berüchtigten Bleikammern. Man hielt ſie in Einzelhaft, damit nicht der eine den anderen aufrichten und ermutigen könnte. Sie ſollten körperlich und geiſtig zermürben, ihre Widerſtandskraft ſollte zerbrechen.

Langſam ſchlichen die Tage dahin.

Der Wärter brachte zur beſtimmten Zeit die kargen Mahlzeiten und das knapp zugemeſſene Waſſer. Schweigend ſtellte er die Speiſen hin, ſchweigend entfernte er ſich wieder.

Die Brüder ertrugen die fürchterliche Hitze verhältnismäßig leicht. Denn ihre Arbeit in der Hölle von Murano war dafür eine gute Schulung geweſen. Umſomehr litten ſie ſeeliſch in den endloſen Stunden der Einſamkeit. Sie ſehnten den Tag des Gerichtes und den Tod herbei.

Endlich kam die Stunde, da ſie vor Gericht geführt wurden. Man brachte ſie in den Saal des gefürchteten Rates der Zehn.

An der einen Seite des Raumes befand ſich in einer Holzwand das berüchtigte Löwenmaul der geheimen Angeber. Lauſchte dahinter ihr Todfeind, bereit zu jedem falſchen Schwur?

Am Kopfende des ſchwarz verhangenen Tiſches ſaß auf einer Erhöhung in einem reich geſchnitzten Thronſeſſel der Doge, umkleidet mit einem weißen Mantel, der mit prächtiger Goldſtickerei verziert war; auf ſeinem Haupte trug er die Dogenmütze.

Der Greis ſchien unter der Laſt ſeiner Würde gebeugt zu ſein. Denn er ſaß ſchweigend, die Arme auf die Lehnen geſtützt, in ſich zuſammengeſunken da.

Ein leichtes Feuer flackerte in dem Marmorkamin, der ſich zur Seite des Thrones erhob. Gerd muſterte trotz ſeiner Not das kunſtvolle Relief, das den Sims der Feuerſtätte zierte.

Hennings blaue Augen glitten dieweil furchtlos über die neun ſchwarzgekleideten Richter, die zu beiden Seiten des Tiſches Platz genommen hatten.

Schweigend, ſchwarz und düſter, gleich einem drohenden Verhängniſſe, ſaßen die Richter. Das rote Gewand des am Fußende des Tiſches ſitzenden Senatsſekretärs leuchtete aus dieſem Dunkel wie ein unheilverkündendes Fanal.

Eine Weile war Stille, nur das leiſe Kniſtern von Papier und Pergament war ab und zu vernehmbar und erregte Gerds empfindſames Gemüt faſt bis zum Wahnſinn.

Endlich ſah der Doge auf. Er rührte eine kleine kunſtvoll gegoſſene Silberglocke, die vor ihm auf dem Tiſche ſtand.

Bei dem hellen Klange des Glöckchens richteten ſich die Ratsherren auf, und ihre Blicke wandten ſich zum erſtenmale den Brüdern zu. Dieſe ſtanden ſchlank und feſt da wie die Türme eines deutſchen Domes.

Der Doge ſprach: „Im Namen San Marcos, im Namen der Republik. Ich eröffne die Verhandlung.“

Als Ankläger des Staates verlas ein junger Nobile die Anzeige des geheimen Angebers und den Bericht des Offiziers der Sbirren, der die Brüder verhaftet hatte. Er ſchloß ſeine Rede mit den Worten:

„So habt ihr namenloſen Miſſetäter es gewagt, in die Geheimniſſe Muranos einzudringen, obwohl ihr wußtet, daß dies bei Todesſtrafe verboten iſt. Ich klage euch an um Kopf und Kragen.“

Henning entgegnete:

„Wir ſind keine Verbrecher, und unſeres Namens brauchen wir uns nicht zu ſchämen. Alt und edel iſt das Geſchlecht der Freyermuth, und in unſerer Heimat ſo angeſehen wie in Venedig die Namen Dandalo und Falieri. Und ſtänden wir euch gegenüber frei und in Waffen, ſo ſolltet ihr es nicht wagen, uns zu beſchimpfen. Wir wiſſen, was wir getan haben. Uns geſchehe nach eurem Geſetz.“

Bei dieſer Zurechtweiſung ſtieg das Blut in die farbloſen Wangen des ſtolzen Venezianers. Er wollte auffahren, aber ein Wink des Dogen hieß ihn ſchweigen. Der Greis fragte:

„Ihr bekennt euch des Verſuches ſchuldig, die Geheimniſſe des venezianiſchen Glaſes zu erforſchen?“

Henning entgegnete:

„Wir leugnen es nicht.“

Der Doge fragte weiter:

„Könnt ihr etwas zu eurer Verteidigung anführen?“

Gerd ergriff das Wort:

„Alle Künſte ſind frei, frei wie der ſchaffende Geiſt, der Großes erzeugt. Nur wenn alle Völker zuſammenarbeiten und ihre Erfahrungen austauſchen, kann die Chriſtenheit blühen und gedeihen. Gewiß, wir Deutſchen verdanken den Italienern viele Künſte. Aber auch Italien hat von uns gelernt. Unſere Meiſter haben die Glocken eurer Campanile und die Büchſen gegoſſen, mit denen ihr eure Galeeren beſtückt. Deutſche Büchſenmeiſter haben euch gelehrt, das Schießpulver zu bereiten und zu gebrauchen.“

„Uns und den Ungläubigen gleichermaßen“, fiel einer der Senatoren ſpöttiſch ein.

Gerd ſchwieg verwirrt. Immerhin waren ſeine Worte nicht ohne Eindruck geblieben.

Die Richter ſprachen leiſe miteinander. Nachdenklich ſtützte der Doge ſein Haupt.

Es war den Brüdern aufgefallen, daß der Senator, der neben dem Dogen ſaß, ein Mann, deſſen Scheitel ſchon der Schnee des Alters deckte, ſie mit forſchender Aufmerkſamkeit betrachtete. Nun redete er die Brüder an:

„Ihr habt an der Seeſchlacht bei Zante teilgenommen.“

Jetzt wußte Henning, wen er vor ſich hatte.

„Ich erkenne euch wieder, Herr Andrea. Das Blatt hat ſich gewendet. Heute ſind wir in Not und Gefahr.“

Andrea della Torre erhob ſich und rief ſeinen Kollegen mit beſchwörender Stimme zu:

„Ich bitte um Gnade für die tapferen Männer, denen meine Tochter und ich das Leben verdanken!“

Tiefe Stille folgte dieſen Worten des hochangeſehenen Nobile.

Edelmut und ein auf das Handelsmonopol eiferſüchtiger Krämergeiſt rangen miteinander in den Herzen der Richter.

In Gerds Bruſt keimte eine leiſe Hoffnung.

Da erhob ſich ein Mann mit ſtrengen, harten Geſichtszügen. Noch ehe er den Mund öffnete, wußten die Brüder, daß ihr Schickſal beſiegelt war.

„Wohin ſollen Recht und Geſetz in unſerer Stadt kommen“, ſprach er finſter, „wenn jeder von uns die Leute ſchützen wollte, die ihm nützlich und gefällig geweſen ſind. Ihr, Herr Andrea, ſeid ſicher bereit, die Männer für ihre Tat reich zu belohnen, und wären ſie zu euch gekommen, ihr hättet an klingendem Gold nicht geſpart. Dafür kenne ich euch. Aber die Männer hatten nach dieſer Tat nicht das Recht, die Geſetze zu mißachten.“

Er machte eine kleine Pauſe. Dann fuhr er fort:

„Hier handelt es ſich nicht um Wohltaten und Dank, ſondern um das Wohl und Wehe der Republik.“

Er wies mit ausgeſtreckter Hand nach dem Kamin.

„Seht dort das Bild des Titus Manlius, der ſeinen eigenen Sohn hinrichten läßt! Seien wir unſerer großen Ahnen eingedenk! Keine Gnade, Gerechtigkeit verlangt das Geſetz!“

Der Doge ſenkte das Haupt, dann ſprach er:

„Die Angeklagten ſind geſtändig. Laſſet uns zur Abſtimmung ſchreiten! Es bedarf keiner Rede mehr.“

Auf einen Wink des Dogen brachten zwei Diener eine Urne aus kunſtvoll gegoſſenen Erz herein, die mit einem ſchwarzen Tuche bedeckt war, und ſtellten ſie auf den Tiſch. Dann legten ſie vor jeden der Richter zwei Elfenbeinkugeln, eine weiße und eine ſchwarze.

Nacheinander traten die Richter an die Urne und mit der Linken das ſchwarze Tuch hebend, ließen ſie aus der geſchloſſenen Rechten eine Kugel in die Urne fallen.

Da war es den Brüdern, als ob ſchon das Armſünderglöcklein zu ihrem letzten Gange läutete.

Der Doge machte den Beſchluß und zog dann die Hülle von der Urne.

Der Sekretarius nahm die Kugeln heraus und legte ſie, nach der Farbe geordnet, vor den Dogen hin.

Es waren vier weiße und ſechs ſchwarze Kugeln.

„Euer Leben iſt verwirkt“, ſprach der Doge ernſt zu den Brüdern. „Habt ihr noch einen Wunſch?“

„Wir möchten die letzten Stunden gemeinſam verbringen und Abſchiedsbriefe an unſere Angehörigen, vor allem an unſere Mutter ſchreiben“, ſagte Henning.

Beides wurde bewilligt.

Ehe die Brüder abgeführt wurden, trat Andrea della Torre zu ihnen. Er drückte ihnen die Hand und ſprach:

„Nehmt dieſen Händedruck, ihr tapferen Männer. Mehr kann Andrea della Torre, dem ihr das Leben gerettet habt, euch nicht geben. Er kann nur für eure Mutter ſorgen und die Prieſter für eure Seelen beten laſſen. Sterbt aufrecht, ſo wie ihr gelebt habt.“

Henning entgegnete:

„Mannespflicht und Chriſtenpflicht war unſere Tat, für die wir keinen Dank begehren. Wir wiſſen, daß ihr uns nicht helfen könnt.“ Und leiſe fügte er hinzu:

„Der Gedanke, daß es mir vergönnt war, eure ſchöne Tochter zu retten, wird mir das Sterben erleichtern.“

Aufrecht ſchritten die Brüder, von der Wache begleitet, hinaus.

Geſenkten Hauptes verließen die Richter den Saal, als letzter der Doge mit Andrea della Torre. Dieſer ſprach bitter:

„Heute kam ich mir arm vor, trotz allen Reichtums, mit dem Gott mich geſegnet hat. Wie ein Bettler ſtand ich vor den Männern, denen ich mein Leben und das meiner Tochter verdanke. Nichts konnte ich für ſie tun, als leere Worte ſprechen.“

Der Doge entgegnete:

„Auch mich dauert das junge, edle Blut. Aber gegen den Spruch des Gerichtes iſt ſelbſt der Doge machtlos. Wolle Gott, daß die edlen Geſchlechter Venedigs ſolche Sproſſen haben. Ach, Andrea, es wäre vielleicht doch gelungen, die Gefangenen frei zu bitten, wenn dieſer trotzige Blondkopf nicht geſagt hätte, ſein Geſchlecht ſei ſo alt und edel wie das der Dandalo. Das hat ihm der ſtolze Luigi nicht verziehen.“

Andrea della Torre ſchritt mit ernſtem Geſicht ſeinem Palaſte zu. Unmutige Gedanken kreiſten hinter ſeiner gefurchteten Stirn.

Der Henker von Venedig

Die Brüder wurden von ihren Wächtern durch die langen Gänge des Dogenpalaſtes geführt. Dumpf klangen ihre Schritte auf dem koſtbaren Moſaikfußboden, dumpf ſcholl der Widerhall von den hohen Wänden und begleitete die Verurteilten wie ein drohendes Grollen.

Die Jünglinge wurden in einen gewölbten Raum geführt, der größer und beſſer ausgeſtattet war als ihre bisherigen Kerker. Eingekratzte Kruzifixe, Gebete und Namen, die zum Teil künſtleriſch verziert waren, bedeckten die Wände.

„Wo ſind wir?“, fragte Gerd.

„Im Kerker der Edelleute“, entgegnete der Wächter. „Der Rat meint es gut mit euch.“

Dann brachte er Papier, Tinte, Federn und Licht und ſchloß die Tür.

Die Brüder waren allein. Henning warf einen traurigen Blick auf ſeinen Bruder. Da legte dieſer beide Arme um Hennings Hals. Ein lautloſes Schluchzen erſchütterte ſeinen Körper.

Henning mußte alle Willenskraft aufbieten, um angeſichts dieſes Jammers ruhig und ſtark zu bleiben.

Er legte ſeinen Arm ſanft um Gerds Schultern und ſprach mit heiſerer Stimme:

„Faſſe dich, Bruder! Dem unabänderlichen Schickſal können wir nicht entrinnen. Uns bleibt nur noch eins zu tun übrig: Als fromme Chriſten, als deutſche Männer unerſchrocken den letzten Gang zu gehen.“

Er führte Gerd zu einem Stuhle.

„Nimm Platz“, fuhr er fort. „Wir müſſen unſeren Lieben in der Heimat Nachricht geben, ehe wir uns auf unſer Ende vorbereiten.“

Weinend ſagte Gerd:

„Ich kann Eliſabeth dieſe Nachricht nicht ſchicken.“

Henning erwiderte: „Schreib’ an den Freiherrn, er ſoll Eliſabeth vorbereiten.“

Gerd gewann ſeine Faſſung zurück.

Sie ſchilderten ihre Erlebniſſe ruhig und ſachlich, vermieden aber den Mann zu nennen, der ſie verraten hatte, um die Schadecker nicht zu bekümmern. Den Freiherrn baten ſie, ihr gemeinſames Guthaben bei den Braunſchweiger Handelshäuſern abzuheben und es ihrer Mutter zu überſenden. Sie ſchloſſen ihre Briefe mit der Bitte, für ihre Seelen zu beten.

Die Nacht ſank herab.

Die Brüder entzündeten die Kerze, die ihnen der Wärter gebracht hatte. Dann ſaßen ſie am Tiſche ſtumm da mit gefalteten Händen. Ihr wechſelreiches Leben zog im Geiſte an ihnen vorüber. Hart und ſchwer hatten ſie arbeiten müſſen, aber ein gütiges Geſchick hatte ihnen auch ſchöne Erfolge und frohe Stunden vergönnt. Nur der Gedanke, den Tod zu erleiden, ohne das größte Werk vollendet zu haben, bedrückte ſie ſchwer. Wer konnte nach ihnen noch die Experimente zur Herſtellung des künſtlichen Goldes machen? Das Buch ihres ausgezeichneten Lehrmeiſters war ja verſchwunden! Welch’ unermeßlicher Verluſt für die Chriſtenheit!

Alle Erfolge verdankten ſie dieſem Buche. Jetzt allerdings konnte es ihnen keine Hilfe leiſten. Denn aus den Kerkern Venedigs gab es kein Entrinnen. Hier konnte vielleicht der goldene Schlüſſel helfen, aber dieſen beſaßen ſie nicht.

Aus den dunklen Winkeln des Kerkers, in die der Lichtſchein der Kerze nicht reichte, kroch die Verzweiflung heran.

Dort in jener Ecke, ſtand dort nicht ſchon Freund Hein, der Knochenmann, der Tod, der Würger?

Starrten nicht ſeine leeren Augenhöhlen auf die ihm Verfallenen? Hielt nicht ſeine Linke prüfend das Stundenglas empor, deſſen Sand mit unheimlicher Geſchwindigkeit auslief? Drohte nicht in ſeiner Rechten die Hippe, blank und ſcharf?

„Herr, hilf uns, daß wir tapfer und fromm ſterben!“, riefen beide aus tiefſtem Herzensgrunde.

Da raſſelten die Riegel des Kerkers.

Die Tür ſprang auf. Auf der Schwelle ſtanden ein Bettelmönch und eine vermummte Geſtalt, aus deren Kapuze zwei dunkle Augen blitzten.

Ein eiſiger Schauer überlief die Brüder.

„Henker und Beichtiger“, durchfuhr es ſie.

Sie erwarteten hinter dem Vermummten die Henkersknechte auftauchen zu ſehen. Denn ſie hatten gehört, daß der Rat der Zehn oftmals die Verurteilten, gebunden und geknebelt, in dunkler Nacht von der Höhe der Seufzerbrücke hinabſtürzen ließ in die ſchwarzen Waſſer des Rio di Palazzo.

Da warf der Vermummte den Mantel ab.

Vor den Brüdern ſtand – Mafalda della Torre! –

Auf Henning zeigend ſprach die Jungfrau gebieteriſch zum Mönch: „Padre, ich habe euch hierher geführt, damit ihr mich dieſem Manne nach den Geſetzen unſerer hochheiligen Kirche vermählt!“

„Mafalda!“, ſprach Henning traurig, „Was tuſt du? Willſt du bis zum Tode den Witwenſchleier tragen? Warum willſt du dieſes Opfer bringen?“

Das Blut ſtieg in Mafaldas Wangen:

„Nicht ſterben ſoll du, leben wirſt du für Venedig und – für mich. Der Gatte einer Venezianerin iſt Bürger unſerer Stadt und darf um die Geheimniſſe Muranos wiſſen.“

„Und unſere Richter und der Rat der Zehn?“

„Mafalda della Torre iſt niemandem Rechenſchaft ſchuldig außer ihrem Vater, und dieſer kennt und billigt dieſes Vorhaben.“

Und dicht an Henning herantretend, faßte ſie ſeine Hand, ſah ihn mit einem Blick voll heißer Liebe an und ſprach innig:

„Scheint es dir ſo ſchwer, du ſtolzer Mann, dein Leben aus der Hand eines Weibes entgegenzunehmen?“

„Mafalda“, ſtieß Henning hervor, „ich kann nicht leben, wenn mein treuer Bruder ſterben muß!“

„Auch er wird leben. Er nimmt meinen Mantel, der Mönch führt ihn in unſer Haus. Für ſeine Rettung iſt geſorgt.“

Vor Henning öffnete ſich eine Welt von Glück.

Die Wände des Kerkers hörten ein frohes Lachen; es war das erſte, das von den alten Gewölben widerhallte.

„Mafalda!“, rief Henning aus. Zum zweiten Male lag die Jungfrau in ſeinen ſtarken Armen. –

Der Mönch hatte unterdeſſen aus den Falten ſeiner Kutte ein Kreuz und ein Reliquienkäſtchen hervorgezogen, beides auf dem Tiſche aufgeſtellt und dieſen in einen Altar verwandelt.

Umgeben von den düſtern Mauern des Kerkers empfingen die Liebenden das Sakrament der Ehe. Ihre Mienen leuchteten in verklärtem Glanze, als wenn ſie vor dem Marmoraltare der Markuskirche knieten und weihevoller Orgelklang und feſtliche Geſänge zu ihren Ehren ertönten. Dann mahnte der Mönch zur Eile. Denn in einer Stunde mußte der Tag anbrechen.

Gerd verließ in Mafaldas Mantel gehüllt in Begleitung des Paters den Kerker.

Als am Morgen der Henker erſchien, wies ihn Mafalda herriſch ab. –

Zum erſten Male hatte das Buch des Meiſters Buſſengeter die Brüder im Stich gelaſſen. Aus dieſer größten Not aber hatte ſie eine Jungfrau errettet, die nichts wußte von Kriegswaffen und friedlichen Künſten. Stärker als alle Kriegs- und Schmelzfeuer war das Feuer der Liebe geweſen! –

Am nächſten Morgen ritt ein fröhlicher deutſcher Maler, deutſche Lieder ſingend, durch die Straßen Venedigs.

Er beſah alle Sehenswürdigkeiten und, wißbegierig wie die Deutſchen ſind, ritt er auch zum alten Römergrabe am Geſtade. Es gefiel ihm dort ſo gut, daß er ſein Rößlein graſen ließ und jeden Winkel des Gemäuers durchſtöberte, um Altertümer zu ſammeln. Lange ſaß er auf den Trümmern, zeichnete die Ruinen in ſein Skizzenbuch und nahm Abſchied von Italien.

Mit gefülltem Haferſack ritt er gen Norden.

An der Grenze der Republik durchſuchten die Mautner ſein Gepäck. Als ſie darin nichts als Farben und Scherben fanden, ließen ſie ihn kopfſchüttelnd ziehen.

*

An dem turmartigen Palaſte aus der Hohenſtaufenzeit, der dem Geſchlecht der della Torre den Namen gegeben hat, brannten in kunſtvoll geſchmiedeten Eiſenringen mächtige Fackeln, von wohlriechendem Harze genährt. Der flackernde Schein der Flammen huſchte über die ſchwarzen Waſſer des Kanals, der den Palazzo umſpülte. Die kleinen Rundbogenfenſter des Baues waren hell erleuchtet.

Andrea della Torre feierte die Vermählung ſeiner einzigen Tochter und Erbin mit dem Manne, dem Venedig den Sieg bei Zante verdankte.

Hunderte von Kerzen erleuchteten die von Marmorſäulen getragene Banketthalle des Palaſtes, deren Wände mit Fresken, Jugendwerken Philippo Lippis, geſchmückt waren.

Lautlos glitten bedienende Negerſklaven und zierliche Sarazenenmädchen über die edlen Perſerteppiche, die den Moſaikfußboden bedeckten.

Auf der roſenbeſtreuten Tafel wurden in ſilbernen Gefäßen die köſtlichſten Gaben des fernen Oſtens dargeboten.

Aus goldenen Kannen floß griechiſcher Wein in zierliche Kelche aus Venezianer Glas.

Alle Wohlgerüche Perſiens und Indiens durchzogen den Raum.

Die Träger der edelſten Namen Venedigs, die Säulen und Stützen der Republik waren der Einladung des Andrea della Torre gefolgt. Zwiſchen den feſtlich gekleideten Nobili ſaßen die Patrizierinnen in koſtbaren Gewändern. Auf marmorweißen Schultern, auf Kleidern aus perſiſcher Seide funkelten breite Perlenketten in mattem Glanze.

An der Spitze der Tafel ſaßen die Neuvermählten zu beiden Seiten des Dogen, ein Bild alter Lebensweisheit, umgeben von jugendlicher Schönheit und männlicher Kraft.

Ein wenig blaſſer als ſonſt, den Feuerblick der dunklen Augen gedämpft durch die ſüße Wehmut bräutlicher Liebe, die ſchwarzen Locken geſchmückt durch einen einzigen funkelnden Diamanten, ſo ſahen die Gäſte Mafalda.

Ernſt und feſt, wie es ſich für einen deutſchen Edelmann geziemt, ſaß Henning neben dem Dogen. Kurz und überlegt beantwortet er deſſen Fragen. Beifällig nickte der Doge. Der Deutſche war ein Mann, wie ihn die Republik brauchte.

In feierlichem Zuge, begleitet von Fackelträgern, führte um Mitternacht die Geſellſchaft das junge Paar über blumengeſchmückte Treppen in ſeine Gemächer.

Vor einer Madonna des Andrea Piſano, einem koſtbaren Werke aus Gold und Elfenbein, ſanken Henning und Mafalda nieder in dankbarem Gebete.

Das Buch

In den altersgrauen Mauern des Palazzo der della Torre herrſchte das Glück. Es ſaß in jedem Winkel des düſteren Baues, es klang aus jedem frohen Lachen Hennings, es ſtrahlte aus jedem Blick Mafaldas, und es lag in mildem Widerſchein auf dem Antlitz des Andrea della Torre. Dieſer betrachtete immer wieder mit Wohlgefallen die kraftvolle, kriegeriſche Geſtalt und das adligfeſte Weſen ſeines Eidams, er bewunderte deſſen umfaſſende Kenntniſſe auf allen Gebieten der Kriegskunſt und der Technik.

Henning ſetzte nach den Tagen des ſtillen Glücks, die der rauſchenden Hochzeitsfeier folgten, ſeine ganze Kraft in den Dienſt des Hauſes der della Torre. Hier hatte er ein Betätigungsfeld gefunden, das ſeinem Können und ſeinem ungeſtümen Tatendrange entſprach. Klein und eng erſchien ihm das bunte Treiben in den großen deutſchen Städten, wenn er es mit dem brauſenden Leben verglich, das die Mauern Venedigs durchpulſte. Bedeutend waren ſchon die Unternehmungen ſeines Freundes Gottſchalk von Soeſt in der nordiſchen Hanſeſtadt, ſchier weltumſpannend aber erſchienen ihm die Handelsbeziehungen des Andrea della Torre. Faktoreien in Ägypten, Syrien und Kleinaſien, Bergwerke auf Cypern und in Griechenland, Pflanzungen in den fruchtbaren Ebenen am Libanon, ja ganze Inſeln und Herrſchaften von faſt unermeßlicher Größe gehörten allein dieſem Manne. Zucker und Alaun, arabiſche Gewürze und indiſches Gold, chineſiſche Seide und ſteiriſcher Stahl, perſiſche Teppiche und nordiſche Pelze, arabiſche Feigen und afrikaniſches Elfenbein, Ochſenhäute aus Ungarn und Edelſteine aus Ceylon kamen auf eigenen Schiffen über das Meer oder auf knarrenden Wagen über die Handelsſtraßen des Feſtlands, lagerten in mächtigen Speichern oder in ſicheren Gewölben, wurden umgeſchlagen und in alle Länder der damaligen Welt verfrachtet. Ein bis ins kleinſte ausgearbeitetes Bankweſen regelte den Zahlungsverkehr für dieſe Waren. Währungen aller Länder wurden wie ſpielend umgerechnet, Wechſel auf London und Nowgorod, Liſſabon und Konſtantinopel wurden gezogen. Fürſten und Könige, vor allem der Heilige Stuhl, hatten hier ihre Konten und forderten und erhielten ungeheure Kredite, wenn ſie zu Kriegen rüſteten.

Vieles war für Henning neu. Doch fand er bald Stellen in dieſem Betriebe, an denen er ſich mit Erfolg betätigen konnte. Die Ausrüſtung der Flotten des Hauſes, der Bergbau, der Hüttenbetrieb, die Waſſerverſorgung der Plantagen, die Schutzburgen der Inſeln und Herrſchaften, das waren Arbeitsgebiete, auf denen er ſeine Erfahrungen verwerten konnte.

Mit Genugtuung ſah Andrea della Torre, daß ihm in Henning ein Nachfolger erwuchs, der ihm ebenbürtig war. Er ſagte zu Mafalda:

„Dir verdanke ich es, daß ich mir um die Zukunft unſeres Hauſes keine Sorgen mehr zu machen brauche. Wenn meine Stunde kommt, kann ich ruhig zu meinen Ahnen in die Gruft unter dem Altare von San Francesco hinabſteigen. Henning wird Feder und Schwert ſicher führen und dafür ſorgen, daß der Glanz des Namens der della Torre nicht erliſcht.“

Der Doge, mit Herrn Andrea eng befreundet, verfolgte die Tätigkeit des jungen Tedesco mit Aufmerkſamkeit. Er bat Henning, einen Plan für die Verſtärkung der Befeſtigungen Venedigs auszuarbeiten. Henning bemängelte in ſeiner Denkſchrift beſonders die veralterte und unzulängliche Beſtückung der Fortifikationen. Er ſchlug dem Dogen vor, zunächſt eine Büchſenmeiſterſchule zur Heranbildung eines Stammes tüchtiger Feuerwerker einzurichten. Der Senat genehmigte den Vorſchlag und betraute Henning mit der Anwerbung deutſcher Büchſenmeiſter, die als Lehrer an dieſer Schule tätig ſein ſollten. Henning nahm den Auftrag an und traf unverzüglich ſeine Vorbereitungen zur Abreiſe.

Mafalda, die begierig war, das alles zu ſehen, wovon Henning ihr ſoviel erzählt hatte, die liebe feine Frau im kleinen Falkenberg, das reiche deutſche Land mit ſeinen grünen Fluren und ſchattigen Wäldern, mit ſeinen volkreichen Städten und lieblichen Dörfern, begleitete ihren Gatten.

So zogen die Neuvermählten gen Norden.

Nachdem Henning und Gerd in Trieſt ein frohes Wiederſehen gefeiert hatten, ſtiegen ſie gemeinſam über den Brenner, verſehen mit allem, was die damalige Zeit zur Überwindung einer ſo ſchwierigen Wegſtrecke bieten konnte.

In Augsburg raſteten ſie einige Tage, um ſich von den Anſtrengungen der Fahrt zu erholen.

Zu dritt durchſtreiften ſie die reiche Stadt und gingen auch durch das Judenviertel mit ſeinen engen Gaſſen und den vielen Trödlerläden, in denen die merkwürdigſten Dinge zu kaufen waren.

Henning ſah in einem Laden eine prächtige alte Klinge.

Er trat mit ſeiner Gattin ein; auch Gerd folgte. Denn ſeinen künſtleriſchen Sinn lockten ſeltſame Waffen und alte Kunſtwerke. Henning erſtand die Klinge.

Der Beſitzer des Ladens, ein alter Mann, unter deſſen hohem Judenhut weiße Locken hervorquollen, legte den reichgekleideten vornehmen Käufern allerhand Merkwürdigkeiten vor, um ſie zu weiteren Käufen anzureizen.

Auch alte Bücher zeigte er.

„Hab’ ich doch gleich geſehen“, ſagte er, „daß die edlen Herren ſind gewaltige Kriegsleut’. Ich hab’ hier ein altes Buch, worin ſteht geſchrieben viel Nützliches über die Kriegskunſt. Es iſt gekommen erſt geſtern aus Welſchland, wo man hat wenig Sinn für daitſche Bücher. Ich geb’ es billig den Herren für zwei Gulden, weil ſie haben mir gut bezahlt das herrliche Schwert.“

Und er reichte Henning das Buch – des Meiſters Hans Buſſengeter!

Den Augenblick, da ſie das Buch wieder erlangen würden, hatten ſich die Brüder oft in ihren Träumen ausgemalt.

Beim Donner der Geſchütze würden ſie es erringen unter einem Haufen von Sterbenden und Leichen, fern von Deutſchlands Grenzen, auf blutgetränktem Schnee, im heißen Wüſtenſande oder auf tobendem Meere.

Und nun bot es ihnen ein jüdiſcher Trödler im Heimatlande an für zwei Gulden, ſozuſagen als Zugabe, ja, wenn ſie feilſchten, bekamen ſie es wohl für wenige Pfennige!

Gerd durchblätterte die Seiten, und richtig, das Kapitel über die Glasmacherkunſt fehlte!

Als er an den hebräiſchen Text kam, ſprach er zu dem Trödler: „Jude, kannſt du uns das überſetzen?“

„Das iſt kein Hebräiſch“, ſagte der Jude nach einer Weile, „das ſind daitſche Worte, geſchrieben mit hebräiſchen Buchſtaben, damit es nicht kann leſen jeder Schaute.“

Henning wies auf eine Stelle des Buches, die am Rande die Bleiſtiftnotiz trug: „Gold machen“.

„Jud, lies uns dies vor“, befahl er.

Der Jude trat an die verſtaubte Scheibe des kleinen Ladenfenfters und las:

„Nimm 6 Lot Queckſilber, 2 Lot Salmiak, 1 Lot Alembrotſalz, ½ Unze Borax und erhitze die Miſchung zwanzig Tage in einem geſchloſſenen Glaſe in ſtarkem Feuer. Mahle den Inhalt auf Porphyr fein, dann haſt du das Elixir, 2 Lot davon verwandeln 1 Pfund geſchmolzenes Silber, und es iſt gutes Dukatengold.“

Dieſe naive Vorſchrift war eine ſchwere Enttäuſchung. Gerd faßte ſeine Anſicht in die Worte zuſammen:

„Mit Salzen kann man Silber niemals in Gold verwandeln.“

Henning blätterte weiter.

„Was ſteht da?“

„Gold machen mit Celidonia.“

Gerd bemerkte abfällig:

„Celidonia nennen die Apotheker das Schöllkraut. Dieſer Unſinn ſteht auch in den Büchern, die du auf Schadeck haſt.“

Henning hatte die Hoffnung, das rechte Rezept zu finden, noch nicht aufgegeben.

„Handelt dieſes Kapitel auch vom Golde?“

Der Trödler las die bezeichnete Stelle:

„Wunderbares Pulver machen: Nimm eine Kröte, tue ſie in eine Tonkruke, verſchließe dieſe gut mit dem Kitt der Weiſen und brenne die Kröte zu Aſche. Stoße die Aſche zu Pulver. Mit dieſem kannſt du abgehauene Glieder wieder anleimen.“

Gerd lachte.

„Puh! Dieſes Rezept bringen wir der alten Pernella auf dem Falkenberger Schindanger. Sie wird uns Dank wiſſen.“

Henning wurde ungeduldig.

„Jud, lies nur die Überſchriften der Kapitel“, verlangte er.

„Falſches Gold machen. – Pulver von einem Maulwurf machen für die Gradation des Goldes. Die Metalle calcinieren. –“

„Genug“, wehrte Henning ab. „Dieſen Unſinn kennen wir ſchon aus anderen alten Büchern über die Alchemie.“

Er ſtarrte aus dem Fenſter. Seine Enttäuſchung war grenzenlos. Wie konnte ihr verehrter Meiſter ſolchen Aberglauben niederſchreiben!

Gerd nahm ihm das Buch aus der Hand.

Am Schluſſe des hebräiſch geſchriebenen Textes ſtand eine Jahreszahl. Über ſechzig Jahre waren vergangen, ſeitdem Hans Buſſengeter dieſe Rezepte ſäuberlich eingetragen hatte.

Wie jung, wie unerfahren war er damals noch geweſen!

Auf die letzte Seite hatte er in ſpäteren Jahren ſechs Zeilen geſchrieben. Anſcheinend waren es Verſe. Gerd forderte den Juden auf, ihm dieſe Nachſchrift vorzuleſen.

Der Spruch lautete:

„Acht ſtück volgen der Alchamey,
Rauch; aſche; vil wort vuntrevv
Erſeuftzen und ſchwere arbeit,
In wird armut un notürftigkeit,
Willtu der dinge ſein frey,
So hüt dich vor der Alchamey.“

Den Brüdern fiel es wie Schuppen von den Augen.

Ihr Meiſter hatte alſo ſpäter erkannt, daß das Ziel der Goldmacher unerreichbar iſt!

Wie konnten ſie nur den Märchen der Adepten glauben! Hatten ſie nicht im Vertrauen auf die Unverwandelbarkeit des Goldes das edle Metall auf Schadeck und zu St. Barbara behandelt, geſchmolzen, geſchieden und gelöſt, und dabei war es nicht mehr und nicht weniger geworden, als es vorher geweſen war!

Sie waren alſo ſieben Jahre einem Irrlicht gefolgt, ſie hatten ihr Leben in Gefahr gebracht um Nichts! Wie alt, wie rückſtändig erſchienen ihnen jetzt die Vorſchriften ihres Meiſters! Das Weltenrad hatte ſich gedreht, ohne daß ſie es gemerkt hatten.

Und doch tröſtete ſie der Gedanke, daß ſie durch ihre alchemiſtiſchen Pläne Großes erreicht hatten!

Die ſingende Stimme des alten Juden riß ſie aus ihren Gedanken.

„Nu“, ſagte dieſer, „ich weiß, daß die Herren ſind keine Adepten. Die Leut, die ſich rühmen, ſie hätten das große Arkanum, ſind arme Leut, ſie laufen herum in ſchäbigen Kleidern. Die Herren und die Dame ſind jung und ſchön und haben viel Geld, das ſieht man. Ich weiß, das Buch is e nützliches Buch, e wertvolles Buch. Reißt aus, wenn ihr wollt, den Schwindel vom künſtlichen Golde. – Hier haben die edlen Herren das Buch für lumpige zwanzig Heller.“

Die Brüder erſtanden das Buch und trugen das Vermächtnis ihres teuren Meiſters wie einen Schatz von Gold und Edelſtein in ihre Herberge.

Am nächſten Tage reiſten ſie nach Falkenberg weiter.

Ihr Einzug in die Heimatſtadt war für die ehrſamen Bürger ein großes Ereignis.

Als Henning und Gerd in ritterlicher Tracht durch die Straßen ritten, begrüßte man ſie gleich Fürſten. Man ſprach wieder von ihrer Heldentat bei der Belagerung der Stadt, und jeder wollte es ſchon damals gewußt haben, daß die Brüder dereinſt tüchtige Männer werden würden.

Die Witwe Freyermuth ſaß in ihrer Stube, als die Hufe der Pferde durch die enge Mauergaſſe klangen.

Sie trat zum Fenſter, um nach den Reitern Ausſchau zu halten; da ſtanden die ledigen Pferde, prächtig aufgeſchirrt, von Neugierigen umgeben, gerade vor ihrem Hauſe.

Ihr Herz zitterte in freudiger Ahnung.

Da wurde die Stubentür ungeſtüm aufgeriſſen, im nächſten Augenblick lag die Überraſchte in den Armen ihres jüngſten Sohnes; und hinter Gerd folgte Henning und führte ſeine junge Frau der Mutter zu.

Das war ein freudiges Wiederſehen nach den zwölf langen Jahren der Trennung.

Die Mutter konnte ſich nicht ſattſehen an den prächtigen Geſtalten ihrer ſtolzen Söhne und der fremdländiſchen Schönheit ihrer Schwiegertochter, die bei aller Vornehmheit gleich den Schlüſſel zu ihrem Herzen fand.

Der Aufenthalt in Falkenberg dauerte länger, als die Brüder beabſichtigt hatten. Die Witwe mußte ihr Haus beſtellen. Denn ſie wollte auf Schadeck bei Gerd und Eliſabeth ihr Alter verbringen.

Die Brüder beſorgten eine Sänfte, in der die Frauen die Reiſe zurücklegen ſollten.

Nachdem alle Zurüſtungen getroffen waren, brachen ſie auf. Henning und Gerd ſtiegen zu Pferde, Mafalda nahm mit der Mutter in der Sänfte Platz, die von zwei Paßgängern getragen wurde. Mafaldas Zelter lief wie ein Hund nebenher, und oft vertauſchte die junge Frau die Sänfte mit dem Sattel.

Die Reiſe ging langſam vonſtatten.

Die Blätter fielen, und die weißen Herrgottsfäden ſchwammen in der Luft, als die Reiſenden nach einem Aufenthalt im Schadecker Hof zu Braunſchweig endlich die Burg erreichten.

Die Brüder erkannten die Bergfeſte kaum wieder. Denn gegenüber dem alten Pallas erhob ſich ein neues Burgmannenhaus mit hohem Giebel, und um den Fuß des ſchmalen Burgfelſens ſchmiegte ſich eine geräumige Vorburg. Alles war reicher und mächtiger geworden, auch Frau Anna hatte ihre behäbige Fülle noch etwas vermehrt.

Leider vermißte Gerd bei der freudigen Begrüßung Eliſabeth. Denn dieſe weilte noch in Gandersheim.

Gerd nahm bald ſeine Tätigkeit in der Grube und in der Hütte wieder auf. Seine erſte größere Arbeit war die Anlage eines Meſſinghammers.

Henning hatte viel zu tun, um Mafaldas Wißbegierde zu befriedigen. Er fuhr mit ihr in die Grube ein, zeigte ihr die Kupfer- und Saigerhütte und führte ſie durch Feld und Wald.

Oft ſtanden beide am Abend auf dem hohen Söller und ſahen hinab in die Tiefe, wo die Öfen der Hütte glühten und die Flammen aufzuckten, als ſei ein Vulkan erwacht.

Als Eliſabeth Gerds Ankunft erfuhr, litt es ſie nicht mehr bei den frommen Frauen, ſie ließ ſich ihren Zelter ſatteln und ritt nach Schade. Als Gerd ſie vom Pferde hob, brachte ſie nur die Worte heraus:

„Ich wußte, daß du wiederkommen wirſt.“

Beide wollten die Hochzeit beſchleunigen, aber der Freiherr widerſetzte ſich dieſem Vorhaben. Denn er wollte den Ehrentag ſeines Lieblings würdig begehen.

So mußte Eliſabeth wieder ins Kloſter zurückkehren, wohin Mafalda ſie begleitete, um ihr beim Weben und Nähen zu helfen. Als der Frühling kam, begannen die Zurüſtungen zur Hochzeit. An alle benachbarten und befreundeten Herrengeſchlechter ergingen Einladungen. Nach Lübeck brachte ein Bote einen Brief an Gottſchalk von Soeſt, worin auch Merten Voß, der geachtete Schifferälteſte, herzlich eingeladen wurde.

Schon zwei Tage vor der Hochzeit kamen die erſten Gäſte an, unter ihnen der junge Herzog von Braunſchweig.

Auch Gottſchalk von Soeſt und Merten Voß ritten in die Burg ein.

Der Schiffer, des Reitens ungewohnt, ſaß ſteif auf dem breiten Rücken eines braunen Holſteiner Wallachs.

Im Burghofe ſtieg er ſchwerfällig ab.

Nach der erſten Begrüßung fragte Henning ihn ſchmunzelnd nach dem Verlauf der Reiſe.

Der fuchſige Bart des Schiffers zuckte. Er warf einen vorwurfsvollen Blick auf ſein lammfrommes Tier, das in den Stall geführt wurde, und befühlte ſein Heck; dann ſprach er:

„Ich bin ein guter Reiter, aber dieſes Pferd war mächtig rank und ſteuerte ſchlecht. Ich fahre lieber mit einem guten Schiff im November nach Bergen, als daß ich einen ſolchen Ritt noch einmal mache.“

Die Hochzeit fand in der Kirche von St. Barbara ſtatt, da die Burgkapelle zu klein war, um die Gäſte zu faſſen. Denn auch die Berg- und Hüttenleute wollten den Ehrentag des Fräuleins mit erleben.

Das war ein Tag wie geſchaffen zur Hochzeitsfeier. Der Ginſter ſtand mit ſeinen lodernden Garben in voller Blütenpracht, und in Wald und Feld flüſterte und wiſperte geheimnisvoll die erwachte Natur.

Durch den Maienmorgen wallte der Hochzeitszug den Burgberg hinab der Kirche zu.

Zwei Edelfräulein führten die Braut, dahinter folgte Gerd, geleitet von dem jungen Herzog und Gottſchalk. Vor der Kirche ſtanden die Bergknappen in ihren ſchwarzen Jacken, das brennende Geleucht in der Hand. Auch die Hüttenleute in ihren weißen Mänteln waren aufgezogen.

Der Abt von Walkenried empfing das Brautpaar und führte es an den Altar.

Als es den Segen empfing, floß hell eine ſtrahlende Fülle von Sonnenlicht durch das Kirchenfenſter. An Eliſabeths Nacken erglänzte die goldene Ehrenkette des Meiſters Hans Buſſengeter, und ihre blonden Locken erſtrahlten wie eine Gloriole. Ein glückbringendes Zeichen erſchien es allen.

Das Feſtmahl war in der großen Halle der Burg gerüſtet. Die rieſigen Eichentiſche waren mit ſchneeweißem Linnen gedeckt, auf dem das Silbergeſchirr glänzte. Die ſchweren Eichenſtühle ſtanden ausgerichtet um die Tiſche, zu langem Sitzen einladend. Über den Plätzen des Brautpaares hingen deren Wappen, die Schadecker Tanne mit den fünf Kugeln und der ſpringende Hirſch der Freyermuth. Von den Teppichen an den Wänden ſchauten die Bilder der Ahnen des Schadeckers in Brünne und Pelz auf die fröhliche Geſellſchaft herab.

Ein gewaltiges Schmauſen hob an. Denn die wetterfeſten Grafen und Herren Niederſachſens liebten gutes Eſſen und verſtanden neben dem Schwerte auch den Becher zu ſchwingen.

Mafalda ſah ſtaunend die mächtigen Geſtalten dieſer Recken, von denen mancher in blanker Rüſtung erſchienen war, als gelte es, ſtatt zu einer Hochzeit zu einer Fehde zu reiten.

Nach der Tafel ſang ein Junker, der die Laute zu ſchlagen verſtand, von den Taten des Löwenherzogs, von Parzival, von Triſtan und Iſolde. Dann feierte er in einem Liede die minnigliche Schönheit der jungen Frau und die Tugenden ihres Gatten.

Gegen Abend wurde der Saal geräumt, und der Tanz begann.

Während ſich das Jungvolk im fröhlichen Reigen drehte, ſaßen die geſtrengen Grafen und Herren mit Merten Voß feſt wie angewachſen auf den langen Bänken der Vorhalle und ließen den Humpen kreiſen. Alte Erinnerungen an Turnier und Fehde wurden wieder lebendig; und der Schiffer erzählte von ſeinen Islandfahrten, von Walen, Robben und Eisbären und von den nordiſchen Geſtaden, wo die Sonne nicht untergeht. Auch manches derbe Scherzwort fiel.

Wenn dann das Lachen der Recken dröhnend durch das Haus hallte, ſchreckte Mafalda zuſammen und malte ſich aus, wie furchtbar dieſe Männer erſt im Zorn ſein müßten.

So wurde es Nacht. Gerd, der eine Weile im Kreiſe der Alten geſeſſen hatte, ſah ſich plötzlich von der Jugend umringt. Unter Scherzen und Lachen führte man ihn und ſeine junge Frau in das neue Burgmannenhaus.

Beim Abſchied ſagte Henning zu Gerd:

„Ich habe für euch eine Überraſchung bereitet.

Begib dich mit Eliſabeth auf den Söller. Ich will euch zeigen, daß das Schießpulver auch andere Wirkungen hervorbringen kann, als Menſchen töten und Mauern zerſtören. Das Feuerwerk, das der Geſchützmeiſter der Burg vorbereitet hat, ſoll einen ſchöneren Abſchluß deiner Kriegsfahrten bilden als die Sprengung der Türkengaleere.“

Die Gäſte ſtiegen auf die Ringmauer. Auf dem Söller ſtanden die Neuvermählten Hand in Hand.

Der Schuß eines Falkonetts krachte.

Der gewaltige Batterieturm auf der Bergſpitze erſtrahlte von den felsgegründeten Fundamenten bis zu den Zinnen in rotem Lichte.

Von der Höhe des Turmes ſtiegen Raketen auf und zerſprangen in tauſend Sterne.

Feuerräder wirbelten durch die Luft, und eine glühende Sonne ſtand ſtrahlend am nächtlichen Himmel.

Da blitzten aus allen Scharten die Geſchütze und rollend klang das Echo in ſiebenfachem Widerhall durch die Schluchten, während die Feuer langſam erloſchen.

Ausklang

Sichere Kunde über das ſpätere Schickſal des Doktor Nauheim liegt nicht vor. In den Florentiner Gerichtsprotokollen jener Zeit findet ſich eine Eintragung, daß ein Deutſcher, wegen Falſchmünzerei zum Feuertode verurteilt, ſich im Gefängnis durch Gift das Leben genommen hat. Es iſt möglich, daß dieſer Unglückliche der Mann geweſen iſt, der trotz ſeiner hohen Geiſtesgaben den Weg des Verbrechens beſchritten hat. So wäre er ſchließlich an allem verzweifelnd den Tod der Verzweifelten geſtorben.

Henning zog mit Mafalda über die Alpen nach dem ſonnigen Italien zurück. In Venedig angekommen, erfuhr er zu ſeiner Überraſchung, daß ihn der Senat trotz des Einſpruchs des Andrea della Torre zum Admiral der Republik ernannt hatte. Dieſes Amt verſah Henning zehn Jahre lang, bis er es nach dem Tode ſeines Schwiegervaters niederlegte, um ſich ganz der Leitung des Hauſes der della Torre zu widmen. Gleich berühmt als gewaltiger Seeheld, als Türkenſchreck, wie als mächtiger Beſchützer und Förderer von Handel und Gewerbe, lebt „Ennigo Frimodi“ in der Erinnerung fort. Manche Sage rankt ſich um die Geſtalt des blonden Deutſchen, der wie ein fahrender Abenteurer nach der Dogenſtadt kam, die ſchönſte und reichſte Braut gewann und dann den Löwen von San Marco ſiegreich über das Mittelmeer trug. Von ihm ſtammen die mit dem italieniſchen Hochadel vielfach verſchwägerten Frimodi della Torre ab. Ihr Blut fließt noch heute in den Adern von Königen.

Gerd blieb auf Schadeck. Er baute die Gottesſegengrube und die Hütte von St. Barbara weiter aus, auch Glas- und Eiſenhütten gründete er. Er wurde in den Freiherrnſtand erhoben und ſtarb hochverdient um die Induſtrie des Harzes als kaiſerlicher Kämmerer.

Unter ſeinem Enkel Gerhard II. von Schadeck geriet die Gottesſegengrube in Unwürde. Denn die mächtigen Gänge waren bis zur Stollenſohle erſchöpft und das Waſſer wehrte den Abbau der Erze nach der Teufe hin. Deſſen Sohn Johann Gerhard, den die Familiengeſchichte den Reichen nennt, berief den Meiſter Claus von Gotha und ließ die großen Spannteiche und jene berühmte Heinzenkunſt erbauen, die mit ihrem dreihundert Lachter langen Feldgeſtänge eine in alten Bergbüchern oft dargeſtellte Sehenswürdigkeit war. Durch dieſes Pumpwerk wurden die tiefen Schächte zu Sumpf gebracht, und die Ausbeutung der unter der Stollenſohle anſtehenden, noch ſilberreicheren Erze begann. Der Erwerb der ausgedehnten Herrſchaft Kranichsfeld legt Zeugnis ab von dem Reichtum des Freiherrn Johann Gerhard von Schadeck. Scine Familie blühte noch viele Geſchlechter hindurch und ſchenkte Deutſchland tüchtige Berg- und Hüttenleute, bis ſie endlich verſiegte.

Das Buch des Meiſters Hans Buſſengeter, das Wunderbuch, auf dem der Glanz und der Reichtum des Geſchlechtes beruhte, hat, alt und vergeſſen, Jahrhunderte lang in der Bücherſammlung der Schadecker geſchlummert, bis es nach dem Ausſterben der Familie in die große Staatsbibliothek gelangt iſt. Dort hat der kleine unſcheinbare Schweinslederband mit ſeinen halbverwiſchten Zeichnungen und Texten die Aufmerkſamkeit eines Forſchers erweckt, und dieſer hat das Buch als eine der Brücken zwiſchen der Weisheit des Orients und der modernen Technik erkannt. Seitdem er auf die Bedeutung des Buches hingewieſen hat, gilt das Wunderbuch als eine der größten Koſtbarkeiten des reichen Schatzes der Staatsbibliothek an mittelalterlichen Handſchriften. Uns iſt der vermoderte und wurmſtichige Band auch deshalb teuer, weil er Erinnerungen an ſeine einſtigen Beſitzer birgt. Auf das Vorſatzblatt iſt ein freiherrliches Wappen mit viergeteiltem Schilde gemalt, das im erſten und vierten Felde eine grüne Tanne auf ſilbernem Grunde unter fünf Kugeln und im zweiten und dritten einen ſteigenden goldenen Hirſch im blauen Felde zeigt. Darunter hat eine Schnörkelſchrift des ſechzehnten Jahrhunderts geſchrieben: „Johannes Gerhardus Liber Baro vonn vndt czu Schadegk, Erbherr czu Krannichsfeldt.“ Die erſte Seite des Buches zeigt eine Hausmarke mit einem Geſchützrohr, darüber ſteht in mittelalterlicher Schrift, mit feſter Hand geſchrieben, der Name „Hans Buſſengeter“ und darunter aus wenig ſpäterer Zeit in ungelenker Knabenſchrift: „Henning und Gerd Freyermuth“.

Gerds ſchönes Sankt-Jürgen-Bild iſt nicht auf unſere Tage gekommen. Bald nachdem man Gerd und Eliſabeth nach einem ſonnigen Alter unter dem Chore der Kirche zu St. Barbara zum letzten Schlummer gebettet hatte, wurde es durch eine umfallende Opferkerze in Brand verſetzt und ſo ſtark beſchädigt, daß kein Meiſter die Wiederherſtellung wagte. Die Reſte lagen lange Zeit unter dem Dache der Kapelle umher. Hier ſah ſie ein junger Goldſchmiedegeſelle, Bernt Notke geheißen. Dieſer verfertigte ſpäter nach ihrem Vorbild die berühmte Sankt-Jürgen-Gruppe in der Großen Kirche zu Stockholm, die mit Recht als eines der herrlichſten Holzbildwerke der Gotik gilt.

*

Die Gottesſegengrube iſt längſt aufgelaſſen und nur einige hundert Meter des Gutehoffnungsſtollens ſind noch befahrbar. Die mit Kalkſinter und Vitriol überzogenen Wände des Stollens leuchten magiſch im Scheine der Grubenlampe, wenn ein wiſſensdurſtiger Mineraloge die gefährliche Einfahrt wagt.

An die Hütte von St. Barbara erinnert nur noch der Name einer Flur im Wieſengrunde, die noch heute „auf der Kupferſchmelz“ heißt. Über das Weichbild des Städtchens St. Barbara zieht der Bauer ſeinen Pflug, und von dem ſchlichten Kirchlein ſteht nur noch die Giebelfront mit der zierlichen Fenſterroſe. Die hohen Gewölbe ſind eingeſtürzt. Die ſchlanken Säulen, auf denen ſie ruhten, ſind zertrümmert, Waldblumen ſprießen auf ihren wuchtigen Sockeln. Unter freiem Himmel ſteht der moosbewachſene Altarſtein, von Efeu eingehüllt, von hohen Tannen überſchattet.

Aber wir wollen nicht über die Vergänglichkeit alles Irdiſchen klagen, ſondern uns damit tröſten, daß zu unſerer Zeit Bergbau und Hüttenweſen an anderer Stelle gewaltige Städte haben erſtehen laſſen, durch deren breite Prachtſtraßen der moderne Verkehr wogt und Ketten blitzender Kraftwagen fliegen, von denen jeder einzelne mehr Antriebskraft hat als alle Waſſerräder von St. Barbara zuſammen.

Nur die Burg Schadeck ragt noch jetzt auf ihrem ſchroffen Felſen über die Wipfel der Tannen empor. Zinnen und Ringmauern ſind geſtürzt, zernagt vom Zahn der Zeit, doch der trutzige Bergfried ſteigt noch hoch empor ins Blau, und der gewaltige Batterieturm mit ſeinen vier Meter dicken Mauern gibt noch heute Kunde von der Kraft des edlen Geſchlechtes, deſſen Wiege die Feſte war.

Eulen und Fledermäuſe umziehen in den Abendſtunden die Mauern, und am Bergeshang ſingt am taufriſchen Sommermorgen die Nachtigall ihr ſehnſüchtiges Lied zum Plätſchern des Waldquells. Ringsum rauſcht in den Gründen und auf den Höhen der Wald wie einſt, und in den Schluchten und Engen ziehen noch immer die klaren Bäche wie ſilberne Adern leuchtend durch das Grün des Tannenforſtes. So trägt die Landſchaft noch heute die Farben des ſtarken Geſchlechtes, das auf der Feſte lebte, wirkte und verging.

Unſere wanderfrohe Jugend kennt und liebt die einſame Bergfeſte. In dem alten Burghofe erklingen Klampfen und Zupfgeigen zum frohen Sange junger Kehlen.

Aber wenn die Nacht ihren dunklen, ſternenbeſtickten Mantel um Berge und Forſte ſchlägt, und ihn mit der funkelnden Silberagraffe des Mondes ſchließt, dann wird jedem, der die raunenden Stimmen der Natur zu deuten weiß, das geheimnisvolle Rauſchen der Tannenwipfel manch ſeltſame Märe und Sage erzählen, und er wird aus dem leiſen Wehen des Windes, der heute um die Feſte Schadeck flüſtert und morgen um den ſchimmernden Marmorpalaſt ſtreicht, der auf den feſten Grundmauern des ſchwarzen Turmes der della Torre ſteht, Zauberworte vernehmen, die ihm Vergangenes erſchließen.

*

Um uns tönt das Hohelied der Arbeit, es pocht in gewaltigem Pulsſchlage in den Stollen der Bergwerke; es ſteigt herauf aus den Schächten, es klingt im dröhnenden Fall der Hämmer und wächſt an zur mächtigſten Symphonie im Flammenſauſen der Converter, im ſprühenden Funkenregen der feuergeſättigten Hochöfen. Doch hinter den gewaltigen Werken unſerer Tage ſtehen wie Schatten ehrfurchtgebietend die ſagenhaften Geſtalten der kühnen Pioniere, die der Technik die Wege wieſen, die ſie zu ihrer heutigen Bedeutung führten; und ihre Stimmen reden in ſtiller Gelehrtenſtube, wenn der ernſte Forſcher in ihren alten Handſchriften blättert.

Großes hat die deutſche Technik im Mittelalter geleiſtet, herrlich hat ſie das Erbe des Altertums ausgebaut, fleißig hat ſie aus den Anregungen gelernt, die ihr die ältere Kultur Italiens darbot. Nun iſt ſeit hundert Jahren Deutſchland wieder ein Land der Technik. Chemie, Hüttenweſen und Maſchinenbau ſtehen bei uns in höchſter Blüte. Wo unſerm armen Vaterlande die Rohſtoffe fehlten, hat die deutſche Wiſſenſchaft geholfen. Unſere Chemiker haben aus der Luft den fehlenden Salpeter gemacht, haben aus der Erde die Metalle zum Bau von Flugzeugen gewonnen und damit dieſer jüngſten Technik neue Bahnen gewieſen, haben aus der ſchwarzen Kohle Farben, Heilmittel und Treibſtoffe hergeſtellt. Und in ihren Laboratorien und mächtigen Fabrikhallen reifen heute faſt alle Erzeugniſſe des Tropenhimmels ſchneller, reicher und reiner als in der Natur.

Feinde ſehen mit Neid auf das deutſche Können. Ihrer gilt es ſich zu erwehren. Da möge der hochgemute Sinn der Brüder Freyermuth, der Geiſt jugendlichen Unternehmungsmutes und die feurige Liebe zu Technik und Kunſt, gepaart mit der Erfahrung, die aus dem Buche des Meiſters Hans Buſſengeter ſpricht, in unſerm Vaterlande für alle Zeiten fortleben und ihm den Platz erringen und ſichern, der ihm durch Überlieferung und Leiſtung gebührt.

Auch heute noch gilt der kernige Merkſpruch, den Henning aus dem Buche ſeines Meiſters auswählte:

„Willtu des Lebens Kampf beſtan,
So mußtu Kraft und Wiſſen han!“





Notizen zur Digitalisierung des Originals

Der Autor Dr. Otto Johannsen, gebürtig aus Lübeck, studierte in Berlin Chemie und promovierte dort. Nicht zu verwechseln ist der Autor mit dem gleichnamigen Maschinenbauer und Textilingenieur Otto Johannsen (1864–1954), welcher zeitweise dem Vorstand des Vereins deutscher Ingenieure angehörte. Zum Mitautor Adolf Groß sind keine biografischen Details bekannt.

Bei der Vorlage für das Digitalisat aus kaeseschem Familienbesitz handelt es sich um die zweite Auflage aus dem Jahr 1943. Das Buch im Format von 12,5 cm × 18,5 cm ist in einen Pappeinband gebunden und enthält 232 Seiten. Gesetzt wurde es in Schwabacher Schrift.

Im Digitalisat wurden Rechtschreibung, einschließlich des langen ſ, und Absätze vom Original übernommen, die wenigen Satzfehler jedoch korrigiert.

Christian Kaese
Eschershausen 2023