Jener gedenkend, die ihr
Leben freudig dahingaben
für die Entwicklung der
Luftfahrt, widme ich dieses
Buch der deutschen Jugend
und einer heranwachsenden
neuen Fliegergeneration, die
das Werk fortsetzen wird,
das wir beginnen durften
Ich werde doch Kadett!
Was hatte Vater gesagt, als ich ihm an jenem Julitage, an dem er zur Schießübung nach dem Lechfeld abrückte, mein Zeugnis auf den Bahnhof bringen musste, in dem mir wieder einmal schwarz auf weiß bestätigt worden war, dass ich das Klassenziel nicht erreicht hatte?
„… dann musst du dir eben einen anderen Beruf aussuchen, dann musst du halt Schuster oder Schneider werden, wenn du auf der Schule nicht weiter kommst!“ –
Glück im Unglück: diesmal war ich um die Dresche gekommen, die es zu Hause bestimmt gesetzt hätte, denn mein Vater hatte mich auf dem Bahnhof doch nicht gut übers Knie legen können. Aber schmerzlicher als die verdienten Prügel war der Blick, der mich aus seinen ernsten Augen getroffen hatte.
Vater war bekümmert gewesen, ja, er hatte mich mitleidig angesehen, und dann … dann war das mit dem „Schuster und Schneider werden“ gekommen.
Nein, das war nichts für mich! So auf dem Tisch hocken oder auf dem dreibeinigen Schemel vor der wassergefüllten Glaskugel mit gekrümmtem Rücken sitzen – wenn ich schon Handwerker werden müsste, dann aber Schmied, Stellmacher oder Schreiner. Und manchmal schlich ich in diesen Ferien, die wenig schön für mich waren, zu meinem alten Freunde, dem Schreinermeister Holl, sah ihm zu bei seinem Schaffen, und die Aussicht, die Schulzeit abbrechen zu müssen, weil ich zu dumm war für die gelehrten Sachen, erschien mir immer weniger schrecklich.
Doch – dann konnte ich ja nicht Soldat werden, nicht ins Kadettenkorps eintreten wie mein Bruder Franz, der Musterknabe, der als jüngster und kleinster bayerischer Kadett geradezu eine Sehenswürdigkeit geworden war, der stolz in seiner leuchtend blauen Uniform vor uns paradierte und den blassen Neid seiner zivilistischen Brüder weckte …
Wir waren nach Pfaffenhofen gefahren, dem Dorf, aus dem meine Mutter stammt. Dort halfen wir Jungen so gern den Großeltern und verschiedenen Onkels bei der Ernte. Aber froh wurde ich diesmal der Ferientage nicht. Meine Brüder, die Vettern – alle hatten bessere Zeugnisse bekommen, saßen in höheren Klassen … und ich?
Dunkel und bedrohlich lag die ungewisse Zukunft vor mir. Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Manchmal griff ich jetzt sogar freiwillig zur lateinischen Grammatik und zur Rechtschreiblehre. Doch dann lockte die Sonne wieder, die Ernte, das Einfahren der goldenen, kornschweren Garben, und all die guten Vorsätze, die ich in stillen Stunden der Scham und Reue gefasst hatte, waren vergessen.
Diese verdammte Schulweisheit!
Schon auf der Volksschule in Neu-Ulm, die wir drei oder vier Jahre besuchen mussten, ehe wir aufs Gymnasium durften, hatte es begonnen. War es nicht netter, auf den weiten Exerzierplätzen herumzustrolchen und mit gleichgesinnten Freunden Streiche auszuhecken, die uns zum Schrecken der Nachbarschaft machten? Und dann in der Sexta! Da war der Schulweg durch die damalige Friedrichstraße, über die beiden Brücken, zwischen denen die „Insel“ liegt, durch die altertümlich engen und gewinkelten Gassen mit den überhängenden Stockwerken der schön gegiebelten Häuser zu dem roten Backsteinbau der Lehranstalt ja viel interessanter als das Wissen, mit dem man uns Knirpse vollzustopfen bemüht war.
Das erste Gymnasialjahr hatte für mich damit geendet, dass meine Versetzung von einer Nachprüfung abhängig gemacht werden sollte. Das war betrüblich gewesen, aber ein Zufall befreite mich von diesem Examen, dem ich sicherlich nicht gewachsen gewesen wäre. Mein Vater wurde nach München versetzt, ich kam auf das Ludwigsgymnasium, und hier steckte man mich, nachdem die Aufnahmeprüfung zu einer kleinen Katastrophe für mich geworden war, statt in die Quinta – wie ich es im stillen gehofft hatte – in die Sexta. Allerdings, und das war besonders peinlich, auch nur probeweise.
Aller Anfang ist schwer
In den ersten Wochen hatte ich leichtes Spiel, aber bald erhielt mein Selbstbewusstsein einen harten Stoß, und jetzt hatte der Jahresschluss die erschreckende Quittung gebracht: Schuster oder Schneider werden … statt Kadett und später dann Soldat.
Zum ersten Male packte mich nun die Wut. Sollte ich nicht auch schaffen können, was die anderen vermochten? Allerdings – bis zur Aufnahmeprüfung ins Kadettenkorps hatte ich noch drei Jahre Zeit. Und jetzt schon mit der Arbeit zu beginnen, schien mir etwas verfrüht. Aber schneller als ich gedacht, waren auch diese drei Jahre vorbei.
Wir schrieben 1901, ich war dreizehn Jahre alt geworden, und wenn ich diesmal das Klassenziel erreichte, würde ich die Aufnahmeprüfung ins Kadettenkorps machen dürfen. Wenn … dieses ekelhafte Wort hat mir damals Kopfzerbrechen bereitet. Zu dieser Zeit drückte ich gemeinsam mit meinem Bruder Ludwig, der mich eingeholt hatte, die Bänke der gleichen Klasse im Münchener Luitpold-Gymnasium und mühte mich redlich, wenn auch ohne großen Erfolg zu erzielen, das Pensum zu schaffen.
Während Ludwigs Osterzeugnis gut ausfiel, befand sich in meinem leider wieder einmal ein Wink für meinen Vater, durch den man ihn schonend darauf vorbereitete, dass ich wahrscheinlich auch diesmal wieder hängenbleiben würde. Nette Aussichten! Der zwanzig Monate jüngere Bruder dürfte dann das Examen machen, während man mich nicht einmal zuließ.
Die Eltern waren Kummer gewöhnt. Es gab jüngere Geschwister, die heranwuchsen und für die gesorgt werden musste. Wenn der Taugenichts Hermann eben nicht vorwärtskam, dann – na ja dann müsste er eben Handwerker werden.
Die Orgelpfeifen – Der zweite dees bin i!
War ich zu dumm? Fast schien es so, denn die nächsten Klassenarbeiten fielen so schlecht aus, dass an dem Sitzenbleiben kein Zweifel mehr bestehen konnte. Und das Schlimmste: ich musste mir sagen, dass ich und kein anderer die Schuld daran trug.
Eigentlich gab es keinen Ausweg mehr aus diesem Dilemma; alle Wege waren verbaut. Das Unheil ließ sich kaum noch abwenden. Aber in diesen Tagen, da die Not für mich am höchsten war, in diesen Wochen, in denen ich von keiner Seite Unterstützung fand, weil meine Eltern sich abgefunden hatten mit dem unvermeidlich Scheinenden und nur noch Mitleid für mich fanden, nahm ich mein Schicksal zum ersten Male selbst in die Hand.
Es wäre sinnlos gewesen, jetzt noch zu arbeiten. Nie und nimmer würde ich auf dem Luitpold-Gymnasium versetzt werden. Zur Aufnahmeprüfung ins Kadettenkorps aber musste ich zugelassen werden. Ich musste es! Aber wie?
Hier konnte nur eine glückliche Idee helfen. Und ich hatte eine solche. Auch Privatschüler, das erfuhr ich zufällig, konnten ins Korps aufgenommen werden. Sie mussten sich jedoch außer der schriftlichen Prüfung noch einem mündlichen Examen unterziehen. Hier war also ein Ausweg.
Herz gefasst und zum Vater gegangen. Der war sehr erstaunt, traute der Findigkeit seines „verlorenen Sohnes“ erst nicht recht, erkundigte sich und – half mir. Drei Wochen waren es jetzt noch bis zum Jahresschluss. Ich bekam ein wenig erfreuliches Abgangszeugnis und einen tüchtigen Abiturienten, der mir Nachhilfeunterricht erteilte.
Nun hub ein wildes Arbeiten an. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht saß ich hinter den Büchern und wurde ein so wissbegieriger Schüler, dass ich meine Hefte nachts sogar unters Kopfkissen legte. Doch die Zeit war kurz, sehr kurz sogar, aber mit jedem Tage wuchs mein Selbstbewusstsein, stiegen mein Vertrauen und meine Sicherheit. Ich spürte, dass ich wirklich etwas gelernt hatte.
Nur nicht verblüffen lassen, nicht aus der Ruhe kommen, immer kaltes Blut – mit diesen Vorsätzen stieg ich ins Examen. Den uns gestellten Aufgaben schien ich gewachsen zu sein. Auch die Fragen im gefürchteten „Mündlichen“ ließen sich ertragen. Für mich gab es keinen Zweifel: ich musste es geschafft haben … wenn auch als Letzter.
Einen Monat später traf der sehnsüchtig erwartete Brief ein, der als Siegel den Stempel „Königlich bayerisches Kadettenkorps“ trug. Fiebernd hingen unsere Augen an Vaters Gesicht, und je weiter er las, desto sicherer wussten wir – der Inhalt konnte nicht schlecht sein. Er war es auch nicht. Wir hatten beide bestanden. Und ich – ungläubig fast fiel sein Blick auf mich – ich hatte ganz besonders gut abgeschnitten, war als Neunter durchgekommen, während der fleißige Ludwig mit seinen guten Schulzeugnissen gerade noch Vierundzwanzigster unter fünfundzwanzig Prüflingen mit durchrutschte.
Unbändig stolz sehnte ich das Ende der Ferien herbei. Ich hatte den ersten Sieg auf dem Schlachtfeld des Lebens errungen, ich war rehabilitiert den Brüdern und Vettern gegenüber, ich hatte an meinen Eltern vieles wieder gutmachen können und – das war weit wichtiger für mich, denn es wurde entscheidend für mein ganzes Leben: in diesen Wochen hatte ich nicht nur gelernt, dass man arbeiten kann, wenn man nur will, sondern auch, dass man sich dem Schicksal niemals beugen darf. Man muss es bezwingen!
*
Jetzt war ich kein Schulbub mehr, sondern königlich bayerischer Kadett. Der bunte Rock hob uns hoch aus der Masse der „gewöhnlichen Sterblichen“, aber lange dauerte diese Freude nicht, denn zu dem eigentlichen Schulbetrieb gesellte sich hier eine harte und spartanisch strenge militärische Erziehung.
Draußen respektierte man unsere hübsche, bunte Uniform. Zu Haus wurden wir bewundert, und die ehemaligen Klassenkameraden bezeigten uns ihre Achtung, indem sie uns mit neckenden Bemerkungen aufzuziehen versuchten. Aber innerhalb der roten Backsteinmauern, die jetzt unsere ganze Welt umschlossen, herrschte die Uhr, herrschten die Professoren und Erzieher, herrschten die knopf- und silberlitzengeschmückten Aufsichts- und Fahnenkadetten, die unsere Vorgesetzten waren.
Wenn die Glocke anschlug und den Unterricht beendete, so waren wir nicht frei, dann durften wir nicht durch die Straßen bummeln und Allotria treiben. Wir wurden geführt und kommandiert … zum Essen, zum Schlafen, zu den Erholungspausen. Selbst diese mussten in der vorgeschriebenen Weise auf genau abgezirkelten Teilen des Hofes absolviert werden.
Überall türmten sich Verbote auf und umgaben uns wie ein dichtes Gestrüpp, durch das niemand entwischen konnte. Wer es dennoch versuchte, war rasch gefasst und wurde bestraft, härter bestraft als draußen auf dem Pennal. Was war eine Stunde Nachsitzen gegen die gefürchtete Urlaubsverkürzung am Sonntag, was ein Verweis gegen das abendliche Strafexerzieren oder eine Eintragung ins Klassenbuch gegen die Kostbeschränkung?! Der Glanz der bunten Uniform musste teuer bezahlt werden.
Kein Aufbäumen half und keine Resistenz. Wir hatten zu gehorchen, mussten die Zähne zusammenbeißen, den Kummer herunterschlucken und auf den Sonntag warten, den Tag, an dem der Kadett eigentlich erst zu leben begann. Dann durften wir uns als richtige Soldaten fühlen, auf der Nymphenburger Straße Front machen, wenn uns ein Hofwagen entgegenkam, saß darin nun der Prinzregent persönlich oder nur ein kleines Prinzesschen … noch jünger vielleicht als wir Buben, die wir am Straßenrand stramm unser „Männchen“ bauten und stolz darauf waren, wenn man uns kritisch musterte.
Das waren die Lichtpunkte in der Eintönigkeit unseres Daseins, das wohl nach außen bunt und interessant erschien, in Wirklichkeit aber wenig schön und arm an Freiheit war.
Auch im Korps war ich kein besserer Schüler geworden als vorher. Schon nach ganz kurzer Zeit kam es so weit, dass ich des Sonntags kaum noch Urlaub erhielt, Stammgast wurde am Tische jener, die zu Kostbeschränkung verdonnert worden waren und den Sonntagnachmittag dazu benutzen mussten, ihre Strafarbeiten zu erledigen, und bald zu denen gehörte, die ihren Stempel weg hatten und gezeichnet waren. Das war ganz besonders peinlich, weil uns das kleinste Versehen als Rückfallsdelikt ausgelegt wurde und man uns entsprechend härter bestrafte.
Vor allem war es mein Lateinlehrer, der mich zu seinem besonderen Liebling erkoren hatte. Ein kleines Männlein mit verwittertem Gesicht, den wackligen Zwicker auf der Nase, unter der ein großer, spitzer Schnurrbart sprießte. Er trug einen Gehrock, dazu den niedrigen, stumpfen „Böller“, und wenn er uns etwas vorlas, hielt er das Buch ganz dicht vor die wässrigen Augen. Da mich mein militärischer Erzieher – ein großer und dicker bezwickerter Oberleutnant – ihm besonders ans Herz gelegt hatte, zwiebelte er mich und seine anderen „Günstlinge“ mit den verzwickten unregelmäßigen Verben solange, bis er uns bei einer kleinen Unwissenheit ertappte, um uns dann mit Strafen „auf die Beine“ zu helfen.
Es dauerte nicht lange, so waren wir ein richtiger „Klub“, dessen Mitglieder sich überall zusammenfanden, wo es eine Strafe abzubüßen galt. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel, unterstützten einander, um uns das Leben so leicht wie möglich zu machen, waren wir doch völlig aufeinander angewiesen, denn die „unbelasteten“ Kameraden mussten befürchten, dass man aus einer Freundschaft mit einem von uns unangenehme Schlüsse auf sie selbst zog.
Hier entstand eine wirkliche Kameradschaftlichkeit. Aber leider hatte auch diese bisweilen recht unangenehme Folgen. Als eines Sonntagnachmittags sich der Kadett Käs, der eine andere Klasse besuchte, sich aber bei meinem Lateinprofessor, der auch Deutschunterricht gab, einer fast ebenso großen Beliebtheit erfreute wie ich, mit einer sehr schwierigen Strafarbeit abzuquälen hatte, griff ich ihm hilfreich unter die Arme. Ich kannte ja die Eigenarten des „Lateinlöwen“ genau, hatte die Arbeit im Handumdrehen fertig und drückte sie dem beglückten Kameraden in die Hand. Alles wäre gut gegangen, hätte Käs nicht die kapitale Dummheit begangen, die ganze Geschichte wörtlich abzuschreiben. So fiel dem Professor selbstverständlich der fremde Stil auf, er griff sich den Übeltäter, sagte ihm auf den Kopf zu, dass er die Arbeit nicht allein gemacht habe, und stellte ihm die sofortige Relegation in Aussicht, wenn er seinen Helfer nicht preisgäbe.
Der brave Käs wand sich wie ein Aal in dieser Schlinge. Der Professor tobte und bedrängte den armen Kerl so, dass die Kameradschaft unterlag. Drei Tage Arrest waren unser Lohn. Ich machte mir nicht viel daraus. Nur ekelhaft langweilig war es in der hellgrün getünchten, engen Zelle. Ein Tisch am Fenster, ein Stuhl, ein Wasserkrug und die an der Wand hochgeschlossene Pritsche … das war „Unteritalien“, wie wir die Arrestanstalt, die im Südteil des Gebäudekomplexes lag, nannten. Käs und ich brummten in zwei nebeneinanderliegenden Zellen, wir plagten uns mit den Exerzitien, die man uns aufgegeben hatte, damit uns die Zeit nicht lang werden sollte, und als die Luft rein schien, als keine plötzliche Kontrolle zu befürchten war, begannen wir auch vorsichtig, miteinander Verbindung aufzunehmen.
„Was machst du, Käs?“
„Muss Cäsar übersetzen“, tönte es durch die Wand zurück. Das war ja herrlich, dass wir uns so gut verständigen konnten, denn nun konnte ich dem Kameraden, der mir gestand, dass er mit seiner Aufgabe nicht so recht fertig wurde, helfen. Richtig übersetzt wurde im Arrest nach Möglichkeit natürlich nicht, denn die Ventilationskästen, die im Zellenboden eingelassen waren, dienten als Versteck für gedruckte Übersetzungen und andere Eselsbrücken, mit denen wir uns das Leben leicht zu machen bestrebt waren.
Schnell fischte ich heraus, was Käs brauchte, und begann, es ihm vorzulesen. Da – plötzlich ein Geräusch, ein Knirschen im Schloss … die Tür flog auf, und herein trat der Kompaniechef. Er war leise in den Vorraum gekommen, hatte unsere Unterhaltung mit angehört und stürzte nun an meinen Tisch. Die Übersetzung ließ sich nicht mehr verbergen.
Siedendheiß rann es mir den Rücken hinunter. Hier halfen keine Ausflüchte. Der Kompaniechef kannte den Schwindel nur zu genau, denn er war selbst Kadett gewesen. Auch drüben bei Käs genügte ein Blick, den Sachverhalt zu erraten. Für mich war das ganz besonders verhängnisvoll. Ich war bestraft worden, weil ich einem anderen bei einer deutschen Arbeit geholfen hatte, und nun wollte es das Unglück, dass die Cäsarübersetzung, die Käs anzufertigen hatte, ebenfalls eine Deutscharbeit war, was ich nicht ahnen konnte, weil dies nur sehr selten vorkam. Also … Rückfallsdelikt, erschwert dadurch, dass man uns bei dieser Untat während der Abbüßung der Arreststrafe erwischte.
Als sich die Tore „Unteritaliens“ öffneten, hatten wir uns im Dienstanzug beim Kompaniechef zu melden, der uns zum Kommandeur führte. Kopfschüttelnd hörte sich der Oberstleutnant die schweren Beschuldigungen an, die gegen uns arme Sünder vorgebracht wurden. Wir wären am liebsten in einer Ritze des Fußbodens verschwunden, aber das ging ja leider nicht. Auch kein Wort der Entschuldigung, keine Bitte um Milde durfte über unsere Lippen kommen, als das höllische Donnerwetter über uns niederprasselte. Das wäre ja unmilitärisch gewesen. Und da der Kommandeur uns als unverbesserliche, verstockte Bösewichter betrachten musste, bekamen wir fünf Tage Arrest …
Mein erster Flug
Unsere harte Bestrafung erregte im Korps viel Aufsehen. Die Kameraden zeigten uns ihr Mitleid und ihre Sympathie, aber nähern durften sie sich uns nicht, denn sie liefen Gefahr, dann auch zu den „Zweitklassigen“ gerechnet zu werden, denen man das Leben sauer machte.
Ich hatte mir die größte Mühe gegeben, aus der dritten Sittenklasse herauszukommen, ich hatte versucht, fleißig zu sein und mir nichts zuschulden kommen zu lassen … es half nichts: wer einmal abgestempelt war, vermochte diesen Makel nicht mehr zu löschen. War es da verwunderlich, dass wir „Verfemten“, die niemals mehr Urlaub bekamen und keinerlei Vergünstigungen zu erwarten hatten, nach heimlichen Wegen suchten, uns kleine Freiheiten und Freuden zu verschaffen`?
Des Abends nach dem Schlafengehen standen wir oft wieder auf, schlichen uns über den Hof zu einem Keller, um dort im Verborgenen Zigaretten zu rauchen. Das war selbstverständlich streng verboten, und wenn wir auch nicht viel Freude am Tabak hatten, so bestach uns das Abenteuerliche dieser Unternehmungen, von denen wir auch unseren besten Freunden nichts erzählten. Im Fasching stiegen wir bisweilen auch mal über die Mauer, liefen in die Stadt und mischten uns in das frohe Maskentreiben. In die Lokale trauten wir uns selbstverständlich nicht hinein – die Gefahr einer Entdeckung war zu groß, und dann … wir hatten ja auch keinen Pfennig Geld. Nur der unter so großen Schwierigkeiten erkämpften herrlichen Freiheit wollten wir uns freuen.
Eine ganze Zeitlang ging das gut. Dann aber kam ein Tag, der überraschend die Vernehmung einzelner Kadetten brachte. Die Erzieher waren aufgeregt, in den Klassen machten die Professoren hämische Bemerkungen, und drohend zog sich über uns das Unheil zusammen. Als die ersten in „Unteritalien“ verschwanden, sickerte es durch, dass Verrat im Spiel war. Nicht unser Rauchklub war entdeckt worden, sondern unsere Konkurrenz, von deren Vorhandensein wir nichts geahnt hatten.
Nun mussten auch wir zittern, denn wie leicht konnte man bei der Untersuchung auf die Spuren unserer Schandtaten stoßen. Furchtbare Tage waren das, denn alle, deren Ruf nicht ganz makellos schien, wurden in stundenlangen Kreuzverhören unter die Lupe genommen. Wir hielten dicht; es kam auch nichts heraus, aber jetzt wurde es uns klar, in welche furchtbare Gefahr wir uns leichtsinnig begeben hatten. Selbstverständlich war unser Klub sofort aufgelöst worden. Wir dachten nicht mehr daran, unseren Rauchgelüsten weiter zu frönen, und hatten es uns längst geschworen, nie mehr die verbotenen nächtlichen Pfade zu betreten.
Dann aber geschah das Furchtbare: durch einen Zufall erfuhr ich, dass Kameraden der anderen Kompanie sich verdächtig gemacht hatten und vernommen werden sollten. Die mussten also schnellstens gewarnt werden! In der Geschichtsstunde schrieb ich meinem Bruder Ludwig einen Brief. Er war nicht in die Sache verwickelt und konnte die Freunde unauffällig warnen. Gerade hatte ich den letzten Satz geschrieben und wollte den Zettel verbergen, um ihn in der Pause dem Bruder zuzustecken, da sah ich die Augen des Geschichtsprofessors auf mir ruhen. Ein fürchterlicher Schreck – drei lange Schritte … der Professor hatte den Brief, und nun war unser Schicksal besiegelt, denn jetzt waren die Namen aller Beteiligten verraten.
Fliehen? Das konnte unsere Lage nur noch verschlimmern. Am nächsten Tage wanderten wir in Arrest. Auch Ludwig, den man aber bald wieder freilassen musste. Die Verhöre jagten einander, und wie Keulenschläge fielen die Entscheidungen. Mein Vater wurde aufgefordert, mich aus dem Kadettenkorps herauszunehmen, weil man mich sonst relegieren müsste. Furchtbare Tage des Wartens. Die Zukunft schien zerstört, der Lebenswagen aus dem Geleise geworfen. Ich brachte lange Reuebriefe zu Papier, die zwar an meinen Vater gerichtet waren, sich aber mehr an meine Erzieher wandten, die – wie ich wusste – die Post kontrollierten. Vielleicht trug mir meine offensichtliche Zerknirschung eine mildere Beurteilung ein.
Nichts half. Unerbittlich ging das Schicksal seinen Weg, und eines Morgens wurde ich aus meiner Zelle geholt, auf das Dienstzimmer geführt und stand meinem Vater gegenüber, der gekommen war, seinen verlorenen Sohn abzuholen. Der Koffer wurde gepackt, hinter mir schlossen sich die Pforten der Kadettenanstalt.
Als wir den Bahnhofsplatz überschritten, begegneten wir meinem Religionslehrer. Professor Kennerknecht sah meinen Vater an, dann mich. Er wusste ja Bescheid. Über seine Züge glitt ein verständnisvolles Lächeln. Er grüßte verbindlich und blickte uns lange nach. Hier war einer, der mein Schicksal ehrlich bedauerte. Auch auf dem Kompaniebüro hatte man meinem Vater einen kargen Trost mitzugeben versucht.
„Trotz allem kann aus dem Jungen noch ein ordentlicher Mensch werden“, hatte der Kompaniechef gesagt, aber er sah mich dabei so an, dass ich deutlich spürte, wie wenig er selbst an das glaubte, was er aussprach. Und da war der Trotz in mir aufgestiegen. Ich wollte ein ordentlicher Mensch werden, ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Nun, da niemand mehr daran glaubte, erst recht!
Aber wie …? Das war unklar. – Schlimm die Fahrt zum Elternhaus, peinvoll die Tage, die diesem erzwungen „freiwilligen“ Austritt folgten. Das Lebensschifflein war gestrandet – schon bevor es überhaupt freigekommen war. Was nun?
Da scholl von der Straße herauf der Marschschritt einer ausrückenden Kompanie, hell klangen die Takte der Bataillonskapelle … und in diesem Augenblick, der mir die Tränen in die Augen jagte, formte sich dieses ungewisse „Was nun?“ zur Gewissheit. Klar sah ich vor mir das Ziel: ich würde Soldat werden, wie Vater es war, wie die Brüder es wurden – wenn auch auf geraderen Wegen als ich. Ich musste es schaffen!
Seltsam … während ich diese Erinnerung an die dunkelsten Tage meiner Jugend niederschreibe, muss ich an einen anderen Sommermorgen denken. Dreiundzwanzig Jahre später. Ich war doch Soldat geworden, war durch den Krieg gekommen und glücklich über den Ozean. In der großen Halle eines Münchener Hotels fand eine Begrüßung statt, und es war, als sei die Zeit stehengeblieben: viele aus jenen schlimmen Tagen, die Kameraden jener Schicksalsstunden, meine Erzieher und Professoren, alle waren sie gekommen. Die alten Kadetten trugen mir die Ehrenmitgliedschaft ihres Bundes an, man ließ mich hochleben, mich, den Rausgeschmissenen.
Zwei alte verhutzelte Männlein standen damals zwischen den ordensgeschmückten Uniformen und feierlich schwarzen Röcken. Mein „Lateinlöwe“ und jener Geschichtsprofessor, den das Schicksal dazu ausersehen hatte, mir den Start zu meinem ersten „Flug“ freizugeben. In dieser Stunde schwand der letzte Rest der Bitterkeit, die ich lange in mir herumgetragen hatte. Hier berührten sich Vergangenheit und Gegenwart. Die einst so verwirrten Linien der Vorsehung hatten sich klar geordnet …
*
Leicht war es nicht, den rausgeflogenen Kadetten wieder auf einem Gymnasium unterzubringen. Schließlich gelang es doch. Ich siedelte nach Nürnberg über, wo ich lange dazu brauchte, mich wieder daran zu gewöhnen, nun nicht mehr zu allem kommandiert und geführt zu werden. Es war für mich, als käme ich in eine andere Welt. Leider war aber auch meinem Nürnberger Aufenthalt ein rasches Ende gesetzt. Ein guter Schüler war ich ja nie gewesen, und als ich mich von dem Schock, den meine Entlassung aus dem Korps für mich bedeutet hatte, langsam erholte und mir das hitzige Arbeitstempo auf dem Realgymnasium in Nürnberg nichts Neues mehr war, stellten sich auch die alten und wohlbekannten Versetzungsschwierigkeiten wieder ein.
Um es geradeheraus zu sagen: meine Kenntnisse waren so mäßig, dass ich von Rechts wegen im zweiten Jahre nicht in die nächste Klasse hätte aufrücken dürfen. Da ich aber wenig Neigung hatte, nochmals ein ganzes Jahr zu verlieren, verfiel ich auf einen kleinen Trick, der mich glücklich um diese Klippe herumbrachte. Ich sagte nämlich, dass ich das Lernen satt hätte und mir einen Beruf aussuchen wollte, für den die Obersekundareife ausreichte. Meine Lehrer waren nett, man gab mir sozusagen als Abschiedsgeschenk ein entsprechendes Zeugnis, und ohne es recht verdient zu haben, war ich auf diese Weise – versetzt worden.
Nun war es aber gar nicht meine Absicht, das Rennen vor dem Abiturium aufzugeben. Dass ich zu Beginn des neuen Schuljahres nicht wieder in Nürnberg erscheinen durfte, lag jedoch auf der Hand, und so kam es, dass ich den Rest meiner Schulzeit in Augsburg verlebte. … Das hatte mancherlei Vorteile. Augsburg lag noch näher an Ingolstadt, wo meine Eltern jetzt lebten, dann kostete die Pension erheblich weniger, und schließlich war auch das Tempo des Schulbetriebes am „Gymnasium zur blauen Kappe“ nicht ganz so heftig wie in Nürnberg.
Ich wurde bei einem Expeditor untergebracht, einem mittleren Eisenbahnbeamten, der mich mit erzieherischen Einwirkungen verschonte. Da auch seine Frau in der Wirtschaft viel zu tun hatte, konnte ich mich hier mehr als Zimmerherr denn als Pensionär fühlen. Nur der Schule gegenüber mussten bestimmte Bedingungen erfüllt werden, denn die wollte eine Beaufsichtigung meiner Person gewährleistet wissen. Dies geschah in der Weise, dass mein Expeditor – der Anordnung meines Vaters folgend – mir nichts erlaubte, was irgendwie nach Vergnügen aussah, denn Vater hatte ihm auf die Seele gebunden, ich sei zum Arbeiten und zu nichts anderem da.
Leider gehörte auch der Theaterbesuch zu den verbotenen Genüssen. Nicht, dass die Schule etwas dagegen gehabt hätte! Nur war die Erlaubnis der Eltern oder ihres Stellvertreters dazu notwendig, die am Tage der Vorstellung dem Ordinarius übergeben werden musste. Davon durfte mein Expeditor selbstverständlich nichts erfahren, sondern ich redete dem pflichttreuen Mann ein, dass der Theaterbesuch eine von der Schule bedingungslos freigegebene Sache sei.
Wir Schüler der höheren Klassen hatten auch Tanzunterricht genommen und dabei so manche zarten Bindungen angesponnen, die uns dazu verleiteten, auch außerhalb des Tanzzirkels unsere Künste an den „Mann“ zu bringen. Leider war dies aber nur im Fasching möglich, wenn wir maskiert und geschminkt getrost auch einmal einem unserer Lehrer über den Weg laufen konnten, ohne erkannt zu werden, denn diese Vergnügungen waren uns Pennälern natürlich samt und sonders streng verboten. So zogen wir oft, statt ins Theater zu gehen, auf kleine, primitive Redouten.
Da trat etwas ein, womit keiner von uns gerechnet hatte. Jemand, der uns niemals bekannt geworden ist, hatte etwas von unseren heimlichen Vergnügungen erfahren und Anzeige erstattet. Eines Abends sandte der Rektor den Pedell in meine Wohnung, um kontrollieren zu lassen, ob ich zur rechten Zeit zu Hause war, und nun saß ich böse in der Tinte. Angeblich war ich wieder einmal im Theater gewesen, in Wirklichkeit aber bei einer kleinen Tanzerei, und als ich verhältnismäßig frühzeitig nach Hause kam, überschüttete mich mein Pensionsvater mit einer Flut von Vorwürfen. Der Pedell, ein alter, pflichttreuer Soldat, hatte ihn aufgeklärt, und nun schien das Unheil nicht mehr abzuwenden.
Hätte mein Expeditor mir den notwendigen Erlaubnisschein noch nachträglich ausgestellt, so wäre die Sache bestens erledigt worden. Aber er weigerte sich beharrlich. Wenn ich wirklich im Theater gewesen wäre, dann hätte es nur eine leichte Strafe gesetzt. So aber … wenn es herauskam, dass ich tanzen war – nicht auszudenken: ich würde rausfliegen, und keine andere Lehranstalt könnte sich meiner mehr erbarmen.
Noch aber war nicht alles verloren. Ein Freund, der das Stück, das am Vorabend gegeben worden war, kannte, musste mir rasch den Inhalt erzählen, und mit klopfendem Herzen trat ich vor meinen Rektor. Ich hatte Glück. Bei der nun beginnenden Untersuchung stand weniger jener unerlaubte Theaterbesuch zur Debatte als die Denunziation eines dunklen Ehrenmannes, der uns etwa zehn Tage vorher bei einer kleinen Tanzerei gesehen zu haben glaubte. Da nun ein ganz bestimmter Abend das Interesse meines Rektors auf sich gezogen hatte und ich feststellen konnte, dass ich an diesem fraglichen Tage ausnahmsweise zu Hause gewesen war, fiel mir hörbar ein Stein vom Herzen. Hier musste das Zeugnis meines Expeditors helfen. Aber … verdammt! Dann würden ja auch die vielen unerlaubten Theaterbesuche herauskommen. Die Situation war brenzlig, und meine Aussagen klangen darum recht unsicher und wenig glaubwürdig, weil ich den Rektor doch nicht von der falschen Spur abbringen durfte. Na, es konnte mir nichts nachgewiesen werden, so dass allein jener Gang ins Theater blieb, der durch das unerwartete Auftauchen des Pedells entdeckt worden war.
Es war Fasching damals, und viele Verabredungen, die ich bereits getroffen hatte, wurden durch die sich hinschleppenden Verhöre hinfällig. Nur eine nicht. Die ließ sich nicht rückgängig machen. Aber wie sollte ich sie einhalten, während gegen mich das peinliche Untersuchungsverfahren schwebte, das leicht einen schlimmen Ausgang nehmen konnte?
Abzusagen und vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, die sich der Einhaltung des gegebenen Versprechens in den Weg stellten, erschien mir feige und unmännlich. Gewiss, ich war nahe daran, den Bogen zu überspannen und fühlte mich wenig wohl in meiner Haut, aber wortbrüchig werden … nein. Die Kameraden warteten auf mich. Gut, ich würde kommen. – –
Der Teufel und die Lokomotivführersfrau
„Na, Herr Köhl, heut Abend wird’s wohl etwas anders werden, als Sie es sich gedacht hatten, was …?“
Es war am Nachmittag des kritischen Tages, als mein Expeditor mit diesen Worten zu mir ins Zimmer trat. Er wusste Bescheid – also hatte seine Frau, die mit Vorliebe in meinem Schrank herumstöberte, den Brief gefunden, in dem ich zu jenem Tanzabend eingeladen worden war. Mein „Pensionsvater“ lächelte hämisch und schadenfroh, als er sein auf so peinliche Weise erworbenes Wissen an den Mann brachte, um dadurch seine Überlegenheit zu dokumentieren.
„Leider, leider“, versicherte ich dem braven Mann und machte dabei ein geradezu klägliches Gesicht. Ein Glück, dass der Expeditor nicht in mein Inneres sehen konnte, denn ich war ja fest entschlossen, um jeden Preis an dem Fest teilzunehmen – weniger aus Sehnsucht nach Zerstreuung, als vielmehr um mein Wort einzulösen. Am Abend kam er unter einem nichtigen Vorwand ein zweites Mal zu mir. Ich tat so harmlos wie nur möglich und schob, als sich die Tür hinter ihm schloss, mit einem hörbaren Ruck den Riegel vor, wie ich es in den letzten Nächten immer getan hatte, um ihn daran zu gewöhnen.
Kaum waren jedoch ein paar Minuten vergangen, als es schon wieder pochte. Der Expeditor war misstrauisch und wollte sich noch einmal von meiner Anwesenheit überzeugen. Ich ließ ihn eine Weile warten, ehe ich öffnete und ihm mein schlaftrunken scheinendes Gesicht zeigte. Wieder kreischte der Riegel, ich warf mich knallend aufs Bett … nun aber durfte er nicht zum dritten Mal kontrollieren, denn in Wahrheit war ich ganz leise wieder aufgestanden und hatte damit begonnen, meinen dunklen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen.
Im Laufe des Tages waren nämlich neben dem für die Redoute notwendigen Maskenkostüm – einem gefährlich aussehenden Teufelsanzug und einer Kappe, an der lustige Schellen hingen – auch die anderen Hilfsmittel beschafft worden, die ich brauchte, um heimlich aus dem Haus zu kommen. Nebenan polterten Stiefel, es knarrten Sprungfedern: mein Expeditor stieg mit seiner Gattin ins Bett. Noch musste ich warten, bis sie eingeschlafen waren.
Dann aber ging es fix. Eine lange Wäscheleine, die mir ein Freund besorgt hatte, wand ich um die Füße meines Zimmertisches, ließ sie über die Fensterbrüstung hinunter und machte mich fertig. Angst hatte ich nicht, an der dünnen Leine vom zweiten Stockwerk aus in die Tiefe zu gleiten. Ich war ja ein guter Turner, dem das viele Strafexerzieren im Kadettenkorps die Muskeln gestählt hatte. Rasch schlüpfte ich in mein Teufelskostüm, band das, was ich sonst noch brauchte, in meine Regenpelerine ein, ließ es am Seil hinunter und prüfte noch einmal die Festigkeit meines ganzen Aufbaus.
Dann schwang ich mich über die Fensterbrüstung, hing am Seil … verflucht! Hier hatte meine Berechnung einen Fehler: das dünne Waschseil war kaum in den Händen zu halten, ich rutschte, die Handflächen brannten wie Feuer, unwillkürlich suchten meine Füße einen Halt … da war es schon geschehen. Etwas zu plötzlich war ich in die Nähe des ersten Stockwerkes gerutscht, und mein Körper hatte unsanft gegen die Fensterscheiben gebumst.
Der Atem stockte. Wenn die Leute da drin mich für einen Einbrecher hielten und Alarm schlügen? Da nahte schon das Verhängnis in Gestalt der unter uns wohnenden Lokomotivführersfrau, die im Schlafrock, das Nachtmützchen auf dem Kopf, mutig ans Fenster trat. Es war eine tapfere Frau, die mich zwar entgeistert ansah, denn es ist ja keine Kleinigkeit, mitten in der Nacht aus dem Schlafe geschreckt, den Teufel persönlich vor dem Fenster zu sehen. Sie schrie nicht; sie hatte auch keine Angst, denn der Teufel, der dort recht unglücklich zwischen Himmel und Erde hing, machte so menschliche Zeichen, dass sie einsehen musste, wie ungefährlich Teufel sein können, wenn sie sich in einer so peinlichen Situation befinden wie dieser, der vor ihrem Fenster kläglich auf und ab baumelte.
Die Frau öffnete das Fenster und erkannte mich. Mit ein paar Worten war die Sachlage aufgeklärt. Sie hatte ein gutes Herz, sah ein, dass der Expeditor ein schlechter Mann war, und tat das um so leichter, als sie mit ihm und seiner Frau seit langem in Feindschaft lebte. Sie versprach zu schweigen, und die Fahrt in die Tiefe ging weiter. Im Parterre sah ich mich vor, auch hier die Bewohner zu wecken, griff mein Bündel und trabte in die regnerische und neblige Nacht.
Strahlende Lichter, wilder Faschingstaumel, lustige Masken … Ich hatte Wort gehalten. Mehr wollte ich ja nicht.
Als leichtes Grau im Osten den kommenden Morgen kündete, verabschiedete ich mich etwas beklommen von meinen glücklicheren Kameraden, die einen Hausschlüssel in der Tasche hatten. Nun begann der schwierigste Teil meines Unternehmens. Ich schlüpfte aus dem Kostüm, wickelte es in meine Pelerine und befestigte das Bündel am Seil, um es später hinaufziehen zu können. Schwer war es schon, an dem dünnen Strick in die Höhe zu steigen; aber es klappte. Ich weckte keinen der Hausbewohner und erreichte glücklich mein Zimmer. Als ich jedoch mein Bündel hochziehen wollte, verhedderte es sich unterwegs, die Verschnürung lockerte sich beim heftigen Schlingern, und ich bekam wohl das Seil herauf, nicht aber mein Kostüm.
Da war guter Rat teuer. Noch einmal in die Tiefe zu steigen, schien zu gefährlich. Ganz früh am Morgen würde ich es unter einem Vorwand von unten heraufholen. Um Ausreden war ich ja nie verlegen. Ich legte mich zu Bett und schlief trotz heftigen Herzklopfens bald ein. Als man mich weckte, fuhr ich hoch und sprang ans Fenster. Aber – mein Bündel war weg! Erst als ich mittags aus der Schule zurückkam, sollte ich darüber Aufklärung erhalten, wo es hingeraten war. Im ersten Stock öffnete sich eine Tür, meine nächtliche Freundin, der ältliche Schutzengel des hängenden Teufels, zog mich in den Vorraum ihrer Wohnung und – siehe da! – hier lag mein Teufelskostüm … eingehüllt in meine Regenpelerine. Die gute Frau hatte am Morgen aus dem Fenster gesehen, unten auf der Straße ein dunkles Etwas entdeckt und war heillos darüber erschrocken, weil sie annahm, ich sei in der Dunkelheit abgestürzt und läge nun mit zerbrochenen Gliedern auf der Straße.
Mein Streich war also geglückt. Nun war kein Verrat mehr zu befürchten, und doch … es gab noch ein kleines Nachspiel in Form einer Tragikomödie, die sich in den nächsten Tagen abwickelte. Die leidige Denunziation hatte inzwischen ihre Erledigung gefunden. Da mir außer jenem unerlaubten Theaterbesuch nichts nachzuweisen gewesen war, wurde die Sache mit einer „Demissionsandrohung“, dem bekannten „consilium abeundi“, beigelegt. Der Aschermittwoch war gekommen, ich hatte mir vorgenommen, jetzt energisch zu arbeiten, um die Folgen der Lumpereien der letzten Zeit wieder auszumerzen, hatte Einkehr gehalten und den Weg in die Zukunft mit vielen guten Vorsätzen gepflastert.
Nur das Waschseil lag noch in meinem Schrank und dann ein Brief, den ich vorsichtshalber dort deponiert hatte. Der sollte nämlich im Fall der Fälle mein Rettungsanker sein, denn wenn der Expeditor doch auf den Gedanken gekommen wäre, sich nächtlicherweise um mich zu kümmern und dabei meine Abwesenheit festzustellen, so hätte seine Frau sicherlich auch in meinem Schrank gestöbert. Darum hinterlegte ich dort an leicht zugänglicher Stelle einen Zettel, auf dem ich zum Ausdruck brachte, dass ich die schlechte Behandlung durch meine Quartierleute nicht mehr ertragen könne und darum aus dem Leben scheiden wolle. Das war selbstverständlich eine Gemeinheit, denn in Wahrheit dachte ich auch nicht im entferntesten daran, mir etwas anzutun, sondern mein Expeditor sollte im Falle einer Entdeckung eingeschüchtert und von einer Anzeige an der Schule, die mir dann ja endgültig das Genick gebrochen hätte, abgehalten werden.
Dieses peinliche Schriftstück musste schleunigst verschwinden. Als ich nach Hause kam, überraschte mich das völlig verzweifelte Gesicht des Expeditors, der mir selbst öffnete. Er war niedergebrochen, vollkommen fassungslos. War seine Frau gestorben? Aber nein, die stand ja in der Küche und sah mich ebenfalls so merkwürdig an, dass ich mein Schuldregister schnellstens daraufhin durchsah, was nun schon wieder entdeckt worden sein könnte. Ich ging in mein Zimmer und wollte gewohnheitsmäßig die Tür schließen. Der Expeditor hinderte mich daran. „Ich darf Sie nicht aus den Augen lassen“, sagte er düster, lief aufgeregt auf und ab, während er etwas vor sich hinmurmelte, was nach „Polizei holen“ klang. Polizei …? Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr, bis mir endlich ein Licht aufging, als er mir sagte, dass er mich schwer im Verdacht habe, ich würde mir etwas antun.
Holla … so rächte sich meine Unvorsichtigkeit. Sicher hatte die Frau Expeditor in meinen Sachen gekramt, den bewussten Brief gefunden und auch das Waschseil – da war selbst für unkomplizierte Gemüter eine Kombination nicht schwer. Es dauerte lange, bis ich den Mann so weit beruhigt hatte, dass er mir glaubte, ich würde nicht den nächsten unbewachten Augenblick dazu benutzen, mich an dem mächtig langen Seil aufzuhängen. Die Tür musste offen bleiben, und er oder seine Frau waren ständig auf dem Posten, um den „Lebensmüden“ zu beobachten. Für mich war die ganze Situation reichlich komisch, wenn ich daran dachte, dass ich ja wirklich an dem Seil gehangen hatte, aber nicht, um mich ins Jenseits zu befördern, sondern um mir den Weg zu recht diesseitigen Vergnügungen zu öffnen. So verzwickt die Angelegenheit war, ich musste mich fürchterlich zusammennehmen, um nicht hell herauszulachen, denn sonst lief ich Gefahr, von den erregten Expeditorsleuten auch noch für verrückt gehalten und ins Irrenhaus geschafft zu werden. Und ihnen die Wahrheit sagen … das kam doch überhaupt nicht in Frage.
Kaum waren zwei Stunden vergangen, als es plötzlich klingelte, und nun – – nun wurde es ganz schlimm: zu allem Überfluss erschien auch noch mein guter Vater auf der Bildfläche, der am Vormittag ein Telegramm des Expeditors erhalten, sich in den nächsten Zug gesetzt hatte und schnurstracks nach Augsburg gekommen war.
„Aber mein lieber Bub, was ist denn nur los?“ Er sah so verzweifelt drein, dass ich mich in tiefster Seele schämte. Liebevoll tröstete er mich und versuchte, mir die Selbstmordgedanken auszureden, die ich nicht im geringsten hatte. Vater, der sich so um mich sorgte und die guten Worte haufenweis an mich verschwendete, während ich doch in Wirklichkeit eine ganz andere Lektion verdient hätte, tat mir leid; und dann wieder die zum Lachen reizende unfreiwillige Komik, die allerdings nur ich verstand. Es half nichts: ich musste schauspielern, musste zugeben, dass ich jenen Brief geschrieben, wohl auch manchmal mit dem Gedanken gespielt hatte, das Leben fortzuwerfen, dass dies nun aber weit zurücklag, weil die Sache mit dem heimlichen Theaterbesuch noch gut abgelaufen war. Fest in die Hand musste ich ihm versprechen, mir kein Leid anzutun, und das habe ich gern getan, denn es war ja die lautere Wahrheit. Er reiste noch am gleichen Nachmittag wieder ab. Nicht nur seine Sorgen waren zerstreut, auch mir hatte die Tragikomödie unbezahlbare Vorteile eingetragen. Vater hatte wohl eingesehen, dass allzu große Strenge nicht immer die erwarteten Erfolge zeitigt, und wies den Expeditor an, mir künftig mehr Freiheiten zu gewähren und auch den Theaterbesuch zu gestatten.
Wer aber glaubt, dass die Komödie mit dem Teufelskostüm nun endgültig begraben worden war, irrt sich gewaltig. Der ganze Schwindel ist eines schönen Tages doch noch, wenn auch halb verjährt, herausgekommen. Bis zur Versetzung hatte ich tapfer gearbeitet und war glücklich in die Oberprima gekommen. Ehe es jedoch in die Ferien ging, mussten wir noch eine angenehme Pflicht erfüllen, nämlich unseren Kameraden, die das Abiturium bestanden hatten, beim großen Festkommers helfen, der mit schönen Reden, Tanz und viel Bier traditionsgemäß gefeiert wurde. Die Freude darüber, dass nun auch für mich das letzte Schuljahr angebrochen war, muss mir in den Kopf gestiegen sein. Ich trank erheblich mehr, als mir zuträglich war, und ging im Morgengrauen leicht schwankend nach Haus, um – wenn der Brummschädel wieder leidlich in Ordnung war – am Vormittag in die Ferien zu fahren.
Ich schlüpfte aus den Kleidern, warf mich aufs Bett, aber die gute Lagerstatt war bösartig geworden. Sie drehte sich beängstigend, und statt zu schlafen, fuhr ich Karussell. Jedenfalls bildete ich mir das ein, und da so rotierende Bewegungen, auch dann, wenn man sie sich nur einbildet, in einem solchen Zustand einfach nicht auszuhalten sind, musste ich raus aus der Falle, suchte vergeblich nach einem geeigneten Gefäß … das Fenster stand offen, und so ging nun das ganze schöne Fest rückläufig dort wieder hinaus. Nun konnte ich zwar schlafen, aber mein Schädel brummte barbarisch. Verschlafen setzte ich mich mittags in den Zug, fuhr nach Haus, hatte nach zwei Tagen die Nachwehen des Kommerses überwunden und dachte weder mehr an jenen Morgen noch an das offene Fenster.
Dann aber kam ein Tag, den ich nie vergessen habe. Ich half des Morgens meinem Vater beim Anziehen. Er litt etwas am Rheuma, und ich, sein „praktischster Sohn“, wie er mich nannte, musste ihn massieren und beim Ankleiden behilflich sein. Gern tat ich ihm diesen kleinen Liebesdienst, denn ich hatte ja eine so große Schuld an ihn abzutragen. An diesem Morgen fiel es mir auf, dass er mich so merkwürdig ansah. Er lächelte eigenartig, und bisweilen traf mich ein Blick durch seine Brille, den ich mir nicht recht erklären konnte. Verstohlen blickte ich über seine Schulter. Da lag auf dem Waschtisch ein Brief mit dem Poststempel „Augsburg“, und nun kapierte ich schnell, dass dieser die restlose Aufklärung der komischen Selbstmordaffäre gebracht hatte.
Als es mir damals so übel erging … nach jenem Kommers, war es mir ebenso wenig gelungen, unbemerkt am ersten Stockwerk vorbeizukommen wie in der „Teufelsnacht“. Vielleicht lag es auch an dem bösen Westwind – – jedenfalls, die Geranienstöcke, die das Fenster der Frau Lokomotivführer zur Sommerzeit schmückten, hatten erheblich gelitten. Die erboste Frau, die für ihre Gutmütigkeit wahrlich etwas Besseres verdient hatte als diesen schnöden Angriff auf ihre blühende Fensterzier, vergaß die jahrelange Feindschaft mit den Expeditorsleuten, eilte hinauf und wollte es dem „lumpigen Zimmerstudenten“ schon eintränken. Das hatte gerade noch gefehlt! Denn nun durfte sich auch der recht kleinlaut gewordene Expeditor wieder männlich in die Brust werfen und erklären, dass ihm so etwas noch nie vorgekommen sei und er sich bestens dafür bedanke, sich noch weiter mit mir abzugeben.
Mein Vater machte mir keine Vorwürfe mehr, als er auf diese Weise erfuhr, wozu man eine Wäscheleine sonst noch verwenden kann; er schmunzelte nur, und ich habe ihn in diesen Ferien mit so viel Liebe massiert, dass er es an seiner schmerzhaften Schulter gespürt haben muss, wie dankbar ich ihm dafür gewesen bin. Nur in eine andere Pension musste ich für das letzte Schuljahr gegeben werden – ein Wechsel, der für mich in jeder Hinsicht von Vorteil war. Noch stand mir ja das Schwerste bevor: das Abiturium, das mir das Tor zu dem Beruf, den ich mir ausgesucht hatte, öffnen sollte.
Auch in Oberprima sah es anfangs gar nicht so aus, als sollte ich erfolgreich durchs Ziel gehen, aber ich riss mich zusammen, arbeitete wie ein Wilder, und hätte mir meine Kameradschaftlichkeit keinen Streich gespielt, wäre ich vielleicht sogar um das „Mündliche“ herumgekommen. Da ich aber meine Freunde nicht im Stich ließ, sondern gleich drei Klassenkameraden bei der mathematischen Aufgabe unter die Arme griff, was leider bemerkt und fast zur Katastrophe wurde, musste ich mich auch mündlich examinieren lassen, wodurch sich meine Position seltsamerweise sogar noch verbesserte. Nun, die kalte Dusche, für die ich selbst noch zum Abschied gesorgt hatte, nahm ich nicht tragisch. Sie war das Pünktchen auf dem i, und dann … ich war ja so glücklich! Nach langen Kämpfen, immer wieder aufgehalten durch die mannigfachsten Zwischenfälle, für die meine Dummenjungenstreiche freundlich gesorgt hatten, war das Ziel erreicht. Hinter mir lag die Schule. Ich weinte ihr keine Träne nach. Das große Tor des Lebens war aufgesprungen, und lockend und verführerisch lag dahinter eine Zukunft, der ich froh entgegengehen wollte …
Als Fahnenjunker im „Ausland“
Nun hieß es endgültig Abschied nehmen von der leichtsinnigen und unbeschwerten Jugendzeit, Abschied nehmen auch vom heimatlichen Bayernland, denn ich sollte ja nach Württemberg „auswandern“. Als ich mit meinem Vater durch die Wache in die Kaserne des württembergischen Pionierbataillons 13 eintrat und wenige Augenblicke später vor meinen neuen Vorgesetzten stand, da klopfte mein Herz doch recht stürmisch, und es ist kaum anzunehmen, dass ich in meinem Abiturientenfrack, den ich zur Feier des Tages angezogen hatte, eine besonders gute Figur machte.
Ach, wie vertraut war mir Ulm, die herrliche Donaustadt mit dem hoch in den Himmel hinaufragenden Münster! Wie gut kannte ich hier jede Gasse und jeden Winkel, obwohl doch schon anderthalb Jahrzehnte vergangen waren, seit meine Eltern im benachbarten Neu-Ulm gewohnt und ich als kleiner Schulbub durch die Straßen der Stadt zum Gymnasium gelaufen war. Damals hatten die Kasernen und Bastionen unten an der Donau etwas geheimnisvoll Drohendes für uns gehabt; die Schießscharten, die aus den Ecktürmen zum Fluss hinunterblickten, hatten uns diese Befestigungen als gruselige Ritterburgen längst vergangener Zeiten erscheinen lassen. Und dann … es war ja Ausland, war ja Württemberg, und dazwischen lag breit und trennend die Donau, die „Grenze“.
Drüben lag ein anderes Land, über dem düster die schwarzroten Fahnen wehten – gar nicht so lustig und frisch wie unsere weißblauen. Drüben gab’s auch andere Soldaten, in dunkelblauen Röcken und schwarzen Hosen, die ihnen ein strenges und tristes Aussehen verliehen. „Was, du gehst ins Ausland?“, hatte mein siebzigjähriger Onkel gefragt, als er hörte, dass ich in Ulm bei den Pionieren eintreten wollte. Vorwurfsvoll, ja, fast entsetzt hatte das geklungen, und dabei lag dieses „Ausland“ doch nur knappe siebzehn Kilometer weg von Pfaffenhofen, wo mein guter Onkel wohnte. Er, der das Jahr 1848 noch erlebt hatte, der 1866 mit dabei war, für ihn, der andere Zeiten gesehen hatte und sich nie so recht an die Einheit des großen Deutschlands gewöhnen konnte, die im Spiegelsaal zu Versailles geschaffen worden war … für ihn blieben die Grenzen zwischen den deutschen Stämmen weiterbestehen, und es erschien ihm unfassbar, dass einer seiner Neffen nun in einem anderen Lande Soldat werden sollte.
An ihn musste ich in den ersten Tagen meiner Militärzeit viel denken, aber bald hatte ich mich in der „Fremde“ eingelebt und fühlte mich den biederen und wackeren Schwaben, die mir jetzt auf Schritt und Tritt begegneten, rasch zugehörig. War ich doch selbst ein Schwab – wenn auch nur ein bayerischer. Zum zweiten Mal in meinem jungen Leben trug ich jetzt also wieder den bunten Rock, und als der Uniformschneider auf Kammer an dem schlechtsitzenden Kommisszeug herumhantierte, da spürte ich es ganz deutlich: nun stand der Lebenswagen wieder auf dem richtigen Geleis. Was damals durch meinen Rausflug aus dem Kadettenkorps so jäh unterbrochen worden war, hier wurde es fortgesetzt. Endlich hatten die Pläne und Zukunftswünsche, auf die mein ganzes Denken und Trachten all die vergangenen Jahre hindurch gerichtet gewesen war, ihre Erfüllung gefunden.
Schnell waren die Monate der Einzelausbildung vorbei, und ehe man sich’s versah, steckte man mitten drin im Kompaniebetrieb. Die erste Feuerprobe hatten wir Fahnenjunker bestanden. Nun konnten wir ins Kaisermanöver ziehen. Märsche, Schanzen, schmetternde Hörner und dann: … „Das Ganze halt!“, das die Erlösung nach all den Strapazen brachte, die wir in unserer Begeisterung gar nicht gespürt hatten.
Auf dem Cannstatter Wasen standen wir, dem Exerzierplatz der Stuttgarter Garnison. Hier war das ganze 13. Armeekorps zusammengezogen worden zur großen Kaiserparade, als ein wildes, nie gehörtes Rauschen näher kam und die Luft mit gewaltigem Brausen erfüllte. Hoch über uns hin zog am blauen Himmel ein Zeppelin sieghaft seine Bahn. Der erste Zeppelin! –
Wir Junker wurden nach dem Manöver zu Gefreiten befördert. Der Winter brachte das Kommando auf die Kriegsschule nach Hannover. Hörsaaldienst, Exerzieren, Reiten, Turnen und Fechten … das war eine wunderschöne Zeit. Der Dienst machte Freude, und nach leichtsinnigen Streichen, die manchem der Kameraden den Hals brachen, gelüstete es mich nicht mehr. Meine Hörner waren abgelaufen. Die Schlussprüfungen gingen ohne Schwierigkeiten vorüber, und ich konnte mich wieder beim Bataillon zurückmelden. Da auch die Beurteilung der Kriegsschule gut ausfiel, war mein Kommandeur zufrieden, und ich wurde gleich zum Degenfähnrich ernannt.
Aber so ganz ungetrübt war die Freude darüber nicht, denn nach alter Tradition wurde ich im Kasino heftig gefrotzelt. Man trank mir öfter zu, als es unbedingt nötig war, und freute sich darüber, dass ich von meinem Stuhl hochspritzen musste, um Bescheid zu tun. Denn noch war ich ja Untergebener. Diese freundschaftlichen Neckereien taten nicht weh, sie gehörten dazu und ließen sich ertragen, denn jetzt war ja der Tag nicht mehr fern, an dem die Beförderung zum Leutnant herauskommen musste.
Das Militärverordnungsblatt erschien, der Schneider hatte schleunigst die Achselstücke auf den Rock zu nähen: ich war Leutnant geworden. Und wieder trank man mir im Kasino zu, wieder öfter als nötig, jetzt aber musste ich mich zusammennehmen, um nicht jedes Mal aufzuspringen, wie ich es bisher getan hatte. Ich war Kamerad unter Kameraden, und ganz einfach war es nicht, der neuen Würde gerecht zu werden. Das Ziel war erreicht. Ich dachte nicht daran, dass unter den silberblitzenden Achselstücken die herrliche Jugendzeit begraben lag, dass sie unwiederbringlich dahin war. Ich kam auch gar nicht dazu, daran zu denken. – Wunderschöne, erste Leutnantszeit. Beim Abendschoppen, auf dem Tennisplatz, bei den Bällen … überall waren wir zu finden. Am allermeisten selbstverständlich auf dem Kasernenhof. Machte der Dienst auch müde, wir scherten uns nicht darum.
Die Zeit der ständig drohenden Gewitter mit ihren gefährlichen Einschlägen schien endgültig vorüber. Buntbewimpelt zog mein Lebensschifflein friedlich auf dem breiten und ruhigfließenden Strom des Lebens dahin. Schön war das gesellschaftliche Treiben in der Garnison, zu schön fast für uns junge Leutnants … noch schöner aber war’s doch, wenn in der Morgenfrühe der Feldwebel die Kompanie meldete und es hinausging auf die Übungsplätze. Ich mochte sie alle gern: den Feldwebel, die Unteroffiziere und meine Leute. Hatte einer was ausgefressen, dann gab es ein Donnerwetter, das nicht von schlechten Eltern kam, und zum Schluss ein gutes Wort. Damit war der Fall endgültig erledigt, und niemand trug dem anderen etwas nach.
*
War dann der Dienst vorüber, trat auch die Häuslichkeit in ihre Rechte. Meist bestand sie nur aus einem einfachen Zimmer irgendeines schlichten Bürgerhauses, denn viel Geld hatten wir ja alle nicht.
Nur wenige von uns, denen ein glückliches Schicksal einen stabilen Wechsel beschert hatte, konnten sich „richtige“ Wohnungen leisten. Das war selbstverständlich der höchste und meist unerfüllbare Wunschtraum eines kleines Leutnants – eine eigene Behausung zu haben und unabhängig zu sein von polternden oder keifenden Hauswirten beiderlei Geschlechts.
Ich besaß niemals viel Geld. Wir waren viel Geschwister, und dementsprechend blieb mein Zuschuss recht klein. Aber eine Wohnung zu besitzen … diese Perspektive erschien mir so verlockend, dass ich dafür gern etwas opfern wollte. Außerdem war ich des ewigen Umherziehens müde und wollte endlich einmal sesshaft werden. Wo ich den Mut dazu hernahm, weiß ich heute noch nicht. Jedenfalls mietete ich mir nahe meiner Kaserne eine winzige Zweizimmerwohnung. Der Termin des Einzuges rückte immer näher, aber noch wenige Tage davor ahnte ich nicht, was ich in die zwei kleinen Zimmer, in die Küche und das Bad stellen sollte. Geld hatte ich nicht, Möbel waren auch nicht vorhanden, und pumpen … nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Doch als es schließlich so weit war, hatte ich meine Behausung ganz passabel eingerichtet, ohne dass ich mich groß in Unkosten gestürzt hatte. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man mein „Schloss“ sogar als „schick“ bezeichnen, und die Kameraden haben mich weidlich darum beneidet.
Die Bilder, die als Hauptattraktion an den Wänden hingen, waren ebenso eigenes Fabrikat, wie die gemeinsam mit meinem Burschen rasch zusammengeschlagenen, goldbronzierten Rahmen. Eine auf Beine gesetzte Schießscheibe vom Kompanieschießen bildete den Schreibtisch, eine zweite die Tafel, an der ich meinen Kaffeebesuch bewirtete. Von meiner Mutter erbettelte ich mir eine alte Bettmatratze, setzte sie auf Klötze, breitete eine Decke darüber – fertig war die Chaiselongue, die glänzend wirkte, solange man sich nicht daraufsetzte oder gar einen Blick darunter warf. Auch die Gardinen und Fenstervorhänge waren „Handarbeit“ und konnten mit Hilfe von Bindfaden, die ich sorgsam gesammelt hatte, auf- und zugezogen werden. Auf diese billige und recht amüsante Weise kam die ganze Einrichtung zusammen. Allerdings, viel hämmern musste ich dabei, was mir, da es meist nachts geschah, die Kündigungsdrohung meines neuen Hauswirts eintrug.
Nur mit meinem Bett erlebte ich leider eine Katastrophe. Das Schlafzimmer war außerordentlich klein, so dass ich mich entschloss, weiter nichts als ein Bett, das dafür umso größer werden sollte, hineinzustellen. Der Rahmen wurde nach Maß angefertigt, während ich den Sprungfederboden selbst baute. Aber – o Schreck! – als ich den Schaden besah, hatten die teuren Federn so viel Geld gekostet, dass es nur noch zu einer ganz dünnen Schicht Sisalgras reichte, die darübergelegt wurde. Erst nachdem sich meine Finanzen etwas erholt hatten, kam dann von Zeit zu Zeit immer wieder eine neue Schicht drauf, bis die Lagerstatt zu guter Letzt recht weich und behaglich wurde. Mit der Zeit wurde meine Behausung sogar empfangsfähig, und an meinem Geburtstag sollte sie festlich eingeweiht werden. Ein großes Fass Bier wurde im Badezimmer aufgestellt, die drei Musiker, die für den nötigen Lärm sorgen sollten, saßen in der Küche, und die übrigen Gäste durften sich auf die Flucht der übrigen Gemächer verteilen. Es war ein wunderschönes Fest, aber als am Morgen die Letzten gegangen waren, sah meine unter so großen Mühen eingerichtete Wohnung leider stark verbraucht aus. Ich habe vierzehn Tage heftig schuften müssen, um die Schäden wieder zu reparieren.
Dass meine Gardinenschnüre verschwunden waren, ließ sich ja noch ertragen. Es hatte meinen Kameraden eben so großes Vergnügen bereitet, Kerzen an die Schnurenden zu halten und sich darüber zu wundern, dass die Funken lustig nach oben weiterglimmten. Aber mein Kleiderschrank, mein schöner Kleiderschrank! Der hatte einen tollen Knacks abbekommen. Eigentlich traf die Bezeichnung für dieses Möbel nicht zu. Es war nur eine Art Staubverhinderung und bestand aus einem festen Leistenrahmen, den ich mit Pappe benagelt und schön angestrichen hatte. Beim Nachhausegehen war einer meiner Kameraden in den Kasten hineingefallen, und es hatte vieler guter Worte bedurft, ihn dazu zu bewegen, meinen Kleiderschrank wieder zu verlassen …
Leider währte die Freude an dem eigenen Heim nicht sehr lange. Ich wurde auf die Militärtechnische Akademie nach Berlin versetzt und überließ es einem Freunde, der es redlich gehütet hat. Für eine Weile war es jetzt aus mit dem frisch-fröhlichen Garnisondienst. Der Pionier ist ja nicht nur Soldat; er muss auch von der Technik etwas verstehen. Wenn auch das Minieren und Pontonieren beim Bataillon mir schon viele praktische Kenntnisse vermittelt hatte, die besonderen Anforderungen, die an unsere Truppe gestellt wurden, machten eine Spezialausbildung nötig. In Berlin sollten wir die wissenschaftlichen Grundlagen unserer Arbeit kennenlernen, und wer ganz besonders erfolgreich war, konnte ein noch längeres Kommando erhalten, das ihm das Studium auf der Technischen Hochschule ermöglichte. Für mich war der Aufenthalt in Berlin und der Besuch der Militärtechnischen Akademie ganz besonders wertvoll. Der Lehrstoff interessierte mich außerordentlich, wobei mich mein zeichnerisches Talent und meine praktische Ader unterstützten.
Da ich hier auch nicht mehr Geld hatte als in Ulm und das Pflaster teuer war, sah ich mir die Theater und Cafés meist von außen an. Um nicht auf dumme Gedanken zu kommen, malte ich viel in meiner freien Zeit. Das brachte mich über manche langweilige Stunde, vor allem aber über die chronische Ebbe in meiner Börse am Monatsende hinweg.
Ich habe nie gepumpt. Das lag mir nicht. Nur einmal, als es ganz besonders schlimm war, nahm ich mein Fernglas, trug es zum Versatzhaus und wartete geduldig mit den anderen Geldbedürftigen vor dem Schalter. Man behandelte mein gutes Glas dort sehr geringschätzig, gab mir mit Gönnermiene nicht mehr als zehn Mark, und am nächsten Ersten habe ich es dann gleich wieder eingelöst. Damit war ich auf alle Zeiten von Leihhäusern kuriert. So manches Mal bin ich auch mit einem Bataillonskameraden von der Uhlandstraße bis zu Aschinger in der Friedrichstraße marschiert, um dort bei einem Glase Bier viele, viele Brötchen zu vertilgen, die nicht extra berechnet wurden. Auch manche Einladung wurde mit großzügiger Geste abgelehnt, nicht, weil wir anderweitig vergeben waren, sondern weil uns die fünfzig Pfennig fehlten, die man beim Abschied den dienstbaren Geistern in die Hand drücken musste.
Krieg!
Es war ein heißer Sommersonntag, als die nachmittägliche Stille von den gellenden Rufen der Zeitungsjungen jäh unterbrochen wurde. Extrablätter in der Hand, rasten sie laut schreiend den Kurfürstendamm entlang. Man riss den Buben die Blätter aus den Händen, drängte sich in Gruppen zusammen, debattierte und besprach mit Menschen, die man zuvor kaum beachtet hatte, das furchtbare Ereignis: das österreichische Thronfolgerpaar war in Sarajevo ermordet worden!
In diesen Tagen ging das Semester zu Ende. Die Wohnung war gekündigt, denn während der Lehrgangspause sollten wir wieder bei der Truppe Dienst machen. In den Pausen standen wir zusammen und diskutierten. Bisweilen fiel einmal das Wort Krieg. Niemand von uns jedoch glaubte daran, dass es blutiger, vernichtender Ernst werden würde. Drohend ballte sich das Gewitter zusammen.
Aber noch war ja tiefer Friede. Es ging nach Ulm zurück zum Bataillon und dann zu den alljährlichen Pontonierübungen an den Rhein. Die Luft war erfüllt von wilden Gerüchten, eine Zeitungsmeldung jagte die andere. Krieg! Immer wieder Krieg! Noch aber wollte sich das Unwetter nicht entladen.
Da erklangen eines Morgens die Hörner: Alarm! Wir wurden nach Ulm zurücktransportiert. Drohende Kriegsgefahr – und zwei Tage später fiel das erlösende Wort, das mit einem Male Klarheit schaffte … Mobilmachung!
Am achten Mobilmachungstage überschritten wir bei Markholzheim im Elsass die französische Grenze. Marschtag folgte auf Marschtag. Aus der Ferne scholl der dumpfe Donner der Geschütze herüber. Die erste Patrouille – klatschend schlugen Gewehrkugeln gegen Hauswände. Krieg, blutiger, grausamer Krieg …
Weiter wurde marschiert. Tage um Tage. Sichern, Deckung suchen und aufmerksam bleiben, das war uns in Fleisch und Blut übergegangen. Ich wurde nicht mehr müde. Ja, das Schlafen hatte ich mir fast ganz abgewöhnt, solange wir Fühlung mit dem Feinde hatten. Wenn es irgend ging, dann lag ich mit meinem Zug zwischen den Jägerkompanien. Nur durfte ich lange nicht so, wie ich gern gewollt hätte: meine technisch so wertvollen und unersetzlichen Pioniere durften dem feindlichen Feuer natürlich nicht so ausgesetzt werden wie die Feldkompanien. Die erste Scheu war überwunden. Es drängte mich nach vorn. Ich sah den Opfermut und die Tapferkeit der rechts und links von uns liegenden tapferen Jäger, und ich spielte mit dem Gedanken, mich zur Infanterie zu melden, um in der vordersten Linie bleiben zu können.
Dann aber, als wir den zurückweichenden Franzosen den Donon abgenommen hatten, schlug in einem grünen Wiesental der Vogesen plötzlich etwas an mein Bein. Kein Schmerz zunächst, nur ein harter, dumpfer Schlag: zum ersten Mal in diesem Kriege hatte mich eine Kugel geschnappt. Feldlazarett – ein herrliches, reiches Schloss, angefüllt mit Matratzen, die voll waren von Verwundeten des Abends. Schmerzenslager, auf denen der Tod reiche Ernte hielt in der Nacht. Viele waren leer, wenn man am Morgen erwachte.
Mich schickte man weiter nach Karlsruhe, aber schon nach zehn Tagen war ich wieder so weit, dass ich an Stöcken gehen konnte. Schleunigst meldete ich mich in Ulm beim Bataillon und war, wie viele meiner Kameraden, ernsthaft besorgt, vor Kriegsende nicht wieder an die Front zu kommen. Geheilt war ich wohl, aber bis zur völligen Felddiensttauglichkeit konnte es noch Wochen und Monate dauern. Laufen konnte ich nicht, doch ins Feld musste ich um jeden Preis. Ich musste einfach!
Es gab zwei Möglichkeiten für mich, der ich untauglich geworden war für den Fußdienst. Man suchte Kraftfahrer und auch Flieger, für beides aber wurde eine technische Vorbildung verlangt. Sah man davon ab, dass ich als Junge viele Drachen zur Herbstzeit hatte in die Luft steigen lassen und dass meine meist die besten waren und am höchsten stiegen, so hatte ich keinerlei Vorkenntnisse aufzuweisen, denn auch von Motoren verstand ich nichts.
Schleunigst besuchte ich in Ulm eine Autofahrschule, und kaum hatte ich bei meinem Fahrlehrer das Allernotwendigste gelernt, so ging ich zu meinem Kommandeur und trug ihm meine Bitte vor, mich in erster Linie für die Fliegerei, und wenn dies nicht ging, für die Kraftfahrtruppe einzugeben. Dass ich mit Nachdruck auf meine technischen Kenntnisse hinwies, versteht sich von selbst.
Der gute Kommandeur hörte mich ruhig an, nickte ein paarmal zustimmend mit dem Kopf und sagte mir, dass er nichts dagegen habe. Ich drängelte heftig und meinte schüchtern, dass ein telegrafisches Gesuch sicher rascher gehen würde als ein briefliches. Damit schien ich aber auf Widerstand zu stoßen, empfahl mich also und begab mich zu dem ein Stockwerk tiefer sitzenden Adjutanten. Dem redete ich ein, dass der Kommandeur vollkommen einverstanden sei, und sagte, dass mein Gesuch nun unverzüglich telegrafisch an das Generalkommando weitergegeben werden müsste. Der junge und noch recht unerfahrene Adjutant schöpfte keinen Verdacht; er war sogar froh, dass ich ihm gleich den Text des Telegramms aufsetzte. Er hatte auch nichts dagegen, dass ich dem Gesuch noch eine Bemerkung hinzufügte, die eine Art Qualifikation darstellte und mir geeignet schien, meiner Bitte Erfolg zu verleihen. Ich wich nicht von seiner Seite, ehe das Telegramm aufgegeben worden war.
Schon am Nachmittag wurde ich zum Kommandeur befohlen. Der Adjutant hatte ihm mein Gesuch noch nachträglich zur Unterschrift vorgelegt, und nun war der gute Oberstleutnant entsetzt darüber, dass wir über seinen Kopf hinweg einer so hohen Dienststelle, wie es ein Generalkommando nun einmal ist, einfach telegrafiert hatten. Er machte uns mit bitteren Worten die Hölle heiß und sprach mir dann in Gegenwart des Adjutanten sein „tiefstes Missfallen“ über mein selbständiges Handeln aus. Nur der Tatsache, dass er ein Freund meines Vaters war, habe ich es zu verdanken, dass ich nicht mit Stubenarrest bestraft wurde. Noch zweimal musste ich zu ihm kommen. Er konnte sich einfach nicht darüber beruhigen, dass wir telegrafiert hatten. Ein Glück nur, dass er nicht eben so impulsiv in seinen Handlungen war wie wir, sonst hätte er ein Telegramm, in dem er unser Kabel zurückzog, aufgegeben und damit mein Schicksal besiegeln können. Er tat das nicht, und ich bin ihm ewig dankbar dafür gewesen. Drei Tage später schieden wir versöhnt. Mein Gesuch hatte Erfolg gehabt. Ich fuhr nach Adlershof bei Berlin, wo ich mich bei der Fliegerersatzabteilung melden sollte.
Als Beobachter an die Front
Nun war ich Flieger … nur durch das kurze Telegramm, das ich so frisch, fromm, frei und ohne mich um den vorgeschriebenen Instanzenweg zu kümmern, abgeschickt hatte. In Adlershof, wo ich mich zu melden hatte, gab es ein paar Hallen, in denen Flugzeuge standen, ein Kasino, in dem sich eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die sich aus allen möglichen Regimentern rekrutierte, eingefunden hatte, und ein heilloses Durcheinander. Man war dabei, Feldfliegerformationen aufzustellen, denen man in der Umgebung des Flugplatzes Geschäftszimmer zuwies, während die Abteilungsführer ratlos umherliefen und sich ihren Kram zusammensuchen mussten. Nichts war organisiert, nirgendwo klappte es. Wenn einer Abteilung Flugzeuge zugewiesen wurden und man sie abholen wollte, dann stellte es sich oft heraus, dass die Maschinen bereits ins Feld gegangen waren. Oder von einer schon bestehenden Formation war ein alter Pilot erschienen, hatte sich in eine Kiste gesetzt und war damit abgebraust.
Die Abteilung 41, der ich zugeteilt wurde, bestand einstweilen überhaupt nur aus einem Geschäftszimmer im Gymnasium in Niederschönweide und aus einem Feldwebel. Erst ganz allmählich fanden sich auch die übrigen Beteiligten ein, und da wir auch einen Kraftwagen brauchten, hielten wir einfach eines der vorüberfahrenden Autos an, steckten den Chauffeur in die Uniform, und schon war der Fall erledigt. Da es außer mir bei der Abteilung nur noch Kavalleristen und Reserveoffiziere gab, wurde mir die ehrenvolle Aufgabe zuteil, die uns zugewiesenen Leute erst einmal auf dem Schulhof militärisch auszubilden. Daneben musste ich aber noch Zeit finden, mich um meine fliegerische Ertüchtigung zu bekümmern. Unterricht oder etwas Ähnliches gab es nicht.
Ich setzte mich halt zu jedem rein, der aufstieg, nahm Karten mit, um mich an den Blick von oben zu gewöhnen, und hatte es sehr bald raus, jederzeit die Position des Flugzeuges und die Flugrichtung festzustellen. Auch zwei Überlandflüge machte ich in diesen Wochen. Leutnant Flashar, der eben fliegen gelernt hatte und sich als „Emil“ dem „Franz“ fürchterlich überlegen fühlte, und ich sollten nach Leipzig fliegen. Wir hatten wundervolles Wetter, ich konnte die Straßen und Ortschaften ganz genau erkennen, aber dann gerieten wir mit unserer Albatros-Schulmaschine in dicken Dreck und mussten über ihn hinwegziehen. Flashar wackelte bekümmert mit dem Kopf. Er wusste nicht, was nun werden sollte. Ich hatte jedoch nicht nur ausgezeichnete Karten mit, sondern war schon vor dem Fluge bemüht gewesen, ihn so gut wie irgend möglich vorzubereiten. Die Flugstrecke war genau eingeteilt, ich hatte die Geschwindigkeiten berechnet und war überzeugt, Leipzig und seinen Flugplatz Mockau auch ohne Sicht finden zu können.
Die Uhr in der Hand, rechnete ich angestrengt. Unter uns brodelte dicker Nebel. Jetzt war es soweit: unser Vogel senkte sich tiefer, es wurde dunkler um uns, Regen klatschte auf die Tragflächen; plötzlich schwammen einige Fabrikschornsteine in dem Nebelmeer um uns herum. Wir sahen Stoppelfelder, und vor uns tauchten die Umrisse einer großen Luftschiffhalle auf. Leipzig hatten wir wohl. Wo aber lag unser Flugplatz? Wir hätten ihn ja suchen können, aber Flashar sah einen glatten Stoppelacker und landete kurzentschlossen. Bald erfuhren wir, dass der eigentliche Flugplatz nur anderthalb Kilometer entfernt lag.
Nachdem mit Hilfe eines herbeigeholten Monteurs unsere Maschine wieder startfertig gemacht worden war, wollten wir starten, um dorthin zu fliegen. Aber der Start klappte nicht. Der Vogel kam schlecht weg, rasend näherten wir uns einer hohen Baumallee. Flashar fürchtete, nicht drüber wegzukommen, ging in eine Linkskurve, und in einer Bö schmierte die Kiste ab. Wir waren nicht hoch, aber es reichte für einen totalen Bruch. Die Maschine lag auf dem Rücken, ich war hinausgeschleudert worden, aber außer einigen kleinen Hautabschürfungen ist uns nichts passiert. Da standen wir und sahen uns sorgenvoll den Trümmerhaufen an. Rasch sammelten sich die Neugierigen, die überall erscheinen, wo es etwas zu sehen gibt; die Mannschaften der Fliegerabteilung kamen und transportierten die Maschine ab, und wir beide fuhren im D-Zug zurück nach Berlin … gar nicht sehr stolz über unser Abenteuer.
Noch einmal versuchten wir den gleichen Flug mit einem Doppeldecker. Wir kamen gut nach Leipzig, auf dem Rückflug jedoch begann der Motor zu meckern und zwang uns zu einer Notlandung. In einem nahegelegenen Schloss wurden wir gastlich aufgenommen und kehrten, da sich der Motor nicht reparieren ließ, auch von unserem zweiten Ausflug per Eisenbahn wieder heim. Noch einmal sah ich mir die Welt von oben an: in Schwerin, aus einer Fokkerspinne. Wir hatten dort die Flugzeuge, die uns ins Feld begleiten sollten, zu übernehmen, und mit unseren – wie ich selbst zugeben muss – recht mangelhaften Kenntnissen bewaffnet, ging es jetzt nach Flandern.
In Gent wurden wir ausgeladen, montierten die Maschinen auf der ehemaligen Rennbahn, die zu einem Flugplatz umgewandelt worden war, und sollten sie ein paar Tage später auf dem Luftwege an die Front überführen. Der Abteilungsführer zeigte uns den Platz genau auf der Karte, er versprach uns, Feuer anzünden und Landezeichen auslegen zu lassen, aber von uns sechsen kam auf normalem Flugweg nur ein einziger an. Zwei waren erst gar nicht gestartet, ein dritter hatte seine Kiste gleich auf dem Platz zerschmissen, und die anderen verfranzten sich eben. Nur ich hatte Glück, fand mein Ziel und wurde allgemein bewundert.
*
Im ersten Vierteljahr meiner Frontfliegertätigkeit musste ich sehr viel lernen, und es fiel mir manchmal verdammt schwer, aus den unendlich vielen Straßenzügen, die aus Ypern herauskommen, immer den richtigen zu finden und das Beobachtete mit der Karte in Gleichklang zu bringen. In diesen ersten Monaten flog ich sehr viel und lernte die Beobachtertätigkeit schnell und gründlich kennen. Das Schwierigste war wohl das Artillerieeinschießen. Es gab dafür noch keine Vorschriften; brauchbare Erfahrungen, auf denen man aufbauen konnte, lagen kaum vor, und die Nachrichtenübermittlung vom Flugzeug zur Mutter Erde und umgekehrt war mehr als mangelhaft. Hier kam mir meine immer aufs Praktische gerichtete Veranlagung sehr zustatten: in kurzer Zeit hatten wir Systeme ausgearbeitet, mit denen wir uns den Batteriestellungen verständlich machen konnten. Anfangs geschah das natürlich noch sehr primitiv durch Kurvenfliegen, Gasgeben oder Gaswegnehmen über den Batterien, mit denen wir einschossen. Später machten wir das mit Hilfe von Leuchtzeichen. Wenn wir nur nicht so schrecklich unpraktisches Leuchtsignalgerät gehabt hätten! Entweder war die Munition zu schwer – unsere Maschinen konnten damals ja kaum den Piloten und den Beobachter in die Luft bringen – oder aber die Leuchtpistolen krankten an chronischer Ladehemmung. Oft gab es Missstimmungen bei der Heimkehr, wenn falschverstandene Zeichen ein heilloses Durcheinander angerichtet hatten. Mit der Zeit verfeinerten wir die Verständigung jedoch ganz beträchtlich, und ich kam schnell in den Ruf, eine „Einschießkanone“ zu sein.
Von besonderer Wichtigkeit war für uns selbstverständlich auch das Luftbild. Wir hatten auch Apparate bekommen, aber im Eifer des Gefechts funktionierten die Dinger meist nicht. Und wenn wir wirklich einmal geknipst hatten, dann sah man später nichts auf den Platten. Das hatte einen eigenartigen Grund. Wir besaßen nämlich einen Abteilungsfotografen, der ähnlich wie jener Chauffeur von der Straße aufgegriffen worden war. Da uns dieser hoffnungsvolle junge Mann auch nicht erklären konnte, warum aus unseren Aufnahmen nie etwas wurde, sahen wir uns veranlasst, ihm einmal gründlich auf den Zahn zu fühlen. Dabei stellte es sich dann heraus, dass er ein ganz verrücktes Luder und alles andere, nur kein Fotograf war. Von diesem Augenblick ab ließen wir unsere Platten bei der in unserer Nähe liegenden Luftschifferabteilung entwickeln. Und siehe da! – unsere Bilder waren nicht nur gut, sondern wir erkannten auch die Vorteile, die das Fotografieren aus der Luft für eine systematische Erkundungsarbeit bot.
Auch die Bewaffnung unserer Flugzeuge machte Fortschritte. Bei den ersten Flügen drohten wir noch mit der Faust, wenn uns eine feindliche Maschine zu nahe kam. Dann schossen wir mit Armeepistolen, bekamen später Mehrladegewehre, die leider ständig Ladehemmungen hatten, und schließlich kamen auch die ersten Maschinengewehre an die Front. So war dieser furchtbare Krieg: die Not schärfte die Waffen und zwang die Entwicklung vorwärts. Hüben wie drüben. Es war ein ewiges Auf und Ab; der Druck des Feindes erzeugte auch hier Gegendruck, und die verzweifelten Anstrengungen, die auf beiden Seiten gemacht wurden, verfeinerten die Kampfmittel zu ihrer größten und gefährlichsten Vollendung.
Die Fronten erstarrten, der Stellungskampf in Flandern schematisierte auch unsere Tätigkeit, wir starteten zur Erkundung, zum Artillerieeinschießen, zum Fotografieren, und immer gingen die Aufträge reihum, so dass zwischen den einzelnen Feindflügen immer lange Pausen lagen. Einmal schoss man mich ab, aber daran war nur meine Dankbarkeit gegen die feindlichen Flaks, die Fliegerabwehrkanonen, schuld, die, ich, wenn ich mit ihrem Munitionsverbrauch zufrieden war, aus lieber Gewohnheit zur Anerkennung mit einigen kleinen Bomben bedachte.
Wir waren gerade mit dem Artillerieeinschießen fertig geworden und wollten uns nur noch von einer „Flak“, die uns besonders aufs Korn genommen zu haben schien, verabschieden, als plötzlich zwischen unserer Maschine und dem auf der Erde deutlich erkennbaren Blitz etwa zweihundert Meter unter uns das erste Schrapnell krepierte. Es saß zu tief, aber die Richtung war glänzend. Ich hätte jetzt abbiegen müssen, um aus der Schussrichtung herauszukommen, wollte jedoch vorher noch meine Bomben loswerden. Da krachte schon das nächste Schrapnell, die Maschine bekam einen heftigen Stoß. Teile des Rumpfes flatterten weg … ein Volltreffer war genau durch unseren Benzintank, auf dem ich saß, geschlagen. Kreidebleich war mein Führer; ihn hatte der Schuss die Kniescheibe gekostet. Ein Trost nur, dass die Steuerung intakt blieb und die Maschine nicht auseinanderbrach. Wir gingen in Gleitflug und versuchten, unsere Maschine noch hinter unsere Linien zu bringen. Schwer war’s, denn mein Pilot wurde ohnmächtig. Ich musste zufassen. Kurz vor der Landung im Trichterfeld riss er sich noch einmal hoch, setzte die Kiste leidlich hin, wir machten einen Überschlag und durften von Glück sagen, dass uns nicht mehr passiert war.
Weiter tobten die Schlachten. Wir kamen an die Somme, wo ein gewaltiges Ringen bevorstand. Tag und Nacht hämmerte das Trommelfeuer, und Cambrai, wohin man mich zum Quartiermachen geschickt hatte, glich einem wimmelnden Ameisenhaufen. Ich fand in Havrincourt einen geeigneten Platz, aber die Abteilung, die oben in Flandern immer noch Abschied feiern musste, kam nicht nach. Da erbettelte ich mir vom Kommandeur der Flieger drei Maschinen, begann zu fliegen, und als die Abteilung eintraf und ausgeladen wurde, lagen bereits die ersten Erkundungsergebnisse vor. Hier wehte eine andere Luft. Die feindlichen Maschinen kreisten täglich über unseren Linien und zeigten sich stark und überlegen, während sich unsere Jagd- und Kampfgeschwader hinter der Front hielten und Sperre flogen. Jetzt flogen wir mehrmals am Tage, zogen hoch über den Sperrzonen und unseren eigenen Formationen hinweg und stießen vor. Es hätte den sicheren Tod bedeutet, hier allein zu fliegen. Nur wenn wir in Staffeln auftraten, konnten wir an den Feind herangehen und ihn mit Erfolg vertreiben; allerdings mussten wir aufpassen, dass wir bei der Rückkehr von unseren etwas gewaltsamen Erkundungsflügen nicht durch unsere eigenen Jagdgeschwader unfreundlich empfangen wurden, die der Meinung waren, dass alles, was von der anderen Seite kam, eben feindlich sein müsste.
In dieser Zeit wurde ich Staffelführer und bekam den Befehl, als Abteilungsführer der Staffel 22 des Kampfgeschwaders 4 der Obersten Heeresleitung zu übernehmen. Ein paar Gehöfte, ein kleines Wäldchen und am Waldrande die Zelte der Staffel: das war Fleez, mein neues Reich. Glücklich und voll neuer Ideen traf ich ein, jedoch waren die Verhältnisse, die ich dort antraf, alles andere als ermutigend. Aus der Staffel wurde nämlich eine Jagdstaffel geboren, die sich noch nicht völlig losgelöst hatte, und da der frühere Staffelführer die neue Formation übernehmen sollte, wollte er alles mitnehmen, was gut war an Flugzeugführern und Monteuren. Ein harter Kampf begann. Wie ein Löwe kämpfte ich um jeden Piloten, um jeden Monteur, denn ich musste doch aktionsfähig bleiben, was allein mit dem Ersatz, den man mir überwies, nicht möglich war. Das war etwas viel auf einmal, weil auch in taktischer und kampftechnischer Hinsicht recht vieles im Argen lag. Ich kannte niemand, war fremd ins Geschwader gekommen und musste mir meine Position erst Schritt für Schritt erkämpfen.
Es wurde wenig geflogen. Nur ein oder zwei Maschinen waren startfertig, mit denen ein paarmal über den Platz hinweggerutscht wurde, damit die Bestätigungen für die Einreichung zum Flugzeugführer- oder Beobachterabzeichen vorhanden waren. Die übrigen Flugzeuge hatte man für frontunbrauchbar erklärt und wollte sie zum Flugzeugpark zurückschicken. Aber bald hatte ich Oberhand, ließ die Maschinen montieren und flog. Mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Die Schale schälte sich vom Kern, und da die Erfolge nicht ausblieben, machte das Vorbild Schule. Nun konnten die anderen nicht mehr zurückstehen. Sie mussten mit, ob sie wollten oder nicht. Ich kam überhaupt nicht mehr weg von meinen Flugzeugen.
Die Aufgabe meiner Staffel bestand darin, die Artillerie-Flugzeuge vor feindlichen Angriffen zu schützen. Eine langweilige und wenig erfreuliche Aufgabe, die mir viel Zeit zum Nachdenken ließ, wie es wohl möglich wäre, diese stumpfsinnigen Flüge befriedigender zu gestalten. Kam es wirklich einmal zu einem Zusammenstoß mit feindlichen Jagdfliegern, so waren wir ihnen in Bezug auf die Bewaffnung stark unterlegen und konnten uns ihnen nur dadurch entziehen, dass wir enge Kurven flogen und in die Wolken fielen. Das wurde anders. In der Unterhaltung mit Richthofen und anderen erfolgreichen Jagdfliegern hatte ich immer wieder feststellen können, dass es weniger auf das viele Schießen, sondern vor allem auf das gute Zielen und Treffen ankam. So knobelte ich mir ein neues Schießverfahren aus, kaufte den Infanterie-Maschinengewehrschützen ihre Zielfernrohre, die sie nicht brauchten, ab und machte auf einem eigens dazu erbauten Scheibenstand systematische Versuche. Dabei stellte ich fest, dass immer die ersten beiden Schüsse, die mit dem Maschinengewehr abgegeben wurden, ins Schwarze trafen, während die nächsten abseits kamen. Es durften also nicht lange Serien geschossen werden, sondern nur ein oder zwei Schüsse, die sicher saßen, wenn man den Feind nur richtig ins Fadenkreuz nahm.
Nach kurzer Zeit zeigte sich der Erfolg: die Franzosen hüteten sich davor, sich mit uns in hartnäckige Luftkämpfe einzulassen. Wenn unsere Maschinengewehre zu sprechen begannen, ließen sie von uns ab. Jetzt waren wir die Überlegenen, und die Besatzungen hüteten die Zielfernrohre, die sie zu den Herren der Luft machten, wie Kleinode.
Nachtflug
Immer noch hämmerte das Trommelfeuer an der Front, immer noch marschierten im Abendgrauen die Infanteriekolonnen in die vordersten Linien, immer noch kamen am Morgen die Sanitäter mit den Verwundeten zurück und die Grabenbesatzungen – sonnengebräunt, ausgemergelt, in erdbekrusteten Uniformen. Unerträglich war dieser Anblick für mich. Wir mussten den Brüdern in den Gräben helfen, mussten noch mehr tun … es genügte nicht mehr, nur Sperre zu fliegen, am Tage Bomben zu werfen oder unsere Artillerie-Flugzeuge zu begleiten. Während der Nacht stand unser wertvolles Maschinenmaterial nutzlos in den Hallen. Einmal, als einzelne Flugzeuge zur Verschleierung der Verdun-Offensive in Morsele zusammengezogen worden waren, hatte ich die Erlaubnis bekommen, zu einem Nachtflug zu starten. Ungeheure Möglichkeiten bot dieses Fliegen bei Nacht, und ich ging nun daran, den Versuch zu machen, mit einer Staffel die Kampftätigkeit auch nachts fortzusetzen, weil nur so eine restlose Ausnutzung des wertvollen Menschen- und Maschinenmaterials möglich war.
Als ich meinen Besatzungen von meinen Plänen erzählte, sah man mich schief an, einige platzten glatt heraus, aber zwei Flugzeugführer erklärten sich bereit, den ersten Start mit mir zu wagen. Das war damals keine ungefährliche Sache. In unseren „Walfischen“ hatte man schlechte Sicht, und dem Piloten sauste der Frack vor der kommenden Landung. Wir hatten auch keine Ahnung, wie wir die Platzbeleuchtung einrichten sollten. Gewiss, es gab wohl Fackeln, die Flugzeugen, die sich verspätet hatten, in der Dämmerung den Platz zeigen sollten. Auch waren meine Flugzeugführer verflucht jung, hatten gerade erst Fliegen gelernt und konnten kaum bei Tage richtig landen. Trotzdem riskierte ich es. Der „Walfisch“ wurde mit Bomben beladen, und wir zogen los.
Ein paar Runden um den Platz, damit wir uns die markanten Punkte in der Umgebung einprägten, um ihn später wiederzufinden, dann erst ging es über die Front hinweg. Der Gegner warf noch immer neue Verstärkungen in die große Schlacht und wollte nicht einsehen, dass es doch nicht vorwärtsging. Hier herrschte munteres Leben. Lagerfeuer, Scheinwerfer fahrender Autos, beleuchtete Wagenkolonnen und Truppenlager. Die Bomben sausten in die Tiefe, Notizen für die Meldung wurden gemacht, und schließlich ging es wieder zurück. Glücklich kamen wir herunter, landeten glatt und wurden begeistert empfangen. In der nächsten Mondperiode ging es schon besser; ich flog gleich mehrmals in der Nacht; auch die anderen bekamen Mut, machten mit, und schließlich war es ja auch ganz einfach, denn wir flogen anfangs nur in Nächten, in denen keine oder nur sehr hohe Wolken am Himmel standen.
Nicht nur beim Feind, der sofort reagiert hatte und nicht mehr alles so nett beleuchtete, war unsere Tätigkeit bekannt geworden; sie sickerte auch nach rückwärts durch, erregte Aufsehen und Zustimmung, so dass den anderen Staffeln nichts anderes übrigblieb, als unser Verfahren ebenfalls einzuführen. Man musste nur den Willen haben, etwas zu leisten, und die nötige Initiative aufbringen.
Auf Grund unserer Erfahrungen war die Start- und Landebeleuchtung wesentlich verbessert worden. An einer Reihe von Fackeln entlang wurde gestartet und gelandet – man brauchte keine Angst mehr vor der Landung zu haben, und je öfter wir flogen, desto mehr Freude hatten wir an unserer neuen Tätigkeit.
*
Eines Nachts – es war am 6. November 1916 – startete ich mit Leutnant Kalf. Wir flogen in Richtung Amiens die Römerstraße entlang, und ich wusste gar nicht so recht, wen ich in dieser Nacht mit meinen fünfzehn schlanken Zehnkilobomben bedenken sollte, die wir mitgenommen hatten. Ein paar waren bereits in eine Mulde und ein Wäldchen gesaust, in denen nach den Bildmeldungen ein Lager zu vermuten war. Sie platzten unten, aber weiter war nichts zu sehen. Da fiel mir ein, dass ich in der vergangenen Mondperiode nördlich der Römerstraße sechs Bogenlampen hatte brennen sehen. Dort wollte ich hin. Das Ziel war bald erreicht. Unten im Tal schlängelte sich das silberne glitzernde Band der Somme durch dunstige Wiesen. Eine Brücke wurde schnell mit zwei Bomben bedacht, und dann sah ich die charakteristischen dunklen Parallelstreifen … Truppenlagerbaracken. Wie eine graue Schlange, auf deren Rücken zwei Parallelstreifen gezeichnet sind, schlängelte sich eine Bahnlinie entlang, und daneben viele Schuppen und eigenartige Zelte. Das musste mein Ziel sein. Hier hatten damals die Bogenlampen gebrannt.
Wir machten kehrt, drehten vorsichtig die Windrichtung witternd ein, durch den Zielausschnitt meines Wals sah ich wieder die Somme, schräg unten erschienen vier Schuppen – nun war es Zeit. Ich zählte die Sekunden, zog an den Hebeln der Bombenabwurfvorrichtung. Vier stählerne Leiber stellten sich auf den Kopf und verschwanden in der Tiefe. Wir waren nicht hoch. Wolken zogen von Westen herauf. Wir mussten an die Heimkehr denken. Weit beugte ich mich über den Bordrand hinaus, um die Einschläge zu beobachten. Unten, vor dem ersten Schuppen ein Blitz, die anderen sah ich nicht mehr explodieren, denn in diesem Augenblick tat sich unten aus dem Schuppen ein Licht auf, wurde heller und heller … so grell, dass wir in der Maschine beleuchtet wurden. Und nun folgte ein Aufflammen nach dem anderen; unten gingen Munitionsschuppen in die Luft. Unsere Maschine wurde durchleuchtet; deutlich sahen wir durch den Stoff die Spieren der Tragflächen, und über uns glühten die Wolken.
Kalf glaubte, dass wir von Scheinwerfern angeleuchtet würden. Er war geblendet und drückte in seiner Verzweiflung die Kiste, um möglichst rasch aus den Lichtkegeln herauszukommen. Kaum 150 Meter waren wir noch hoch. Ich musste ihm helfen, damit wir nicht zu tief kamen, denn unten verschwamm alles im Dunst. Endlich hatte er kapiert, was los war. Rings um uns krachten die Granaten des Abwehrfeuers, dem unser hell beleuchtetes Flugzeug ein gutes Ziel bot. Aber – was scherte uns das: dort unten ging ein Munitionsstapel nach dem anderen hoch, und wir beide brüllten in unserer Begeisterung ungeachtet der um uns herum krepierenden Granaten laut hurra.
Nun aber nach Haus! Wir kehrten um und flogen unserem Heimathafen zu. Kurz vor der Landung schlug ich dem Piloten noch einmal kräftig ins Kreuz. „Saubere Landung!“, brüllte ich ihm in die Ohren, denn ich kannte ja meine Flugzeugführer. In der Aufregung vergaßen sie das Wichtigste, und es wäre nicht nett, den Erfolg durch einen Bruch zu verwässern. Als wir aufsetzten, war es gerade 12 Uhr vorbei. Die ganze Staffel stand auf dem Platz. Man hatte die Explosionen hinter der feindlichen Front beobachtet, und alles wartete gespannt darauf, ob wir dieses Feuerwerk mit unseren Bomben ausgelöst hatten. Geschlafen haben wir nicht in dieser denkwürdigen Nacht.
Wir feierten das schöne Ereignis und gingen immer wieder auf den Platz hinaus, um am Horizont das Aufflammen zu beobachten und den dumpf grollenden Donner der Detonationen zu hören. Auch noch in den folgenden Nächten hatten unsere Artilleriebeobachter viel Unterhaltung. Die ganzen Munitionsstapel gingen im Laufe von drei Tagen in die Luft. Meine vier Bomben hatten einen furchtbaren Schaden angerichtet, und als wir das Trümmerfeld fotografierten, konnte man tiefe Erdtrichter sehen, wo vorher die Schuppen und Zelte gestanden hatten. Am Tage darauf bekam Leutnant Kalf das Eiserne Kreuz erster Klasse und ich den Hohenzollern. Was aber noch wichtiger war: meine Besatzungen waren jetzt wild darauf, nachts zu fliegen, und Schritt für Schritt kamen wir nun vorwärts.
Noch eine andere Anerkennung wurde uns zuteil … aber vom Feinde. Die Zerstörung des Munitionslagers Cerisy muss drüben den Anstoß dazu gegeben haben, ebenfalls zum Nachtbombenkampf überzugehen. Anfang Dezember zerschmiss man unser schönes Kasino. Wir hatten viel zu tun mit der Wiederherstellung unserer Fliegerbehausung, aber es hatte wenigstens keine Verluste gegeben. Trotzdem wollte ich mich aber drüben für diesen nächtlichen Besuch revanchieren. Das Wetter war verhältnismäßig gut, nur roch es nach Nebel. Schon als wir noch nicht gestartet waren, lag auf den Wiesen unter uns weißliche „Milch“. Beim Starten brach rasend schnell der Nebel herein. Schon waren die Fackeln auf dem Platz nicht mehr zu sehen. Und wir hingen in der Luft, die Kiste voller Bomben! Die Situation war brenzlig. Im Nebel fliegen konnten wir noch nicht. Damals …
Unter uns im Nebel lag der Platz, von oben schien der Mond auf die undurchsichtige Bescherung … was sollten wir tun? Eine ekelhafte Geschichte. Es ging ums Leben. Jetzt durften wir die Ruhe nicht verlieren. Wenn wir nun noch etwas Höhe gewannen, dann nach Norden und dann nach Westen und Süden abbogen – in östlicher Richtung waren wir gestartet –, die Sekunden zählend, dann mussten wir unseren Flugplatz wiederfinden können, auch ohne etwas zu sehen. Ich zählte … wir flogen nach Norden, ich zählte … wir flogen nach Westen, bogen nach Süden ab und drehten schließlich nach Osten ein. Immer zählte ich. Jetzt mussten wir wieder den Platz vor uns haben. Da gab ich dem Führer das Zeichen: Gas weg – Landung. Tiefer – hinein in den Nebel. Scharf spähte ich nach unten … bums – – der Vogel stellte sich auf den Kopf und überschlug sich. Es tat nicht sehr weh. Wir hatten den Flugplatz wirklich erreicht. Nur meine Leuchtpistole ging beim Aufschlagen los und beleuchtete den Beobachtersitz von innen. Ich trat die Flamme schnell aus, wir kletterten unter unserem Vogel hervor und schüttelten uns lachend die Hände – froh, dass alles so gut abgegangen war.
Dieser verunglückte Flug wurde für mich unendlich wertvoll. Ich hatte viel gelernt, wusste, was uns noch fehlte, damit wir in derartigen Fällen dem gefährlichen Nebel nicht schutzlos ausgeliefert waren, und dadurch wurde er zum Anlass, dass ich mich gründlich mit dem Nebelflug beschäftigte. Später haben wir bei meinem Geschwader solche Situationen sehr gut zu meistern verstanden.
Der kleine Gefreite, der seine Sache so glänzend gemacht hatte, wurde zum Unteroffizier befördert, aber leider schon zwölf Tage später hatte unser Zusammenfliegen ein Ende: in der Gegend von Peronne wurden wir über den Wolken abgeschossen. Ich kam schwerverwundet ins Lazarett, und als ich nach viereinhalb Monaten wieder beim Geschwader eintraf, sah ich nachts eine Maschine starten; noch über dem Platz ging sie in eine Kurve, rutschte über den Flügel ab, es gab eine fürchterliche Explosion, als sie unten aufschlug … alles war zerfetzt und zerrissen. So starb der Vizefeldwebel Rüger, einer meiner besten Piloten von den vielen guten, mit denen ich zusammen geflogen bin. Auch Leutnant Kalf sah ich nicht wieder. Er war Kampfflieger geworden und kam, um seine alte Staffel zu besuchen. Aus großer Höhe setzte er zur Landung an – in einer Spirale, aus der er sein Flugzeug nicht wieder herausbekam. Wir fanden ihn zerschmettert in seinem Einsitzer …
Im Luftkampf abgeschossen
Im Abschnitt der Sommefront war Ruhe eingetreten. Wir zogen nach Étreillers um, und da ich infolge des Umzuges in den letzten Tagen wenig zum Fliegen gekommen war, nützte ich die Mittagsstunden, als das Wetter sich ein wenig aufklärte, dazu aus, einmal drüben beim Feind nach dem Rechten zu sehen. Ich hatte vor, über den Wolken hinüberzuziehen, dann durch ein Wolkenloch nach unten durchzustoßen, um aus niedrigster Höhe meinen Bombensegen wirksam abzusetzen. Das hatten wir schon oft getan und scheinbar dadurch den Feind zu Gegenmaßnahmen angeregt. Denn als wir in der Nähe der Front waren, sahen wir plötzlich über der Wolkendecke zwei Newports Sperre fliegen. Uns war es schon recht, hier oben in den Luftkampf zu kommen. Rüger schoss gut, und ich hatte ja mein Maschinengewehr mit dem Zielfernrohr.
Wir stießen aufeinander zu. Unsere beiden Gegner trennten sich, während wir zwischen ihnen hindurchflogen. Das Maschinengewehr im Anschlag, wartete ich auf die Sekunde, in der die eine feindliche Maschine im Fadenkreuz erscheinen musste. Gerade hatte ich sie, da prasselte etwas in unser Flugzeug. Im selben Augenblick bekam ich einen fürchterlichen Schlag gegen den Oberschenkel und glaubte, mein Bein sei abgeschlagen, Benzin spritzte herum, der Motor spuckte Feuer und stand. Rüger schien unverletzt. Ich hieb ihm auf die Schulter, brüllte: „Runter!“ – schon stellte er die Kiste auf den linken Flügel, sie rutschte ab, und wir fielen in die Wolken. Als wir in etwa 200 Meter Höhe herauskamen, nahmen wir Kurs nach Osten und schwebten im Gleitflug unseren Linien zu. Um uns zischten und pfiffen die Drähte der Verspannung, unter uns knatterten die Maschinengewehre, ich sah, wie der Feind im Graben Gewehre auf uns richtete. Dann schwebten wir über das Niemandsland, setzten dreißig Meter hinter unserer vordersten Linie auf und überschlugen uns.
Ich war in Benzin gebadet, lag hilflos im Beobachtersitz und konnte nicht hinaus. Rüger war bei dem Sturz völlig unversehrt geblieben und machte die größten Anstrengungen, mich aus meiner unglücklichen Lage zu befreien. Schließlich gelang es ihm, wir krochen durch drei oder vier Granattrichter, wo ich dann zusammenbrach. Ich konnte mein Bein oberhalb des Knies vorwärts und rückwärts drehen. Schnell rissen wir die Hose auf, ich holte die Verbandspäckchen aus meinem Rock heraus, mit denen Ein- und Ausschüsse, so gut es ging, verbunden wurden. Dann lösten wir meine Wickelgamasche und machten damit den Verband noch fester. Ich blutete fürchterlich. Während wir uns mit meiner Wunde beschäftigten, mussten wir volle Deckung nehmen, denn nun fegten die Geschossgarben in unser Flugzeug hinein, der Dreck überspritzte uns, wir lagen vollkommen hilflos in unserem Trichter. Dann stoppte das Maschinengewehrfeuer. Die Geschütze begannen ihre Tätigkeit. Man eröffnete ein wildes Trommelfeuer, um unsere Maschine zu vernichten.
Ich konnte nicht weg, aber ich bat Rüger inständig, doch zu versuchen, in den fünfzig Meter entfernten Graben zu gelangen. Er weigerte sich beharrlich und wollte mich nicht im Stich lassen. Erst als ich ihm den dienstlichen Befehl gab, schlich er davon. Unaufhörlich schlugen die Granaten um und in das kaum zehn Meter entfernte Flugzeug, ich musste mich am Boden festkrallen, um von dem Luftdruck der Explosionen nicht weggeschleudert zu werden. Etwa nach einer halben Stunde, als man drüben glaubte, uns den Garaus gemacht zu haben, verstummte das mörderische Feuer wieder.
Lange lag ich allein und hatte Zeit, darüber nachzudenken, was nun aus mir werden würde. Mein Bein schien kaum noch gerettet werden zu können. Der starke Blutverlust hatte mich geschwächt. Wirre Träume kamen und gingen. Ich sah weiße Betten, aber wenn ich aufschreckte und mich umsah, dann lag ich noch immer in meinem Trichter und sehnte mich danach, jemand die Hand zum Abschied schütteln zu können.
„Herr Oberleutnant! Herr Oberleutnant!“, … das war Rüger, der zurückkam, um mich zu suchen. Matt antwortete ich und begann, in seine Nähe zu rutschen. Den Unterschenkel hatte ich mit der anderen Wickelgamasche festgebunden, damit er nicht wegbaumelte. Über uns weg brummten zwei Walfische, die Kameraden, die über der zerstörten Maschine kreisten und dann weiterflogen. Die Meldung unseres Abschusses war also durch, jetzt glaubte man nicht mehr daran, dass wir noch am Leben waren. Fast noch eine Stunde lag ich mit Rüger in einem leeren Graben, als zwei feldgraue, erdbekrustete Gestalten auftauchten und mich ergriffen und in schnellem Lauf in die Stellung schleppten. Kaum waren wir in Deckung, da trommelten die Maschinengewehre schon wieder.
In einem Sanitätsunterstand bekam ich eine Tetanusspritze. Ich wurde müde, schlief ein, und als ich erwachte – von furchtbaren Schmerzen geplagt – lag ich auf einer Bahre, die von Sanitätern getragen wurde. Um uns herum krachten die Granaten. Ich glaubte mehr als einmal, meine Begleiter würden mich hinfallen lassen, um in Deckung zu gehen, aber dann erreichten wir doch den Sanitätswagen, der mich ins Feldlazarett brachte. Am nächsten Morgen ging es weiter nach St. Quentin, wo man mich für zwei Monate in den Streckverband tat.
Anfang April erst konnte ich mich, an zwei Stöcken gehend, bei meinem Geschwader melden. Ein Glück, dass ich bei der Meldung wenigstens den einen Stock draußen stehengelassen hatte, denn mein neuer Kommandeur schien meiner Felddiensttauglichkeit, die ich mir eigentlich nur durch gutes Zureden erschoben hatte, nicht sehr zu trauen. So aber bekam ich die Staffel 19, bei der ich – anfangs sehr zum Missvergnügen meiner Besatzungen – all das einführte, was wir bei meiner alten Staffel entwickelt hatten. Während meines Aufenthaltes im Lazarett waren viele Veränderungen eingetreten. Die Kampfgeschwader hatte man zu Bombengeschwadern umgemodelt, und unsere Formation firmiert sogar als Nachtbombengeschwader. Auch die ersten Großflugzeuge kamen jetzt ins Feld, allerdings erwarben sie sich zunächst wenig Freunde, weil die Piloten alles ablehnten, was sie nicht kannten. Dann waren auch verschiedene Besatzungen mit den neuen Kisten abgeschmiert, und nun sollten sie als unbrauchbar wieder in die Heimat geschickt werden.
Wir führten Fallschirme einDie ersten Großmaschinen Albatros G IV
Ich ließ mir die noch vorhandenen Großflugzeuge geben und stellte fest, dass sich mit ihnen schon etwas anfangen ließ, wenn man sie richtig einsetzte. Es wäre sinnlos gewesen, sie gleich bei Nacht, zu fliegen. Darum flogen wir sie am Tage im Geschwader mit anderen und leichteren Maschinen. Die großen Kästen übten nicht nur eine starke moralische Wirkung auf den Feind aus, sondern waren auch in der Lage, fast das Vierfache an Bombenlast zu schleppen wie die bisher verwendeten Flugzeuge. Später wurden die Albatrosmaschinen vom Typ AEG G 4 abgelöst, mit dem man bis zu tausend Kilogramm Bomben mitnehmen konnte. Es wurde geradezu ein Sport, die Zuladung immer weiter zu steigern, bis es mir im Jahre 1918 sogar gelang, 1500 Kilogramm mitzunehmen. Herrlich war dieses Schaffen in Montigny-le-Franc bei der Staffel 19, nachdem das erste Misstrauen überwunden, das Ganze zu einer geschlossenen Einheit zusammengeschweißt war und immer bessere Erfolge erzielt wurden. Auch meine erste militärische Strafe bekam ich damals, als ich mit Leutnant Felten zum ersten Mal nach Paris flog und Bomben warf.
Die Oberste Heeresleitung hatte zwar den Befehl erteilt, das ganze Geschwader zu einem Bombenangriff auf die französische Hauptstadt anzusetzen. Es kam leider nicht dazu, und wir erhielten die Weisung, unsere Zelte abzubrechen, um nach Flandern zu gehen. Damit wäre es aus gewesen mit dem Flug nach Paris, auf den wir uns so gefreut hatten. Darum sagten wir nichts, stiegen heimlich auf und ernteten bei der Rückkehr große Begeisterung. Noch ein zweites Mal zogen wir zur Seinestadt, die aber nun nicht mehr beleuchtet war. Dafür zeigten uns die Mündungsfeuer der „Flaks“ desto deutlicher die Ziele für unsere Bomben. Diesmal kam auch eine andere Besatzung mit, die es sich ebenfalls nicht nehmen lassen wollte, vor dem Abrücken nach Norden auch einmal Paris anzugreifen.
Das dicke Ende aber sollte nachkommen: kaum waren wir heimgekehrt, da fragte die Oberste Heeresleitung beim Geschwader an, warum dieser Angriff mit so unzureichenden Mitteln unternommen worden war. Meinem Kommandeur war das sehr peinlich, und als wir nach Flandern kamen, erhielt ich in einer streng vertraulichen Staffelführerbesprechung, bei der ich die Verantwortung für meine Besatzungen auf mich nahm, einen Verweis. Ich steckte ihn ein, erzählte meinen Leuten nicht einmal davon, und das Geschwader konnte jetzt melden, dass ich wegen meiner Eigenmächtigkeit bestraft worden sei. Mein Kommandeur hatte das nicht gern getan. Er musste, und übel nahmen wir uns auch nichts, denn schon am gleichen Abend haben wir im Kasino den Schmerz gemeinsam bei einem schönen Fest begossen.
Wir lagen nun in der Nähe von Gent, machten große Bombenflüge meist in geschlossenen Verbänden und stifteten viel Schaden drüben beim Feind. Auch Dover statteten wir einen Besuch ab und stellten dabei fest, dass es gar nicht so weit nach England war. Die Arbeit bei der Staffel machte helle Freude, denn ich hatte viel Gelegenheit, mich auch fliegerisch auszubilden. Wenn man Beobachter war, dann stellte sich auch bald der Wunsch ein, das Fliegen selbst zu lernen, um nicht immer auf Gedeih und Verderb den Piloten, die rasch wechselten, ausgeliefert zu sein. Aber wenn man erst einmal Beobachter ist, und noch dazu ein guter, dann geht eher ein Kamel durch das Nadelöhr, als dass dieser Beobachter Flugzeugführer werden kann. Es war begreiflich, dass sich die vorgesetzten Dienststellen dagegen sträubten, denn Fliegen kann man in ein paar Wochen, wenn es hoch kommt, in ein paar Monaten lernen, während man viel längere Zeit dazu braucht, ein tüchtiger Beobachter zu werden. Da Gesuche doch keine Aussicht auf Erfolg hatten, quälte ich mich damit erst gar nicht ab, sondern fuhr gelegentlich eines Heimaturlaubes zu meinem alten Abteilungsführer, der inzwischen Führer der Fliegerersatzabteilung in Böblingen geworden war, und setzte es durch, dass ich bei ihm fliegen lernen durfte. Nach drei Tagen versuchte ich den ersten Alleinflug und stellte bei der Landung meine Kiste kopf. Geknickt wie mein Fahrgestell und der Propeller, überlegte ich, was ich falsch gemacht hatte. Leider fiel mir das erst jetzt ein, nachdem es zu spät war. Am nächsten Tag flog ich noch dreimal mit meinem Fluglehrer, startete dann wieder allein und machte noch am gleichen Abend die vorgeschriebenen Prüfungslandungen. Alles ging gut, ich hatte das Pilotenzeugnis in der Tasche und durfte mich noch acht Tage in Berlin von den Aufregungen dieser Schulzeit erholen.
Als ich wieder ins Feld kam und versuchte, die noch fälligen Prüfungen zu absolvieren, wurde mir meine Bitte glatt abgeschlagen. Erst als ich Staffelführer wurde, kam ich wieder zum Fliegen. Ich hatte mir frontunbrauchbare Jagdeinsitzer besorgt, die ich herrichten ließ, selbst flog oder meinen Piloten gab – als Lohn für ihre Tüchtigkeit. Auf jeden Fall war es aber für mich ein großer Vorteil, dass ich nicht nur Beobachter, sondern auch Pilot war und bei technischen Fragen mitsprechen konnte.
*
Unten in Italien war der Durchbruch an der Piave gelungen. Die Armeekorps wälzten sich hinter den Italienern her. Um Weihnachten herum kam der Vormarsch zum Stehen, und wir hörten, dass ein Teil unseres Geschwaders an die Südfront kommen sollte. Diebisch freuten wir uns, als wir erfuhren, dass wir mit dabei waren und begannen mit Hochdruck daran zu arbeiten, auch wohlausgerüstet nach Italien zu gehen. Von früh bis abends schuftete das Monteurpersonal begeistert in den Hallen und freute sich darüber, bei mir Anerkennung zu finden. Acht Großmaschinen hatte meine Staffel damals. Aber damit war ich nicht zufrieden. Wir hatten ja Erfahrung, wie man weitere Flugzeuge „beschaffte“ und sorgten für die Auffüllung unseres Parks. Als wir in Italien ankamen, besaßen wir darüber hinaus noch sieben weitere Kampfflugzeuge. Der Geschwaderkommandeur wunderte sich zwar, als er den ganzen Klumpatsch sah, den wir mitgeschleppt hatten, aber er ließ uns gewähren. Da er selbst Flugzeugführer war, kam er gern zu meiner Staffel und ließ sich eine Maschine geben.
Meine Staffel auf dem Flugplatz in Rovereto (Italien)
Die vielen Flugzeuge hatten wir uns hauptsächlich für die Tagbombenflüge besorgt, zu denen wir dann leider kaum kamen, weil die Nächte meist so schön und klar waren, dass es überflüssig schien, sich bei Tage der Gefahr feindlicher Abwehr auszusetzen. Dafür richteten wir es aber so ein, dass alle Maschinen klargemacht wurden, damit wir wechseln konnten, um möglichst viel Feindflüge in einer Nacht zu machen, ohne uns damit aufhalten zu müssen, frisch zu tanken und neue Bomben einzuhängen. Wir kamen zurück, die andere Kiste lief bereits … Vollgas, und wieder hinüber zum Feind. Einmal brachte ich es nach diesem System mit verschiedenen Flugzeugführern auf sieben Flüge während einer einzigen Nacht.
Aber nicht nur ich, der ich als Führer ja über die Maschinen nach Gutdünken verfügen konnte, sondern auch die anderen Besatzungen konnten sich so oft zu Feindflügen melden, wie sie wollten. In dieser Zeit stieg die Leistungsfähigkeit unseres Geschwaders von Tag zu Tag, und die Heeresberichte meldeten täglich von ganz gewaltigen Bombenmengen, mit denen der Feind belegt worden war. Dennoch wurde das, was wir taten, niemals zur Rekordhascherei, sondern wir blieben uns stets bewusst, dass es in erster Linie galt, unsere Infanterie zu unterstützen und den feindlichen Luftgegner niederzuzwingen.
Als Staffelführer hat man natürlich auch andere Sorgen. In Italien gab es viel und billigen Wein, der geeignet war, die Manneszucht zu untergraben. Es konnte leicht zu Achtungsverletzungen und anderen Delikten kommen, die nach den Kriegsgesetzen hart bestraft werden mussten, woran ich wenig Freude hatte. Lieber beugte ich vor, nahm Unteroffiziere und Mannschaften zusammen und erklärte ihnen, dass ich ein großes Fest veranstalten wollte, aber am nächsten Morgen dürfte es keinerlei Meldungen von Achtungsverletzungen und ähnlichen Dingen geben. Dann machte ich bekannt, dass es auf Kosten der Staffel so viel Wein geben sollte, wie jeder trinken mochte und konnte. Am nächsten Tage – er war dienstfrei, und das Fest soll, wie ich erfuhr, sehr schön gewesen sein – sah ich auf unserem Platz hinter jedem von den wenigen Büschen schnarchende Schläfer, und einem Teil von ihnen war so übel, dass sie heilige Eide schworen, nie wieder von dem verteufelten Wein zu trinken. Fast alle waren kuriert; der Spott der Kameraden, den jene, die am Leben verzweifelten, ertragen mussten, war heilsam genug gewesen, und auf diese Weise erreichte ich, was ich mit den strengsten Arreststrafen niemals zuwege gebracht hätte.
Bomben auf Blargies
Leider kam schon nach knapp nach drei Monaten der Abmarschbefehl. Unser neues Ziel blieb geheim, und schließlich fanden wir uns zur Märzoffensive in der bekannten Gegend von St. Quentin wieder. Alles war an der Somme zusammengezogen worden, wo der überraschende Großangriff von der Siegfriedstellung aus erfolgen sollte. Wir machten die ganze, anfänglich so erfolgreiche Offensive mit, deren eigentliches Ziel, der Durchbruch bis zur Meeresküste bei Abbeville, leider nicht erreicht wurde. Da riss mich ein Telegramm mitten aus meinem Schaffen. Es kam von der Obersten Heeresleitung, und der Telefonist, der es mir brachte, redete mich mit „Herr Hauptmann“ an. Trotz der strammen Haltung schmunzelte er, als ich erstaunt aufblickte. Tatsächlich – ich war zum Hauptmann und gleichzeitig auch zum Kommandeur des Bombengeschwaders 7 ernannt worden.
Gern schied ich nicht von meiner alten Staffel. Am nächsten Morgen, bevor ich zu dem Ort meines neuen Tätigkeitsfeldes flog, schritt ich die Front meiner Leute ab, und als ich all den wackeren Monteuren, den Schneidern und Schustern der Staffel die Hand zum Abschied schüttelte, sah ich manche Träne über die biederen, gebräunten Gesichter rinnen. Nur mit einem kleinen Witz kam ich selbst über die brenzlige Situation weg. Dann brummte der Propeller, Mützen und ganze Betttücher wurden geschwungen.
War ich beim Start noch Freund und Vater meiner Staffel, so landete ich auf dem großen Flugplatz in Valenciennes zunächst nur als Kommandeur. Das andere sollte erst später kommen. Weit, weit hinter der Front lag der Stab meines neuen Geschwaders, viel näher der Etappe, als es mir gut schien. Die Verhältnisse waren ähnlich wie bei Übernahme meiner Staffel. Nur ganz leise und sehr behutsam durfte ich vorgehen, langsam den Kampfwillen stärken und auch hier die Feindflüge im geschlossenen Verband einführen. Anfangs wurden wir bisweilen böse vom Feinde gewickelt, bis das richtige Zusammenspiel da war und die Erfolgskurve stieg.
Die Freude darüber wurde getrübt. Böse Nachrichten kamen. In meiner alten Staffel hielt der grausame Sensenmann furchtbare Ernte. Bei der Heimkehr vom Bombenflug, schon auf dem Platz, als sie sich nach der Landung noch an den Maschinen unterhielten, waren feindliche Flieger aufgetaucht und hatten Bomben geworfen. Der Kommandeur war tot, meinem lieben Freund Oertzen war ein Splitter in den Leib gedrungen, Felten und Fischer … alle lagen sie bereits im Lazarett, als ich eintraf. Oertzen, dem jungen pommerschen Edelmann, konnte ich nur noch die Augen zudrücken, die schon erloschen waren, und Felten, der beste aller Piloten, erlag auch bald seinen Verwundungen. Dieser Flug zu meinen toten und verwundeten Kameraden ist einer der schwersten meines ganzen Lebens gewesen.
Weiter tobte der Krieg, wir mussten weiterfliegen. Andere traten an die Stelle der Gefallenen. Jetzt wurde der Vizefeldwebel Schlenstedt mein Flugzeugführer, in seiner Art so gut wie die Besten, mit denen ich zusammen geflogen war. Wenn die Granaten um uns her krachten, wenn die Scheinwerfer mit den breiten Lichtarmen zu uns hinaufgriffen – er flog weiter und kannte keine Furcht. Vor allem interessierte er sich auch für die Motoren und nahm mir damit viel Arbeit ab, denn ich war ja nicht nur Bombenschmeißer, sondern auch noch Geschwaderkommandeur. Wir beide warfen die erste Tausendkilobombe, die aus der Heimat kam, und machten gemeinsam die Zerstörung des großen Munitionslagers von Blargies mit.
Vorn war die Lage bedrohlich. Die Oberste Heeresleitung rief gelegentlich persönlich an und befahl uns, den Feind vor allem auf den Bahnlinien bei Amiens zu stören. Es musste schon wichtig sein, den Verkehr auf diesen Bahnlinien lahmzulegen, denn der Generalquartiermeister, Exzellenz Ludendorff, machte mich besonders darauf aufmerksam. Man rechnete offenbar mit einem Vorstoß des Feindes, und unsere Artillerie allein konnte den Nachschub nicht verhindern. Am Tage gingen wir bis auf wenige Meter hinunter, wenn wir bombardierten, und in der Nacht setzten wir unsere ganze Kampfstärke ein, flogen sogar mehrmals hintereinander. Blargies, das wichtigste Munitions- und Materiallager, war unser Hauptziel. Leider erreichten nur wenige Maschinen dieses Ziel, und beim ersten Großangriff wurde bedauerlicherweise kaum etwas getroffen.
Am nächsten Tage war keine allgemeine Aktion vorgesehen. Wir hatten eine ordentliche Wut im Bauch über unseren Misserfolg. Sollte das Lager leer sein? Ohne besonderen Auftrag beschloss ich, in der nächsten Nacht noch einmal hinzufliegen und setzte den Start für 9 Uhr abends an. Fünf oder sechs andere Maschinen sollten ebenfalls mit. Gerade kam der Mond herauf, als ein Flugzeug nach dem anderen in die Nacht hineinstartete. Bis zur vordersten Linie hatten wir unsere Richtungslichter, und als wir über feindlichem Gebiet waren, schien man uns für Landsleute zu halten, die sich verfranzt hatten. Kein Abwehrfeuer störte unseren Kurs. Im ersten Mondesschatten tauchten die Wälder auf, die Blargies vorgelagert waren, Holzstöße, dahinter ein charakteristisches Schienendreieck und die glatten Flächen großer Hallen. Ich überflog sie und warf dabei zwei Zielbomben ab, die keinen Schaden anrichteten. Dann drehten wir bei. Schlenstedt war gut auf mich eingespielt. Ich visierte und löste die Bomben aus. Zunächst erfolgte nichts.
Dann aber … eine weiße Stichflamme, die sich rasend schnell ausdehnte. Bis Amiens war alles plötzlich hell erleuchtet wie am Tage. Man konnte die Dörfer sehen, die Städte und Straßen. Schlenstedt drückte unseren Vogel, dass ich fast aus dem Sitz herausgeschleudert wurde: um ein Haar wären wir mit einer anderen Maschine zusammengerannt, die man genau so gut sah wie am Tage bei hellem Sonnenlicht. Der Feind? Aber nein, das waren die anderen Flugzeuge unseres Geschwaders. Die helllodernden Explosionsherde waren glänzende Richtungspunkte. In wenigen Minuten lagen die riesigen Schuppen völlig vernichtet, es brannte und glühte dort unten. Und über der Explosionsstätte bildete sich bis zu uns herauf eine riesige weiße Kumuluswolke, dick und rund und lang heraufgezogen.
Munitionslager Blargies
Vor dem BombenabwurfNach dem Bombenabwurf
Nun mussten wir aber machen, dass wir fortkamen, um nicht in den Nebel der Heißluftwolke zu kommen, die unten gespeist immer neue Nahrung fand. Wir zogen heim, aus der Höhe mit Freude die weiteren Explosionen beobachtend, bis mir gerade über der Front zu meinem Schrecken einfiel, dass ich in der Begeisterung vergessen hatte, die übrigen Bomben abzuwerfen. Darum machten wir nochmals kehrt, zogen zu einem feindlichen Divisionsstabsquartier, dem wir den ganzen Zimt auf den Kopf warfen, um dann glatt und wohlbehalten auf unserem Platz zu landen. Hier war alles versammelt, um uns zu beglückwünschen. In dieser Nacht bin ich nicht noch einmal gestartet, sondern habe mit Schlenstedt eine halbe Flasche Sekt getrunken. Ich ahnte, dass jetzt der Pour le Mérite fällig war, den ich schon vor Jahresfrist bekommen hätte, wenn ich nicht eigenmächtig nach Paris geflogen wäre.
Aber sehr wohl war mir nicht bei dem Gedanken. Für uns Flieger galt der Pour le Mérite als Unglücksorden. Fast alle, die ihn erhielten, standen bald darauf auf der Verlust- oder der Gefallenenliste, und man brauchte gar nicht abergläubisch zu sein, denn das hatte keine übernatürlichen Gründe. Wer diesen höchsten Kriegsorden als Offizier niederer Charge erhielt, musste schon allerhand geleistet haben; wer ihn aber bekam, der ging nicht in die Heimat, sondern blieb draußen an der Front und erfüllte seine Pflicht, jetzt erst recht, bis dann doch einmal der Tag kam, an dem das Schicksal einen dicken Strich zog und die Summe addierte. Auch bei mir würde es nicht anders sein, und ich wollte Gott danken, wenn’s nicht gerad der Tod sei, der mich traf.
Mit diesen nicht wenig angenehmen Überlegungen fiel ich in tiefen Schlaf, aus dem mich erst am nächsten Morgen die Anerkennungsdepesche des Kommandeurs der Flieger weckte. Im Geschwader herrschte große Begeisterung. Meinen tüchtigen Flugzeugführer, den Vizefeldwebel Schlenstedt, reichte ich noch am gleichen Tage zur bevorzugten Beförderung zum Offizier ein, und am Abend traf mich die Nachricht, dass ich von der Armee zur Verleihung des Pour le Mérite eingereicht worden sei. Das waren also die Auswirkungen jener Nacht vom 19. auf den 20. Mai 1918, die dem Feind eines seiner größten Munitionslager gekostet hatte.
Notlandung in Feindesland
Blargies war vernichtet, aber es wäre falsch gewesen, auf den Lorbeeren dieses Erfolges auszuruhen. Die Staffeln brannten darauf, zu neuen Taten eingesetzt zu werden, und dann … es gab noch ein Ziel, das uns lockte: Paris, die Hauptstadt der Franzosen. Sehr weit war es nicht dahin, aber zunächst musste einmal erkundet werden, welche Abwehrmaßnahmen der Feind zum Schutze dieser Stadt vor Angriffen aus der Luft getroffen hatte, ehe wir unsere ganze Kampfstärke zu einem Großangriff einsetzten. Zwei Maschinen wurden zu einem Erkundungsflug fertig gemacht. Es war gegen 9 Uhr abends. Einem heißen Tage schien eine ruhige Nacht zu folgen, und als die Propeller angeworfen wurden, kam auch der Mond herauf.
Der Start klappte, Schlenstedt ging auf Kurs. Wenige Minuten später startete auch das zweite Flugzeug mit Falke, dem ausgezeichneten Staffelführer. Wir schraubten uns in die Höhe. Unter uns verglühten in regelmäßigen Abständen die Leuchtgranaten, die uns den Weg wiesen. An der Front war es still, beinahe friedlich. Hinter den feindlichen Linien tiefes Dunkel, kein Licht, kein bellendes Abwehrgeschütz. Es war ein herrlicher Flug. Verabredungsgemäß wandten wir uns etwas nach Südosten, während Falke den Auftrag hatte, Paris direkt anzufliegen. Im fahlen Licht des Mondes schimmerten die Flüsse silbern.
Man hätte vergessen können, dass Krieg war und wir zu blutigem Handwerk ausrückten, wenn nicht in der Nähe von Compiègne plötzlich ein heftiges Abwehrfeuer eingesetzt hätte. Aber es verstummte schnell wieder, als wir ungeschoren darüber hinweggeglitten waren. Beruhigend brummten die Motoren. Schwarz dehnten sich unter uns die weiten Wälder, die Paris vorgelagert sind, vor uns blinkte der charakteristische Seine-Bogen, und nun sahen wir im Nebeldunst weit hingestreckt die Stadt, die unser Ziel war. Als in der Gegend von Compiègne die Flaks zum zweiten Mal ihr Abwehrfeuer in die Luft sandten, wusste ich, dass Falke im Anmarsch war, und wenige Augenblicke später begannen die Scheinwerfer zu spielen.
Das war aber kein Suchen und Ableuchten des nächtlich dunklen Himmels, das war ein schnelles Aufblitzen von drei Scheinwerfern, und wo sich die Strahlen trafen, dort kreuzte mein Freund Falke. Schnell hatte er seine Bomben abgeworfen, und nun konnten wir dasselbe Ziel anfliegen.
Aber – was war das? Auch im Süden schnellten plötzlich die Lichtkegel empor; wieder diese drei gleichzeitigen Scheinwerferblitze, und gleich beim ersten Anleuchten hatten sie uns erwischt. Schon in der nächsten Sekunde krachten die ersten Schrapnelle. Verdammt, für den ersten Schuss saßen die verteufelt nahe! Noch ein paar Explosionen unmittelbar unter uns.
„Drücken, Schlenstedt, drücken!“ Wir mussten aus diesem verteufelten Abwehrfeuer heraus. Aber noch hatten wir Paris nicht ganz erreicht, da knallte der rechte Motor ein paarmal hintereinander. Etwas musste nicht in Ordnung sein. Kriechend tastete ich mich unten durch, war neben Schlenstedt, sah auf die Benzinuhren … im rechten Falltank ist kein Betriebsstoff mehr. Die Uhr zeigt Null – schon steht der Motor. Gottlob, noch läuft der andere. Schlenstedt kämpft einen Verzweiflungskampf mit der Maschine. Er muss das Seitensteuer so stark wie möglich austreten und die Kiste auf die Seite legen, sonst trudeln wir ab und sind rettungslos verloren. In den nächsten Sekunden saust ungezielt der ganze Bombensegen, den wir mit hatten, in die Tiefe. Das Flugzeug muss leichter werden, und auch dann ist es noch fraglich, ob wir mit einem Motor wieder zurückkommen.
Unter uns die charakteristischen Straßenreihen von Paris. Mondschein darüber gebreitet. Plötzlich steigen Nebelschwaden empor. Künstlicher Nebel!? Aber wir haben kein Interesse dafür. Ein Motor steht. Wann wird der zweite aussetzen? Rasend fällt der Zeiger der anderen Benzinuhr. Auch dieser Tank muss also von Sprengstücken getroffen sein. Es riecht nach Benzin, aber die Rohrleitungen liegen unter dem Flügel und sind nicht zu erreichen.
Ich sitze neben Schlenstedt, der mit beiden Füßen unter gewaltiger Kraftanstrengung das Seitensteuer austritt. Schnell ist der Hebel des Hilfsseitensteuers eingesetzt, gegen den ich mich mit aller Kraft stemme. Jetzt hat der Pilot, der am Zusammenbrechen war, wenigstens etwas Entlastung und kann an dem Motor arbeiten. Er drosselt. Aber nun verlieren wir zusehends Höhe. Immer tiefer sinkt unser Kahn. Ein Blick auf den Höhenmesser: 1000 Meter. über Paris waren es noch 3000 gewesen. Langsam, aber unaufhörlich geht es weiter hinunter. Nun ist nur noch oben im Falltank Betriebsstoff!
Tiefer und tiefer geht es. Ich weiß nicht mehr, wie weit wir sind, denn ich hatte nicht beobachten können, was unter uns durchgezogen war. Aber eines wird mir klar: nach Haus kommen wir nicht mehr mit dem kleinen Rest Benzin, von dem noch dazu ein großer Teil an irgendeiner lecken Stelle der Zuleitung verlorengeht. Starr wird der Kurs nach Nordost gehalten. Wir müssen so nah wie möglich an die Front herankommen. In der Ferne sehen wir schon wieder die Leuchtkugeln unserer Signalkanonen in die Luft steigen. Wir sind also ungefähr halbwegs zwischen Paris und der Front.
Im Falltank sinkt die Betriebstoffsäule rapid. Der zweite Motor knallt. Nun ist es aus! Ein paar Explosionen noch, dann verstummt er, und in derselben Sekunde werden wir herumgeschmissen. Das Seitensteuer ist ja vollständig ausgetreten. Wir reagieren rasch, aber in diesem Augenblick springt der Motor wieder an und schmeißt den Vogel nach der anderen Seite. Ein Verzweiflungskampf beginnt, die Maschine gerade zu halten. Aber das ist das letzte Aufbäumen vor einem bösen Schicksal, dem wir nicht mehr entgehen können. Die Front können wir nicht erreichen. Vielleicht würde es uns noch gelingen, den Motor zwei oder drei Minuten am Laufen zu halten, indem wir die Kiste auf den Kopf stellten, um dadurch noch etwas Benzin in die Zylinder zu bekommen. Das aber kostet Höhe; wir können ins Trudeln kommen.
Unser Schicksal ist besiegelt. Ich reiße die Zündung raus. Wir dürfen unsere Aufmerksamkeit nicht mehr an den Motor verschwenden, sondern müssen aufpassen, glatt zu Boden zu kommen. 500 Meter sind wir noch hoch. Tiefes Schweigen umgibt uns. Die Spanten pfeifen. Wir kommen tiefer und tiefer. Fernab fließt die Aisne, daneben weite Wiesen zwischen sanften Anhöhen. Voraus liegt ein Städtchen in friedlichem Schlummer. Wir drehen im Gleitflug etwas ab, denn man soll uns nicht beobachten. Tiefer, immer tiefer senkt sich die Maschine. Schrill kreischt der Fahrtwind in der Verspannung. Schlenstedt will nach links ausbrechen, aber dort sind Höhen. Ich falle ihm ins Steuer. Im gleichen Moment hat auch er die Gefahr erkannt, – jetzt sieht er die Wiesen, er drückt … Ich beuge mich weit aus dem Führersitz hinaus und spähe angespannt nach unten. Wir fliegen über offenes Gelände, rasend schnell nähert sich der Schatten der Maschine dem Boden.
„Abfangen!“ Schlenstedt zieht das Höhensteuer an, der Vogel schwebt über Grasspitzen, ein kurzes Durchsacken, ein Poltern … wir sind glatt gelandet.
„Sind wir drüben?“, fragt er. „Nein!“ Ich schüttle den Kopf. „Wir sitzen irgendwo zwischen Paris und der Front.“ Da fährt es mir durch den Sinn, und ich denke laut: „Jetzt habe ich den Pour le Mérite bekommen!“ Mäuschenstill ist es auf der weiten Wiese. Selbst wenn man unser Niedergehen in dem nahen Städtchen bemerkt hat, kann es Morgen werden, ehe man uns entdeckt. Die Uhr zeigt kurz nach Mitternacht.
Wir haben keine Zeit, die Köpfe hängen zu lassen. Unser Flugzeug muss zerstört werden! Schnell sind die beiden Flugzeugzerstörer zwischen Motor und Öltank eingeklemmt. Wir zerschlagen die wertvollen Instrumente, wickeln die Munitionsgurte um die Maschinengewehre und legen sie auf die Zerstörer. Jetzt ist alles klar.
Wenn die Zerstörer scharf gemacht sind, wollen wir am Nordrand der Wiese in einem Wald Deckung suchen.
„Fertig?“
Schlenstedt nickt. „Abreißen!“ Der Pulversatz in der Zündschnur zischt. Die Zerstörer brennen. Nun aber weg! Wir laufen, was wir können, zu der Waldspitze. Wie lange – – wir wissen es nicht. Aufatmend lauschen wir in die Dunkelheit, warten … aber eine Explosion erfolgt nicht. „Schlenstedt, wir müssen zurück zur Maschine!“ Wenn die Zerstörer nicht funktionieren, wollen wir wenigstens versuchen, mit unseren Leuchtpistolen in die Öltanks zu schießen. Vorsichtig gehen wir zurück. Im fahlen Mondlicht steht unser Vogel friedlich da wie auf unserem Flugplatz.
Da zischt ein Blitz auf, ein Knall … wir werfen uns zu Boden. Fetzen fliegen hoch durch die Luft, ein zweiter Knall und im gleichen Augenblick brennt die Maschine lichterloh. Die Zerstörer haben die Öltanks aufgerissen, rasend schnell verteilt sich das Öl und rinnt hell brennend über die Tragflächen. Wenn jetzt jemand in der Nähe ist, sind wir verraten. Wir machen kehrt und laufen wieder auf den Wald zu, dessen Rand gespenstisch aufleuchtet. Hinter uns her knattert ein wildes Maschinengewehrfeuer … die explodierenden Patronen. –
*
Ein stiller Waldweg nahm uns auf. Erst als wir weit von unserer Landestelle entfernt waren, gönnten wir uns eine kurze Rast. Nun kam die Reaktion. Grenzenlose Traurigkeit erfüllte uns beide, und tausend Fragen stürmten gegen uns an. Was würde die Zukunft bringen? Gab es eine Möglichkeit, der Gefangenschaft doch noch zu entgehen? Hatte ich jetzt wirklich den Pour le Mérite bekommen? Still war die Nacht, still der dunkle dichte Wald. Nebeneinander hingestreckt beratschlagten wir, was zu tun sei. Wir waren müde. Das wilde und ungewohnte Laufen hatte uns den Schweiß aus den Poren gejagt. Noch trugen wir ja unsere unbequemen Fliegerkombinationen.
Das Gespräch verstummte. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Ich presste die Augen fest zusammen, und immer wieder sah ich das gleiche Bild: unser Kasino, die Kameraden, die Ordonnanzen, eine Flasche Sekt … Wie gern hätte ich auf den Unglücksorden verzichtet! Dann schreckte ich auf. Die Träume zerstoben vor der rauen Wirklichkeit.
Ich hatte Hunger! Verflucht, erst nach unserer Rückkehr wollte ich ordentlich zu Abend essen. Und nun –? Ja, wenn wir uns den Franzosen stellten, dann würden wir wohl etwas zu essen bekommen, aber … nein! – wir wollten uns gegen das Schicksal stemmen, wollten uns nicht selbst aufgeben, denn noch bestand ja die Hoffnung, durch die feindlichen Linien hindurchzukommen und unsere Stellungen wieder zu erreichen.
Auf jeden Fall wollten wir es versuchen.
Doch zunächst wussten wir nicht einmal, wo wir uns befanden. Das Städtchen an der Aisne war so wenig charakteristisch gewesen und dann … wir hatten ja keine Karten. Unsere Fliegerkarten konnten uns mit ihrem Maßstab 1:300 000 kaum aus der Klemme helfen. Hier lag eine Stadt bei der anderen, und was man im Flugzeug in wenigen Minuten schaffte, dazu brauchen wir zu Fuß Stunden und Tage. Die Nächte waren kurz in dieser Jahreszeit. Die Dunkelheit kam erst gegen 11 Uhr, und bereits um drei wurde es wieder Tag. Verdammt wenig, um vorwärts zu kommen, denn am Tage zu marschieren, war vollkommen ausgeschlossen. Es wimmelte von Truppen, man würde uns aufgreifen. Nur schleichend konnten wir unsere Linien erreichen. Und dann – wir hatten nichts zu essen; unser Schuhwerk war zum Marschieren ungeeignet. Schon der kurze Lauf bis zu dieser Stelle war unseren Strümpfen aus Kriegswolle sehr schlecht bekommen.
Und wenn wir wirklich die vordersten Linien erreichten, dann war doch dort die Leere des Kampffeldes, da trommelte das Maschinengewehrfeuer seinen tödlichen Takt, da krachten die Granaten des ständigen Artilleriekampfes. Hatte es überhaupt einen Sinn, den Versuch zu machen? Gab es eine Möglichkeit, durchzukommen?
Ich sah Schlenstedt an. Stumm schüttelten wir uns die Hände. Wir würden kämpfen, auch auf fast verlorenem Posten als Freunde, Kameraden … als deutsche Soldaten.
Ehe es weiterging, schafften wir uns Erleichterung für den beschwerlichen Marsch. Unsere Kombinationen behinderten uns nur. Aber sie wegwerfen? Die Mainächte waren kühl. Not macht erfinderisch. Wir schnitten den unteren Teil der Anzüge ab. Jetzt behinderten sie uns nicht mehr beim Gehen, und wir bekamen ein Kleidungsstück, das den englischen Uniformen nicht unähnlich sah. Auch unsere Fliegerkappen wurden beschnitten und mit ein paar Handgriffen so umgewandelt, dass man sie für Franzosenmützen halten konnte. Das weiche Wollfutter der Hosenbeine riss ich heraus. Schlenstedt wunderte sich. „Sie werden mir noch dankbar sein für diese Lappen.“
Und er war es auch.
Ich wusste, sehr bald würden sich bei ihm Fußschmerzen einstellen, wenn die Strümpfe endgültig durchgelaufen waren, denn er war lange nicht so widerstandsfähig wie ich. Darum nahm ich die Fetzen mit, denn wenn wir Flieger auch oft über die Fußlappen der Infanteristen gelacht hatten, jetzt durften wir den Segen dieser Tücher bald an unseren eigenen Füßen verspüren.
Unsere Irrfahrt begann.
Vor allem war es wichtig, unsere Position festzustellen und charakteristische Zeichen zu finden, die mit unserer Karte übereinstimmten. Es ging durch Waldwege, bis wir eine Bahnlinie erreichten, die nach Süden abbog. Wir überschritten sie und marschierten weiter. Schwer hing die Müdigkeit in unseren Gliedern; es war still um uns her, nur unsere eigenen Schritte knirschten auf dem schmalen Weg, den wir entlang trotteten. Da kamen Tritte näher. Mit einem Sprung verschwanden wir im Graben und pressten unsere Körper ganz dicht an den Boden. Ein alter Mann ging vorüber, ein Arbeiter, der vor sich hinstierte. Er bemerkte uns nicht. Als er vorbei war, sahen wir uns vorsichtig um. In der Richtung, aus der er gekommen war, erhoben sich Häuser. Während Schlenstedt zurückblieb, tastete ich mich vor. Da lag eine beleuchtete Bahnüberführung und nahe dabei eine Blockstelle.
Wir verglichen unsere Karte. Stießen wir noch auf eine weitere Bahnlinie, so befanden wir uns auf dem richtigen Wege. Sie kam; wir hatten uns also in einem Gleisdreieck befunden und mussten in der Nähe von Verberie gelandet sein. Nun wussten wir wenigstens, wo wir waren. Weiter ging der Marsch. Bald würden wir die Oise erreichen, und es schien notwendig, einen genauen Operationsplan auszuarbeiten.
Über 45 Kilometer waren es noch bis zur Front. Keine große Entfernung, wenn man ordentlich ausschreiten konnte. Aber schon graute im Osten der Tag. Wir mussten uns nach einem Unterschlupf umsehen.
Seitlich der Straße lagen Getreidefelder. Die Wälder würde man nach uns absuchen, nicht aber die mit ¾ Meter hohem Getreide bestandenen Felder. Darum stiegen wir eine Höhe hinan und legten uns auf der Kuppe in ein Roggenfeld.
Hundemüde, mit schmerzenden Füßen, hüllten wir uns fester in unsere Jacken und schliefen eng aneinandergeschmiegt etwa eine Stunde lang.
Wüste Träume quälten mich, bis mich die ersten Strahlen der im Osten hervorkommenden Sonne weckten.
Während Schlenstedt weiterschlief, wachte ich und achtete darauf, dass wir uns durch Schnarchen oder Sprechen im Traum nicht verrieten. Gegen 6 Uhr etwa hörte ich unten auf der Straße Lastwagen rattern. Auch das eigenartige Klappern der Hufe trabender Kavallerie war zu vernehmen. Das waren Suchpatrouillen, die nach uns fahndeten. Aber das Kornfeld war ein guter Schutz.
Ich wurde jedoch neugierig und wollte mehr sehen, darum besteckte ich meine Kappe mit Halmen, die mir über das Gesicht weghingen. So konnte ich gut beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Nur die Flieger, die wir dauernd in der Luft herumschwirren sahen, machten mir Kummer. Wenn man die ebenfalls zum Suchen nach uns eingesetzt hatte, mussten sie uns sehr bald entdecken. Darum wechselten wir unseren Platz und krochen unter einen Baum.
Als wir gerade das schützende Ackerfeld verlassen hatten, stand uns das Herz vor Schreck fast still. Wir lagen dicht bei einem Fußweg, den wir nicht bemerkt hatten, und in flottem Gang näherte sich uns ein Soldat in hellblauer Uniform, das Mützchen nach hinten ins Genick geschoben. Nur nicht rühren! Einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, mich auf ihn zu stürzen und ihn zu knebeln, aber wenn der Überfall bemerkt würde, war es endgültig um uns geschehen. Gottlob, es ging gut. Ohne uns zu beachten, schritt der Soldat an uns vorbei. Nun waren wir gewarnt und gaben uns die größte Mühe, so vorsichtig wie möglich zu sein. Ringsum auf den Feldern begann das Leben. Meist waren es Frauen, die Feldarbeit verrichteten, und ganz in unserer Nähe begann ein Bauer ahnungslos zu pflügen.
Schlenstedt und ich sprachen kein lautes Wort mehr. Aber trotz aller Vorsichtsmaßregeln schien es uns doch besser, unseren Standort noch weiter in das Feld hinein zu verlegen.
*
Grässliche Stunden des Wartens. Die tödliche Langeweile quälte uns fast noch mehr als der nagende Hunger. Als die Sonne jedoch höher stieg und ihre sengenden Strahlen auf uns herniederschickte, kam auch noch die furchtbare Pein des Durstes hinzu. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Glieder schmerzten von dem ungewohnt harten Lager. Das Klappern von Töpfen und Löffeln klang zu uns herüber. Eine Frau hatte dem Bauern bei unserem Feld das Mittagsbrot gebracht.
Wilder wurde der Hunger, aber wir mussten liegenbleiben, mussten durchhalten, mussten auf den erlösenden Abend warten. Und die Gedanken tasteten sich über die Trichter und Gräben der Stellungen hinweg zu unserem Geschwader, zu den Kameraden, die vergebens auf unsere Rückkehr gewartet hatten. In diesen Stunden der Langeweile, des Hungers und Durstes schmiedeten wir die tollsten Pläne. Wenn wir nun kehrt machten und nach Süden wanderten …? Wenn wir die Gegend um Château-Thierry zu erreichen trachteten? In den letzten Maitagen – das wusste ich – würde dort eine große Offensive beginnen. Wenn die glückte, wenn wir uns so lange verborgen halten könnten, bis unsere Truppen kamen? – –
Wenn … wenn … wenn … Das waren mindestens zehn Tage. Und der Hunger, der Durst, die feindlichen Soldaten! Nein, wir mussten eben weitermarschieren. Vor uns in der Oise-Ebene lag ein kleiner Ort. Ein Bahnhof, ein paar Gehöfte – Soldaten, die auf einem freien Platz stumpfsinnig exerzierten und Ehrenbezeugungen übten. Fern am Horizont zog sich der Wald entlang, in dem lange Fuhrparkkolonnen verschwanden, die auf dem nahen Bahnhof Lebensmittel in Empfang genommen hatten. Und zu uns herüber klangen aus dem Walde die Hörnerrufe, gellende Signale … dort lag der Feind.
Auf der Straße wälzte sich unablässig die Schlange schwerbeladener Lastautos: Munition … das verderbenbringende Eisen, das aus stählernen Schlünden zu unseren Kameraden hinübergeschossen werden sollte. Ganz unten im Tal glitzerte der Fluss, da war das kostbare Nass, nach dem unsere ausgedörrten Kehlen lechzten. Am Morgen schon hatten wir die Tautropfen in der hohlen Hand von den Gräsern gesammelt, den ganzen Tag über waren wir damit beschäftigt gewesen, aus den Ähren die unreifen Körner herauszulesen. Das schmeckte nicht gut, aber es linderte den Hunger, und – was noch wichtiger war – die stumpfsinnige Arbeit lenkte uns ab.
Dann aber senkte sich die Dämmerung. Unendlich lange dauerte es, bis die Dunkelheit vollends hereingebrochen war und wir den Weitermarsch wagen konnten. Über das Land war eine tiefe, friedliche Stille gebreitet, als wir hinunter ins Tal schlichen, um uns am Flussufer auf das faulig und sumpfig riechende Wasser zu stürzen, das nicht nur den Durst stillte, sondern auch den Hunger. Der Weg war beschwerlich. Schlenstedts Füße waren geschwollen. Er konnte sich kaum noch vorwärtsschleppen. Ich gab ihm alle Fußlappen, und nun ging es wenigstens etwas besser. Tapfer biss er die Zähne zusammen, wusste er doch, dass noch ein sehr hartes Stück Arbeit vor uns lag: der Marsch durch Compiègne, das wir nicht umgehen konnten.
Der Ort kam näher, matt trotteten wir dahin, als plötzlich vor uns ein Posten auftauchte. Verschwinden konnten wir nicht mehr, hier musste Frechheit helfen. Als wir an ihn herankamen, wechselte ich mit Schlenstedt ein paar französische Worte, und im selben Augenblick, als wir den Posten passierten, hörten wir hoch in der Luft ein Summen und Brummen, das uns vertraut war. Unsere Nachtvögel, die zum ersten Male nach Paris flogen. Da bellten auch schon die Abwehrgeschütze, der Posten, der uns wohl für Arbeiter hielt, starrte mit uns zum dunklen Himmel hinauf … und wir kamen glücklich an ihm vorbei.
Weiter. Aus Vorstadthäusern wurden Straßen. Wir waren mitten im Nordteil der Stadt. Hoch stand der Mond am Himmel. Ein Glück, dass wenigstens die eine Seite der Straße im Schatten lag. Schlenstedt hinkte. Ich trieb ihn vorwärts. Wir mussten durch! Und über uns weg zogen unsere Großflugzeuge, die Paris mit Bomben belegen wollten! Da und dort öffneten sich Haustüren. Die Bewohner suchten bombensichere Keller auf.
Wir taten, als gehörten wir dazu, bis vor uns wieder ein Posten auftauchte und wir beim Näherkommen auf einer im Schatten stehenden Bank vor einem Haus sieben bis acht weitere Soldaten bemerkten. Sie sprachen erregt im Flüsterton, es roch nach Tabak und Zwiebeln, dem Kommissduft der Franzosen, und mit ein paar hingeworfenen französischen Brocken kamen wir auch hier ungeschoren vorbei.
Als wir kurz darauf eine Weggabel erreichten, wurde ich unschlüssig, welches von beiden der richtige Weg sei. Jetzt nach der Karte zu sehen war unmöglich. Wir waren mitten zwischen Feldwachen und Posten. Unser Weg bog scharf nach Süden, von links kam ein anderer herein. Hier stand ein Wegweiser, aber im Mondschein ließ sich die Tafel nicht erkennen. Nur für eine Sekunde blitzte die Taschenlampe auf: Compiègne. Der also nützte uns nichts. Wir gingen den anderen entlang und waren kaum 300 Meter weit gekommen, als uns Tritte aufschreckten und etwas Glitzerndes aus dem Mondschatten trat.
Mein Marsch zur deutschen Front nach dem Abschuss
Gefangen
„Halte-là!“ – ein Posten. Herrgott, der spricht ja deutsch, fuhr es mir durch den Sinn. Ich hatte „Halt! Wer da?“ verstanden, aber schnell wurde es mir klar, dass es doch ein französischer Anruf gewesen war. Das Gewehr schräg vorwärts gesenkt, das blitzende Bajonett darauf, kam er auf uns zu. Die Situation schien brenzlig, doch wir gaben uns noch nicht verloren.
„Captain Cook“, rief ich ihm über Schlenstedts Schulter hinweg zu und hoffte, dass er uns für englische Offiziere halten würde. Aber auch das half nichts. Er versperrte uns den Weg und nahm uns fest. Irgendwie mussten wir ihm verdächtig erschienen sein, und das Französisch, mit dem er auf uns einredete, war so stark von deutschen Brocken durchsetzt, dass wir merkten: der hat Lunte gerochen.
Unsere Flucht schien beendet. Oder gab es doch noch einen Ausweg? Wir konnten zwar über ihn herfallen, aber das würde sicher die ganze Nachbarschaft alarmieren. Nur kurze Sekunden blieben zur Überlegung, die mich doch zu dem Entschluss brachten, weiter den Engländer zu spielen. Ich tat recht aufgebracht und trat recht forsch auf das Tor zu, auf das er uns wies. Es befand sich in einer Mauer, die einen Vorhof umschloss, auf dem erst der eigentliche Hauseingang lag. Mit einem Blick hatte ich die Situation erfasst. Immer noch englischklingen-sollenden Unsinn redend, machte ich eine Bewegung, als wüsste ich nicht weiter und gab dem Posten zu verstehen, er solle vorausgehen, um uns den Weg zu zeigen.
Vielleicht dachte der Mann, dass wir wirklich Engländer waren, die er nicht allzu offensichtlich als Gefangene behandeln durfte, – jedenfalls, er folgte meiner Aufforderung, nahm sein Bajonett etwas herunter und stand im Begriff, durch das Tor zu schreiten. In dieser Sekunde versetzte ich ihm einen Stoß, er stolperte, schlug der Länge nach hin, ich gab Schlenstedt einen Wink, und dann riss ich aus, während er nach der anderen Seite zu entkommen versuchte.
Laufen, nur laufen und immer wieder laufen … etwas anderes gab es jetzt nicht. Noch war es still hinter mir. Der Posten musste sich offenbar erst von seinem Schreck erholen. Eine Wegegabel – – rechts oder links? Ich entschied mich für links, um nicht noch einmal in die Stadt hineinzugeraten. Da mir zwei Soldaten entgegenkamen, musste ich langsamer gehen. Sie riefen mich an, aber ich verstand sie nicht. Es schienen Engländer zu sein. Wieder fragten sie. „Gare … Gare“ – also suchten sie den Bahnhof. Ich wies mit der Hand in der entgegengesetzten Richtung, in der ich weiterlaufen wollte und sagte: „Directement!“ Das schienen sie zu kapieren und gingen weiter.
Hinter mir wurde es nun lebendig. Die Meute der Verfolger war mobil gemacht und fahndete nach den Ausreißern. Da es aufgefallen wäre, wenn ich durch die stillen Straßen rannte, verschwand ich in einem Garten, der neben einem Hause lag. Niemand hatte mich hineinschlüpfen sehen. Ich wollte danach trachten, so schnell wie möglich auf die Felder hinauszukommen. Die Häscher hatte ich wohl hinter mir gelassen, aber ich musste doch die Straße wieder erreichen, um an die Front zu gelangen. Mehr kriechend als laufend schlug ich einen großen Bogen und kam außerhalb der Vorstadt an die große Straße, die ich überschreiten musste, um über den hohen Bahndamm hinweg hinunter an den Oise-Kanal zu kommen.
Da die Franzosen wussten, dass ich nördlich des Kanals war, hielt ich es für besser, hinüberzuschwimmen und meinen Marsch weiter südlich fortzusetzen. Dort boten auch die weiten Wälder, die Compiègne vorgelagert sind, einen besseren Schutz. Als ich gerade über die Straße hinwegwollte, kam eine Radfahrerpatrouille auf mich zu. Auch hier fahndete man also nach mir. Fast glaubten sie schon, mich zu haben, hielten an und waren im Begriff, von ihren Rädern zu steigen, da stieß ich den einen vom Rade herunter, war wie der Wind im Feld verschwunden und erklomm den nahen Bahndamm. Seltsamerweise liefen sie mir weder nach, noch schossen sie hinter mir her.
Peinlich nur, dass sie im Mondschein meine Silhouette auf der Höhe des Dammes sehen mussten. Darum versuchte ich, sie zu täuschen. Ich machte auf dem Damm oben ein paar Sprünge, rannte aber nicht auf der anderen Seite hinunter, wie sie annehmen mussten, sondern ließ mich langsam in den Mondschatten gleiten und blieb diesseits der Bahn. Von der Straße sah es aber so aus, als sei ich drüben verschwunden.
Ich hatte richtig gerechnet. Während ich mich vorsichtig hinunter in das Feld arbeitete, verschwanden die Radfahrer in schnellstem Tempo. Sie wollten mir durch eine Umgehung den Weg abschneiden. Ungeheuer vorsichtig schlich ich zur Straße zurück, huschte gebückt über sie hinweg und lag wenige Sekunden später wohlgeborgen im anderen Feld, als schon wieder eine Radfahrerpatrouille vorbeikam, die sich aber nicht umsah, sondern lautlos vorüberraste. Da wusste ich sicher, dass ich die Franzosen mit Erfolg irregeführt hatte.
Noch etwa 500 Meter kroch ich bäuchlings nach Norden und bog dann ab. Hier hielt mich ein Bach auf, der leider nicht zu überspringen war. Das Wasser ging mir bis an die Brust, als ich durchwatete. Meine Verfolger war ich nun endgültig los und durfte mir ein paar Minuten Rast gönnen. Vor mir erhob sich ein recht beträchtlicher Höhenzug, an dessen Südrand Scheinwerfer blitzten und Abwehrbatterien feuerten. über diese Höhe musste ich hinweg.
Sehr vorsichtig geworden, wanderte ich auf einem Feldweg hinauf. Vom Kamm hatte ich eine herrliche Aussicht. Aus den Nebelschleiern, die über das Land gebreitet lagen, guckten die Türme und Hausdächer von Compiègne heraus. Darüber hinweg brummten unsere Bombenmaschinen, die aus Paris zurückkamen. Wild krachten die Geschütze. Ein paar Sekunden lang konnte man die Flugzeuge am dunklen Nachthimmel sehen, dann hatte die Nacht sie verschluckt, und auch die Batterien schwiegen wieder.
Stimmen drangen an mein Ohr. Hier auf der Höhe lagen ebenfalls Fliegerabwehrkanonen in Stellung. Wieder schlug ich einen weiten Bogen; das Terrain wurde abschüssig, und ehe ich es mich versah, war ich mitten in einer Ortschaft, in der schon Leben herrschte. Als ich eine mit hohem Gras bestandene Wiese fand, legte ich mich hinein. Sie lag ganz in der Nähe eines Gehöftes. Nach meinen Berechnungen musste ich kurz hinter Compiègne in Richtung auf die Front sein. Trotz des großen Marsches war ich kaum fünf Kilometer in dieser bewegten Nacht vorwärtsgekommen.
Ich beschloss, den Tag hier zu verbringen, aber als es vollends hell geworden war, musste ich feststellen, dass meine Wiese ringsherum von Gehöften umgeben war. Dieser Tag wurde noch fürchterlicher als der erste. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war für einen einzelnen zwar nicht so groß wie für zwei, aber Durst und Hunger lassen sich schwerer ertragen, wenn man ganz allein ist. Diesmal lag ich aber auch in keinem Feld. Hier gab es keine Ähren, deren unreife Körner ich essen konnte, und die Wiesenblumen, die ich herunterzuwürgen versuchte, schmeckten abscheulich. Gegen Mittag, als die Luft rein schien, schlich ich zu einem naheliegenden Gemüsegarten, wo hinter einem Drahtzaun junger Salat wuchs.
Gut schmeckten die noch kleinen Blätter ohne Essig und Öl auch nicht, aber sie stillten den Hunger.
Kaum war ich jedoch zurückgekrochen, trottete ein großer Hund heran, schnupperte überall herum, witterte mich jedoch nicht. Im Laufe des Tages kam er noch ein paarmal an mir vorbeimarschiert, ohne mich zu bemerken. Auch ein Soldat lustwandelte im Garten. Von der nahen Straße herüber dröhnten die Langrohrgeschütze, die zur Front gebracht wurden, Pferdegetrappel und die Tritte der Patrouillen, die die Gegend absuchten. So erwartete ich die dritte Nacht.
*
Hunger und Durst peinigten mich unsagbar, und ich wäre sicher zusammengebrochen, wäre ich nicht davon überzeugt gewesen, am nächsten Tag an die vorderste Linie heranzukommen und am übernächsten Morgen schon wieder bei meinen Kameraden zu sein. Solange musste ich eben durchhalten. Als es schließlich doch zu dämmern begann und die Nacht sich herniederneigte, kroch ich vorsichtig aus meinem Versteck, überschritt die gefährliche Straße, auf der auch zur Nachtzeit reges Leben herrschte. Dann ging es immer parallel mit ihr durch Kornfelder hindurch, über Seitenwege und Gräben. Kamen einzelne Soldaten oder ganze Kolonnen ganz nahe an mir vorbei, warf ich mich hin und verhielt den Atem, bis sie vorüber waren.
Die tiefe Ruhe eines dichten Waldes nahm mich auf. Hier fand ich einen Bach voll köstlichen, klaren Wassers, warf mich auf den Bauch und ließ das lange entbehrte Nass regelrecht in mich hineinlaufen. Diese Nacht verging im Großen und Ganzen ohne jeden Zwischenfall. Ich musste schon ganz nahe an der Front sein und wollte über die große Straße hinweg hinunter an die Oise. Als ich die Straße überschritt, wäre ich fast von einem abgeblendeten Lastwagen überfahren worden, der in rasender Fahrt daherkam. Während ich neben dem breiten Weg herlief, passierte Wagen auf Wagen und alle fuhren sie in der einen Richtung – zur Front.
Je näher ich dem ersehnten Ziel kam, desto aufmerksamer wurde ich. Keine Ungeschicklichkeit sollte mich um die Früchte der peinvollen Tage bringen, die ich durchlebt hatte. Ich wandte mich nach Süden, kam an einem Haus vorüber, es ging hinunter ins Tal. Ganz nahe an eine hohe Steinwand drängte sich der Fluss und verengte die Straße zu einem Engpass, der durch ein Drahthindernis geschützt war. Zogen sich hier schon die Linien entlang?
Im Mondenschimmer konnte ich deutlich wahrnehmen, dass sich durch das Gewirr der Drahthindernisse ein Weg wand. Dort konnte ich wohl kaum durch, denn wenn diese Stellungen besetzt waren, würde ich am Morgen, der nicht sehr fern war, dem Feind in die Hände laufen. Ich machte kehrt, stieg den Engpass wieder hinan und kam an das Haus, das ich vorhin schon gesehen hatte. Jetzt fiel aus einem seiner Fenster ein Lichtschein.
Bis auf wenige Meter war ich bereits heran, als sich die Tür öffnete. Ich erstarrte zu einer Säule und blieb mucksmäuschenstill stehen. Da stand ein französischer Offizier, ein Militärarzt oder ein Zahlmeister; vielleicht hatte er ein Geräusch gehört, war argwöhnisch geworden und wollte nun Ausschau halten. Aber bald verschwand er wieder, ohne mich gesehen zu haben, obwohl er so nahe an mir vorbeigekommen war, dass ich den Rauch seiner Zigarette gerochen hatte.
Da es sehr schnell hell wurde, verkroch ich mich in einem Getreidefeld, das nahe bei dem Hause lag, und bereitete mich für den kommenden Tag vor. Aus Halmen machte ich mir ein weiches Lager und schlief darauf, bis es heller Tag war. Nun konnte ich mich umsehen, und zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass ich wiederum mitten in eine kleine Ortschaft geraten war. Ich lag zwischen zwei Gehöften, einem großen Gutshof und jenem kleinen Häuschen, aus dem der Franzose herausgetreten war.
Das Wetter hatte sich erheblich verschlechtert. Weißliche Wolken trieben am Himmel. Ich fröstelte stark in meinem Versteck. Wieder vertrieb ich mir die Zeit damit, aus den Ähren die Körner auszulesen, und war glücklich, wenn ich nach einer Stunde eine halbe Handvoll in den Mund schieben konnte. In der Nähe am Feldrand stand ein dichtbelaubter hoher Baum. An ihn arbeitete ich mich vorsichtig heran und stieg hinauf. Da ich fürchtete, in der luftigen Höhe einzuschlafen – ich war ja fast kraftlos von den übermenschlichen Anstrengungen der letzten Tage und Nächte – band ich mich an einem Ast fest, um nicht herunterzustürzen.
Von hier oben hatte ich einen herrlichen Überblick, ohne selbst gesehen werden zu können. Um die Mittagszeit klangen auf dem Gutshof die Hörner, und ich sah, wie die Mannschaften antraten, um von der Feldküche ihr Mittagessen zu empfangen. Niemand, der es nicht selbst erlebte, wird meine Qualen begreifen. Wie gern wäre ich hinübergelaufen und hätte meine Hände hingehalten und um etwas zu essen gebeten. Am Nachmittag wurde frisches Weißbrot ausgegeben, dessen Duft verführerisch bis zu mir in die Baumkrone hinaufdrang. Was hätte ich darum gegeben, so ein Stück Brot zu bekommen! Ich überlegte bereits, wo ich mir nachts wohl am besten etwas Essbares rauben könnte. Aber die Aussichten waren nicht sehr groß, denn überall waren Posten aufgestellt.
Überhaupt wurde es jetzt viel zu gefährlich, Ortschaften zu berühren. Die Gegend war überaus scharf bewacht, und ich wusste ja, dass man Steckbriefe hinter mir hergeschickt hatte.
Schlenstedt, der sicher noch in Compiègne gefasst worden war, hatte es bestimmt nicht ableugnen können, dass wir zu zweit gewesen waren. Außerdem brauchte er das auch gar nicht, denn wir hatten verabredet, was wir aussagen würden, sollte einer von uns gefangengenommen werden.
Leise begann es zu regnen. Rings um mich sammelten sich die Wassertropfen in den Blättern, die ich abstreifte und gierig trank. Wieder kam eine Nacht, heiß herbeigesehnt. Sie sollte mir die endgültige Freiheit bringen. Geräuschlos glitt ich von meinem hohen Sitz hinunter und wandte mich ins Tal. Ich wollte den Fluss schwimmend überqueren und auf der anderen Seite unsere Stellungen zu erreichen suchen. Lange lag ich unten am Ufer. Nichts rührte sich. Sollte alles verlassen sein? Ich stand auf. Der Weg, den ich gekommen war, war mit Draht versperrt. Ich hatte auch ein paar Gräben passiert, über die ich einfach hinwegsprang. Nun hörten die Hindernisse und Gräben plötzlich auf.
War ich durch? Es ging an einer Eisenbahnlinie entlang. Nördlich von mir rollte der Kanonendonner, Maschinengewehre ratterten, es knallte auch hinter mir her. War hier das Niemandsland, jener unbesetzte Streifen, der zwischen den feindlichen Linien lag? Ziemlich rasch lief ich, von Bahnschwelle zu Bahnschwelle springend, immer auf dem Geleise neben dem Fluss entlang, kam an einen kleinen zerschossenen Bahnhof, ging weiter und fand einen Weg, der die Bahn kreuzte. Weit, ganz weit hinter mir auf den Höhen stiegen die bunten Leuchtkugeln auf. Dort also trafen sich die beiden Grabenreihen.
Eine unglaubliche Freude überkam mich. Nun war ich drüben, hatte es geschafft, war doch der gefürchteten und gehassten Gefangenschaft trotz aller Fährnisse und Zwischenfälle entgangen. Im Osten kam der junge Tag herauf. Ich bog auf einen Weg ein, der von der Höhe herunterführte und in ein Dorf mündete. Da mussten unsere Truppen liegen. Als ich in der Morgendämmerung auf ein Gehöft kam und die Tür des Hauses öffnete, da stockte der Herzschlag. Ich sagte „Pardon!“, als sei ich in ein fremdes Quartier geraten, und zog die Tür schnell hinter mir zu.
Himmelherrgottsakra … das waren ja Amerikaner! Ich ging weiter. Überall standen auf einmal Mannschaften und Offiziere. Wahrscheinlich waren sie gerade abgelöst worden und aus dem Graben zurückgekommen. Nun, jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als möglichst harmlos zu tun und weiterzumarschieren, solange ich Menschen sah. Rechts und links standen Drahthindernisse, und gleich darauf gelangte ich auch an einen Platz, wo ein breites Hindernis fast den ganzen Durchgang versperrte. Nur ein kleiner Zwischenraum war freigelassen worden, und dort stand breit aufgepflanzt ein Posten.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ging ich an ihm vorbei. Niemand hielt mich an. Ich schien den Eindruck zu machen, als gehöre ich eben dazu. Es ging sanft bergan, Gräben mussten übersprungen und Hindernisse überwunden werden, ehe ich zu ein paar Bäumen gelangte, die zwischen Granattrichtern standen. Als ich mich einen Augenblick lang unbeobachtet glaubte, verschwand ich in einem dieser Trichter.
Abenteuer im Trichterfeld
Jetzt erst konnte ich mich von meinem fürchterlichen Schreck erholen. Statt hinter unseren Linien zu sein, befand ich mich noch immer in Feindesland und war richtig mitten in die stärksten Befestigungen, mitten ins Trichterfeld hineingeraten. Das war die vierte Nacht gewesen. Nun kam noch einmal ein Tag, den ich in den Granattrichtern zubringen musste. Vor mir sah ich sanft ansteigende Höhen und eine Kuppe, auf der sich frisch aufgeworfene Gräben hinzogen.
Von dort her begann es zu blitzen und zu krachen. Gurgelndes Pfeifen, wildes Heulen … ein Schlucken, Erde spritzte hoch, und ein neuer Granattrichter war dicht neben mir entstanden.
Es sah aus, als sei die ganze Gegend verlassen. Ich sah keinen Menschen. Gegen Mittag stieg ich auf einen der Bäume, die am Rande eines Trichters standen. Kaum war ich jedoch oben, da hörte ich zwei französische Offiziere einen Hohlweg heraufkommen. Sie blieben ganz in meiner Nähe stehen, unterhielten sich angeregt und deuteten von Zeit zu Zeit nach der anderen Seite hinüber, wo ich unsere Stellungen vermutete. Am Nachmittag kamen sie ein zweites Mal und brachten noch einen Kameraden mit.
So verbrachte ich den langen Tag mitten im Trichterfeld auf meinem Baum. Nur wenn das deutsche Feuer allzu heftig wurde, stieg ich hinunter und verbarg mich in den Erdkratern, denn ich hatte keine Neigung, mich von unseren eigenen Granatsplittern zerreißen zu lassen.
Ich war jetzt nahe daran, zusammenzubrechen. Nur der Gedanke, unsere vorderste Linie fast greifbar vor mir zu haben, hielt mich noch aufrecht, während ich hungrig, durstig und fröstelnd auf meinem Baum hockte. Noch war es Tag; erst die Nacht konnte die Freiheit bringen. Als die Dämmerung kam, wurde es unter meinem Baum lebendig. Ich hörte Soldaten; Waffen und Schanzzeug klappern. Vom Hohlweg her schollen gedämpfte Kommandos, Spaten knirschten und ausgehobene Erdschollen polterten. Auch in die Gräben vor mir waren Trupps eingerückt.
Ich ließ mich am Baumstamm herunter. Dicht neben mir sprachen Leute, ich hörte sie arbeiten, vernahm ihr Atmen, aber die Nacht war dunkel. Mich in den Trichtern haltend, strebte ich kriechend der Front zu. Dann war ich im Hohlweg. Als ich auf der einen Seite hochzuklettern versuchte, stieß ich auf Widerstand. Ein Telefondraht. Mir kam der Gedanke, ihn zu durchschneiden, damit der Feind nicht nach rückwärts telefonieren konnte, wenn man mich beim Vorkriechen entdeckte. Das Messer heraus … aber der Draht war so widerstandsfähig, dass ich mich vergeblich mühte.
Als ich mich abwandte, hörte ich unmittelbar neben mir Schritte. Erschrocken zog ich meinen Kopf ein und drückte mich noch tiefer in den Grabenschatten. Nichts war zu sehen, aber ich zählte, dass fünfzehn Menschen an mir vorüberstampften. Das „bleu horizont“ der französischen Uniformen war im Dämmerlicht einfach nicht zu erkennen. Nur die dreieckigen Bajonette blitzten im fahlen Mondschimmer. Eben war der letzte der Poilus neben mir, da erklang ein Befehl des Führers. Der Trupp hielt, er wechselte mit seinen Leuten ein paar Worte, die ich nicht verstand. Unwilliges Knurren und unflätige Schimpfworte waren die Antwort. Ihm war sicher etwas aufgefallen, und nun gab er den Leuten den Auftrag, nachzusehen, was dort am Wege lag. Die Mannschaften schienen aber müde zu sein und machten keine Anstalten, dem Befehl Folge zu leisten. Da der Führer das Phlegma seiner Leute kannte, kam er selbst zurück. Als er vor mir stand, knurrte er etwas vor sich hin, seine Hand berührte mich, kurz rief er den Mannschaften etwas zu, und im gleichen Augenblick stürzte sich die ganze Kohorte auf mich.
Da war ich denn doch gefangen! Wie ich später erfuhr, war dem Gefreiten, der das dunkle Etwas am Wege stehen sah, eingefallen, dass ein feindlicher Flieger in Compiègne entwischt war, auf dessen Ergreifung die französischen Militärbehörden eine Belohnung von 1000 Francs ausgesetzt hatten. Es war auch ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass dieser Flieger sicherlich versuchen würde, die Front wahrscheinlich in dieser Gegend zu überschreiten. Nun, für 1000 Francs konnte man schon mal ein paar Schritte zurückgehen und sich selbst vergewissern.
Man stieß mich vorwärts. Ich hörte, wie Gewehrschlösser klapperten und spürte, dass von allen Seiten die Mündungen der Schießeisen auf mich gerichtet waren. Wenige Meter weiter war schon der Unterstand einer Minenwerferstellung, in den man mich brachte. Der junge Leutnant, der dort das Kommando führte, hielt mir seine Pistole vor die Brust, um mir zu bedeuten, was geschehen würde, wenn ich den geringsten Versuch machte, mich zu befreien. Aber ich konnte wirklich nicht mehr ausreißen. Ich war am Ende meiner Kraft, und bangte nur davor, dass plötzlich eine Pistole losging. Aber nein, die Leute hatten anderes mit mir vor. Die erste Frage, die man an mich richtete, war die: „Sind Sie Aviateur?“ Ich nickte bejahend. Auch mein Name war offenbar schon bekannt, aber alles interessierte sie nicht so sehr wie die glücklich erworbenen 1000 Francs.
Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, durchsuchte man meine Taschen und nahm mir alles ab, was ich bei mir hatte. Auch meine Uhr, die ich nicht wiedersehen sollte. Dann wurde telefoniert, und man schleppte mich durch den bekannten Hohlweg hinein in das Dorf. Es war stark zerschossen; auch jetzt pfiff von Zeit zu Zeit eine Granate über die zerstörten Dächer hinweg, um tief unten im Grund einzuschlagen. Dort stand ein kleines Schlösschen, wie sie in Frankreich viel zu finden sind, und während des ganzen Tages hatte ich Gelegenheit gehabt, zu beobachten, dass dies das Ziel unserer Artillerie war.
Ich wurde in ein Haus geführt, das man mit Sandsäcken geschützt hatte. Es ging ein paar Stufen hinab ins Kellergeschoß, wo sich der Bataillonsgefechtsstand befand. Qualmend saßen die feldmarschmäßig ausgerüsteten Leute eng zusammengepfercht.
Ein Major erschien in einer sauberen Uniform und machte ein paar witzige Bemerkungen, die von den Mannschaften freimütig erwidert wurden. Schließlich durfte ich mich auf die Pritsche setzen, ein Kapitän, der gebrochen Deutsch sprach, wurde herbeizitiert, und das erste Verhör begann. Man fragte mich, wann und wo ich abgeschossen worden sei. Ich gab ihnen zur Antwort, was ich mit Schlenstedt verabredet hatte, damit unsere Aussagen übereinstimmten. Sehr krank und schlecht muss ich ausgesehen haben, denn der Kapitän brach das Verhör kurz ab und erkundigte sich danach, was ich seit dem Abschuss gegessen hätte. Ich sagte ihm, dass ich seit der Landung eigentlich gar nichts Essbares gefunden hätte, und als er dies den zuhörenden Soldaten verdolmetschte, wunderten sie sich sehr. Spontan hielten sie mir von allen Seiten Lebensmittel entgegen. Jeder wollte mir Brot geben, jeder mich von seinem Wein trinken lassen. Gern ergriff ich eine Feldflasche und ließ den guten roten Landwein durch meine ausgedörrte Kehle rinnen. Erst dann nahm ich das Brot und schlang es gierig herunter, ohne mich erst mit dem Kauen abzugeben. Ich hatte ja einen so entsetzlichen Hunger.
Aber bald schon bedauerte ich, von dem Wein getrunken zu haben. Er löste in mir eine so unwiderstehliche Müdigkeit aus, dass ich mich kaum aufrecht zu halten vermochte. Als man mir noch mehr Wein anbot, bat ich um Wasser. Ich war wie ein kleines Kind, das erst zu essen lernen musste. Nachdem ich mich etwas gestärkt hatte, wollten die Franzosen vor allem wissen, von welchem Flugplatz aus ich gestartet sei. Ich erzählte ihnen eine sorgfältig ausgedachte Geschichte. Selbstverständlich durfte ich nicht verraten, dass wir über Paris gewesen waren. Auch dass ich Geschwaderkommandeur war, musste peinlichst verschwiegen werden. Ich gab an, dass ich lediglich bei den hinter unserer Front liegenden Geschwadern Leiter einer Wetterdienststelle war und nun einmal mitgeflogen sei, um mir endlich auch das Eiserne Kreuz zweiter Klasse zu verdienen. Wir hätten dabei die Richtung verloren und notlanden müssen. Dieses Märchen war so gut erfunden, dass man es mir sogar glaubte.
Nach dem Verhör wurde wieder mit der nächsthöheren Dienststelle telefoniert. Gegen Mitternacht transportierte man mich weiter zurück. Durch das gleiche Drahthindernis, an demselben Posten vorbei, den ich schon einmal passiert hatte, ging es nun immer weiter nach rückwärts. Mein glückstrahlender Gefreiter wich mir nicht mehr von der Seite. Meine Arme waren mit zwei Gewehrriemen gefesselt worden, vor und hinter mir gingen zwei Mann. Bevor wir abmarschierten, hatte man mir sehr deutlich gezeigt, dass die Gewehre geladen und entsichert waren. Man schien mich also für einen ganz gewiegten Schwerverbrecher zu halten. Aber der Grund für diese Vorsichtsmaßregeln waren die bewussten 1000 Francs, die erst ausgezahlt werden sollten, wenn ich dem Regimentskommando übergeben worden war. Darum marschierte der Gefreite auch immer wacker neben mir her, hielt mich am Handgelenk fest und passte scharf auf, dass sich mir keine Gelegenheit bot, wieder zu entwischen.
Die Straße führte einen Berg hinauf. Unterwegs begegneten wir einzelnen Gruppen, mit denen meine Begleiter im Vorübergehen Worte wechselten. Man musterte mich mit halb mitleidigen, halb erstaunten, oft aber auch mit grimmig erbitterten Blicken. Dann kamen wir an starke Postenketten heran, die hinter Drahthindernissen auf und ab patrouillierten. Hier also lag der Regimentsgefechtsstand, der von einer starken Feldwache geschützt wurde. Es waren große Höhlen, die man in die Felsen hineingehauen hatte, eine Art geräumiger Katakomben, in die man mich hineinführte.
Ein jugendlicher Oberleutnant ließ mich an seinen Tisch herantreten. Ihm musste ich meine Geschichte noch einmal erzählen. Auch den Oberst sollte ich kennenlernen. Er sprach nur französisch, war wenig freundlich, und ich glaube, es war ein Anpfiff, der mir von ihm zuteil wurde, denn ich verstand natürlich nicht, was er zu mir sagte. Er war bereits zu Bett gegangen, hatte einen Pyjama an und schien wenig erfreut über die unliebsame Unterbrechung seiner Nachtruhe. Nach ein paar Minuten war ich entlassen und musste mich in der Nähe der Wache auf eine Bank setzen. Der Oberst hatte sich wieder schlafen gelegt, der Oberleutnant war ebenfalls verschwunden, und nun war ich mit den Mannschaften allein. Sie durften sich nicht mit mir unterhalten, das gaben sie mir durch Zeichen zu verstehen, aber es waren doch anständige und gutmütige Burschen, die kameradschaftlich ihr Brot und ihren Wein mit mir teilten.
Der Wein und das Brot hatten mich wieder zu Kräften gebracht. Jetzt beherrschte mich nur der eine Gedanke, wie ich wohl am besten aus dieser Falle herauskommen könnte. Unauffällig suchte ich während des Gesprächs mit den Augen den Ausgang, aber vor der Höhle standen Posten, dort befanden sich auch Drahtverhaue – es war ausgeschlossen, hier zu entkommen. Außerdem tagte es bereits.
Wir hatten uns lange und recht gut unterhalten. Auch hatte ich ein Stündchen über den Tisch gebeugt schlafen können. Als von draußen das fahle Licht des neuen Tages hereindrang, kam der Adjutant wieder, stellte noch ein paar Fragen an mich und machte Notizen in das Aktenstück, das die auf seinen Befehl eintretenden Gendarmen bekamen, die mich kurzerhand mitnahmen.
*
Jetzt ging es zum Korpskommando. Das lag in einer Ortschaft, die erfüllt war von wild durcheinanderschwirrendem Leben. In diesem Abschnitt lagen hauptsächlich Amerikaner, denn sie beherrschten in ihren kleidsamen Uniformen das Straßenbild völlig. Beim Stab gab es einen Offizier, der glänzend deutsch sprach. Er vernahm mich und wollte durchaus wissen, wo sich der Flugplatz befand, von dem aus wir gestartet waren. Das sagte ich ihm selbstverständlich nicht und wurde nach kurzem Aufenthalt bei dem Korps den gleichen Weg zurücktransportiert, zu dessen Bewältigung ich so viele Nächte gebraucht hatte.
Kurz vor Compiègne bogen wir ab und strebten einem Dorf zu, das am Fuße jener Höhen lag, durch die ich mich geschlichen hatte, nachdem ich dem Posten glücklich entronnen war. Aus den Unterhaltungen meiner Begleiter konnte ich entnehmen, dass nun das Armeeoberkommando unser Ziel war. Immer war die Bezeichnung „Deuxième Bureau“ wiedergekehrt, und ich nahm an, dass es sich dabei um die Nachrichtenabteilung handeln müsse. Man führte mich in einen Garten, in dem ich sehr lange warten musste, bis ein cholerischer Offizier erschien, der mich seine Überlegenheit spüren lassen wollte, indem er mich anschrie. Er ließ mich vortreten, verlangte, dass ich Haltung annähme, und krähte hysterisch weiter, weil ihm nichts gefiel, was ich machte.
Das war ein wenig angenehmer Zeitgenosse, der nach dieser Einleitung mit der eigentlichen Vernehmung begann. Er wollte vor allen Dingen etwas über die Stimmung bei unseren Truppen erfahren und meine Ansicht über den Kriegsausgang kennenlernen. Ich versicherte ihm, dass die Stimmung ganz ausgezeichnet sei und ich felsenfest davon überzeugt wäre, dass wir siegen würden in dem gewaltigen Völkerringen. In Wirklichkeit war ich damals wohl etwas anderer Ansicht, aber das brauchte ich dem impertinenten Burschen nicht auf die Nase zu binden. Meine sicheren Aussagen behagten ihm wenig. Als ich ihm aber versicherte, dass wir siegen würden, ging er geradezu in die Luft. Er brüllte mich an, fuchtelte mir mit seiner Reitpeitsche vor dem Gesicht herum und krächzte mit übergeschnappter Stimme unaufhörlich: „Ja, Sie werden siechen, siechen werden Sie!“
Während die beiden mit meiner Bewachung betrauten Gendarmen saßen, musste ich während des ganzen Verhörs stehen. Dann durfte ich weiter warten, um nachmittags wieder zu einer neuen Vernehmung gerufen zu werden. Zu essen bekam ich nichts. Ich hatte zwar noch ein Stück Brot, das mir die guten Frontsoldaten geschenkt hatten, und es bedurfte langer Bitten, ehe man mir endlich etwas Wasser zu trinken gab. Deutlich spürte ich es: je weiter ich nach hinten kam, desto schlechter wurde die Behandlung. Die Kerls waren anmaßend, frech und unverschämt. Hier hinten kannte man kein Mitleid und keine Kameradschaftlichkeit mit den Gefangenen.
Schließlich führte man mich zu einem Personenkraftwagen, in den ich mich setzen musste, und dann ging es in rasender Fahrt weiter nach hinten. Wir kamen durch Compiègne, an dem Posten vorbei, der uns festgenommen hatte … wieder sah ich die Stellen, wo Schlenstedt und ich uns verborgen hatten, wo wir hindurchgeschlichen waren. Immer ging es westwärts. Besorgt zählte ich die Kilometer, und je weiter wir uns von der Front entfernten, desto deutlicher wusste ich, wieviel schwerer eine erneute Flucht jetzt werden würde und welche Schwierigkeiten sich einem Marsch durch das Feindesland entgegenstellten.
Französische Gefängnisse
Gegen Abend fuhren wir in Clermont ein. Ich kannte das Städtchen und wusste, dass sich dort ein Armeeoberkommando befand, denn wir hatten aus der Höhe mehrmals unsere Bomben auf die Stadt niedersausen lassen. Wir erreichten ein vergittertes Barackenlager, in dem sich deutsche Soldaten bewegten. Es wurde hin und her verhandelt, dann bekam ich eine Decke und musste den Gendarmen folgen. Wir marschierten durch die Straßen. Einwohner und Milizsoldaten sahen mich neugierig an, und besonders die Weiber stießen die unflätigsten Schimpfworte gegen mich aus. Vor einem finsteren, fensterlosen Gebäude wurde haltgemacht, es ging durch ein großes eisernes Tor, Treppen hoch hinauf bis unters Dach, wo man mich in eine Zelle führte.
Da war ich glücklich im Gefängnis von Clermont. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Ich sah mich in der Zelle um und bemerkte auf der Pritsche einen Mann, der eine deutsche Feldwebeluniform trug. Dichtes schwarzes Haar umgab seinen Kopf. Vielleicht ein Musiker, den man eingezogen hatte. Aber sein Verhalten war so unmilitärisch, dass es mir blitzschnell klarwurde, einen Agent provocateur, einen Spitzel, vor mir zu haben. Ich wusste, dass die Franzosen sich gern solcher Leute bedienten, um aus den Gefangenen etwas herauszubekommen. Der Bursche in meiner Zelle war ein mit erbeuteten Uniformstücken ausgestatteter Spion.
Ich hütete mich, ihn merken zu lassen, dass ich ihn durchschaut hatte. Harmlos gab ich ihm auf seine Fragen bereitwilligst Antwort. Dass ich ihn dabei anlog, war selbstverständlich. Nachdem ich ihm genug erzählt hatte, was die Franzosen wissen sollten, machte ich auch kein Hehl aus meiner Empörung über die schlechte Behandlung, die völkerrechtswidrig war und gegen die Genfer Konvention verstieß. Dann drehte ich sogar den Spieß um und horchte ihn aus, ließ mir erzählen, von welchem Truppenteil er stammte, und trieb ihn so in die Enge, dass er mir kaum antworten konnte. Nach drei, vier Stunden etwa wurde mein Verdacht bestätigt. Der Gefangenenwärter holte den Burschen aus meiner Zelle ab. Auch jetzt ließ ich mir nichts anmerken, sondern schüttelte ihm freundlich die Hand und wünschte ihm mehr Glück bei den Franzosen, als ich es hatte. Alles – ohne eine Miene zu verziehen.
Meine Habseligkeiten, die man mir bei der Gefangennahme abgenommen hatte, bekam ich nun wieder, allerdings fehlte meine Uhr. Ich wurde jetzt täglich mindestens zweimal vernommen. Man holte mich aus der Zelle, führte mich über Treppen und Gänge in einen Raum, in dem ein Tisch stand. Dort saß der Dolmetscher und Inquisitor, der beharrlich immer wieder die gleichen Fragen an mich richtete und stets die gleichen Antworten bekam. Jeden Tag wickelte sich dieselbe Komödie ab.
Er besaß eine deutsche Heeresrangliste und sprach von einem Hauptmann Köhl, der als Geschwaderkommandeur an der Westfront sein Unwesen treiben sollte. Ja, versicherte ich ihm, das sei mein Bruder, dem ich es verdankte, dass ich zu der Flugwetterstelle gekommen sei. Nun wollte er unseren Startplatz erfahren, und an dieser Stelle versandete unser Gespräch regelmäßig, denn hier verweigerte ich glattweg jede Auskunft.
Manchmal bot er mir eine Zigarette an, um mich gefügiger zu machen; er war dann sehr freundlich und wies darauf hin, dass er ja auch nur seine Pflicht erfülle. Wenn aber alles nichts fruchtete, wurde er wild, schrie und tobte; aber ich zuckte nur die Achseln und erklärte, überhaupt keine Auskünfte mehr zu geben. Solange er mir glaubte, dass ich wirklich Wetterfrosch gewesen sei, wollte er viel über die Ausrüstung dieser Wetterstellen erfahren. Da ich davon nur sehr wenig wusste, musste ich ihm ausweichende Antworten geben, um mich nicht zu verraten. Er merkte das, und es machte ihn höllisch wütend. Dann schickte er mich in meine Zelle zurück, wo es nichts anderes gab als den Wasserkrug und die Pritsche.
Verpflegt wurde ich nicht. Wer Geld hatte, durfte sich mittags etwas kaufen. Nun, ich hatte Glück. Schon seit langer Zeit trug ich in meinem Brustbeutel ein goldenes 25-Francs-Stück, das durch Zufall in meinen Besitz gelangt war. Für dieses Geld konnte ich mir zwar das eine oder andere besorgen lassen, aber ich musste haushalten, denn ich wusste ja nicht, wie lange man mich hier im Gefängnis festhalten würde.
So bestellte ich mir nur ein kärgliches Mittagessen, manchmal auch ein paar Zigaretten. Das Rauchen tat gut; es vertrieb die Langeweile dieser öden Haft. Vor allem aber wollte ich dadurch in den Besitz von Zündhölzern gelangen, die mir bei einer Flucht von Nutzen sein konnten. Denn Tag und Nacht träumte ich davon, zu entfliehen. Ich sah mir das Zellenfenster genau an, berechnete, wie lang ein Strick werden würde, der sich aus meiner Schlafdecke herstellen ließ. Aber unten im Hof gingen die Posten auf und ab. Keine Franzosen, sondern Neger, die mit ihren großen Augen schreckerregend rollten und grimmig die blitzenden Zähne zeigten. Diese Wilden waren wachsamer als die französischen Soldaten.
*
Es war eine fürchterliche Zeit, die ich in dem Gefängnis von Clermont verlebte, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen würde. In den Nächten schwirrten die Flieger über uns hinweg, und von fernher hörte ich, dass sie Bomben warfen. Wenn sie sich nun mit unserem Gefängnis beschäftigten, waren wir die ersten, die daran glauben mussten. Das war wohl auch der Grund dafür, dass man uns ganz nach oben gesetzt hatte. Meine Kleidung hatte durch die Flucht schrecklich gelitten, auch die Wäsche war völlig zerrissen. Ich bat daher den Wärter um Nadel und Faden, und auch er sah ein, dass ich dies dringend benötigte.
Jetzt war ich nicht nur in der Lage, meine vollkommen zerfetzte Uniform wieder instand zu setzen, ich hatte auch eine Beschäftigung, die mir über die langen Stunden des Wartens hinweghalf. Mein abgeschnittener Fliegeranzug bekam einen tadellosen Saum, und jedes Loch meines Waffenrocks wurde so fabelhaft gestopft, dass es auch eine Kunststopferei nicht besser machen konnte. Schien die Sonne, zog ich die Schattenstriche nach, die durch das Gitter auf den Boden der Zelle geworfen wurden; bisweilen hörte ich auch eine Uhr schlagen und konnte vergleichen. Lange dauerte es nicht, dann hatte ich eine so ausgezeichnet arbeitende Sonnenuhr, dass ich an ihr sogar die Minuten ablesen konnte.
Die Decke meiner Zelle war mit Brettern verschlagen. Vielleicht gelang es mir, eines davon zu lösen, durch das Loch hindurchzusteigen, einige der Dachziegel abzuheben und so zu entfliehen. Wenn wir täglich für etwa zehn Minuten in den Hof zur Latrine geführt wurden, sah ich mir die Gebäude von außen genau an, und es war gar nicht ausgeschlossen, hier zu entwischen, wenn ich nur lange genug dablieb.
Leider gelang es mir aber nicht, eine Schere oder ein Messer zu bekommen. Auch war es nicht einfach, aus einer Schlafdecke ein wirklich brauchbares Seil zu verfertigen. Das würde sicher reißen und ich müsste abstürzen. Schließlich konnte ich das billiger haben, indem ich mich gleich aufhängte. Aber einstweilen dachte ich nicht daran. Es war schon sehr gut gewesen, dass ich, bevor ich in die Gefängniszelle kam, noch eine so schöne Reise in der freien Natur zurück zur Front gemacht und dabei unterwegs so bitter Hunger und Durst gelitten hatte, denn im Vergleich dazu erschien mir die Situation, in der ich mich jetzt befand, beinahe als eine Verbesserung. Ich weiß nicht, ob ich nicht verrückt geworden wäre, hätte man mich gleich nach der Landung in eine Zelle gestopft.
Bei den vielen Verhören, denen ich täglich unterzogen wurde, hatte ich auch feststellen müssen, dass durch Hunger und Durst bei dem abenteuerlichen Versuch, mich durchzuschlagen, bei dem ich, gehetzt wie ein Wild, vor den Verfolgern fast zusammengebrochen war, mein Gedächtnis stark gelitten hatte. Ja, ich konnte nicht mehr sagen, ob ich am 14. oder 15. April geboren worden war. Erst viel später, als ich schon lange im Gefangenenlager war, erfuhr ich, dass ich ein falsches Datum angegeben hatte. Mein Gedächtnis hatte auf der Flucht gelitten, aber dafür waren tierische Instinkte in mir wach geworden. Ich hörte viel feiner als zuvor und vermochte sogar Wasser auf sehr weite Entfernungen zu wittern. Erst langsam kehrte der normale Zustand wieder zurück.
Nach ein paar Tagen brachte man mich in eine andere Zelle. Bisher konnte ich, wenn ich mich an das schmale Fenster hängte, wenigstens etwas sehen. Gegenüber lag ein Haus, in dem sich militärische Büros befanden, denn ich erblickte durch die Fenster arbeitende Offiziere. Von Zeit zu Zeit zeigte sich auch manchmal ein weibliches Wesen. Das war wenigstens eine kleine Abwechselung.
Vor dem Fenster meiner neuen Zelle befand sich jedoch eine Blende, die das Licht nur von oben hereinließ und jede Sicht verhinderte. Ich machte hier aber einen für mich sehr wertvollen Fund. Unter der Pritsche fand ich einen richtigen deutschen Stahlhelm, den ich mir schleunigst aneignete. Ich besaß nur meine Fliegerkappe, und spürte, dass man uns Flieger weit schlechter behandelte als andere Soldaten. Auch die Wut der Bevölkerung, die ja wusste, wieviel Schaden unsere Bomben angestiftet hatten, war auf uns besonders groß.
*
Eines Tages hörte ich in der Zelle neben mir plötzlich Geräusche. Ich passte scharf auf und stellte fest, dass, wenn man mir das Essen hereinschob, nebenan auch etwas abgegeben wurde. Als die Luft rein schien, stieg ich am Fenster hoch und pfiff leise durch die Blende, um mit meinem Nebenmann Verbindung aufzunehmen. Bald pfiff es ebenso leise zurück, wir tauschten das übliche „Hallo!“, und dann wagte ich flüsternd zu fragen: „Wer ist dort?“ Als Antwort bekam ich: „Deutscher Flieger“, und dann rief auch ich hinüber, dass ich deutscher Offizier sei. Schnell stellten wir fest, dass wir beide wirklich deutsche Soldaten waren; ich nannte ihm meinen Namen, und mein Nebenmann sagte mir leise, dass er Corte heiße, Oberleutnant und Jagdflieger sei.
Als Corte wusste, wer neben ihm saß, teilte er mir mit, dass er mir etwas zu sagen habe. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass die Franzosen uns scharf beobachteten und wir sehr vorsichtig sein müssten. Aus diesem Grunde schlug ich vor, lieber zu morsen und uns durch Klopfen zu verständigen. Da wir beide aber nicht ganz sattelfest waren, so begannen wir damit, dass ich zunächst die einzelnen Buchstaben der Morsesprache dem Alphabet nach gegen die Wand klopfte und er von drüben wiederholte. Der Punkt war ein heftiger Schlag, während wir den Strich durch zwei kurz aufeinanderfolgende, leichtere Klopftöne ersetzten.
Es dauerte Stunden, bis wir uns auf diese Weise das Morse-Alphabet rekonstruiert hatten und uns so verständigen konnten. Als es endlich klappte, konnten wir uns tadellos unterhalten. Ich fragte an, wann er abgeschossen worden sei, und da dies erst vor zwei Tagen der Fall gewesen war, interessierte es mich ganz außerordentlich, was sich nach meinem Abschuss ereignet hatte. Und dann kam die Antwort. Es war ein ganz eigenartiges Telegramm, das ich zunächst gar nicht verstand. Er musste es dreimal wiederholen, und ich buchstabierte es mir zusammen …
„Dux imperator duci septimae escadrilliae blauer Max”. Corte hatte diese Nachricht für den Fall, dass die Franzosen unser Gespräch mit abhörten, tadellos getarnt. Aber ich verstand ihn und erfuhr nun hier in der engen Zelle des Gefängnisses von Clermont, dass mir der Pour le Mérite wirklich verliehen worden war.
Das war ein kleiner Trost in dieser bösen Zeit. Gewiss, ich freute mich über diese höchste Auszeichnung, die einem deutschen Soldaten zuteilwerden kann. Was ich vor Jahren in meinen kühnsten Träumen kaum zu hoffen gewagt hatte, war Wirklichkeit geworden. Ich freute mich riesig, und diese Nachricht wurde ein gewaltiger Ansporn, meine Selbstbefreiung mit allen Mitteln zu betreiben. Den Oberleutnant Corte habe ich im Offiziersgefangenenlager Montoire wiedergesehen und ihm sehr herzlich für seine Mitteilung gedankt, die viel dazu beigetragen hat, mich über die schlimme Zeit im Gefängnis von Clermont hinwegzubringen.
Am nächsten Tage öffnete sich die Zellentür, und es kamen zwei Infanterieoffiziere, die bei einem Angriff von den Franzosen geschnappt worden waren. Ich war außerordentlich vorsichtig und zurückhaltend, aber sehr bald stellte ich fest, dass es wirkliche Deutsche waren. Vor allem machte ich sie darauf aufmerksam, dass wir belauscht würden und nur über solche Dinge reden wollten, die jeder hören durfte. Sie erzählten viel von ihrer Heimat, und von diesem Augenblick war der Aufenthalt in der dumpfen Zelle weit angenehmer.
Schon am Abend überraschte man uns aber durch die Mitteilung, dass wir sofort in ein anderes Lager transportiert würden. Ich setzte meinen Stahlhelm auf, und als wir abgeführt wurden, kam der Dolmetscher, der mich tagtäglich gepiesackt hatte. Er übergab uns den Gendarmen, denen er in einem umfangreichen Umschlag unsere Akten aushändigte. Man zeigte uns mit viel Umständlichkeit die geladenen Revolver, und als wir die Treppe hinuntergingen, konnte ich es mir fast nicht verkneifen, mich mit einem äußerst kaum wahrnehmbaren Lächeln von dem Manne zu verabschieden, den ich bei den Verhören nach Strich und Faden angelogen hatte. Auch er hatte noch etwas auf dem Herzen, denn er rief mir die Treppe hinunter nach: „Sie haben mich schön angeschwindelt, Herr Hauptmann! Durch abgeschossene Flieger habe ich Nachrichten über Sie erhalten und erfahren, dass Sie der Geschwaderkommandeur Köhl sind.“
Ich musste heilfroh sein, dass ich aus Clermont wegkam, denn das Lügen war auf die Dauer doch eine sehr heikle Sache. Auf dem Bahnhof erwartete uns ein kleines Züglein, das wir bestiegen, und nun ging es durch grüne Felder und weite Wiesen an baumbestandenen Chausseen vorbei. Es war so herrlich, nach der langen Gefängnishaft wieder einmal die Luft einer, wenn auch unvollkommenen, Freiheit zu spüren, dass ich es fast vergaß, nach Gelegenheiten zu suchen, die mir das Ausreißen ermöglichten.
Von hier aus war es ziemlich weit bis zur Front. Aber später würde sich bestimmt ein Weg finden, doch noch zu entwischen. In Creil stiegen wir aus und verbrachten lange Stunden in einem richtigen Käfig, einem unter freiem Himmel stehenden Lattenverschlag, in den wir zu dritt gepfercht wurden. Dann schaffte man uns in einen anderen Zug. Wir fuhren weiter in Richtung auf Paris zu. Auf einem Vorortbahnhof der französischen Hauptstadt blieben wir die Nacht in unserem Abteil, bewacht von vier Gendarmen, die sich gegenseitig ablösten.
Kein Licht, der ganze Verkehr wickelte sich im Dunkeln ab, denn man fürchtete sich vor den Fliegern, die in den letzten Tagen ein paarmal hergekommen waren. Am Morgen ging es weiter, nun aber in östlicher Richtung. Abends erreichten wir Vitry-le-François, ein kleines Städtchen in der Champagne. Auf dem Wege dahin lag seitlich der Strecke viel zerstörtes Eisenbahnmaterial, wir kamen auch an Truppenlagern vorbei und sahen ganz nahe vierzig bis fünfzig kleine Tanks, dieselben Dinger, die ich an der Aisne so oft aus der Luft mit Bomben beworfen hatte.
In Vitry mussten wir den Zug verlassen und marschierten durch Straßen und über Plätze hinweg, immer angestarrt von Zivilisten und Militär. Da und dort ein schimpfendes Weib oder eine spuckende Megäre. Ein graues finsteres Gemäuer, eine eisenbeschlagene Tür öffnete sich: das Gefängnis von Vitry. Laut Genfer Abkommen war es verboten, Kriegsgefangene in Gefängnissen unterzubringen. Aber die Franzosen wussten sich zu helfen. Sie malten ein rotes Kreuz auf das Dach und nannten das Ganze „Hospital“.
Man stieß mich wieder in eine enge Zelle, in der ich fast vierzehn Tage in Einzelhaft zubrachte. Der Raum war höher als in Clermont, und unter der Decke befand sich ein schmales Fenster. Auch hier vertrieb ich mir die Zeit mit der Beobachtung des Sonnenlaufes und beobachtete den fürchterlichen Kampf, der sich in dieser einsamen Zelle zwischen einer Spinne und ein paar Fliegen abspielte.
Vor allen Dingen benutzte ich den Aufenthalt in Vitry dazu, meinem stark mitgenommenen Gedächtnis wieder auf die Beine zu helfen. Alle Gedichte, die ich früher einmal gelernt hatte, deklamierte ich. Und wenn es mir gar zu langweilig wurde, sang ich alle mir bekannten Lieder schallend zum Fenster hinaus, damit an dem herrlichen Gesang jeder erkennen konnte, dass hier der Hauptmann Köhl saß, denn so falsch wie ich konnte beim besten Willen kein anderer singen. Viele, die ich nicht sah und die mich nicht sehen konnten, erfuhren auf diese Weise, dass man auch mich geschnappt und hier untergebracht hatte.
Die Behandlung in Vitry war etwas besser als in Clermont. Das Gefängnis war nicht nur sauberer, sondern wir wurden auch verpflegt, ohne dass wir besonders dafür bezahlen mussten. Wer Geld hatte, durfte sich sogar Rauchwaren kaufen. Auch ich tat das, aber nicht für mich, sondern, um anderen gelegentlich eine Freude zu machen.
Täglich wurden wir einmal ins Freie geführt. In ganz schmale Gefängnishöfe, in denen wir uns eine halbe Stunde lang bewegen durften. „Promenade Messieurs, promenade Messieurs!“, lautete der Schlachtruf unserer Wärter, wenn sie uns aus den Zellen holten. Das war eine schöne Promenade! Mauern und Sand, schrecklich enge und ausgetretene Wege, die man entlangtraben musste, ob man wollte oder nicht. In diese Gefangenenhöfe wurde jedes Mal auch ein anderer Gefangener geschickt, mit dem man sich unterhalten durfte.
Man musste jedoch sehr vorsichtig sein, denn es gab auch hier viele Spione. Da war vor allem ein Leutnant Meyer, mit dem ich oft spazieren gehen musste. Er sah wirklich aus wie ein Deutscher, behauptet bei einem Sturmbataillon gewesen zu sein und wollte alle möglichen Flieger kennen. Ich habe ihm nie getraut, und darum auch nie dienstliche Dinge mit ihm besprochen.
Als ich wieder einmal zur Promenade geführt wurde und den Hof betrat, saß jener Meyer schon auf der dort aufgestellten Tonne und begrüßte mich überaus herzlich. Ich beachtete ihn kaum. Dann klirrten die Schlüssel wieder, die Tür sprang auf, und im Türrahmen erschien einer, den ich kannte. Zerlumpt, unrasiert und verwahrlost. Herrgott, das war kein anderer als Falke, mein tüchtiger Staffelführer, der nach meinem Abschuss sicher das Geschwader führte!
Aber nein, das konnte nicht sein; der Ankömmling sah ihm sicher nur verflucht ähnlich. Aber der andere las das Gedankenspiel in meinen Augen, nickte mit dem Kopf und begann in seiner bekannten Art zu reden. „Ja, ja, ich bin’s schon!“ – Wirklich, es war Falke. Auch ihn hatte man abgeschossen … mit Schmidz, dem tadellosen Piloten. Sie hatten versucht, zurückzulaufen, aber gleich in der ersten Nacht waren sie geschnappt worden.
Ich hatte tausend Fragen auf dem Herzen. Schnell flüsterte ich ihm zu, nichts von dienstlichen Dingen zu reden und keine Namen zu nennen. Aber wir hatten uns trotzdem so viel zu erzählen. Der Leutnant Meyer spitzte die Ohren. Ohne ihn zu beachten, setzten wir uns in eine andere Ecke des Hofes und waren überrascht, als die Tür knarrte und wir wieder in unsere Zellen gebracht wurden. In diesem Gefängnis habe ich Falke nicht mehr gesehen. Später dachte ich über diese Begegnung nach, und nun stand es für mich fest, dass dieser Jägerleutnant Meyer bestimmt ein Spitzel war, der uns aushorchen sollte. Denn sonst hätten uns die Franzosen bestimmt nicht den Gefallen getan, mich mit meinem Kameraden Falke zusammenzubringen. Sie hatten geglaubt, wir würden in unserer Wiedersehensfreude etwas von bevorstehenden militärischen Operationen reden; aber darin waren sie gründlich getäuscht worden.
Da ich nun ganz genau wusste, dass dieser Meyer ein Lump war, stieg ich zu meinem Fenster hinauf und brüllte so laut ich konnte hinaus: „Vorsicht, Kameraden, Leutnant Meyer ist Spion!“ Nun mussten alle wissen, was sie von diesem Burschen zu halten hatten. Etwas später öffnete der Gefangenenwärter mit wütendem Blick meine Zellentür und wollte wissen, ob ich hinausgerufen hatte. Man konnte mir aber nichts nachweisen.
Von Kerker zu Kerker
Vierzehn Tage waren um. Ich hatte die Nase gründlich voll. Unten im Pförtnerhaus erwarteten uns wieder Gendarmen. Die Reise sollte weitergehen. Zunächst mussten wir aber einen Revers unterschreiben, dass man uns alle bei der Gefangennahme abgenommenen Sachen wieder zugestellt habe. Eigentlich wollte ich mich weigern, da man mir ja meine Uhr gestohlen hatte. Als man mir aber bedeutete, dass ich so lange in Vitry warten müsste, bis der Verbleib der abhandengekommenen Uhr aufgeklärt wäre, unterschrieb ich. Es war ja auch gleichgültig; die Uhr brauchte ich nicht, während die Abwechslung wichtig war.
In den Tagen vorher hatte ich viel Freiübungen gemacht, um meine eingerosteten Glieder wieder in Schwung zu bringen. Ich fühlte mich nicht wohl, und im Grunde war es mir wenig angenehm, in dieser miserablen körperlichen Verfassung abtransportiert zu werden. Man führte mich zum Bahnhof; nun wurde ich von Ort zu Ort geschleppt. In Saint-Didier schaffte man mich wieder in ein Gefängnis. Auf dem Wege dorthin sah ich viele Sandsackpackungen vor den Kellerfenstern. Auch die Denkmäler hatte man sorgfältig mit Sandsäcken eingewickelt. Deutlich spürte man in allem die Angst, die den Leuten vor uns Bombenschmeißern in den Knochen saß.
Am nächsten Tage ging es wieder eine Etappe weiter. Wie der Ort hieß, an dem wir abends ausstiegen, habe ich nicht feststellen können. Der Schienenweg hatte uns die ganze Zeit über nach Süden geführt. Wieder bracht man mich in ein Gefängnis, diesmal aber ins Kellergeschoß. Ein übelriechendes, stockdunkles Loch war es, in das man mich stieß. Die schmale Pritsche füllte den Raum halb aus, und es befand sich nichts weiter darin als eine stinkende Blechtonne. Es war bitterkalt, und ich fand auf meiner Pritsche keinen Schlaf. Diese Nacht wurde zu einer Ewigkeit, denn wenn ich für ein paar Minuten einschlief, fiel ich von der schmalen Pritsche herunter. Am Morgen kam ein Lichtstrahl durch einen langen Schacht herein, der weit nach oben führte und nur sehr wenig Licht hindurchließ.
Meine Erkältung wurde immer unangenehmer. Ich hatte heftiges Fieber bekommen, und fast versagten meine Nerven in dieser fürchterlichen Zelle. Wie froh war ich, dass ich wenigstens ein paar Zigaretten hatte, deren Duft mir einige Erleichterung verschaffte. Schauerlich langsam – fast tödlich schlich die Zeit dahin. Über 36 Stunden musste ich hier zubringen. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sich die Tür öffnete und ich wieder nach oben durfte, denn lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Es war die schlimmste Nacht und der furchtbarste Tag, den ich je verbracht hatte. Eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen, einen Menschen in einem derartigen Loch einzusperren!
Ich war abgespannt, ein schlimmer Grippeanfall schüttelte mich und meine Beine wollten mich kaum noch tragen. Erlöst atmete ich auf, als die beiden Gendarmen erschienen, um mich zur nächsten Etappe zu bringen.
Wir fuhren am Abend los, diesmal sogar in einem Abteil zweiter Klasse. Ich wunderte mich über diese bevorzugte Beförderung und mein Erstaunen wuchs noch, als nach einer kleinen Weile ein Offizier ins Abteil kam. Meine Gendarmen wiesen darauf hin, dass es verboten sei, ein Gefangenenabteil zu benutzen, aber er machte ihnen klar, dass der Zug überfüllt sei, und die braven Leute sahen das schließlich auch ein.
Da saß nun dieser Franzose – er war Flieger – mir gegenüber und bot mir eine Zigarre an. Er unterhielt sich mit meinen Transporteuren und war der Meinung, dass ich kein Wort französisch verstand. Viel war es ja nicht, was ich wusste, aber ich konnte doch seinem Gespräch entnehmen, dass er in deutscher Gefangenschaft gewesen war. Dort war er gut behandelt worden und berichtete meinen Begleitern, dass er zweimal zu fliehen versucht habe. Das eine Mal wäre er geschnappt und in Arrest gesteckt worden, beim zweiten Mal sei es ihm aber geglückt. Irgendwo war er über die schweizerische Grenze entkommen.
Er schien sehr stolz darauf zu sein. Meine Gendarmen sagten ihm, dass ich genauso ein lockerer Vogel sei und baten ihn um Auskunft, wie sie es wohl am besten anstellten, dass ich ihnen nicht auch ausriss. Der französische Fliegeroffizier überlegte lange, und dann fand er schließlich das Mittel, das er mit philosophischer Weisheit meinen Leuten zur Anwendung empfahl.
„Ja, ich kann nur sagen … toujours attention, toujours attention!“ Damit hatte der gute Mann den Nagel auf den Kopf getroffen: immer Obacht geben, immer aufpassen, auch wenn der Gefangene noch so kläglich aussieht. Aber was für die Bewachungsmannschaften galt, das traf im besonderen Maße auch für den künftigen Ausreißer zu. Niemals habe ich die Worte dieses französischen Offiziers vergessen. Ich habe sie überall auch sonst im Leben brauchen können, es war ein wirklich wunderbares Rezept.
Meine Gefangenenwärter bemühten sich in den nächsten Stunden, dem vortrefflichen Rate zu folgen. Aber als der Offizier ausgestiegen war, da übermannte sie doch der Schlaf, und sie nickten beide friedlich ein. Als der Zug plötzlich auf freier Strecke hielt, wachte der eine auf, sah seinen Kameraden schlafen und riss sich zusammen. Wäre ich nicht so todkrank gewesen, hätte mich das Fieber nicht so barbarisch geschüttelt, glatt hätte ich aus dem fahrenden Zuge abspringen können. Aber es war Wahnsinn, mit der Grippe im Leibe einen Fluchtversuch zu machen.
Wir erreichten Creusot, die Stadt der großen französischen Waffenfabriken. Was man eigentlich damit bezweckte, dass man mich durch ganz Frankreich schleppte und mich eine so wunderschöne Reise machen ließ, wusste ich nicht. Man hatte mir zwar verraten, dass ich in ein Gefangenenlager in Mittelfrankreich kommen sollte, aber bisher war ich immer hinter der Front hin und her kutschiert worden.
Wir setzten uns in den Wartesaal. Da meine Gendarmen beobachtet hatten, dass ich ziemlich krank war, ließ ihre Aufmerksamkeit beträchtlich nach. Einer von ihnen legte sich lang, und auch der andere, der mich ja eigentlich bewachen wollte, schlummerte nach kurzer Zeit tief und fest. So also befolgten sie das Rezept jenes Fliegers: „toujours attention“. Jetzt hätte ich ganz gemütlich abhauen können, aber das Fieber hatte in mir den Willen gründlich zerstört. Ich musste warten; vielleicht bot sich später wieder einmal eine so günstige Gelegenheit.
Am Morgen wachten die beiden Helden auf, erschraken mächtig und hatten ein schlechtes Gewissen. Sie waren froh, dass ich noch da war, und zeigten sich dankbar, denn es hätte ihnen schwer aufs Dach gehagelt, wenn ich verschwunden wäre. Sie besorgten mir Speise und Trank und bewiesen mir so ihre Dankbarkeit. Viel Publikum strömte zum Bahnhof, Marktfrauen, die den ersten Zug erwarteten, lachend und Witze machend, mit nie stillstehendem Mundwerk.
Auch ich war bald Gegenstand dieser Unterhaltungen. Erst sahen sie mich geringschätzig an, und dann fiel zum ersten Mal das Wort „Boche“, das nun dauernd wiederkehrte. Ich beglückwünschte mich dazu, einen Stahlhelm zu besitzen, denn die Leute glaubten, in mir einen Infanteristen vor sich zu haben. Hätten sie erfahren, dass ich Flieger sei und gar Bombenschmeißer, so wäre es bestimmt nicht erfreulich für mich gewesen.
*
Wir setzten unsere Reise fort und stiegen gegen Mittag in Dijon aus. Ich wusste, das war eine Festung. Hier wurde auch mein Transportpersonal abgelöst. Vor der Bahnhofskommandantur übergab man mich zwei Gendarmen, die sich auf ihre Pferde schwangen und mir durch Winke zu verstehen gaben, in Richtung Südwesten auf die Höhen zu marschieren. Einer ritt vor mir her, der andere blieb hinter mir, nachdem sie mir unter furchtbarem Grimassenschneiden die Pistolen gezeigt hatten. Ich nickte nur; mir war ja so hundeelend zumute. Und nun ging es aus der Stadt hinaus, immer bergauf.
Die dem im Talkessel versteckten Dijon vorgelagerten Höhen enthielten Bollwerke und Forts, deren Umrisse schon von ferne deutlich zu erkennen waren. Schließlich verließen wir die Straße, und in ganz engen Wegen ging es vollends hinauf. Auf dem Marsch prägte ich mir jede Einzelheit ein. Wenn ich da oben ins Lager kommen sollte, was mir kaum glaubhaft erschien, musste ich die Umgebung kennen. Mein Fluchtwille war einstweilen zwar begraben. Schlapp und krank stolperte ich zwischen den Gendarmen die Höhe hinauf. Sobald ich mich aber einigermaßen erholt hatte, musste ich fliehen. Und wenn es mir gelänge, hier wegzukommen, dann war es auch nicht mehr allzu weit bis zu der rettenden Schweizer Grenze.
Durch einen Torbogen hindurch betraten wir eines der Sperrforts, die Dijon vorgelagert sind. „Toter Mann“ oder so ähnlich hatte man diese Befestigungsanlage getauft. Wir kamen in den Kehlbau; oben auf den Wällen weiter hinten hatte ich ein paar kriegsgefangene Offiziere gesehen, aber dorthin brachte man mich nicht, sondern durch ein eisernes Tor in die Vorkaserne. Hier musste ich drei bis vier Stunden warten, bis ein Unteroffizier erschien, den dicken amtlichen Brief, der mich nun auf allen meinen Wegen begleitete, öffnete, ihn las und feststellte, dass ich Flieger war.
Da hatten mich die Gendarmen also richtig in ein falsches Lager geführt. Schon beim Aufstieg war mir der Gedanke gekommen, dass es mit meiner Unterbringung hier so nahe einem neutralen Lande kaum seine Richtigkeit haben könne, denn man wusste ja, dass ich der typische Ausreißer war, und dann erfreuten wir Flieger uns einer ganz besonders aufmerksamen Behandlung. Man hielt uns für verwegene Burschen, die nach Ansicht der Herren Franzosen zu allem fähig waren.
Meine Gendarmen bekamen einen neuen versiegelten Befehl, und ich durfte wieder zur Stadt marschieren. Ganz in der Nähe der Bahnstation sperrte man mich zur Abwechslung wieder einmal in ein Arrestlokal. Glücklicherweise gab es dort eine Pritsche, auf der viele, viele Decken lagen. Nun ringelte ich mich zusammen und wickelte mich in die Decken. Die ungewohnte Anstrengung dieses Gewaltmarsches hatte mein Fieber noch gesteigert. Ich spürte deutlich, das war die Krisis; jetzt musste die ekelhafte Grippe bald überwunden sein. Und richtig, es wurde wirklich besser.
Die nächsten Tage ging es mit dem Zug weiter nach Westen, dann nach Nordwesten. Ich war bitter enttäuscht und machte mir die schwersten Vorwürfe, dass ich in Creusot die günstige Gelegenheit, zu entwischen, hatte verstreichen lassen. Sicherlich wäre ich dann aber auf der Flucht krank geworden. Immer weiter rollte der Zug nach Westen, und mit jedem Kilometer wuchsen die Schwierigkeiten, die sich meiner Flucht später entgegenstellen würden. Zwar hatte ich noch die leise Hoffnung, in ein Gefangenenlager zu kommen, das von der spanischen Grenze nicht allzu weit entfernt war. Nach der Fahrtrichtung zu urteilen, ging es allerdings ganz woanders hin.
Weit dehnte sich das Land; kaum besiedelt – nur da und dort ein Gehöft, und in den Niederungen zwischen den fast unendlichen Wiesenflächen manchmal ein paar Bauernhäuser um eine Kirche geschart. Aber dann sah ich in der Ferne auf einmal viele Kirchtürme. Der Zug rollte in einen Bahnhof, wir marschierten durch mäßig erleuchtete Straßen nach einer Kaserne, wo ich auf der Wache wie ein Paket bei der Gepäckablage abgegeben wurde. Ein Kasernenwärter nahm mich in Empfang und brachte mich in eine auf dem Dachboden liegende Arrestzelle.
Im Schein einer trüben Lampe sah ich ein richtiges Bett mit einem Strohsack darauf, fiel hinein und schlief tief und fest. Am anderen Morgen fühlte ich mich wieder vollkommen gesund. Die Grippe war endgültig überstanden, aber ich war in diesen Tagen fürchterlich heruntergekommen. Ich sah hohlwangig und abgezehrt aus.
Ein Sergeant brachte mich nach der üblichen Herumfuchtelei mit dem Revolver zum Bahnhof. Es war Tours gewesen, wo ich diese Nacht verbracht hatte.
Wir fuhren in nordöstlicher Richtung weiter. Nun merkte ich, dass ich in einer wunderschönen Spirale durch ganz Frankreich gefahren war. Durch die Umwege, auf denen sie uns in das eigentliche Kriegsgefangenenlager brachten, glaubten die Franzosen uns verwirren und die Möglichkeit zu einer Flucht nehmen zu können. Aber ich kannte die Karte, hatte ganz genau aufgepasst und es auch verstanden, mein Bewachungspersonal immer so geschickt auszuhorchen, dass ich stets wusste, wo ich mich befand.
Der Sergeant war ein ganz umgänglicher Mann. Ich unterhielt mich mit ihm, und er erzählte mir, dass ich in das Offiziersgefangenenlager Montoire-sur-le-Loir kam. Dort waren zweihundertfünfzig deutsche Offiziere neben vielen anderen Kriegsgefangenen untergebracht. In diesem Lager sollte sich ein großer Teil der in Gefangenschaft geratenen deutschen Flieger befinden.
Voll Stolz berichtete mir mein Sergeant, dass Montoire ein ganz besonders stark bewachtes Lager sei, aus dem herauszukommen bisher noch keinem gelungen war, und das Aufsichtspersonal würde dafür sorgen, dass auch in Zukunft niemand dort entfloh. Ich nickte dem guten Mann verständnisvoll zu: das würde ich ja sehr bald selbst feststellen können.
Im Gefangenenlager
Der Zug rollte in einen kleinen Bahnhof. Dort stand auf den weißen Schildern mit großer Schrift „Montoire“. Als ich merkte, dass es jetzt ins eigentliche Lager ging, sah ich mir den Weg ganz genau an. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich diese Kenntnisse nicht schon sehr bald gebrauchen könnte. Auch als ich durch die Ortschaft geführt wurde, prägte ich mir jede Einzelheit ein. Und dann stand ich plötzlich vor einem Tor, im Winde wehte die Trikolore, und ein Posten lief mit aufgepflanztem Bajonett auf und ab.
Schon von weitem sah ich, dass dies der Eingang des Lagers sein musste. Es lag inmitten eines ganz niedlichen französischen Städtchens und war früher ein kleines Remontendepot gewesen. Man hatte die Ställe geräumt, sie durch Verschläge unterteilt und in diesen Abteilen die Gefangenen untergebracht.
Zunächst kam ich in den Untersuchungsraum, in dem sich alltäglich die Kranken bei dem diensttuenden Arzt einfanden. Der Offizier vom Dienst erschien mit zwei wachthabenden Unteroffizieren, ich musste mich völlig entkleiden, und meine Sachen wurden nach Geld, nach Karten und Messern durchsucht – Dinge, die man nicht ins Lager hineinbringen durfte. Nach dieser hochnotpeinlichen Untersuchung durfte ich mich wieder ankleiden. Meine schöne Kombination war längst völlig zum Teufel gegangen; das Geld, das ich noch bei mir hatte, nahm man mir gegen eine Quittung ab und eröffnete mir, dass ich es in Lagerbons umtauschen dürfte. Nun erst wurde ich ins eigentliche Lager geführt und dort dem Lagerältesten übergeben. So zog ich endlich nach einer langen und peinvollen Reise ins Kriegsgefangenenlager Montoire ein.
Seit meinem Abschuss bis zum Eintreffen im Kriegsgefangenenlager waren fast zwei Monate verstrichen, und ich hatte in dieser ganzen Zeit nichts davon erfahren, was sich inzwischen an der Front ereignet hatte. Die unsäglichen Strapazen und die mannigfachen Erlebnisse seit meiner Gefangennahme, der Kampf um das tägliche Leben, hatten die Geschehnisse da draußen in der Welt mir etwas ferner gerückt.
Aber jetzt im Lager da war doch meine erste Frage: „Wie steht es um uns?“ Und die Gesichter meiner Kameraden waren Antwort genug. Die beabsichtigten Offensiven waren fehlgeschlagen; sie hatten nicht den erhofften Umschwung der Lage herbeigeführt. Wir ahnten dumpf, dass nun das schicksalsschwere Ende dieses furchtbaren Krieges nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. In uns brannte die Sorge um unser Land, und was noch schlimmer war: wir saßen hier gefangen und mussten es tatenlos zulassen, dass unsere Brüder in den Gräben in dem nun aussichtslos scheinenden Völkerringen verbluteten, wo wir ihnen doch so brennend gern geholfen hätten.
Mein Sergeant hatte recht gehabt. Es gab wirklich sehr viel Flieger hier in Montoire, und auch die Bewachung war so sorgfältig, wie mir mein Begleiter erzählt hatte. Die Posten waren samt und sonders wie auf Draht gezogen. Ich habe nirgendwo zuvor so ausgezeichnetes Wachtpersonal zu sehen bekommen. Im Innern des Lagers stand alle zwanzig Meter ein Posten, und auch hinter den Mauern, hinter denen die Freiheit winkte, waren Wachen stationiert, die ganz besonders gefährlich waren, weil sie für uns unsichtbar blieben. Erst wenn ein Flüchtling oben auf der Mauer war, konnte er mit ihnen Bekanntschaft machen.
Vom Augenblick meines Eintritts in das Gefangenenlager waren die Gedanken an meine Flucht das einzige, was mich beherrschte. In den ersten vierzehn Tagen berichtete ich den Kameraden und ließ mir von ihnen erzählen. Es war Juli geworden, die Sonne brannte glühend vom tiefblauen Himmel herab. Ich hatte mir einen Liegestuhl gekauft. Den nahm ich nun allmorgendlich, setzte ihn zwischen die kleinen, zwei Quadratmeter großen Gemüse- und Blumenbeete, saß dort stundenlang, ließ mich von der Sonne verbrennen und ruhte mich aus von den Anstrengungen der vergangenen Wochen.
Ich hatte diese Ausspannung bitter nötig. Eigentlich war der Krieg für mich entschieden; ich konnte zurückdenken an die langen Jahre des Kampfes, und sie erschienen mir wie ein wüster Traum, der weit hinter mir lag. Wenn ich aber den Blick wandte und die Stacheldrähte sah, die französischen Posten, die, den Stahlhelm auf dem Kopf, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett in der Hand auf und ab patrouillierten, dann riss es mich zurück in die Wirklichkeit.
Und diese Wirklichkeit war trostlos für uns. Die französischen Zeitungen berichteten viel von den Angriffen der Deutschen. Sie schrieben von den Gefangenen, die sie gemacht hatten, und von der Ankunft immer neuer Massen amerikanischer Truppen. Die Amerikaner gaben den schon fast völlig zermürbten Engländern und Franzosen viel Rückhalt. Wären sie nicht gekommen, der Krieg hätte sicherlich einen anderen Ausgang genommen.
Ich hatte jetzt hinter der Front Gelegenheit gehabt, die amerikanischen Soldaten kennenzulernen. Auf den Bahnhöfen sah ich die langen Truppentransporte passieren … Herrgott, was waren das für mächtig große Burschen gewesen, die aus Konservenbüchsen ihr Corned Beef schnitten, Weißbrot aßen und viel Wein dazu tranken. Wir waren anderes zu sehen gewohnt. Bei uns drüben aß man Rüben und schlechtes Brot, das aus Kartoffeln gemacht wurde. Schon in der Art der Verpflegung dokumentierte sich die Überlegenheit dieser Yankees.
Gaben uns die Zeitungsberichte mit den vielen Erfolgen des Feindes auch viel zu denken, wir ließen die Hoffnung trotzdem nicht sinken, denn bisweilen bekamen wir auch Zeitungen, denen wir entnehmen konnten, dass unsere Truppen siegreich gewesen waren. Wenn nämlich die Blätter, die man uns gab – sie wurden selbstverständlich zensiert – recht viele Ausschnitte hatten, dann wussten wir, dass es auf unserer Seite gut stand. Aber es blieb ein ewiges Hin und Her von freudigen und schlimmen Nachrichten, und wenn sie gar zu schlecht wurden, dann beschleunigten wir unsere Fluchtpläne, setzten die gesteckten Termine näher und wurden bei unseren Vorbereitungen noch vorsichtiger.
*
Es war nicht einfach, aus diesem Lager herauszukommen. Viele hatten es versucht, aber keinem war es bisher gelungen. Tagtäglich ließ ich mir von den Beteiligten davon erzählen. Meistens waren die Ausbrecher schon bei den Vorbereitungen erwischt worden. Einigen, denen es gelungen war, über die große Mauer hinwegzukommen, waren auf der anderen Seite in die Hände der Posten gefallen, und alle diese Versuche hatten mit mehr oder minder langen Gefängnisstrafen geendet. Für Vorbereitungen zur Flucht gab es nicht unter dreißig Tagen Einzelhaft. Für Fluchtversuche selbst nicht unter zwei Monaten.
Ein großer Teil der Lagerinsassen war ständig damit beschäftigt, Fluchtpläne auszuarbeiten. Es wurden auch viele Versuche unternommen, aber alle scheiterten an der Aufmerksamkeit und der Pflichttreue des französischen Bewachungspersonals. Leider wurden auch sehr oft unverständliche Leichtfertigkeit und mangelnde Vorsicht den Kameraden zum Verhängnis. Eigenartigerweise ist es nur zweien geglückt, aus Montoire zu entfliehen. Beide Flieger, beide Ritter des Ordens Pour le Mérite, und es war für die Franzosen ein großer Jammer, dass gerade diese beiden, die ganz besonders scharf bewacht wurden, ihnen entkommen konnten.
Im Grunde war das Lagerleben gar nicht so uninteressant. Wir waren rund 250 deutsche Offiziere, von denen fast jeder viel Interessantes erlebt hatte. Bei vielen war die Gefangennahme mit spannenden Begleitumständen verbunden gewesen. Da gab es einen netten jungen Piloten, der mit seiner Maschine bei der Fernaufklärung angegriffen wurde. Die Kiste kam ins Trudeln, und plötzlich flog er in hohem Bogen aus der Maschine raus, wurde besinnungslos und kam heil und unbeschädigt aus 5000 Meter mit seinem Fallschirm glücklich unten an.
Ein anderer wieder, ein Infanterist, hatte mit seinem Bataillon den Abschnitt gehalten, während rechts und links der Feind durchgebrochen war und die Verbindung nach hinten abgeschnitten hatte. Erst nach heldenmütigem Kampfe war diese kleine Handvoll tapferer Soldaten dem Hunger und der Übermacht erlegen. Auch Marineleute gab es, U-Boots-Besatzungen, deren Boote vernichtet worden waren, und alle diese Schicksale waren ebenso interessant wie lehrreich.
Jene, deren Nerven schon etwas angegriffen waren, fanden das Lagerleben eintönig, stumpfsinnig und aufreibend. Vielleicht hatten sie recht, es war schon nicht leicht, auf engem Raum Tag für Tag denselben Menschen und den gleichen Gesichtern zu begegnen. Das war eben die bekannte Gefangenenpsychose, deren wahrer Grund aber darin bestand, dass man sich das Leben gegenseitig schwer machte. Man war ja nie allein; die Unterbringung der meisten von uns war sehr dürftig, denn man hatte sich wenig Arbeit gemacht, nur Betten aufgestellt und jedem eine winzig kleine Kommode gegeben. Sie mochten sich einander nicht mehr sehen und bauten sich aus Packpapier kleine Verschläge, um wenigstens für kurze Zeit ganz für sich sein zu können.
Das Essen war schlecht, es gab gerade so viel, dass man nicht verhungerte, auch fehlte die tägliche Bewegung. Wir hatten wohl einen Fußballplatz, aber der war so klein, dass nur eine sehr genaue Zeiteinteilung es ermöglichte, dass jede Gruppe täglich für kurze Zeit zum Spielen kam.
Vielseitig wie die Berufssparten waren auch die Beschäftigungen, mit denen wir uns die Zeit vertrieben. Der Arzt gab medizinische Vorlesungen, der Kaufmann sprach über Handel und Wirtschaft, der Buchhalter führte uns in die Geheimnisse der doppelten Buchführung ein, der Bergassessor vermittelte uns sein Wissen über Geologie, und die Juristen dozierten über Rechtswissenschaften. Ja, wir hatten auch eine ganze Reihe von Lehrern und Professoren unter uns, die Sprachunterricht erteilten … wenn man wollte, konnte man sehr viel lernen. Einzelne bereiteten sich sogar auf ein Notabitur vor, das im Lager selbst abgehalten wurde und später nach der Rückkehr in die Heimat auch von den deutschen Behörden anerkannt worden ist.
Daneben wurde eine Lagerzeitung redigiert, in der alle Nachrichten, die aus der Heimat kamen, der Allgemeinheit zur Kenntnis gebracht wurden. Das Ganze war eben eine richtige kleine Welt. Viele gingen in ihr auf und vergaßen darüber ihr trauriges Schicksal, aber für mich gab es immer und immer wieder nur das eine: die Sehnsucht nach der Heimat, die Sehnsucht, wieder kämpfen zu dürfen. Hier konnte nur eines helfen, und das war die Flucht.
Fluchtversuche
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend brütete ich über meinen Plänen. Viele wurden verworfen, bei manchen machten die Franzosen einen Strich durch die Rechnung. Man müsste ein großes Buch eigens darüber schreiben, wollte man alle diese Pläne und Versuche schildern, die mit viel Aufregungen und Nervenanspannungen verbunden waren.
Oft wusste das ganze Lager von solchen Plänen und vibrierte dem Augenblick entgegen, da der Schlussstein gesetzt werden sollte. War dann aber doch alles missglückt, hatten die Franzosen den Plan schon vorher entdeckt, die Durchführung beobachtet und die Beteiligten im letzten Augenblick an der Flucht gehindert und abgefasst, dann ging ein Raunen durch das Lager, Mutlosigkeit packte uns und Verzweiflung. Für ein paar Stunden war unser Wille gebrochen.
Ich habe diese wechselnden Gefühle oft bis zum letzten durchkosten müssen, aber niemals habe ich davon abgelassen, es immer wieder zu versuchen. Zuerst waren es ganz fantastische Fluchtpläne. Wir wollten uns mit Gewalt die Freiheit erzwingen. Dazu gehörte eine ganze Reihe von bis zum letzten entschlossenen Kerlen. Hier war das Leben in Gefahr. Wer nicht durchkam, dem winkten nicht Arrest und Einzelhaft, sondern Zuchthaus und Deportation oder der Tod. War der Plan dann fertig, rückte die Stunde der Entscheidung näher, dann bröckelte die Gefolgschaft langsam ab, und ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass ich darüber immer traurig war. Im Gegenteil: der eigene Schweinehund, der in jedem Menschen sitzt, war oft glücklich darüber, und es gab so viele Gründe, mit denen man die eigene Laurigkeit und Feigheit beschönigen konnte.
Auch diese Fluchtpläne waren ein Teil der Gefangenenpsychose. Man durfte nur einen geringen Bruchteil ernst nehmen. Es gehörte sozusagen zum guten Ton, ständig Fluchtpläne zu schmieden, und als ich das erkannt hatte, hielt ich mich sehr zurück. Ich hatte meine Mitgefangenen kennengelernt und wusste, dass nur ganz wenige das Talent dazu hatten, eine Flucht erfolgreich durchzuführen.
Groß angelegte Pläne, an denen viele Personen beteiligt waren, mussten schon von vornherein zum Scheitern verdammt sein. Im entscheidenden Augenblick traten doch jedes Mal wichtige Akteure zurück. Es gab ja Gründe genug, wenn nicht schon die Unvorsichtigkeit einzelner das Ganze verraten hatte.
Aber unter den tausend Plänen, die wir schmiedeten, gefiel uns einer doch so gut, dass wir beschlossen, zur Tat zu schreiten.
In dem Hauptgebäude des Lagers über einem großen Saal wollten wir oben auf dem Dachboden einige Latten herausbrechen, die Ziegel entfernen und uns dann an zusammengebundenen Decken in den benachbarten Hof hinunterlassen. Wir waren vier Mann, hatten gründliche Vorbereitungen getroffen und vor allem die notwendigen Karten gezeichnet. Die Franzosen hatten selbstverständlich sämtliche Landkarten von Frankreich konfisziert, aber als einmal der Inspekteur der Gefangenenlager im Auto vorgefahren kam und der Chauffeur für einen Augenblick wegsah, hatte ein Frechdachs im Fonds eine Karte entdeckt und im gleichen Augenblick auch verschwinden lassen.
Diese Karte wurde natürlich nicht dem ersten, der eine Flucht plante, gegeben, sondern wir fertigten auf Butterbrotpapier Pausen an. Missglückte dann der Fluchtversuch, so fielen den Franzosen nur diese Kopien in die Hände, die sich ja immer wieder ersetzen ließen.
Schon wochenlang vorher hatten wir außer diesen Kartenskizzen auch für unsere Verpflegung gesorgt. In Fett geröstetes Brot sollte unsere Nahrung sein. Auch besaßen wir französische Zivilmützen, von denen kein Mensch wusste, wie sie eigentlich ins Lager gekommen waren. Ich hatte mir aus einer alten Hose eine ganz wunderbare Tellermütze zusammengenäht.
Die verschiedenen Schlösser der Türen, die zum Bodenraum führten, waren im Laufe verschiedener Nächte gut vorbereitet worden. Wir hatten die Schrauben gelöst, so dass man in wenigen Sekunden durch alle Türen hindurch konnte. Damit dies nicht auffiel, hatten wir statt der Schrauben Attrappen eingesetzt, die, aus geknetetem Brot geformt und mit Kakao und Farbe rostfarben angeschmiert, auf den ersten Blick so aussahen, als wäre seit Jahren an den Schlössern nicht gerührt worden. Das war für das Gelingen unseres Planes von ungeheurer Wichtigkeit, da die Franzosen täglich sämtliche Türen aufs peinlichste kontrollierten. Aber auf meine künstlichen Schraubenattrappen sind sie wunderbar reingefallen.
Die Nacht der Durchführung unseres Vorhabens kam uns viel zu schnell heran. Wir mussten den Termin noch zweimal verschieben, weil die Posten, die an diesen Tagen auf Wache gezogen waren, uns zu schlau erschienen und aufpassten wie die Schießhunde. Auch war uns das Wetter zu gut. Wir brauchten einen leichten Rieselregen, denn dann hüllten sich die Posten fest in ihre Mäntel und hüteten sich davor, in die Höhe zu sehen.
Ich war der einzige an diesem Fluchtversuch Beteiligte aus dem Hauptmannsabteil, das noch besonders verschlossen war. Gleich nach der nächtlichen Revision ging es los. Leise klopfte es an meiner Tür, Schrauben knirschten, die von außen gelöst werden mussten – – die Tür sprang auf. Nun holten wir noch aus einem anderen Raum auf die gleiche Weise einen Kameraden ab, während die ersten beiden in der Lage gewesen waren, ihre Tür von innen zu öffnen.
Rasch ging es auf den Boden hinauf. Die Stelle, an der wir durchs Dach wollten, hatten wir ganz genau erkundet, denn auf diesem Boden waren unsere Habseligkeiten in Paketen und Kartons verpackt, und zweimal in der Woche durften wir, wenn wir etwas benötigten, in der Begleitung eines Sergeanten dort hinauf. Diese Gelegenheit hatten wir zum Auskundschaften benutzt.
Schnell breiteten wir in jener Ecke, an der wir durchbrechen wollten, Decken auf dem Boden aus, damit beim Abheben der Dachplatten kein Geräusch entstand. Es machte viele Mühe, die Platten leise abzuheben. Wir durften ja kein Licht machen. Aber die Augen hatten sich bald an die Dunkelheit gewöhnt, und mit jeder Dachplatte, die gelöst war, schien es heller zu werden, so dass wir recht gut sehen konnten. Jetzt traten die scharfen Messer in Aktion. Es waren zwei starke Latten durchzuschneiden, denn das Loch musste so groß sein, dass wir beim Durchkriechen nicht hängenblieben und etwas abrissen, was dann polternd in die Tiefe fiel.
Die erste Latte war durch, auch die zweite war an einer Stelle schon durchgeschnitten. Leider hörte das leichte Rieseln, mit dem wir gerechnet hatten, auf, und es wurde so totenstill, dass wir fast den Atem anhielten, damit die Posten uns nicht hörten. Als wir gerade das letzte Stück der Latte durchschnitten und noch eine Ziegelplatte lösten, da geschah etwas Unerwartetes: der Ziegel war brüchig, ein Teil rutschte weg, fiel über die Dachrinne und polterte auf das Blechdach eines darunterliegenden Vorbaus.
Die Posten unten wurden aufmerksam und wechselten einige Worte, die wir nicht verstehen konnten. Aber wir wussten, jetzt lagen sie auf der Lauer. Zunächst verhielten wir uns mäuschenstill. Es war sehr leicht möglich, dass sie jetzt schon Alarm schlugen. Dann saßen wir schön in der Patsche. Ein paar Sekunden lang überlegten wir, ob wir alle Rücksicht beiseite lassen und schnell hinunterrutschen sollten, aber sicher klappte das nicht. Man würde uns folgen. Die Situation war durch den Zwischenfall mit dem blödsinnigen Dachziegel eben doch verfahren.
Für uns wäre es jetzt ein großer Erfolg gewesen, wenn wir unerkannt unsere Betten wieder erreichen konnten. Der eine Posten verschwand. Wahrscheinlich wollte er den Wachthabenden holen. Jetzt mussten wir handeln. Rasch legten wir die Dachziegeln von unseren Decken weg, nahmen diese mit, brachten den einen Kameraden zu seinem Quartier und schlossen die Tür wieder von außen zu. Ich machte mit Staub und Kakao die Schrauben wieder „rostig“. Dann wurde auch ich in meinem Zimmer eingeschlossen. Nachdem bei mir die Schrauben ebenfalls mit Schokolade betupft worden waren, verschwanden die beiden anderen und verschraubten ihre Tür selbst von innen.
Wir lagen noch keine fünf Minuten in unseren Betten, da wurde es draußen schon lebendig. Die Franzosen revidierten vorsichtshalber; aber da sie alle Lagerinsassen in ihren Betten fanden, kamen sie zu der Überzeugung, dass an der Meldung des Postens nichts dran gewesen war. Als es jedoch hell wurde, sah man oben im Dach ein großes Loch. Wir hatten es nicht wieder schließen können, denn die Latten waren ja abgeschnitten. Nun wurde alles peinlichst durchsucht, aber Anhaltspunkte, die zur Ermittlung der Täter führten, fanden sie nicht. Der schlafsaalälteste Offizier, der an der ganzen Geschichte überhaupt nicht beteiligt gewesen war, bekam vierzehn Tage Prison, weil die Franzosen ihm den Vorwurf machten, er hätte verhindern müssen, dass Leute aus seinem Schlafsaal, der unter dem Boden lag, während der Nacht den Dachschaden verursachten.
Selbstverständlich prüften der Lagerkommandant und der Offizier vom Dienst am Morgen sämtliche Schlösser; aber die Attrappen aus Dreck, Brot und Kakao waren so überzeugend, dass sie zu der Ansicht kamen, aus dem Gebäude, in dem die Hauptleute und Stabsoffiziere untergebracht waren, konnten die Täter nicht stammen. Nur an einem Schloss stellten sie fest, dass es von innen geöffnet worden sein musste. Die Zimmerinsassen machten aber so unschuldige Mienen, dass man die Übeltäter nicht festzustellen vermochte.
Alle Utensilien, die wir hatten mitnehmen wollen, auch der Fluchtproviant … das war so geschickt an neutralen Orten versteckt worden, dass niemand bei der Untersuchung kompromittiert wurde. Leider haben viele Monate später zwei von den Beteiligten dieser Nacht doch noch ins Prison spazieren müssen. Bei einer plötzlichen Revision entdeckte man bei ihnen die Karten, die wir damals gezeichnet hatten. Das genügte, sie auf vierzehn Tage hinter den schwedischen Gardinen verschwinden zu lassen. Ich selbst kam ungeschoren durch, denn nie vergaß ich die Worte: „Toujours attention“.
Den zweiten Fluchtversuch unternahm ich nur mit zwei sehr tüchtigen Kameraden, weil wir uns inzwischen davon überzeugt hatten, dass jeder Plan, bei dem viele Personen beteiligt waren, von vornherein zum Scheitern verurteilt sein musste. Wir weihten keinen Menschen, den wir nicht unbedingt notwendig brauchten, in unser Vorhaben ein. Abends noch vor dem letzten Appell, wir durften zu dieser Zeit im Hofe spazierengehen, wollten wir unter dem Drahthindernis hindurchkriechen, den Postengang überqueren, ein Gitter durchschneiden, um so den unmittelbar anschließenden Fluss zu erreichen.
Es war unsere Absicht, im Uferschatten flussaufwärts zu schwimmen und dann auf der anderen Seite das Weite zu suchen. Wochenlang hatten wir abseits von allen anderen zusammengesessen und nach langem Grübeln im Drahthindernis eine Stelle gefunden, an der wir verhältnismäßig leicht durchkommen konnten. Einige Drähte mussten dabei allerdings durchschnitten werden, aber die Stelle lag so günstig zwischen zwei Posten, dass wir hoffen konnten, unbeobachtet durchzukommen. Leutnant Sand, ein schneidiger Infanterieoffizier, besaß eine kleine Drahtschere. Er wollte als erster vorkriechen, die Drähte durchschneiden, und dann sollten wir folgen.
Ein schöner Septemberabend. Die Wolken, die am Himmel dahinzogen, schufen ein günstiges Zwielicht. Die Dämmerung trat dadurch etwas früher ein. Im Gleichschritt liefen die Gefangenen, entgegengesetzt der Umdrehung der Kaffeemühle, im Hofe herum, während die Posten an ihren Plätzen standen und jede Bewegung im Innern des Lagers beobachteten.
Jetzt war es so weit. Herzklopfend sah ich, wie Leutnant Sand vorkroch, es knackte einige Male, schon hatte er das erste etwa acht Meter breite Drahthindernis kriechend überwunden. Programmgemäß waren die einzelnen Drähte abgeknipst. Nun kam der riskanteste Moment der ganzen Sache: Sand musste den Postengang überqueren, der, wenn die Burschen aufpassten, ganz genau übersehen werden konnte. Da aber dieses unbestimmte Zwielicht herrschte und wir feldgraue Röcke anhatten, mussten die Burschen sehr aufmerksam sein, wenn ihnen etwas auffallen sollte.
Liegend verweilte Sand einige Sekunden auf dem Postengang, denn nun kam das zweite Hindernis, das Drahtgitter. Hier musste er vier starke Drähte durchknipsen, die unten im Boden angepflockt waren. Fiebernd warteten wir. Es dauerte Ewigkeiten, bis wir wieder das verräterische Knacken hörten. Dann aber sahen wir, wie sich sein Körper plötzlich vorschob … über den Gang hinweg, und schon war er außerhalb der Umzäunung. Wir hörten ein Plätschern im Wasser.
Jetzt mussten wir nach. Voraus Leutnant Frick, ein Referendar, – ich unmittelbar hinterher. Wir kamen unter dem ersten Hindernis weg, mein Vordermann wollte eben den Rondengang überqueren, da blieb mir das Herz stehen. Es näherten sich Schritte. Der wachthabende Gefreite, der die Posten revidierte, kam zufällig daherspaziert. Wir zogen uns etwas unter das Drahthindernis zurück und drückten den Kopf fest an die Erde, damit, nicht der helle Fleck unseres Gesichtes uns verriete. Wir hielten den Atem an, aber es half nichts. Dicht neben uns blieb der Wachthabende stehen. Das Dunkel unserer Körper musste ihm aufgefallen sein. Wir waren entdeckt.
Im gleichen Augenblick gellten seine Alarmschreie, er zog sein dreikantiges Seitengewehr und wollte uns beide festhalten. Wir standen auf und hoben die Hände hoch. Ich überlegte eine Sekunde. Einen von uns konnte er ja schließlich nur festhalten. Darum sprang ich, den Gefreiten, der mit seinem Seitengewehr nach mir stieß, im Auge behaltend, zurück, wieder ins Lager und mischte mich unter die dort noch immer promenierenden Kameraden. Der arme Referendar war von dem Posten festgehalten worden.
In demselben Augenblick, als ich mich mit harmloser Miene unter meine Kameraden mischte, stürzte auch schon der Offizier vom Dienst, ein französischer Oberleutnant, dem wir den Spitznamen „Kuhkopf“ zugelegt hatten, herbei. Aufgeregt meldete ihm der Gefreite den Vorfall, der Referendar wurde ins Gefängnis abgeführt, und hinter Sand, der fürs erste entkommen war, setzte die Meute der Verfolger her. Ich war den Burschen einstweilen entschlüpft. Leider jedoch nur wieder zurück ins Lager.
Beim Durchkriechen des Drahthindernisses waren mein Rock und meine Hose stark zerrissen worden. Auch die linke Hand, mit der ich das Bajonett abgewehrt hatte, zeigte eine leichte Schramme. Nun hieß es, alles was ich für die Flucht bei mir gehabt hatte, schleunigst zu verstecken und in Sicherheit zu bringen. Kaum war das geschehen, hielt ich Nadel und Faden in der Hand und nähte die verschiedenen Dreiecke, so schnell es ging, wieder zu, denn ich musste damit rechnen, dass mich der Gefreite, wenn er mich schon nicht erkannt hatte, bei der nun sicher folgenden Untersuchung daran leicht wiedererkennen würde. Wenn die Suche nach Sand erledigt war, würden die Franzosen sehr energisch nach dem dritten Beteiligten fahnden.
Aber sie ließen sich Zeit. Wichtiger für sie war es, dass sie Leutnant Sand erwischten. Alle verfügbaren Posten waren unterwegs. Das ganze Städtchen beteiligte sich an der Suche, und wir hörten bis tief in die Nacht hinein die Rufe der Patrouillen, die mit der Bevölkerung immer noch nach Sand fahndeten. Zwischendurch hatte man einen flüchtigen Appell auf den Stuben abgehalten, denn sie mussten feststellen, wer überhaupt fehlte. Es war doch nicht ausgeschlossen, dass vor uns schon mehrere entkommen waren.
Auf mich schien man keinen besonderen Verdacht zu haben. Auch der Wachthabende erkannte mich nicht, denn er war ja so aufgeregt gewesen, als er mit seinem spitzen Bajonett nach mir gestochen und dabei meine Hand nur unbedeutend geritzt hatte. Nach diesem Appell ging es zu Bett, und nun hatte ich Muße, die Löcher in Hose und Waffenrock säuberlich kunstzustopfen.
Während der ganzen Nacht wurden alle Unterbringungsräume systematisch durchsucht. Man vernahm besonders Verdächtige, und alle Kleider, die wir besaßen, wurden sorgfältig auf Beschädigungen durchgesehen, die von den Stacheln der Drahthindernisse herrühren konnten. Auch zu mir kamen sie; ich hatte den Waffenrock, an dem ich noch arbeitete, schnell in mein Bett gesteckt und tat als schliefe ich sehr fest. Mein anderer Rock, den ich für gewöhnlich anhatte, hing so, als habe ich ihn eben erst ausgezogen.
Ich muss sagen, mein Herz klopfte ziemlich heftig, denn wenn man es rausbekam, dass ich an dem Komplott beteiligt gewesen war, dann blühten mir dreißig Tage Prison, und in dieser Zeit war die Möglichkeit zu anderen Fluchtversuchen abgeschnitten. Ich hatte mir nämlich noch einen zweiten Plan ausgearbeitet, der sehr bald durchgeführt werden musste. Nur noch kurze Zeit, dann kam der Herbst, dann waren die Felder kahl und die Wälder durchsichtig, also sehr schwer, sich zu verbergen.
Die Tragikomödie des Leutnants von Bülow
Der nächste Morgen brachte ein großes Ereignis für uns Gefangene. Leutnant Sand war nicht gefasst worden. Er befand sich auf dem Wege zur Heimat und hatte nun, da er allein war, sicherlich große Aussicht, durchzukommen. Wir hätten uns, wenn unser Ausbruch geglückt wäre, sowieso getrennt, denn das Zusammenlaufen von drei Verdächtigen musste ja auffallen und zum Scheitern unserer Flucht führen.
Nun begann der große Appell. Der Gefreite, der mich fast mit dem Bajonett abgestochen hätte, kam mit den beiden Posten, dem Lagerkommandanten und dem Offizier vom Dienst, und nachdem der Lagerälteste Meldung erstattet hatte, wurden wir der Reihe nach verlesen. Jeder musste vortreten. Jeden besahen sich die drei Franzosen ganz genau, denn sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, den dritten Ausreißer festzustellen.
Auch ich trat vor, tat genau so harmlos wie die anderen, die nichts auf dem Kerbholz hatten, und wurde von vorn und von hinten genau angesehen. Wie bei den anderen wurde auch mein Waffenrock gründlich kontrolliert, aber er war so gut kunstgestopft, dass nichts mehr zu erkennen war. Man schöpfte auch keinen Verdacht, und ließ mich wieder eintreten.
Nun harrten wir der kommenden Dinge. Dort erschien einer verdächtig, da prüfte man einen anderen ganz besonders scharf, aber immer wieder schien man sich davon zu überzeugen, dass es sich doch nicht um den wahren Täter handeln konnte. Und dann, sie waren schon bei der vorletzten Gruppe angekommen, schien es dem Gefreiten langsam zu dumm zu werden. Einer musste doch schließlich der dritte Verbrecher sein. Gerade trat ein Leutnant von Bülow vor, ein schneidiger Kerl, der stets verdächtig war, sich mit Fluchtvorbereitungen zu beschäftigen, und seinen Freiheitstrieb bereits ein paarmal im Prison büßen musste. Auch jetzt nahm man ihn wieder gründlich vor, er musste vor der Front stehen bleiben, bis der Rest durchgesehen worden war. Dann aber erklärte der Wachthabende mit Bestimmtheit, in Bülow den dritten Ausreißer zu erkennen, und der arme Kerl musste wieder einmal ins Loch spazieren.
Wir taten alles, um ihm, der doch wirklich unschuldig im Gefängnis saß, wieder herauszuhelfen. Verschiedene Kameraden, mit denen er am Abend vorher zusammen Karten gespielt hatte, gingen zum Kommandanten und verpfändeten ihr Ehrenwort. Nichts half. Der Gefreite blieb bei seinen Angaben, und der Kommandant erklärte, nur dann an die Schuldlosigkeit Bülows glauben zu können, wenn sich der wahre Dritte melden würde.
So musste der Arme brummen, während ich in Freiheit blieb. Wie gern wäre ich zum Kommandanten gegangen und hätte mich gemeldet, um ihn freizubekommen, aber ich hatte ja noch einen anderen Fluchtplan in Vorbereitung, und bevor der auch missglückt war, wollte ich nicht resignieren und damit alle Hoffnungen, doch herauszukommen, aufgeben. Diesmal wollten wir über eine Mauer auf der anderen Seite des Lagers. Wir hofften, dass hinter ihr kein Posten stand. Mit den weiter hinten liegenden Gartenzäunen würden wir schon fertig werden. Da die Mauer recht hoch war, mussten wir zu zweit sein, um einander hinaufhelfen zu können.
Alles war bereit. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen, und die Posten stellten sich unter. Unsere Mauer wurde von zwei Lampen beleuchtet, aber zwischen den beiden Laternen befand sich eine Stelle, die nicht sehr hell und darum auch nicht so leicht zu beobachten war. Hier wollten wir entschlüpfen. Um hinauszukommen, mussten wir die Leiter benutzen, die beim Anzünden der Lampen verwendet wurde.
Unsere gesamte Ausrüstung hatten wir am Körper untergebracht und standen nun im Schatten des Tores der einen Wohnbaracke. Die Luft schien rein. Da schlüpfte Leutnant Rademacher als erster unter dem einfachen Drahthindernis durch, holte die Leiter, stellte sie an und stieg auf ihr empor. Im nächsten Augenblick war er auf der anderen Seite der Mauer verschwunden.
Jetzt war ich an der Reihe. Ich sprang aus meinem Versteck, kletterte unter dem Drahtzaun durch und hatte gerade die zweite Sprosse der Leiter erklommen, als draußen – außerhalb des Lagers – ein Schuss fiel.
Rademacher war entdeckt worden. Jetzt wäre es sinnlos gewesen, ebenfalls ins Verderben zu rennen. Ich sprang wieder hinunter, stellte die Leiter zurück an ihren Platz und lief ins Lager. Um nicht aufzufallen, ging ich langsam und gelassen über den Hof zu meinem Zimmer. Aber ich hatte den Eingang noch nicht erreicht, als ein toller Tanz begann. Die Posten rannten wie wild herum, und der Kommandant kam aus seiner Wohnung heruntergestürzt. Es war ein höllisches Durcheinander. Auch die Gefangenen waren durch den Alarmschuss aufgeschreckt worden.
Wieder war ich mit einem blauen Auge davongekommen. Schnell versteckte ich das, was ich an meinem Körper verstaut hatte. Gott sei Dank, diesmal gab es nichts zu flicken; auch hatten die Franzosen ja nicht bemerkt, dass bei diesem Ausbruchsversuch auch noch ein zweiter im Spiele war.
Der übliche Appell fand statt, während von draußen fürchterliches Geschrei und das Durcheinander vieler erregter Stimmen zu uns ins Lager drangen. Offenbar war Rademacher bereits erwischt worden, und richtig, nach kaum einer Viertelstunde brachten sie ihn gebunden und gefesselt zum Lagereingang herein. Er war übel zugerichtet worden und wurde gleich ins Arresthaus geführt, wo er dreißig Tage lang für die kurzen Sekunden der Freiheit büßen musste.
Später erfuhren wir, was sich eigentlich ereignet hatte. Rademacher war auf der anderen Seite der Mauer hinuntergeklettert und ein paar Schritte gegangen, um sich zu informieren, denn wir wussten ja nicht, was hinter der Mauer lag. In diesem Gang hatte er eine an einer zweiten Mauer angelehnte Leiter gefunden, auf der er emporkletterte. Aber jenseits dieses Hindernisses stand ein Posten, der sofort nach ihm schoss. Rademacher versuchte noch zu flüchten, aber er war in einem nahen Garten rasch entdeckt worden.
Das Schießen des Postens hatte nämlich nicht nur die Lagerwache, sondern auch die Bevölkerung alarmiert. Den Polizeihunden vermochte Rademacher zwar noch zu entgehen. Die Tiere schnüffelten nur an ihm herum, aber sie taten ihm nichts. Die Bewohner dagegen hatten ihn gefunden, aus seinem Versteck gezerrt und ganz schrecklich zugerichtet, indem sie mit schweren eisernen Ketten auf ihn einschlugen. Wäre nicht ein anständiger Feldwebelleutnant unserer Lagerwache dazugekommen, hätte man ihn erschlagen.
Das war in der Zeit kurz vor dem Ende des Krieges. Kein Franzose glaubte damals, dass die Entente doch schließlich Sieger bleiben würde, und ließen nun ihre Wut an uns Kriegsgefangenen aus. Wer von uns der Zivilbevölkerung in die Hände fiel, dessen letztes Stündlein hatte geschlagen.
So ist es auch dem armen Leutnant Sand ergangen, der aus dem Lager entkommen war und sich bis in die Gegend von Paris durchgeschlagen hatte. Unter einem Güterzug wurde er aber doch entdeckt. Was weiter mit ihm geschah, haben wir erst später aus französischen Zeitungsnotizen erfahren. Angeblich soll er vor seinen Verfolgern geflüchtet sein und beim Sprung über eine Brückenbrüstung den Tod gefunden haben.
Über meinen dritten misslungenen Ausbruchsversuch war ich außerordentlich deprimiert, obwohl ich auch diesmal wieder mit heiler Haut davongekommen war. Schon witzelten die Kameraden, die davon wussten. „Der eine bekommt die Schokolade, der andere die Prügel“, so sagten sie, denn Schokolade nahmen wir immer für die Flucht mit, und dieser Notproviant musste, war das Unternehmen missglückt, natürlich schleunigst verschwinden, am besten aufgegessen werden.
Jetzt musste ich es endgültig aufgeben, vor Einbruch des Winters noch zu entkommen. Denn selbst wenn es mir gelang, das Lager zu verlassen, würde man mich doch schnappen. In dieser Jahreszeit war es ausgeschlossen, unerkannt einen so langen Weg durch Frankreich zurückzulegen. So beschloss ich, meine Fluchtpläne den Winter über zu begraben und stattdessen lieber den Versuch zu machen, Bülow, der immer noch im Prison saß, dadurch zu befreien, dass ich zum Kommandanten ging und mich als den dritten Ausreißer bezeichnete.
Schon am nächsten Morgen ließ ich mich durch den Dolmetscher melden und erklärte dem Lagerkommandanten unumwunden, dass Leutnant von Bülow unschuldig, ich dagegen der wahre Attentäter sei. Der Kommandant hatte keine Veranlassung, meinen Worten zu misstrauen. Ich musste meine Sachen packen und ins Gefängnis umziehen, während sich für Bülow die eisernen Tore des Kerkers öffneten.
Es war ekelhaft kalt in diesen Oktobertagen. In der Zelle konnte ich mir keine Bewegung machen. Schlimmer aber quälte noch die Ungewissheit darüber, was nun mit mir geschehen würde. Damit mir die Zeit nicht zu lang wurde, hatte ich mir Zeichenmaterial mit ins Gefängnis genommen und strichelte nun den ganzen lieben Tag. Am zwölften Tage meiner Haft ereignete sich etwas, das uns allen unverständlich war. Der Kapitän vom Dienst erschien plötzlich bei mir im Gefängnis.
„Kapitän Köhl, Sie sind frei!“ Er deutete auf die geöffnete Zellentür. Ich sah ihn vollkommen verständnislos an. „Sie können gehen!“, herrschte er mich an, als ich keine Anstalten machte, seiner liebenswürdigen Aufforderung nachzukommen.
„Sie können gehen“, wiederholte er noch einmal und fügte hinzu: „Der Kommandant der Region hat Ihre Meldung nicht anerkannt.“
Noch immer verstand ich nicht, führte aber den Befehl aus, kramte meine Habseligkeiten zusammen und zog wieder auf meine Bude. Auch meine Zimmergenossen waren höchst erstaunt, als sie mich plötzlich froh und wohlgemut wieder auf der Bildfläche erscheinen sahen.
Erst etwas später ging uns ein Licht auf, denn Leutnant von Bülow erhielt den Befehl, schleunigst sein Waschzeug zu nehmen und dem Posten zu folgen, der ihn ins Gefängnis brachte. Es half nichts, der arme Bülow musste zum zweiten Mal zum Prison wandern.
Jetzt kapierten auch wir, was sich ereignet hatte. Der Kommandant der Region – also der Leiter jener Gefangeneninspektion, dem auch unser Lager unterstand – erklärte rundweg, dass meine Meldung nicht berücksichtigt werden könnte. Wenn der Gefreite in Leutnant von Bülow den Flüchtling erkannt habe, dann müsse ihm mehr geglaubt werden als mir. Punktum. – So hatte er einfach meine Entlassung verfügt, und der arme Bülow musste nun den ganzen Rest der ihm willkürlich zudiktierten Strafe absitzen, ohne dass man ihm die von mir abgebrummten zwölf Tage anrechnete. Das war eben die militärische Rechtsprechung der Franzosen.
Für mich hieß es jetzt, ganz still sein und die Klappe halten, denn ich musste froh sein, wenn man mich nicht auch noch einlochte, weil ich – immer nach Ansicht dieses Herrn Regionskommandanten! – den Lagerkapitän angelogen hatte.
Kriegsende
Der November kam heran. Mit banger Sorge verfolgten wir die Entwicklung an der Front im Spiegel unserer zensierten Zeitungen. Dumpf spürten wir, dass der Krieg einem entsetzlichen Ende entgegenging. überall waren dem Feinde Durchbrüche geglückt. Die Amerikaner kamen in Massen nach Europa, und was Belgier, Franzosen und Engländer nicht vermocht hatten – die gutgenährten und tadellos ausgerüsteten Söhne der Neuen Welt schafften es. Ein Zittern und Wanken ging durch die Front der Verbündeten … das spürten selbst wir in unserem entlegenen Gefangenenlager.
Jetzt bekamen wir die Zeitungen täglich fast ohne jeden Ausschnitt, und sie waren voll von Siegesmeldungen und überschwänglichen Lobsprüchen auf die Amerikaner, die man als Retter in den Himmel hob. Wir ahnten Schlimmes. Kaum wagten wir noch miteinander darüber zu sprechen.
Dann aber kam der vernichtende Schlag. Als die Zeitungen im Lager eintrafen, entspannten sich an der Wache lange Debatten, und als uns der Sergeant endlich das Blatt brachte, da lasen wir es: Revolution in Deutschland! Waffenstillstandsangebot!
Der Krieg war beendet, und wir hatten ihn verloren.
Jetzt überstürzten sich die Ereignisse. Der Kaiser ging nach Holland, drüben im Vaterland schwang der Bürgerkrieg seine Geißel … nur etwas machte uns stutzig: hier im Herzen Frankreichs herrschte kein Jubel, hier gab’s keine rauschenden Siegesfeierlichkeiten. Nichts. Und sie hätten doch Grund genug dazu gehabt.
Die Zeitungen brachten uns die Erklärung. Unverhohlen sprach die Sorge vor dem Kommenden aus ihnen. Man glaubte, die Revolution würde die letzten Kräfte mobilmachen, jetzt würden die Arbeitermassen zur nationalen Verteidigung schreiten. Noch hielten sie das Waffenstillstandsangebot für eine Finte, und ihre Angst war größer als die Freude über einen Sieg, dem sie noch nicht trauten.
Drei Tage blieb das so. Dann erkannten auch sie, dass diese Revolution nicht letzten, verzweifelten Widerstand bedeutete wie im Jahre 1870 in Frankreich, sondern die restlose Selbstaufgabe eines Volkes war, das nichts mehr wissen wollte von Kampf und Verteidigung, das den nationalen Gedanken totgeschlagen und vernichtet hatte. Nur Frieden wollte man, Frieden um jeden Preis. Und Brot, und zu Weihnachten zu Hause sein …
Jetzt brach ein frenetischer Jubel herein. Wochenlang wurde gefeiert. Mit Musik, mit lustig in die Luft prasselndem Feuerwerk. – – Wir aber saßen in diesen grauen Novembertagen still, in uns verkrochen, in unserem Lager. Wir trauerten um die Heimat und konnten nicht fassen, wie dieses Unglück über Deutschland hereingebrochen war.
Nun freute uns der Gedanke nicht mehr, dass der Frieden kam, dass man uns in die Heimat zurückschicken würde. Vielleicht behandelte man uns, nachdem die Feindseligkeiten eingestellt worden waren, auch besser … Aber darin täuschten wir uns gewaltig. Jetzt erst erlebten wir die schlimmste Zeit unserer Gefangenschaft.
Alle Vergünstigungen, die auf gegenseitigen Abmachungen beruht hatten, fielen fort, seit es keine französischen Gefangenen, um deren Schicksal man besorgt war, mehr in Deutschland gab. Das Essen wurde noch schlechter, und von Tag zu Tag sank unser Mut, wenn wir neue Meldungen aus Deutschland bekamen, die in den französischen Blättern in ganz besonders gehässiger Weise wiedergegeben wurden.
Schließlich wussten wir überhaupt nicht mehr, was drüben in der Heimat los war. Wir erfuhren nur, dass man uns grässliche Bedingungen gestellt hatte und dass wir sie angenommen hatten. Um uns noch mehr zu quälen, verfielen die Franzosen auf einen besonderen Trick. Die alten Bewachungsmannschaften wurden abgelöst und durch Soldaten ersetzt, die in Deutschland gefangen gewesen waren. Die sollten sich jetzt an uns schadlos halten.
Aber – genau das Gegenteil trat ein: diese zurückgekehrten Gefangenen, die in Deutschland sehr gut behandelt worden waren, viele Freiheiten genossen hatten und zum Teil auch deutsch sprachen, zeigten sich dankbar für das, was ihnen in unserem Vaterlande widerfahren war. Sie teilten ihre Zigaretten mit uns und räumten uns viele Vergünstigungen ein, die eigentlich verboten waren. Leider blieben sie nicht lange bei uns. Sie wurden rasch wieder abgelöst, als sich herausstellte, dass sie gar nicht daran dachten, uns zu quälen.
Der Winter verging. Die Friedensverhandlungen begannen. Ehe das Diktat, das man unserem Volke in Versailles aufzwingen wollte, unterschrieben war, sollten wir nicht freigelassen werden. Und dann … dieses Friedensdiktat enthielt auch jenen schimpflichen Paragrafen der „Kriegsverbrecher“, und so mancher der Lagerinsassen musste fürchten, für Maßnahmen belangt zu werden, die er während des Krieges in seiner militärischen Stellung hatte treffen müssen.
Es war eine böse Zeit. Die Fluchtpläne waren begraben und vergessen. Man wusste ja nicht, was die Zukunft bringen würde. Aber als der Frühling kam und der Sommer, da brach auch der alte Wille wieder durch. Dort draußen außerhalb der Lagermauern winkte die Freiheit, und wenn es so weiterging wie bisher, würden wir noch lange Gefangene bleiben müssen.
Neue Fluchtgedanken
So begann auch ich wieder, mich mit Fluchtgedanken zu tragen. Ich hatte viel gelernt. Die missglückten Versuche hatten mir deutlich gezeigt, worauf es ankam. Kurz vor Waffenstillstand war ein Jagdflieger ins Lager gekommen, der bekannte und erfolgreiche Pour-le-Mérite-Flieger Menckhoff.
Wir hatten uns zusammengetan und viele Pläne geschmiedet, aber sie dann doch immer wieder fallen lassen, da wir merkten, dass es wenig Zweck hatte, etwas zu zweit zu unternehmen. Einer war doch immer tüchtiger als der andere und behinderte den Kameraden. Machte einer eine Dummheit, musste auch der andere mit ihm büßen, und wo einer durchkam, da war es noch lange nicht gesagt, dass auch zwei unauffällig passieren konnten. Wenn man aus dem Lager raus war und die eigentliche Flucht begann, dann war es weit sicherer, sich allein durchzuschlagen.
Allerdings – so eine Flucht ganz allein, nur auf sich gestellt, war eine verflucht langweilige Sache. Aber gerade darin lag das Geheimnis, das allein zum Erfolg führen konnte: nur, wer sich allein hinauswagte, wer den ungeheuren Willen und die Selbstüberwindung dazu aufbrachte, der hatte Aussicht auf Erfolg.
Menckhoff und ich erkannten das. Wir wollten uns helfen. Jeder dem anderen, aber den Weg in die Freiheit, den sollte jeder für sich selbst ganz allein gehen. Nur eines hatten wir ausgemacht. Wir wollten uns darüber verständigen, wann wir unsere Pläne zur Durchführung brachten, damit wir nicht in Kollision gerieten. Menckhoff hatte kein Geld, während ich 120 Franken französisches Geld besaß, und ich versprach ihm, dass ich ihm die Hälfte meiner Barschaft zur Verfügung stellen würde.
Als ich zwei Tage im Lager von Montoire-sur-le-Loir war, hatte ich einen fast verzweifelt zu nennenden Fluchtplan gefasst, der mit etwas Glück einem allein die Freiheit bringen konnte. Achtzig Prozent standen dagegen und nur zwanzig dafür. Darum setzte ich diesen Plan bisher auch niemals in die Tat um. Jetzt sollte es geschehen. Wer weiß, wie lange es noch dauerte, bis man uns in die Heimat zurückschickte; das Leben im Lager war unerträglicher geworden denn je. Und dann der Gedanke, zurücktransportiert zu werden, die Rückkehr als eine Gnade der Franzosen empfangen zu müssen – das erschien mir so traurig, so unheldisch, so besiegt. Ich wollte ihnen diesen Triumph nicht gönnen, sondern alles dransetzen, mir die Freiheit selbst zu erkämpfen.
Dort, wo allabendlich die Ordonnanzen das Waschwasser vom Brunnen holten, stießen zwei Gebäude im Winkel aufeinander. In dem einen war unten das französische Wachtpersonal untergebracht. Darüber befand sich die Wohnung des Lagerkommandanten. Die Fenster seines Wohn- und Schlafzimmers blickten auf den Brunnen, während sich an der Hinterkante ein nicht allzu hohes Gebäude anschloss. Dort war eine Küche für die französischen Mannschaften, und an diese wieder lehnte sich ein überdachter Vorraum, eine Art Remise an, in der sich allerhand Gerümpel befand. Unter dem gleichen Dach war der Stall für das Lagerpferd und die beiden Polizeihunde, die allabendlich freigelassen wurden, um Gefangene aufzuspüren, die flüchten wollten.
Von dieser Ecke aus sah man weiter hinter diesem Stall noch ein Giebelhaus angebaut, das von Bäumen überragt wurde. Wenn diese Bäume gerade kein Laub hatten, konnte man in der Ferne den Turm eines niedlichen Kirchleins erblicken. Die Ecke schien mir für die Flucht besonders geeignet.
Wenn zwei unserer großen Ordonnanzen am Brunnen standen, so glaubte ich, dass ich eskaladierend, wie ich es früher bei den Pionieren gelernt und auch mit unserer Zimmerordonnanz, die mir vor allem behilflich sein sollte, geübt hatte, den Mauervorsprung erreichen konnte. Von dort aus müsste ich eben sehen, wie ich weiterkam. Das war im Grunde der ganze Fluchtplan.
Schwieriger schon schien mir die Frage, wann ich mein Vorhaben ausführen sollte. Es musste zu einer Zeit sein, zu der die Ordonnanzen zum Brunnen gingen, um Wasser zu holen, aber auch zu einer Zeit, zu der die Franzosen ihre Küche nicht benutzten, sonst konnten sie vielleicht auf die Schnapsidee kommen, ebenfalls Wasser zu holen. Kurz vor dem Abendappell schien es mir am günstigsten.
Dementsprechend mussten alle Vorbereitungen getroffen werden. Wenn ich kurz vor dem Appell auf das Dach kletterte, war natürlich wenige Minuten später bei der abendlichen Kontrolle mein Verschwinden entdeckt. Hier gab es nur einen Ausweg: Ich musste einen Stellvertreter haben, und zwar eine Puppe.
Das erschien gar nicht so schwierig. Man brauchte nur ein paar Hosen auszustopfen, einen Waffenrock und Handschuhe, schon war der untere Teil fertig. Mit dem Kopf wurde es schon schwieriger. Ich setzte mich mit dem bekannten Maler Dornhecker, der sich bei uns im Lager befand, in Verbindung. Dornhecker kam zu mir auf mein Zimmer, nahm eine alte Unterhose, stopfte sie mit allem möglichen aus, bis sie ungefähr die Form meines Kopfes hatte und man meine Mütze darauf stülpen konnte.
Dann modellierten wir aus Pappe meine Ohren, die Nase, den Mund und die Augen – – alles tipptopp und mit genauen Abmessungen. So entstand eine tadellose Plastik. Am nächsten Tage brachte Dornhecker seinen Malkasten mit, Augen, Nase und Backen wurden naturgetreu angestrichen und die Augenbrauen aus echten Haaren gefertigt. Allmählich entstand auf diese Weise ein ganz richtiger Köhl.
Der „künstliche Mensch“ war fertig. Nun musste ich ihn selbstverständlich meinen Zimmerkameraden vorstellen und sie in meinen Plan einweihen, denn es kam darauf an, dass sie täglich, wenn der Offizier zur Abendrevision an unserer Tür vorbeikam, schon jetzt immer die gleiche Aufstellung einnahmen. Vorsichtshalber hatte ich auch die Zimmerlampe so gehängt, dass unsere Gesichter im Lichtschatten waren.
Plötzlich wurden wir alle recht militärisch gegen die Franzosen. Wenn die Tritte des revidierenden Offiziers im Treppenflur ertönten, hatten wir schon die Hand an der Mütze, während es bisher immer so gewesen war, dass wir erst in dem Augenblick, als der Offizier abzählte, grüßten. Na, von meiner Puppe konnte ich aber wirklich nicht verlangen, dass sie im richtigen Augenblick auch noch die Hand salutierend an die Mütze legte. Und damit es im entscheidenden Moment nicht auffiel, gewöhnten wir die Franzosen langsam aber sicher daran, dass wir schon grüßend dastanden.
So kam der Tag der Entscheidung heran, als etwas Unerwartetes eintrat. Menckhoff kam zu mir und sagte: „Ich brauche Geld!“ – Nichts weiter. „Bis wann spätestens?“ – „Bis sechs …“
Jetzt wusste ich, dass er an diesem Abend zu fliehen beabsichtigte. Ich sagte nicht, dass ich etwa eine Stunde später verschwinden wollte, drückte ihm das Geld in die Hand und beschloss, meinen Plan zu verschieben. Es war merkwürdig: an diesem Abend war ich felsenfest entschlossen gewesen, zu fliehen; aber ich kann doch nicht sagen, dass es mir sehr unangenehm war, als mir das Schicksal eine Handhabe bot, die Sache noch etwas hinauszuzögern. Es war schon verteufelt riskant, was ich vorhatte, und ich empfand mehr Erleichterung als Ärger. Auch war ich gespannt, wie die Sache mit Menckhoff auslaufen würde. Auf alle Fälle gab es eine Sensation und eine Unterbrechung des trostlosen Lagereinerleis.
Ich hatte alle Hände voll zu tun, alles, was ich zu meiner Flucht vorbereitet hatte, in den bewährten Verstecken unterzubringen. Mit großer Spannung sah ich dem Abend entgegen, und richtig, um 7 Uhr kam ein Freund von Menckhoff zu mir mit der Mitteilung, dass dieser aus dem Unterbringungsraum der Ordonnanzen über die Mauer geklettert und von dort scheinbar weitergekommen war.
Das Bewachungspersonal tobte. Die ganze Nacht hindurch waren große Streifkommandos unterwegs. Von Menckhoff wurde keine Spur gefunden. Zwei Tage später löste man den Kommandanten ab und mit dem neuen kam eine gewaltige Wachverschärfung. Die Posten außerhalb und innerhalb des Lagers wurden vermehrt und passten auf wie die Schießhunde. Wenn jetzt des Nachts irgendwo in einem Batiment ein Geräusch ertönte, legten sie einfach an und schossen durch die Tür in den Raum, in dem die Offiziere schliefen. Dreimal passierte dies in den letzten vierzehn Tagen.
Da saß ich nun herrlich in der Patsche. Die Geschichte mit der Puppe konnte jetzt kaum noch klappen. Die Franzosen waren fürchterlich aufmerksam geworden, und es erschien fast ausgeschlossen, beim Abendappell meinen mit so viel Liebe zurechtgemachten Stellvertreter zu verwenden. Menckhoff war die Flucht geglückt. Nach zehn Tagen erhielten wir eine Karte, der wir entnehmen konnten, dass er tatsächlich nach Deutschland entkommen war.
Ich gehe aufs Ganze
So gefährlich die Wachsamkeit der Posten auch war, mich ließ schon allein die erfolgreiche Flucht Menckhoffs nicht ruhen. Ich musste mein Vorhaben trotz aller Wachen durchführen. Meine gute brave Ordonnanz, den treuen Schönlau, hatte ich genau instruiert. Während er zum Brunnen ging, wollte ich auf dem Hof im Kreise herumlaufen, dann durch das Drahthindernis kriechen und ihm folgen.
Alles schien zu klappen, aber als ich neben ihm stand, musste ich eine große Enttäuschung erleben. Der gute Schönlau, ein so lieber und sonst so vernünftiger Mann, bekam in diesem Augenblick einen solchen Nervenschock, dass er, am ganzen Leibe zitternd, dastand, und immer nur sagte: „Ich kann nicht! Ich kann nicht!“
Im Kriege habe ich oft erlebt, dass die Nerven der besten Leute in solchen Situationen versagten. Ich sah ein, dass der gute Kerl mir nicht helfen konnte, und sagte ihm ganz ruhig, er sollte sich nicht aufregen, ich würde heute nicht entfliehen. Dann ergriff ich einen Wasserkrug, ging wieder zurück und mischte mich unter die promenierenden Mitgefangenen.
Es war eine äußerst riskante Situation für mich gewesen. Nur durch die Unbekümmertheit, die ich zur Schau trug, ist es mir gelungen, die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken. Für diesen Tag schien die Flucht unmöglich. Ich ging schleunigst in meine Stube hinauf, baute die Puppe ab, die Zimmerkameraden lächelten ein bisschen und dann kam der gute Schönlau kreidebleich und heulend. Viel Überredungskünste habe ich aufwenden müssen, ehe ich ihm klarmachen konnte, dass ich ihm nichts übelnahm. Ich hatte ihm ja ganz genau angesehen, was mit ihm los war.
Dieses Erlebnis zeigte mir, dass ich meinen Plan ändern musste. Niemand sollte mir helfen. Wenn ich wirklich raus wollte, durfte ich nur ganz auf mich selbst gestellt sein. Und so verwarf ich den Plan, vor dem Appell auszureißen und die Puppe meinen Stellvertreter spielen zu lassen, sondern wollte während des Appells ausrücken.
Da wir fast die ersten waren, die revidiert wurden, verstrichen bis zur Beendigung der Revision einige Minuten. Diese mussten genügen, um hinauszukommen. Ob das glücken würde, schien sehr fraglich, aber ich war nun zu allem entschlossen. Auch dass ich erwischt werden konnte, wurde bedacht. Mein Plan bekam noch ein kleines Anhängsel. Wenn es nicht klappte und man mich ins Gefängnis brachte, wollte ich einen Tunnel bauen und in der langen Zeit versuchen, unter der Erde herauszukommen, denn raus musste ich, kostete es, was es wollte.
So hatte ich in diesen Tagen durch die Abänderung meines Planes viel zu beobachten und vorzubereiten. Allerdings musste ich doch eine Ordonnanz ins Vertrauen ziehen. Das war der Trompeter, der allabendlich eine Viertelstunde nach dem Appell das Signal zum Zubettgehen blasen musste, auf das hin alle Lichter ausgelöscht wurden. Dieser Mann war der einzige, der dann noch außerhalb der Baracken war, und er lief bisher immer in der Gegend auf und ab, in der sich das Haus befand, in dem ich untergebracht war.
Jeden Abend musste der Trompeter nun an der Stelle auf und ab marschieren, wo ich abends hinauswollte. Da er ungefähr meine Figur hatte, konnte ich ihn ganz gut „vertreten“. Am Fluchtabend selbst sollte er nämlich den Weg wie gewöhnlich gehen. Dabei kam er an dem Wacheingang vorbei und konnte nachsehen, ob dort Posten standen. Dann hätte ich eben warten müssen. Das Zeichen, das er mir geben sollte, bestand darin, dass er entweder dichter oder weiter entfernt am Haus vorbeiging, und dort, wo er entlang gekommen war, wollte ich wieder zurückgehen, während er selbst der Mitte des Lagers zustrebte, damit die Blicke der Posten von mir weg auf ihn abgelenkt wurden.
An jedem Abend sah ich mir ganz genau an, wie die Posten aufzogen, wohin sie ihre Blicke wendeten, wie lange es dauerte, bis sie abgelöst wurden und dass sie merkwürdigerweise beim Zurückgehen zur Wache regelmäßig in den Hof hineinsahen. Ich habe damals scharf beobachtet, und nicht ein einziger dieser Posten schaute einmal nach der anderen Seite, nämlich nach jener Ecke, wo ich ausreißen wollte.
Und dann kam wieder einmal der entscheidende Tag. Es war Vollmond. In dieser Nacht wurde es überhaupt nicht dunkel. Was ich vorhatte, war, wenn man es sich richtig überlegte, heller Wahnsinn, aber ich konnte nicht anders. Ich musste raus!
Die Stunden des Nachmittags flogen dahin. Ich traf alle Vorbereitungen und dachte immer wieder meinen Plan bis ins letzte durch, denn wenn ein Glied dieser langen Kette von Handlungen, die ineinandergreifen sollten, versagte, war ich geliefert.
Jetzt war es soweit. Der Trompeter bekam noch einen letzten Wink. Mit den beiden Stubenkameraden von nebenan, die eingeweiht waren, hatte ich zwei Schlafdecken zusammengeknüpft, die sie bereit hielten. Der gute Falke stellte sich in Position … er musste sich an dem auf der anderen Seite liegenden Fenster zeigen und so die Aufmerksamkeit der Posten auf sich ziehen, während mir Oberleutnant Graf später ein Zeichen geben wollte, damit ich wusste, ob unser Eingangstor frei von Wachmannschaften war.
Von fern her schollen die Tritte der abendlichen Ronde. Oberleutnant „Maxe“, wie wir ihn getauft hatten, stapfte mit seinen drei Posten zunächst in das Batiment C, und wenige Augenblicke später polterten sie die Treppe schon wieder herunter, um zu uns heraufzusteigen. Da gab Oberleutnant Graf das verabredete Zeichen. Ich verstand ihn nicht recht. Zuckte mit den Achseln. „Frei!“ rief Graf, und nun wusste ich, dass mich nur noch Sekunden von dem eigentlichen Antritt meiner Flucht trennten. Das Schloss der Außentür knirschte, „Maxe“ kam und warf einen flüchtigen Blick auf uns, die wir zu vieren aufgebaut salutierten.
Die hinteren Taschen meines Waffenrockes standen weit ab. Auch war ich viel dicker als gewöhnlich, da ich meine ganze Ausrüstung wieder einmal am Leibe untergebracht hatte, aber ich machte mein harmlosestes Gesicht, und „Maxe“ merkte nichts. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da sprang ich in mein Zimmer, vertauschte meine Pioniermütze mit der einer Ordonnanz und verschwand, während „Maxe“ mit seinen Leuten, nachdem er die anderen vier Stuben revidiert hatte, zu dem großen Raum, dem sogenannten Festsaal, emporstieg.
Was jetzt kam, spielte sich in wenigen Sekunden ab. Hauptmann Rieß, der meinen Plan kannte, sah mir kurz in die Augen. Ich verabschiedete mich nicht. Hauptmann Weese fragte, was eigentlich los sei, aber ich überließ es den anderen, ihm eine Antwort darauf zu geben. Im Nebenzimmer wartete Oberarzt Dr. Hauk, der, statt mir zu helfen, mich zurückzuhalten versuchte.
„Es ist purer Wahnsinn, was Sie tun!“
Da jeder Aufschub meinen Plan vereiteln musste, fuhr ich ihn an. „Helfen Sie mir! Ich habe alles überlegt …“
Da griffen sie zu. Dr. Hauk und mein Kriegsschulkamerad Möhring holten die zusammengebundenen Decken unter dem Bett hervor und ließen sie aus dem Fenster hinaushängen. Ich schwang mich auf die Brüstung, ging in den Stützhang, aber – als ich gerade beginnen wollte, mich hinunterzulassen – spürte ich am Oberschenkel einen Schmerz und hörte zugleich das Geräusch zerreißenden Stoffes, machte kehrt und setzte mich aufs Fensterbrett. Beide Hosenbeine zerrissen, und als ich genauer hinsah, erblickte ich auch einen langen, blutigen Riss im Oberschenkel.
Schöne Schweinerei! Ein rostiger Nagel, der herausstand, war schuld. Na, das schien ja gut anzufangen! Fest den Knoten der Decke packend ließ ich mich, diesmal aber etwas vorsichtiger, zunächst in den Langhang gehend, in die Tiefe.
„Nachlassen!“ flüsterte ich.
Die beiden im Zimmer drin arbeiteten tadellos. Langsam ging es hinunter zur Erde. Dann aber stockte das Hinabgleiten. Die zusammengebundenen Decken waren nicht lang genug. Noch schwebte ich ein ganzes Stück über dem Erdboden, drückte mich von der Hauswand weg und sprang. Die Decke wurde wieder hochgezogen und verschwand durch die Fensteröffnung.
*
So, nun bin ich ganz allein auf mich angewiesen. Der Hof ist frei. Noch decken mich Büsche. Ich schleiche ein paar Schritte vor und spähe vorsichtig um die Ecke. „Maxe“ tritt mit dem Laternenmann und dem bärtigen Dolmetscher gerade ins Freie. Zehn Schritte liegen zwischen uns, als sie in angeregter Unterhaltung an mir vorübergehen, um das Batiment M zu erreichen. Keiner blickt sich um. Nun fehlt nur noch der Posten, der das Tor des Stabsgebäudes, durch das sie eben herausgekommen waren, wieder schließen muss. Ich höre das Schlüsselbund klirren und seine Schritte knirschen, als er, ihnen folgend, hinter den anderen drein geht.
Noch ehe sie das Batiment M erreicht haben, richte ich mich auf und gehe, als wäre dies mein gutes Recht, auf meine Ecke zu. Wie verabredet kommt in diesem Augenblick auch der Hornist den Weg entlang, aber … verflucht! – jetzt weiß ich nicht mehr, was wir eigentlich vereinbart hatten. Steht nun am Lagereingang ein Posten?
Ich muss fragen. Er schüttelt den Kopf. Gottlob, der Weg ist frei. Rasch sage ich ihm Lebewohl und gehe weiter.
Das war der frechste und gewagteste Augenblick in dieser Kette aufregender Situationen. In diesem Augenblick können uns sämtliche Posten sehen, aber die Gesellschaft denkt nicht daran, dass ein „Boche“ auf die Idee kommen könnte, zu flüchten, während der Appell stattfindet.
Bis jetzt haben sich alle meine Berechnungen erfüllt. Ich habe ein unverschämtes Glück. Ein Blick zurück zu meinem Zimmer. Dort sind die Silhouetten der Köpfe meiner Kameraden wahrnehmbar, die darauf warten, dass Alarm geschlagen wird. Nun, sie sollen sich täuschen. Mit langsam abgemessenen Schritten gehe ich weiter. Drüben stehen die Posten. Sie sehen mich wohl, doch halten sie mich für den Trompeter, der sich in diesem Augenblick in Wirklichkeit aber hinter der Speisebaracke aufhält. Dort kann der wackere Stulz zwar auch von Posten beobachtet werden, die aber mich wieder nicht sehen können.
In den nächsten Minuten bekommt mein Selbstvertrauen einen argen Stoß. In der Ecke am Brunnen muss ich die betrübliche Feststellung machen, dass ich den hohen Mauerhaken, an dem ich mich hinaufziehen wollte, nicht erreichen kann. Was nun? War ich schon wieder einmal reingefallen? – – Ich zermartere mein Hirn nach einem Ausweg und beschließe, mich in der Remise nebenan einstweilen zu verbergen.
Glücklich erreiche ich sie, und als ich mich in dem überdachten Vorraum umsehe, entdecke ich in einer Ecke einen Besen mit einem langen, dünnen Stiel. Er mochte dazu dienen, aus sehr hohen Räumen die Spinnweben zu entfernen. Für mich soll er zu einer seltsamen Jakobsleiter in den Himmel der Freiheit werden.
Alles, was ich jetzt tue, geschieht mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich mich selbst wundere. Ich nehme den Besen, senke ihn, da noch ein Draht zu passieren ist, der zur Wache führt, und ich nicht die Absicht habe, die Franzosen selbst zu alarmieren und auf mich zu hetzen. Der Draht ist kaum zu sehen, aber ich komme drunter durch, ohne ihn zu streifen.
Nun kann die Bergtour beginnen, denke ich, denn schon bin ich wieder in der Brunnenecke zwischen dem Wachgebäude und der Kommandantenwohnung, in die das bleiche, aber doch recht intensive Mondlicht hineinfällt. Beim Kommandanten ist man beim Abendessen. Ganz deutlich kann ich das Klappern der Teller und Bestecke vernehmen, ja, sogar seine Unterhaltung mit seiner Frau und seinem Jungen kann ich hören.
So, wie ich es mir gedacht hatte, klappte die Sache nicht. Ich muss meinen Besenstiel zweimal ansetzen, ehe der Aufstieg beginnt. Auch der kleinste Vorsprung, die winzigste Mauerritze wird mir zum willkommenen Helfer. Aber schwer ist es doch und anstrengend.
Meter um Meter kämpfte ich mich so in die Höhe. Jetzt muss ich etwa vier Meter hoch sein, denn der weiße Kalkstreifen, der sich in dieser Höhe um alle Mauern des Lagers zieht, ist erreicht. Auch ihn hat Franzosentücke ersonnen, um uns Gefangenen die Flucht zu erschweren. Deutlich hebt sich meine schwarze Hose von der weißen Farbe ab. Kommt jetzt unten jemand vorbei, bin ich entdeckt. Aber das Glück scheint mir hold zu sein. Ich komme glücklich über den Schutzanstrich, und als ich gerade darüber bin, passiert der erste Posten unter mir.
Schwer pocht das Herz gegen die Rippen. Es hat mich eine ungeheure Kraftanstrengung gekostet, mich in diese Höhe hinaufzuarbeiten. Noch ist das Schwerste aber nicht geschafft. Anderthalb Meter sind es noch bis zur Dachrinne, und schon halte ich das haarige Ende meines hilfreichen Besens in der Hand. Weiter langt er nicht.
Da höre ich wieder Schritte auf dem Kies. Der zweite Posten marschiert vorüber. Ich wage es nicht, mich umzuschauen … ich lausche nur gespannt. Verstummen die Tritte, dann bleibt der Posten stehen und muss mich entdecken. Die Pulse jagen. Fürchterliche Gedanken wirbeln durch mein Hirn. Wird er schießen, wenn er mich sieht? Werde ich in der nächsten Minute schon tot sein oder nur schwer verwundet …
Mein Herz schlägt so laut, dass ich fürchte, es könnte das Knirschen der Postenschritte übertönen. Aber gottlob, wie der Takt einer schnarrenden Bauernuhr verlieren sie sich in der Ferne. Vorsichtig blicke ich mich um und schiele über meine Schulter hinweg. Den Kopf nach dem Innern des Hofes gerichtet und den braven Hornisten beobachtend, der geschickt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versteht, entschwindet der Poilu.
Jetzt musst du beten, fährt es mir durch den Sinn, Gott danken … aber noch bin ich ja nicht endgültig gerettet und verschiebe es, bis ich jenseits der Mauer bin. Mühsam geht es weiter empor. Meinen Besen nehme ich mit. Er soll mir helfen, auf der anderen Seite wieder hinunter zu kommen. Und dann – bliebe er stehen, so könnte er den Verdacht der Posten erregen.
Nun bin ich etwa in Höhe des ersten Stockwerkes, nur zwei Meter von jenem Fenster entfernt, hinter dem der Lagerkommandant zu Abend isst … jetzt kann ich mit der Hand die Dachrinne erreichen. Unheimlich kracht das vermaledeite Wellblech. Es klingt geradezu unheimlich in der Stille dieser Nacht. Aber das ärgste ist überstanden. Noch ein Klimmzug – ich schwinge mich hinauf und stehe schwer atmend auf dem Dache. Einen Augenblick gönne ich mir Ruhe. Nicht lange, aber die wenigen Sekunden scheinen mir wie Ewigkeiten.
Noch muss ich aber an der Dachrinne entlang weiter nach rückwärts. Efeu spinnt dort seine immergrünen Ranken. Ich stehe neben einem backsteinernen Kamin, da höre ich Stimmen. „Maxe“ kommt – mit seinen Begleitern. Sie plaudern harmlos. Wild schlägt mein Herz. Ganz still stehe ich. Nur keine Bewegung. Rot wirkt in dieser Beleuchtung wie Schwarz. Ich hebe mich vom dunklen Grunde der Ziegel nicht ab, wenn ich mich nicht bewege. Meine Hände halte ich vor das helle Gesicht. Sie, die vor ein paar Minuten auch noch weiß waren, sind tiefschwarz von dem Dreck der Dachrinne.
Befreit atme ich auf, als der Offizier vom Dienst mit seinen Leuten vorbei ist, lege ich mich in den Efeu und warte. Da leuchtet mir ein funkelndes Augenpaar entgegen. Ein Kater ist’s, der an mir vorbei zum Dachfirst emporklettert. Einen Augenblick bleibt er neben mir stehen, starrt mich verwundert an, und setzt dann friedlich seinen Weg fort.
Unten im Lagerhof machen die Wachen ihre Runden. Vorläufig bin ich jetzt in Sicherheit. Ich sehe toll aus. Die Hosen sind zerrissen, vollkommen verschmutzt und mit Blut befleckt, das noch immer aus der langen Schramme sickert. Schmerz spüre ich nicht, aber ich bin völlig in Schweiß gebadet, und mein Herz will sich nicht beruhigen. Der Abend ist herrlich warm. Ich öffne meinen Rock und lasse den leisen Nachtwind über meine patschnasse Brust streichen …
Im Grunde ist meine Situation recht günstig. Auf der anderen Seite geht es weit leichter hinunter als drüben in die Höhe. Es ist geradezu ein Kinderspiel. Aber was werde ich dort finden? Vielleicht fährt mir ein Hund zwischen die Beine, der mich verrät. Eben wird im Lager unten der große Polizeihund von der Außenrunde in den Stall gebracht, auf dessen Dach ich stehe. Das dumme Luder hat nichts gemerkt. Erst nach dem zweiten Blasen, wenn der Hornist auch eingeschlossen worden ist, wird er freigelassen.
Vor mir liegen zwei Höfe. Links ein kleiner schmaler. Im Hause, das ihn zur Straße hin abgrenzt, sehe ich Licht. Darum entschließe ich mich lieber für den anderen. Dort rührt sich nichts. Verschlossene Fenster … ein unheimliches Schweigen. Ich hole eine Wickelgamasche heraus, binde meinen Besen daran und lasse ihn in den Hof hinunter. Natürlich, da poltert’s auch schon. Ich lausche, aber es war doch nur der Besen gewesen, der unten aufgeschlagen war.
Nun beginnt der Abstieg. Die Mauer wird von Efeu bewuchert, das sich an einem Gitter emporrankt. Ich klammerte mich an dem Draht dieses Gitters fest, er zerschneidet mir schmerzhaft die Handflächen. Es hilft nichts, das muss ich eben aushalten. Wenn auch mit ein paar Kratzern und Beulen, ich komme heil unten an. Ein paar Minuten stehe ich lautlos und erwarte, dass man mich entdeckt. Denn wer konnte wissen, ob hier oder im Nebenhof nicht noch Außenposten aufgestellt worden waren.
Nichts geschah. Ich war also wirklich aus dem verhassten Lager heraus und sprach ein leises Dankgebet vor mich hin, so glücklich machte mich die junge Freiheit. Jetzt konnte die Naherkundung beginnen. Ich tastete mich über den Hof an das Vorderhaus heran, entdeckte einen Durchgang, der nach dem Marktplatz von Montoire führen musste und wagte mich hinein. Nach ein paar Metern stand ich jedoch vor einem verschlossenen Eisentor.
Auf dem Marktplatz herrschte reges Leben, es brannten Lichter und der Singsang vieler Stimmen klang in den dunklen Gang hinein. Vorsichtig zog ich mich wieder in den Hof zurück und suchte alles nach einem anderen Ausgang ab. Aber es fand sich nichts. Überall hohe Mauern; rechts und links standen größere Gebäude, so dass ich mich entschloss, zunächst einmal den auf meinem Hofe befindlichen Holzschuppen einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Die Türen standen offen. Ich tappte in eine Gerümpelkammer, in der Kisten und Fässer unordentlich durcheinanderstanden.
Zwischendurch horchte ich immer wieder einmal nach draußen. Aber nichts bewegte sich; das ganze Grundstück schien ausgestorben zu sein – ein verwunschenes Märchenschloss. Nur vom Marktplatz herüber drang Geschrei, Lärm und Musik. Lange schon war im Lager neben mir das Signal „Licht aus!“ verklungen. Ich überlegte, ob ich über die Dächer hinweg in einen der anderen Höfe steigen und dort einen Ausweg suchen sollte. Hier jedenfalls war ich ganz dicht neben dem verhassten Gefangenenlager wieder einmal gefangen.
Da sich auch im Vorderhaus nichts rührte – die Bewohner schienen verreist –, schlich ich mich nochmals zu dem großen Tor, machte eine Luke auf und konnte auf den Marktplatz hinaussehen. Dort herrschte wogendes Leben.
Ich schloss den stark vergitterten Eisenladen wieder, wagte ein Zündholz aufflammen zu lassen, um das Schloss des Tores einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Ein eiserner Hebel war herumzudrehen, dann gingen oben und unten die beiden Riegel zurück. Das Schloss jedoch war zweimal herumgeschlossen. Wenn es mir gelang, den Hebel, der allerdings auch noch festgeschlossen war, herunterzudrücken, so konnte ich vielleicht mit etwas Gewalt die beiden Torflügel zugleich aufreißen und damit auch das Schloss öffnen.
Mit aller Kraft hängte ich mich an den Hebel. Er gab nach und verbog sich, noch ein heftiger Ruck – die beiden Türflügel bewegten sich frei. Noch aber klemmte das Schloss dazwischen. Ich verursachte ziemlichen Lärm, aber dann war auch das letzte Hindernis überwunden. Jetzt hatte ich die Möglichkeit, auf den Marktplatz hinauszutreten, wenn ich das Tor ganz aufriss. Das tat ich aber nicht, sondern schlich in den Hof zurück und bereitete mich für dieses Wagnis vor.
Meine Aquarelle aus dem Offiziers-Gefangenenlager Montoire – Hier riß ich aus!
Hier wollt ich’s; über den Fluss.Aus diesem Fenster an der Ecke begann die Flucht.Hier endlich gelang es.Hier: über die Mauer.
Marsch in die Nacht
Mein Uniformrock wurde ausgezogen, ich legte die Mütze ab, flickte das Loch in der Hose mit fünf oder sechs Sicherheitsnadeln, damit man im Mondenschein nicht das klaffende Fleisch darunter hervorschimmern sah und stülpte meine Schiebermütze aufs Ohr.
Als auch der Schlips richtig saß, war ich eigentlich fertig und überlegte, wie ich nun am besten auf den Markt hinauskam. Die Uhr hatte schon mehrmals geschlagen, es musste also nach zehn sein. Vor zwei Stunden war ich aus dem Lager entkommen, und noch immer hatte man meine Flucht nicht bemerkt.
Rasch trank ich einen Schluck Mokka, schob ein Stück Schokolade in den Mund, denn ich wollte stark sein, um es mit etwaigen Verfolgern aufnehmen zu können. Meinen Besen verstaute ich oben im Holzschuppen, packte meine Mütze und den Rock in eine große Kiste, die ich später auf den Buckel nehmen wollte.
Vorsorglich schlich ich noch einmal an das große Tor und probierte. Es würde schon gehen. Von fern hörte ich gerade das Heranpoltern von Rädern, das typische Geräusch jener zweiräderigen französischen Bauernwagen. Wenn diese wirklich an meinem Tor vorüberkamen, konnte das Rattern der Wagen das gewaltsame Aufreißen übertönen. Gleichzeitig nahmen sie den Gegenübersitzenden auch die Sicht auf das Tor.
Schnell sprang ich in den Hof zurück, warf die Kiste auf die linke Achsel und stand wieder hinter dem Tor. Die Wagen ratterten heran und polterten so tüchtig, dass ich meine helle Freude daran hatte. Im gleichen Augenblick, als der erste Wagen in meiner Höhe war, riss ich die beiden Torflügel mit einem kräftigen Ruck zurück, war draußen und zog sie schnell hinter mir wieder zu.
Die Attacke war geglückt. Nun durfte ich nur nicht stehenbleiben. Ruhig wie ein abgearbeiteter, müder Arbeiter stapfte ich im hellen Mondenschein zunächst noch neben den Wagen einher. Es sah aus, als drückte mich die schwere Last auf meinem Rücken fast zu Boden. Nachdem der Marktplatz überwunden war, schlug ich zunächst den Weg nach Lavardin ein, da ich nicht wusste, wo ich mich am besten hinwenden sollte.
Absichtlich ging ich den lustwandelnden Bürgern von Montoire nicht aus dem Wege. Sie mussten mir ausweichen, wenn sie mit meiner harten Kiste nicht Bekanntschaft machen wollten. Eine solche Frechheit trauten sie einem Deutschen, der sich bestimmt in die Häuserschatten gedrückt hätte, ganz gewiss nicht zu.
Es war ein langer, beschwerlicher Weg; ich durfte aber auf keinen Fall stehenbleiben, denn wie leicht konnte einer auf den Gedanken kommen, mir „Guten Abend“ zu wünschen oder mich etwas zu fragen.
Da schlenderte auch schon so ein Paar heran. „… Soir!“ Das „bon“ hatte er verschluckt, während der andere „Monsieur“ hinzufügte. Ich tat, als sei ich übel gelaunt, brummte etwas vor mich hin, was sich vielleicht auch wie „Monsieur“ anhören konnte, und spuckte zweimal aus. Das genügte. Vielleicht wäre es auch gar nicht notwendig gewesen …
Ich war heraus aus Montoire. In mir jubelte es. Den Blick zurückwendend, sah ich die Scheinwerfer des Lagers leuchten. Alles war so wunderbar ruhig, und darüber gebreitet bleich das zarte, friedliche Mondlicht wie ein mattsilbernes Tuch. Tiefer Frieden lag über dem Land, und man spürte nicht, wieviel Heimweh, wieviel Verzweiflung, wieviel Schmerz deutscher Soldaten nur wenige Kilometer weiter zurück schlummerten. Ich musste, während ich die ersten Schritte in die so heiß ersehnte Freiheit tat, an jene zurückdenken, die weiterlitten, der gehässigen Willkür eines wenig edlen Siegers ausgesetzt blieben, und die gleich mir sich brennend nach der Heimat sehnten.
*
Einstweilen hatte ich also gesiegt. Die Frechheit und Unbekümmertheit, gepaart mit der höchsten Konzentration und dem Einsatz des ganzen Menschen, hatten mich schließlich doch zum Erfolg geführt. Aber dieser Erfolg barg für mich auch die Verpflichtung, nun umso vorsichtiger zu sein. Ich musste ins Ungewisse wandern. Was jetzt kam, war sicher ebenso schwierig, vielleicht noch schwerer zu meistern, und gewaltsam riss ich mich zusammen, nicht in Träume zu versinken, mir nicht vorzustellen, wie es sein würde, wenn ich wirklich drüben war, sondern mein ganzer Wille, mein ganzes Denken durften nur auf das eine Ziel gerichtet sein: durchzukommen.
Ich musste mich ganz auf den Augenblick einstellen, durfte nicht daran denken, was hinter mir lag und was die nächsten Minuten, Stunden oder Tage bringen würden. Vielleicht glückte die Flucht. – Scheiterte sie aber doch, dann war das Ganze für mich eben eine aufregende Unterbrechung in der Eintönigkeit des Gefangenendaseins gewesen, eine kleine Sommerreise, die gut ausgehen, ebenso leicht aber böse enden konnte.
Die Kiste auf dem Buckel, tat ich Schritt für Schritt und dachte darüber nach, wie ich mich am besten sowohl von der Kiste als auch von ihrem Inhalt trennen konnte. Warf ich meine Last einfach in ein Dickicht oder in einen Graben, so konnte sie gefunden werden und die Zusammenhänge meiner Flucht verraten. Dann hatten die Verfolger eine Spur, und es würde ihnen sicher nicht schwer fallen, mich aufzufinden.
Als ich an eine Brücke kam, fand ich den erlösenden Gedanken. Ich setzte die Kiste mitten im Wasser ab. Sie schwamm ebenso wie meine Soldatenmütze, von der Strömung getrieben, davon und verschwand nach einer kleinen Weile in der Ferne. Nun schritt ich durch Lavardin hindurch. Ich kannte die Ortschaft von den Spaziergängen her, die wir im vergangenen Jahr gemacht hatten. Hunde bellten, da und dort sah ich noch jemand vorübergehen, aber niemand kümmerte sich um mich.
Eigentlich war es ja etwas riskant, so frech durch den Ort zu laufen, denn wenn in der Zwischenzeit mein Verschwinden entdeckt worden war, hatten auch hier die Telefone Alarm gerasselt, und die Bevölkerung passte sicher scharf auf, denn die auf den Kopf eines entwichenen „Boche“ gesetzte Belohnung war bestimmt nicht zu verachten.
Ich war durch den Ort glücklich hindurch und auf einen Feldweg geraten, einen Hohlweg, der durch Weinberge führte. Neben ihm her schimmerten an den Obstbäumen im Mondlicht hellrosa reife Äpfel, und auch im Grase lagen welche, die ich auflas und mir gut schmecken ließ. Ich stapfte die Höhe ein Stück hinan, und als ich oben stand, war ich durch die geglückte Flucht aus dem Lager innerlich so erregt und aus dem Gleichgewicht gebracht, dass ich nicht mehr klar und ruhig denken konnte.
Der Mond stand hoch am Himmel, und nun wusste ich plötzlich nicht mehr, in welcher Richtung ich weitergehen musste. Infolge der Aufregung hatte ich mich also glücklich „verfranzt“, und da tat ich das, was man in solchen Fällen immer tun soll, wenn man sich nicht gerade in einem Flugzeug befindet: ich setzte mich hin und ruhte mich so lange aus, bis die verwirrten Gedanken wieder in Ordnung kamen.
Von der ungewohnten Anstrengung und dem nicht ganz leichten Marsch war ich patschnass geworden. Ich trug ja meine Weste, einen Waffenrock, noch eine Jacke, zwei Hosen und zwei Paar Socken. Jetzt musste ich mich für den Marsch erleichtern. Ich zog mich um und packte ein Bündel, dann streifte ich die Schuhe und die Socken von den Füßen, um an meine Barschaft zu gelangen. Die hatte ich mit Heftpflaster befestigt unter der Fußsohle getragen, denn das Geld war ungeheuer wichtig für mich. Sehr sorgfältig verstaute ich es in meinem Lüsterjackett. Durch den Marsch war es zwar recht feucht geworden, aber das war immer noch besser, als hätte ich gar kein Geld gehabt.
Lange überlegte ich, welche Richtung ich jetzt einschlagen musste. Immer wieder legte ich mir zurecht, wo am Abend der Mond heraufgekommen war, wie er weiter wanderte, und wo er später wieder verschwinden musste. Nun klopfte das Herz nicht mehr, die Nerven beruhigten sich und damit stellte sich auch die Erinnerung wieder ein. Kein Zweifel, – im Südwesten war er heraufgekommen, und wo er jetzt stand, das war Süden. Ich suchte mir in der Ferne Richtungspunkte und marschierte querfeldein nach Osten.
Menschenleer dehnte sich das Land, und darüber eine Mondnacht, so hell und klar, so schön, wie ich sie eigentlich noch nie erlebt hatte. Jetzt verlor ich die Richtung nicht mehr. Mir erschien alles so eigenartig, so fremd, so ungewohnt. Nach sechs Stunden Marsch wurde ich müde, denn ich war ja das lange Marschieren nicht mehr gewöhnt. Gegen 4 Uhr morgens überquerte ich eine Chaussee, die sich wie ein breites Band nach Nordosten zog und sicher nach Vendôme führte, einem Städtchen, in das die schwerkranken Gefangenen gebracht wurden und auch diejenigen, die längere Freiheitsstrafen im dortigen Gefängnis abzusitzen hatten. Wir kannten den Namen gut, aber er hatte für uns keinen erfreulichen Klang. Mir graute es davor, durch diesen Ort hindurchzugehen.
Da jetzt im Osten das neue Tageslicht heraufkam, beschloss ich, die erste Rast zu machen. Nahe am Wegrand standen dichte Brombeersträucher und dahinter lagen hohe Felder. So legte ich mich ins taufrische Gras und versuchte zu schlafen. Aber der dicke Mokka, den ich in einer kleinen Flasche mitführte, hatte mich so mobil gemacht, dass ich mich nur zu einem leichten Halbschlummer zwingen konnte, während in meinem Hirn die Gedanken und Pläne wild durcheinanderjagten.
Eigentlich war es ja meine Absicht gewesen, immer nach Nordosten zu marschieren, um dann durch das mir wohlbekannte Gebiet Nordfrankreichs über Belgien die holländische Grenze zu erreichen. Wenn mir das gelang, war ich frei. Außerdem besaß ich eine Karte von jener Gegend, wo früher die Front gewesen war. Es war verlockend, diese Richtung einzuschlagen, aber ich sagte mir, die Franzosen wussten, dass ich diese Karte besaß, und dann lag für meine Verfolger der Schluss sehr nahe, dass ich tatsächlich in dieser Richtung entflohen war. Also würde man dort ganz besonders aufpassen.
Mit jener Karte hatte es nämlich eine besondere Bewandtnis. Als die Franzosen im Frühjahr glaubten, dass sich in uns wieder die Freiheitsgelüste regten, hatten sie die Gewohnheit angenommen, alle Verdächtigen überraschend zu durchsuchen. Auch zu mir war der Oberleutnant mit seinen zwei Sergeanten gekommen und hatte mir gesagt: „Kapitän Köhl, ich muss bei Ihnen ‚fouille‘ machen.“ Das war der Ausdruck für eine hochnotpeinliche Untersuchung.
Als der Oberleutnant bei mir erschien, waren meine Fluchtpläne natürlich lange fertig, aber ich hatte alles so säuberlich versteckt, dass die Franzosen nichts finden konnten. Ich durfte also guten Mutes sein; aber peinlich blieb die Untersuchung doch. Der Oberleutnant wusste, dass ich den Pour le Mérite besaß und wollte sich anscheinend ritterlich zeigen, denn er erklärte mir in wohlwollendem Tone: „Kapitän Köhl, Sie sind zu tapfer. Ich werde Sie nicht ausziehen lassen, aber bitte geben Sie mir Ihr Geld und Ihre Karten.“
Ich sah ihn treuherzig an, zog meine Börse aus der Tasche, in der ich die Lagerbons aufbewahrte, reichte sie ihm und sagte sehr freundlich, ich bedauerte sehr, aber das wäre alles, was ich besäße. Darauf konnte ich ihm sogar mein Ehrenwort geben.
Er öffnete den Geldbeutel, sah ihn eingehend an, fand aber nur die Lagerbons. Bei dieser kurzen Untersuchung, die gar nicht sehr oberflächlich war, hatte ich mich zwingen müssen, ruhig zu bleiben. Auch nicht mit der Wimper zucken durfte ich, denn der Oberleutnant hatte in diesem Augenblick tatsächlich mein ganzes Geld in der Hand. In das Zwischenfutter des Geldbeutels waren nämlich die echten französischen Scheine eingenäht, und da ich gewusst hatte, dass man den Geldbeutel untersuchen würde, hatte ich beim Nähen tausend Mühen walten lassen, damit ja die neuen Stiche so akkurat waren wie die alten. Die helleren Fäden hatte ich sogar mit Speck eingerieben, um ihnen die richtige Farbe zu verleihen.
Für mich war es eine große Erleichterung gewesen, als er mein Portemonnaie zu den Sachen legte, die unangefochten blieben. Währenddessen hatten die beiden Sergeanten meine ganze Habe, mein Bett und den Strohsack durchsucht, aber – wenn sie auch überzeugt waren, dass ich verbotene Fluchthilfsmittel besaß – das schienen sie fast zu fühlen, gefunden haben sie doch nichts. Ich durfte kein Lächeln zeigen, denn sie beobachteten jede Regung unserer Gesichter. Nicht einmal an die Sachen denken durfte ich, denn wie leicht hätte dann ein verräterisches Zucken mich verraten.
Damit mir dies auf keinen Fall passierte, hatte ich mir ein ganz besonderes System zurechtgelegt. Bei einer solchen Untersuchung sprach ich innerlich stets die Worte: „Ach, sind das liebe Franzosen; wie anständig sind sie und wie nett behandeln sie mich.“ Das verlieh meinem Gesicht die nötige Unbefangenheit und Harmlosigkeit; es nahm im Verkehr mit ihnen die innere Spannung, die so verderblich war; es entwaffnete sie und minderte ihre Intensität beim Suchen.
Diese Beobachtung hatte mir oft schon geholfen, und sie kam mir damals glänzend zustatten. Unverrichteter Dinge verließ der Oberleutnant mit einem achtungsvollen Gruß mein Zimmer. Noch einmal ging die Tür auf, er schaute kurz herein, aber da er keinen stillen Triumph in meinen Augen sehen konnte, denn ich hatte mich in der Erwartung seines Zurückkommens angestrengt bemüht, so harmlos und freundlich wie nur möglich auszusehen, verschwand er endgültig. Erst, als ich ihn mit seinen Begleitern unten aus dem Haus herauskommen sah und mich vergewissert hatte, dass nicht noch irgendwo so ein Franzose verborgen war, konnte ich herzlich und erleichtert lachen. Sie hatten mein Geld in der Hand gehabt, sie waren ganz dicht an dem Versteck meiner Karten gewesen, aber zu finden hatten sie doch nichts vermocht.
An jenem Tage hatte mich der Lagerkommandant auf sein Dienstzimmer rufen lassen, und ich musste zum zweiten Mal meinen ganzen Willen darauf konzentrieren, dass ich mich nicht verriet, denn vor dem französischen Offizier lag die schöne Karte, die wir damals aus dem Auto des Gefangenen-Inspekteurs geklaut hatten. Aber sie war nicht mehr heil. Es fehlte jenes Stück, auf dem unser Lager eingezeichnet war, und der Weg, der zur ehemaligen Front führte. Der Offizier zeigte ein verbindliches Lächeln.
„Sie sehen, Kapitän Köhl, ich habe hier eine wunderschöne Sammlung. Pausen, Originalkarten und dann … diese Karte hier, von der aber leider ein wichtiges Stück fehlt. Wie Sie wissen, bin ich Spezialist auf diesem Gebiet, ich finde alles, und dieses Stück …“, er sah mir starr in die Augen. „Ich weiß, Sie besitzen es. Wenn Sie mir den fehlenden Ausschnitt aushändigen, so gebe ich Ihnen mein ‚Parole d’honneur‘ darauf, dass ich Sie nicht bestrafen werde.“
Ich war darauf vorbereitet, dass man den Versuch machen würde, mich zu überrumpeln, aber ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte ich ihm sehr gelassen: „Ich bedaure sehr, dass ich leider nicht in der Lage bin, die gewaltige Arbeit, die Sie hier geleistet haben, zu krönen. Das Stück, das Sie suchen, besitze ich nicht und kann Ihnen auch nicht sagen, wo Sie es finden können.“
Selbstverständlich war das gelogen. Aber für so dumm, dass ich ihnen die Wahrheit sagte, brauchten mich die Franzosen nicht zu halten. Und außerdem, sie legten ja auch gar keinen Wert auf meine Antwort, sondern der Offizier hatte nur mein Mienenspiel beobachten wollen. Es gelang mir, ihn gründlich hineinzulegen, denn in Wirklichkeit war ich natürlich derjenige, der dieses Kartenstück besaß. Restlos aber habe ich ihn durch diese kleine physiognomische Komödie nicht zu täuschen vermocht; es war mir eben nur gelungen, zu vermeiden, dass man mich des gefährlichen Besitzes überführte. Der Verdacht und die richtige Spur waren aber geblieben.
Jetzt dachte ich an diese Begebenheit, und es erschien mir recht zweifelhaft, ob ich wirklich durch das ehemals besetzte Gebiet hindurchkommen würde. Ja, auch sonst war das sehr schwierig. Dort standen besondere Kommandos, dort beschäftigte man deutsche Kriegsgefangene beim Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften, die selbstverständlich sehr streng bewacht wurden, und dann – auch die Bevölkerung, die vier Jahre hindurch so furchtbar unter dem großen Krieg gelitten hatte, würde sicherlich keinem Deutschen wohlgesinnt sein.
In diesen Stunden, da der junge Morgen frisch und strahlend heraufkam, stellte ich mich völlig um. Ich riss mich los von den Gedanken, die mich noch an das Lager fesselten, vergaß die Bequemlichkeiten, die man dort im Vergleich zu einer beschwerlichen Flucht doch genoss, und bezwang den Herdensinn, der in jedem Menschen wohnt. Denn wie das Tier, so kleben auch wir an der Masse und am heimischen Stall, und es war nicht ganz leicht, meine Gedanken in eine Richtung zu zwingen, die von Gefahren strotzte, die wieder Kampf sein würde: Kampf gegen die Natur, Kampf gegen alles, was mir die so schwer errungene Freiheit wieder zu rauben versuchte.
Sommerreise mit Hindernissen
Ich wollte nicht wieder zurück ins Lager oder ins Gefängnis. Um jeden Preis – ich musste durchkommen! Darum warf ich den alten Plan über Bord und stellte mich, wenn auch zunächst nur rein seelisch, auf eine neue Route ein. Die Furcht und die Angst, entdeckt zu werden, die brennende Wut auf die Franzosen, die mich so lange gefangen gehalten hatten, all das begrub ich. Wenn ich an all die ausgestandenen Qualen dachte, dann gab dies meinem Gesichtsausdruck etwas Furchtsames und Gehetztes, das mir jeder Mensch an den Augen ablesen konnte. Der Franzose ist misstrauisch und klug, deshalb wappnete ich mich gegen diese Gefahr.
Ich sagte mir: es ist leicht möglich, dass sie dich wieder fangen. Doch das sollte mir gleichgültig sein, wenn ich die Freiheit nur ein paar Tage auskosten konnte. Und dann redete ich mir ein, dass die Franzosen doch ganz nette Menschen seien, die man eigentlich schätzen müsste. Als ich diese ziemlich bittere Pille geschluckt hatte, war mein Auftreten so sicher und meine Haltung so harmlos, dass auch dem Gewitztesten nichts auffallen konnte.
Diese Reise sollte nun ja keine Flucht mehr sein, sondern eine Erholungsfahrt durch Frankreich, und wenn der Tag kam, wollte ich nicht mehr weiter nach Nordosten wandern, sondern meine Schritte nach Südwesten lenken, hinein in das schöne Land. An dem Kanal du Midi und der Loire wollte ich nach Osten abbiegen. Erstens war die Gegend schön, zweitens musste der Kanal zu finden sein und drittens besaß ich eine Atlaspause, auf der die größten Städte dieser Route, deren Endpunkt die Schweizer Grenze war, eingezeichnet waren.
Da schreckten mich Schritte auf. Leute gingen die Straße entlang, ich aber lag so gut gesichert in meinem Versteck, dass ich keine Angst zu haben brauchte. Das glühende Morgenrot wandelte sich zu einem herrlichen Sonnenaufgang. Es war unendlich schön: die Landschaft mit ihren sanft wogenden goldenen Ährenfeldern, dieser glasklare, junge Tag … ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte mich, und wenn meine Flucht schon jetzt zu Ende war, wenn man mich wieder in die Kerker zurückbrachte, dann war es dieser Sonnenaufgang wert gewesen, für ihn Wochen oder Monate in einer engen Zelle zu verbringen.
Als die Menschen auf den Feldern zu schaffen begannen, stand ich von meinem Lager auf. Ich war frei, mir gehörte diese ganze Herrlichkeit, die ich viel tiefer empfand als all die anderen, denen sie als etwas Selbstverständliches erschien. So trat ich wie ein froher Ferienwanderer meine spätsommerliche Reise an.
Meine übrigen Kleider hatte ich zu einem Paket verschnürt, das lustig über der Schulter wippte. Schon nach wenigen Minuten begegnete ich zwei Arbeitern, denen ich freundlich ins Gesicht sah. Sie sagten etwas zu mir, was ich nicht verstand. Ich bedauerte sie, dass sie zu ihrem schweren Tagwerk gingen, während ich hineinmarschierte in all die Herrlichkeit des spätsommerlichen Landes. Nicht lange, da erreichte ich ein kleines äußerst niedliches Städtchen, das so putzig aufgebaut war wie all diese mittelfranzösischen Orte. Kleine Knusperhäuschen mit alten Mütterchen vor der Tür.
Irgendwo hing ein Plakat. Viele Menschen standen davor und lasen. Als ich ganz nahe an ihnen vorbeilief und interessiert einen Blick darauf warf, las ich etwas von „Prisonnier“ und dachte mir mein Teil. Ich fiel den Leuten nicht auf, aber als die Stadt hinter mir lag, wurde ich vorsichtiger. Ich fand ein dichtes Gestrüpp und schlängelte mich hinein. Vielleicht war es doch besser, dass ich mich umzog. Sicher hatte mein Steckbrief dort an dem Hause gehangen, und es konnte nur von Vorteil sein, wenn ich mein Äußeres nach Möglichkeit veränderte.
Die nächste Ortschaft passierte ein ganz anderer Mann. Er trug kein Paket mehr über die Schulter geworfen, sondern hatte eine blaue Hose an und ein Khakihemd. Er war ziemlich dick, denn ich hatte alles, was ich sonst besaß, untergezogen. Wenn eine Quelle kam, setzte ich mich und trank fürchterlich viel Wasser. Die schöne Schokolade, die ich mir aus Kakao, Zucker und Mehl zurechtgemacht hatte, schmeckte mir nicht mehr. Viel hätte ich darum gegeben, jetzt ein ordentliches Stück Wurst oder etwas anderes Gesalzenes zu haben.
In den Weinbergen waren die Trauben schon fast reif. Ich passte scharf auf, wenn ich eine Traube abriss, denn ich durfte mich nicht wegen Weinfrevels an dem Kanthaken kriegen lassen. Auch von den Tomatenstöcken, die am Wege standen, nahm ich im Vorübergehen ein paar Früchte.
Jetzt näherte ich mich der ersten großen Stadt. Gerade hatte ich mal wieder mein Khakihemd und die blaue Hose an – das ewige Umziehen war mir allmählich zu einer lieben Gewohnheit geworden, die mir für meine Sicherheit recht wertvoll erschien – und sah aus, als wäre ich ein Angehöriger der englischen Arbeitstruppen. Es war Château-Renault, durch das ich ohne Schwierigkeiten hindurchkam.
Hinter der Stadt musste ich eine Anhöhe hinan. Der Aufstieg war sehr steil. Hinter mir lagen die Weinberge, nirgendwo gab es etwas zu essen, viel weniger noch etwas zu trinken. Die Sonne brannte fürchterlich, und weit schlimmer als der Hunger peinigte mich quälender Durst.
Als ich an ein Wäldchen kam, hoffte ich, dort eine Quelle zu finden. Ich war furchtbar müde, und da ich kein Wasser fand, beschloss ich, in dem niedrigen Gestrüpp des Waldes während der drückenden Mittagshitze an einem bequemen Plätzchen ein Sonnenbad zu nehmen. Das war das Dümmste, was ich tun konnte. Die Sonne dörrte meinen Körper vollends aus, der Durst quälte mich entsetzlich und machte mich so schlapp, dass ich mich kaum zum Weitermarsch wieder anziehen konnte.
Aber ich biss auf die Zähne und wanderte weiter. Immer über die fast kahlen Höhen hinweg. Die spillrigen Wälder waren rostbraun, nicht frisch und grün. Ein Zeichen dafür, dass die Gegend sehr wasserarm und kalkhaltig sein musste.
Auch an Ortschaften kam ich vorüber, aber die Zisternen lagen mitten in den umzäunten Gärten. Wie gern hätte ich um einen Schluck Wasser gebeten, aber dann musste man merken, dass ich eine fremde Sprache redete und würde misstrauisch werden. Es bedurfte eiserner Energie, um an diesen Versuchungen vorüberzugehen.
Nun wurde es noch trostloser. Ich fand überhaupt keine Ortschaft mehr. Hätte ich eine gefunden, wäre ich bestimmt in ein Gehöft gelaufen und hätte mir Wasser geben lassen. Der Durst war stärker als die Angst davor, den Franzosen wieder in die Hände zu fallen. Mühsam schleppte ich mich weiter. Die Sonne brannte selbst am Nachmittag noch fürchterlich und unbarmherzig. Nirgendwo war ein Haus zu sehen, nur unabsehbar weite ausgedörrte Felder.
Da kam der tierische Instinkt in mir hoch. So wie das Reh im Walde die Wasserstätten wittert, so witterte auch ich, bog ab vom Weg und folgte einer Muldenlinie. Dort musste einmal Wasser kommen. Im ersten Wäldchen war nichts von einem Quell, und so tastete ich mich weiter, immer talwärts, immer nahe daran, vor Durst zusammenzubrechen.
Jetzt war ich auch noch vom Wege abgekommen. Das war mir gleichgültig, nur Wasser, Wasser musste ich finden. In der Ferne tauchte das zweite Wäldchen auf. Es schien etwas grüner als die anderen. Ich lief hinein. Auch hier gab es keine Quelle. Als ich mich so mühsam weiterschleppte und mich zu jedem Schritt zwingen musste, fand ich mitten im Walde einen freien Platz, auf dem zwei Köhlermeiler standen, aus denen dicker Qualm senkrecht nach oben stieg.
Suchend blickte ich mich um und entdeckte zwischen den Bäumen ein Fässchen. Ich schüttelte es und spürte, dass etwas Flüssiges darin war. Wasser! Vorsichtig kippte ich es, und eine braune dreckige Flüssigkeit lief heraus. Aber mein Durst war so groß, dass ich von diesem ekelhaften Zeug trank.
Als ich das Fass noch an die Lippen hielt, sah ich aus dem Walde ein Augenpaar auf mich gerichtet. Dort stand ein Mann und beobachtete mich. Nun musste ich vorsichtig sein. Ich setzte das Fass ab und tat so, als spie ich das, was ich getrunken hatte, angeekelt wieder aus.
Dann ging es weiter. Mir war von dem dreckigen Wasser beinahe schlecht geworden, aber den Durst hatte es doch ein wenig gelöscht. Immer durch die Mulde ging mein Marsch; einmal musste ich ja eine Quelle finden. In dem dichten Gestrüpp, das immer grüner wurde, lag plötzlich eine saftige grasbestandene Fläche und mitten drin ein Tümpel mit hellem Wasser. Als ich herantrat, sprangen mindestens zwanzig Frösche hinein. Die störten mich nicht.
Ich trank einen Schluck, dann aber machte ich ganze Arbeit. Ich zog mich aus, legte mich mitten unter die Frösche, öffnete den Mund und ließ das Wasser einfach in mich hineinlaufen. Von Zeit zu Zeit tauchte ich auf, schnappte Luft und begann das Spiel von neuem. Unendlich viel habe ich getrunken, und als ich endlich genug hatte, nahm ich mein Rasierzeug heraus, machte mich fein und schick und frisch; mit meiner kleinen Handbürste entfernte ich den Staub von Schuhen und Hosen, und als ich nach einer kleinen Stunde erquickt aufatmend und mein Äußeres im Spiegel des kleinen Weihers betrachtete, durfte ich zufrieden sein.
Die Quelle entlang wanderte ich weiter, stieß auf die Straße, die ich heruntergekommen war und sich nun dem Bachlauf anschloss, der hinunter ins Tal führte. So marschierte ich etwa eine Stunde weiter. Von Zeit zu Zeit stieg ich zum Bach hinab und trank nach Herzenslust das klare Quellwasser. Dann aber näherte ich mich Häusern. Anderthalb Stunden lang schritt ich durch eine langgestreckte Ortschaft, die sich zu beiden Seiten der Chaussee hinzog.
Es war 7 Uhr geworden, als die Berge zurücktraten und ich in eine weite Ebene hinausblicken konnte. Noch eine halbe Stunde Weges, und ich stand vor einer großen Stadt. Jetzt war es lebendig geworden auf der Straße. In dieser Gegend kommen die Franzosen erst abends aus ihren Häusern heraus. Ich beschloss, mir noch vor der Stadt ein Nachtlager zu suchen. Unten am Fluss fand ich einen Heuhaufen, der mich die Nacht über beherbergen sollte. Außerdem sah ich auf den nahen Feldern Gurken und Kürbisse liegen. Da ich barbarischen Hunger hatte, wollte ich mich einmal sattessen.
Solange die Straße belebt war, konnte ich mich natürlich nicht seitwärts in die Felder schlagen, sondern setzte mich auf eine kleine Steinbrücke und wartete dort, bis die Nacht hereinbrach. Viele Menschen kamen an mir vorüber. Ich sagte „Monsieur“ oder „Madame“, denn ich hatte bemerkt, dass dies der Gruß war.
Die Sonne war untergegangen. Das schöne Abendrot wich der Dämmerung, so dass ich es wagen konnte, in mein Versteck zu schlüpfen. Es war ein wundervolles Lager, auf dem ich fest und traumlos schlief. Zuvor hatte ich mir noch einen Kürbis gestohlen und von der saftigen Frucht einige Scheiben gegessen. Gut geschmeckt hatte es nicht, aber die Hauptsache war ja, dass ich etwas in den Leib bekam.
Meine Schokolade konnte ich einfach nicht mehr hinunterwürgen. Aus ihr bereitete ich mir aber ein erfrischendes und nahrhaftes Getränk, indem ich immer ein paar Brocken in mein Kaffeefläschchen tat und dann mit Wasser auffüllte.
Als mich das Morgengrauen weckte, marschierte ich auf der Straße weiter und kam in die Nähe eines Bahnhofs, auf dem noch wenig Leben herrschte. In die Stadt getraute ich mich zu dieser frühen Stunde nicht. Darum machte ich kehrt, ging wieder in mein Versteck zurück und trat den Weitermarsch erst an, als es ganz hell geworden war.
Zur Stadt hinein führte eine breite Brücke über die Loire, auf der Gendarmen standen. Selbst wenn die meinen Steckbrief besaßen, konnten sie mich wahrlich nicht erkennen, denn ich hatte mir einen Verband um den Kopf gemacht und marschierte wie ein französischer Bürgersmann im schwarzen Rock und Khakihose durch das Städtchen. Niemand schöpfte Verdacht. So kam ich glücklich durch Amboise.
Auf den Wegweisern, deren Pfeilen ich nun folgte, stand Montrichard. Kaum war ich in dem nächsten schützenden Wald, trat ich ins Dickicht, nahm meinen Verband ab, zog das Khakihemd über und war aufs neue verwandelt. Ich musste meine Marschroute eben durch diese dauernden Maskeraden verschleiern, denn dass die Franzosen hinter mir her waren, war klar.
Sehr bald schon kam ich an einen schönen Bach, in dem ich ein erfrischendes Bad nahm. Die Gegend war prachtvoll. Es ging hinunter in das Tal des Cher. Da und dort verbesserte ich meine Kost durch Weintrauben, nahm aber nie mehr, als ich sofort vertilgen konnte, damit ja kein Weinbergswächter auf den Gedanken kommen konnte, mich zu fragen, woher ich die Trauben hätte.
*
Vor mir lag das weite Tal. Es war wieder Mittagszeit geworden, der frische Ostwind milderte die glühende Sonnenhitze, und auf den in der Ferne blauenden Höhen sah ich altertümliche Ruinen. Vor mir unten im Grund erhob sich ein so entzückendes kleines Weinstädtchen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Bald schritt ich durch seine altertümlichen Straßen, durch winklige Gässchen, die ausgestorben waren und auf denen sich kein Mensch zeigte.
Wie gern wäre ich in einen Bäckerladen oder in eine Metzgerei getreten, aber das konnte meine Ferienreise verteufelt schnell zu einem bösen Abschluss bringen. Auf einer Brücke überquerte ich den Cher und wanderte auf seiner Südseite weiter. Dort gab es nahe am Wegrand Tomaten. Während ich tat, als klopfte ich den Staub von meiner Hose, ließ ich schnell ein paar dieser Früchte in meiner Tasche verschwinden. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Aber hier in der Nähe des Flusses war das zu ertragen. Wenn es gar zu arg wurde, zog ich mich aus und legte mich ins Wasser.
Als ich das wieder einmal getan hatte und mich unter ein paar Bäume legte, sah ich aus der nahen Ortschaft einen behäbigen Franzosen auf mich zukommen. Er machte einen ganz jovialen Eindruck und schien mit mir reden zu wollen. Verdammt, das konnte eine blöde Geschichte werden! Natürlich war es mir sehr peinlich, dass dieser gute alte Knabe so freundlich auf mich zupirschte, und da mir nichts Besseres einfiel, ihn mir schleunigst vom Halse zu schaffen, führte ich mich so unanständig auf, dass er naserümpfend den Versuch aufgab, sich mit einem solchen Schweinekerl in ein Gespräch einzulassen.
Mir war es sehr recht, dass er sich auf diese Weise in die Flucht schlagen ließ. Und der gute Eindruck … na, ich ertrug lieber einen schlechten, als dass mich ein besserer womöglich wieder zum Gefangenen machte. Er war noch nicht weit weg, als ich schleunigst aufbrach. Wer weiß, womöglich überwand er doch sein Vorurteil gegen übelriechende Geräusche und kam zu einem Plausch zurück.
Weiter wanderte ich, bis die Nacht herniedersank. Wenn man eine Sommerreise macht, soll man nicht durch die Geografie spazieren, wenn anständige Leute schlafen. Durch nächtliches Marschieren konnte ich mich nur verdächtig machen. In einem Wäldchen am Flussufer bereitete ich mir aus Zweigen ein Lager, aber ich hielt es nicht lange aus.
Nach ein paar Stunden unruhigen Schlafes raffte ich meinen schlappen Körper auf und lief bis gegen 6 Uhr weiter. Da alle Anzeichen darauf deuteten, dass ich mich einer großen Stadt näherte, legte ich mich nochmals nieder und schlief zwei Stunden. Dann grub ich ein Loch in die Erde und versenkte hier meinen guten Waffenrock, der mein Paket gewesen war oder, wenn ich dicker erscheinen wollte, als Unterfutter gedient hatte. Ich konnte ihn kaum noch brauchen. Auch war ein Uniformstück in der Lage, mich zu verraten.
Die Stadt, in die ich nun hineinkam, war Saint-Aignan. Bald traf ich auf eine hohe Brücke, die sich über einen Kanal spannte. An diesem Kanal musste ich entlang. Zunächst überschritt ich jedoch die Brücke und ging in die Stadt hinein. Hinter den Scheiben vieler Kaufläden sah ich in den Auslagen lockende Lebensmittel, aber ich traute mich nicht, irgendwo hineinzugehen und etwas zu kaufen. Mein Französisch war zu schlecht. Allerdings überlegte ich mir, dass ich ja einen Engländer oder Amerikaner markieren konnte. Aber trotzdem …
Seit den Tomaten am Vortage hatte ich nichts zu mir genommen. Die „flüssige Schokolade“ sättigte kaum, und mein Hunger war so gewaltig geworden, dass ich mich immer mehr mit dem Gedanken befreundete, in einen Laden zu gehen um etwas zu erstehen. Auf jeden Fall musste ich Salz haben. An alles hatte ich gedacht, aber wie bitter notwendig der Mensch dieses billige Gewürz braucht, wurde mir erst klar, als ich es mitzunehmen vergessen hatte.
Ich kam an einen kleinen Laden vorbei, in dem eine alte Frau hinter dem Verkaufstisch stand. Im Schaufenster gab es Gläser mit grünen Essiggurken „Cornichons“ … wie die Etiketten verrieten. Mut gefasst und eingetreten. Die alte Frau fragte mich nach meinem Begehr. „Une boîte de cornichons“, verlangte ich. Da sie mich anscheinend nicht verstanden hatte, wiederholte ich den Satz. Aber die Frau verstand immer noch nicht, und um die Sache wieder ins richtige Geleise zu bringen, trat ich ans Schaufenster, zeigte auf die Gurkengläser und meinte: „C’est ça!“ Endlich kapierte sie, nickte und verlangte 70 Centimes. Da auf dem Ladentisch auch Ölsardinen lagen, deutete ich auf diese. Sie kosteten 40 Centimes.
Ich reichte ihr einen Zehnfrancsschein, bekam das Wechselgeld zurück und verließ mit meinen Schätzen den Laden … höllisch froh, dass ich mit den kümmerlichen Resten meines Pennälerfranzösisch so gut durchgekommen war. Jetzt aber wurde ich frech. Zu Gurken und Ölsardinen gehörte selbstverständlich auch Brot. Da ich mir zutraute, meine Forderung nach Brot einigermaßen richtig formulieren zu können, stiebelte ich flott in den nächsten Bäckerladen, in dem sich zwei Frauen unterhielten.
„Trois croisants“, verlangte ich, legte einen Franc hin, bekam drei kleine Weißbrote und haute damit wieder ab. Wie freute ich mich jetzt auf mein Frühstück, das eine richtige Schlemmermahlzeit werden sollte! Dann wanderte ich wieder zur Brücke zurück, die ich vorhin überschritten hatte. Auf dem Wege dorthin fand ich einen herrlichen Brunnen, aus dem in Kopfhöhe ein frischer Wasserstrahl herausschoss. Das war so gut, und ich trank so lange, dass ich fürchtete, es könnte auffallen, wenn die Leute mich wie ein Pferd saufen sahen. Denn so wie ich konnte ein normaler Mensch gar nicht trinken. Gewaltsam riss ich mich los, ging weiter und bog hinter der Brücke in einen Weg ein, der am Kanal entlangführte.
Der Posten von Saint-Aignan
Kaum war ich fünfzig Schritt weit gegangen, als es plötzlich hinter mir herbrüllte. Ich wusste nicht, ob das Rufen mir galt. Auf jeden Fall war etwas los, und ich drehte mich um. Himmelkreuz … da sprang ein Wachtposten, den ich schon vorhin mit leisem Unbehagen beobachtet hatte, über die Straße und rannte hinter mir her! Was sollte ich tun? Hatte mich der Bursche erkannt? Wollte er mich festnehmen?
Ich tat dickfellig. Das war das Beste, was ich machen konnte. Frech marschierte ich weiter, aber das Brüllen hörte nicht auf. Schließlich hatte mich der Posten eingeholt – – nun war es aus! Aber noch nicht ganz. Wenn er mich festnahm, wollte ich den Stummen markieren, und da ich nichts bei mir hatte, was meine Identität verraten konnte, würde ich sicher Gelegenheit haben, wieder auszureißen, ehe man mich als entwichenen Prisonnier eruiert hatte.
Der Posten ließ eine Flut von Worten über mich herniedergehen. Er redete so viel, dass ich – Gott sei Dank! – gar nicht antworten konnte. Ich verstand nicht, was er von mir wollte, sondern vernahm nur die immer wiederkehrenden Worte: „Passe porte … du Commandant … dépendu“. Als ich mit der Hand stumm in die Richtung deutete, die mich mein Weg führen sollte, begann er wieder, seinem Redefluss ungehemmten Lauf zu lassen.
Sichtlich erleichtert merkte ich, dass der Posten mir nicht nachgelaufen war, weil er mich festnehmen wollte, sondern es schien seine Absicht zu sein, mich darauf aufmerksam zu machen, dass es verboten sei, hier entlangzugehen. Wie ich jetzt erst sah, war ich nämlich in meiner Unkenntnis in ein früheres amerikanisches Lager hineingeraten, in dem die Restbestände amerikanischen Materials, das in Frankreich zurückgelassen worden war, aufbewahrt wurden.
Na, den Gefallen, kehrtzumachen, wollte ich ihm gern tun, falls er mich nur laufen ließ. Ich hörte mir seine Rede an, blickte bewundernd auf sein Croix de guerre, auf dem die drei Sterne waren – also musste er ein sehr guter Soldat gewesen sein – und tat so, als ob ich, wenn auch widerwillig, diesem tapferen Vaterlandsverteidiger den Gefallen tun wollte, zurückzugehen und um das Lager herumzuwandern. Da ich auch etwas sagen musste, als er fertig war, meinte ich: „C’est dommage“. Scheinbar klang das gut französisch; ich machte kehrt, ging, von ihm gefolgt, den Weg zurück, bog rechts ein und verschwand.
Der Posten schien mit mir zufrieden zu sein. Auch er freute sich wahrscheinlich, dass der widerspenstige Arbeiter ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, und trottete in dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, freundlich hinter mir her. Mein Herz schlug Generalmarsch. Jetzt wollte ich aber so vorsichtig wie nur möglich sein, um nicht noch ein zweites Mal in eine so heikle Lage zu geraten. Bald darauf konnte ich feststellen, warum mich der Posten aufgehalten hatte. Das Heeresgutlager war auf einer ganz kleinen Insel untergebracht, wohl um Räuber und Diebe leicht fernhalten zu können.
Nach einer halben Stunde fand ich einen schönen schattigen Baum, setzte mich darunter und entkorkte mit zitternden Händen meine grüne Gurkenflasche. Waren die herrlich sauer! Sie schmeckten wundervoll. Dann trank ich von meinem Kakao und öffnete mit vieler Mühe sehr vorsichtig die Büchse mit den Ölsardinen. Damit hatte man mich schön angeschmiert. Sie stammten sicherlich noch aus den Zeiten des seligen Methusalem und waren sehr scharf gesalzen.
Unter anderen Umständen hätte ich diese Biester niemals gegessen, aber jetzt waren sie für mich ein wahres Geschenk des Himmels, das mir unverhofft in den Schoß gefallen war. Hier hatte ich das, was ich so furchtbar ersehnte: das Salz. Ich ging sehr haushälterisch mit meinen Vorräten um, aß nur eine Gurke, trank einen Schluck von dem Essig und schüttete mir ein wenig des salzigen Öls auf eine Semmel.
Großartig. Selten hat mir ein Mahl so gut geschmeckt, und der Gedanke, dass ich nun für die nächsten Tage Proviant hatte, war ungeheuer beruhigend. Nun brauchte ich nicht zu rauben und zu stehlen … Wenn ich jetzt am Ufer einen behäbigen Kleinbürger traf, der die Angelrute ins Wasser hielt und stundenlang auf den Federkiel starrte, während sein Frau, den breitrandigen Hut auf dem Kopf, im Grase neben ihm saß, dann blieb ich ruhig stehen, blickte ein paar Minuten auf den im Wasser schwimmenden Korken und wandte mich dann mit einer Bewegung, die sagen sollte, ich würde es ja doch nicht erleben, dass wirklich ein Fisch anbiss, ab und wanderte weiter. So fiel ich den Leuten gar nicht auf.
Auf dem Kanaldamm entlang ging es weiter nach Osten. Immer wieder schlängelte sich der Cher südlich an den Kanal heran. In dieser Gegend musste die Sonne während des letzten Monats dauernd vom Himmel heruntergebrannt haben. Der Damm, auf dem ich marschierte, war ausgetrocknet und wies breite Risse auf.
Alle drei, vier Stunden streifte ich die Kleider vom Leibe und sprang ins Wasser. Da der Spiegel des Kanals mit einer schillernden Schicht von Öl und Petroleum bedeckt war, die von der Kanalschifffahrt herrührte, tauchte ich fast bis auf den Grund und trank mich dort, wo das Wasser viel sauberer war, nach Herzenslust satt.
Gegen Abend näherte ich mich einer Bahnlinie. Schon ein paarmal hatte ich Züge vorbeirollen sehen und mir die Zeiten ganz genau gemerkt. Früher oder später wollte ich ja die Bahn benutzen. Denn um durch ganz Frankreich zu Fuß zu gehen, brauchte ich mindestens vierzehn Tage. Auf diesem langen Wege würde ich bestimmt vielen Gefahren begegnen. Wenn ich die Eisenbahn benutzte, dann lagen die Fährnisse wohl näher beieinander, aber sie gingen auch schneller vorüber. Warum sollte mich das Glück ausgerechnet dann verlassen, wenn ich in einen Zug stieg?
Chabris hieß der kleine Bahnhof, dem ich mich vorsichtig näherte. Es kam für mich darauf an, einmal zu beobachten, wie man hier in Frankreich eine Fahrkarte löst, ob es Bahnsteigsperren gibt und was der Dinge mehr sind, die man beachten muss, um nicht unnötig aufzufallen. So begab ich mich in die Bahnhofshalle, in der auch eine gute Eisenbahnkarte hing. Schnell stellte ich fest, wo ich mich befand, und wie ich weitermarschieren musste. Auch auf den Fahrplan warf ich einen kurzen Blick, aber er ließ sich nicht sehr leicht lesen.
Um nicht unnötig aufzufallen, blieb ich nicht lange davor stehen, sondern tat, als erwarte ich jemand, sah zu, wie die Personenschranken geöffnet wurden, und merkte, dass sich hier alles genau so abspielte wie bei uns in Deutschland.
Jetzt wusste ich genug. Ich ging weiter und kam zu der nahe dabei liegenden Bahnhofswirtschaft. Vor dem Haus standen Tische und Stühle, und ein paar Leute, die hier gegessen und Bier getrunken hatten, eilten gerade fort, um den Zug noch zu erreichen. Da niemand in der Nähe war, setzte ich mich an einen Tisch, denn der Appetit auf ein Glas Bier war übermächtig in mir geworden. Als der Kellner kam und mich nach meinem Begehr fragte, verlangte ich, „une bouteille de bière“; er brachte sie, ich gab ihm einen Francs, den er einsteckte und verschwand. Nie im Leben habe ich etwas zu trinken bekommen, was mir so gut geschmeckt hat, wie dieses Bier.
Gern hätte ich mehr getrunken, aber ich riss mich doch los und setzte meinen Marsch fort. Der Abend kam. Das Bier hatte mich müde gemacht, und als es dunkelte, fand ich ein büschiges Gehölz etwas abseits vom Wege, legte mich hinein und erwachte erst, als es schon wieder ganz hell war.
Die Gurken, Sardinen, das letzte halbe Brötchen und dazu das klare Quellwasser – ein wundervolles Frühstück. In meine Essiggurkenflasche goss ich Wasser, um diesen sauren Labetrunk möglichst in die Länge zu ziehen. Und da ich das später noch öfter tat, wurde das Ganze immer wässriger, und meine letzten Gurken schmeckten schließlich nach gar nichts mehr.
Der Ort, den ich jetzt zu erreichen trachtete, war Villefranche. Dort hatte Clemenceau Kriegerdenkmäler mit blutrünstigen Revanchereden eingeweiht, und da sich in dieser Stadt große Amerikanerlager befanden, musste ich mich darauf gefasst machen, Militär zu begegnen.
Nach einem Marsch von zwei Stunden bot sich mir ein günstiger Badeplatz, ich zog mich aus, schwamm und rasierte mich. Als ich mich gerade vor meinem kleinen Handspiegel, den ich an einen Baum gebunden hatte, einseifte, kamen plötzlich zwei Mädchen den Hang hinab. Schleunigst schlüpfte ich in meine Hosen und suchte meine Toilette zu beenden. Es waren zwei Hirtenmädchen, hinter denen eine Kuhherde trottete, die sie dort ans Wasser trieben, wo ich gebadet hatte. Es waren hübsche und elegant angezogene Mädels mit niedlichen Gesichtern, die sie mit schicken Sonnenschirmen vor dem Braunwerden schützten.
Gern hätte ich mich mit ihnen unterhalten, aber Mädchen sind immer neugierig und in Frankreich auch gute Patriotinnen. Darum verzichtete ich lieber auf das Schäferstündchen, packte meine Toilettenartikel zusammen und wandte mich kurz mit einem vor mich hin geknurrten „Oui!“ ab, als sie kichernd fragten: „Oh, monsieur, vous faites votre toilette?“
Die hübschen Dinger zeigten sich wenig erbaut davon, dass ich so kurz angebunden war und ohne sie zu beachten, losmarschierte. Sie schauten mir angelegentlich nach und, um jeden Argwohn zu zerstreuen, drehte ich mich, als ich weit genug weg war, um und winkte ihnen freundlich zu.
In Villefranche ging ich nach dem Bahnhof und stellte fest, wann von dem etwa 24 km entfernten Vierzon ein Zug nach Bourges abfuhr. Ohne viel Schwierigkeiten fand ich das auf dem Fahrplan. Er ging um 7.30 abends. Und jetzt war es 11 Uhr vormittags. Na, da musste ich stramm zuschreiten, wenn ich ihn noch erreichen wollte.
Auf dem Marsch lernte ich von meinem „Spickzettel“, auf dem ich mir die notwendigsten französischen Redewendungen notiert hatte, wie man eine Fahrkarte verlangt. „Une troisième Bourges aller et retour … une troisième Bourges aller et retour.“ Stundenlang redete ich das vor mich hin, bis mir der Tonfall richtig erschien. Leider war mir unklar, was das eigentlich hieß, denn eine Rückfahrkarte wollte ich ja schließlich nicht haben. Aber was ich sagen musste, um ein einfaches Billet zu bekommen, war auf meinem Zettel leider nicht verzeichnet.
Als es auf 6 Uhr abends ging, tauchten die Türme von Vierzon im Spätnachmittagssonnenschein in der Ferne auf. Der Weg am Kanal war belebt, ein kleiner Junge kam mir entgegen und fragte, wie spät es sei. Verstanden habe ich ihn wohl, aber eine Antwort vermochte ich ihm nicht zu geben. Kurz entschlossen zog ich meine Uhr und sagte: „voila!“ Er dankte und zog zufrieden ab.
Jetzt war ich in der Stadt drin und lief durch die Straßen. Es war fast 7 Uhr. Wo aber lag der Bahnhof? Keine Ahnung. Da musste ich halt fragen, und als mir eine ältere Frau entgegenkam, hielt ich sie an. „Oû est la gare?“ Blöde sah sie mich an, zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Sie schien taubstumm zu sein. Ich fragte sie noch einmal. Der Erfolg war der gleiche.
Sprach ich’s falsch aus? „La gare“ hieß doch der Bahnhof. Ich wandte mich ab, ging weiter und war kaum zehn Meter gegangen, als es hinter mit herrief.
„Ah, monsieur … la gaaare –!“ Die alte Frau kam hinter mir hergeflitzt, jetzt hatte sie kapiert und wollte mir nun Bescheid sagen. Sie wies mit der Hand die Richtung und schnatterte: Geradeaus, links und rechts. Das ging so schnell, dass ich ihr gar nicht zu folgen vermochte. Nun, jedenfalls wusste ich die Richtung. Ich bedankte mich höflich, ging weiter und fand auch bald den Bahnhof.
Vor dem einen offenen Schalter drängten sich viele Leute. Ich stellte mich an und passte scharf auf, was die vor mir Stehenden sagten, und wie sie ihr Geld hingaben. Ich hatte meinen Fünfzig-Francs-Schein gezogen, den ich wechseln wollte. Ganz wohl war mir nicht dabei, denn ich hatte ihn einst auf eigenartige Weise erhalten. Vielleicht war er gefälscht. Wir Kriegsgefangenen trauten den Franzosen alles zu, und es war ja auch nicht ausgeschlossen, dass sie uns gefälschtes Geld zuschmuggelten, um uns festnehmen zu können, wenn wir diese Scheine auf der Flucht ausgaben.
Nun war ich dran. „Une troisième Bourges“, verlangte ich. – „Aller et retour?“ Mir kam eine Erleuchtung. Das hätte ich auch gleich sagen können. „Aller!“ Ich reichte ihm den Fünfzig-Francs-Schein durch das Schalterfenster. Der Beamte nahm ihn und drehte ihn hin und her. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen.
Der Mann hinter dem Schalter knurrte etwas. Es klang wie Schimpfen. Jedenfalls war er brummig, wie die Schalterbeamten bei uns in Deutschland auch sind, wenn sie einen größeren Geldschein wechseln sollen, und gab mir das Geld zurück.
Was sollte ich tun? Kurzentschlossen griff ich in die Westentasche. Ich hatte noch ein Franc-Stück. Dies legte ich ihm auf das Zahlbrett und sagte kurz und mokant: „C’est tout!“ Das war ihm offenbar doch zu wenig, und mein unbefangenes Hinwerfen des Geldstückes veranlasste ihn, den Schein zu wechseln. Nur diese Zumutung war es gewesen, was ihn so ärgerlich gemacht hatte.
Das dauerte genau so lange wie in Deutschland. Hinter mir schimpften die Leute; ich bekam viel Geld zurück und freute mich über das Kleingeld. Das war viel wert. Als ich durch die Sperre ging, fuhr der Zug ein, und eine sich angeregt unterhaltende Gruppe von Bauern stieg mit ihren Frauen in ein Abteil. Sie schienen mir die richtigen Reisegefährten zu sein, denn sie hatten Gesprächsstoff genug. Ich konnte dabei sitzen, das Maul halten und tun, als gehörte ich dazu.
Bourges. Überall standen Gendarmen herum. Sicher hatte man hier auch Kriminalbeamte postiert. Ich kletterte aus dem Zug, gab an der Sperre meine Karte ab und trat unbekümmert in die Schalterhalle. Hier stellte ich auf dem Fahrplan fest, dass am nächsten Morgen gegen 6 Uhr ein „Train rapide“ durch Bourges kam, der von Nantes nach Lyon ging. Den wollte ich benutzen. Er fuhr herrlich schnell, und da das Eisenbahnfahren bis jetzt so gut geklappt hatte, war ich eigentlich recht guten Muts.
Als ich über den weiten Bahnhofsplatz der Stadt zustrebte, wurde ich aber plötzlich unsicher, ob der Zug, den ich mir zur Weiterfahrt ausgesucht hatte, nun auch wirklich am Morgen oder aber erst am Abend ging. Darum überzeugte ich mich noch einmal, dass mir kein Versehen unterlaufen war. Um nicht aufzufallen, durfte ich mich nur sehr kurze Zeit in der Vorhalle aufhalten, denn der Strom der Reisenden hatte sich verlaufen. Es war gegen 11 Uhr nachts, und ein paar Minuten später stand ich zum zweiten Mal auf dem Bahnhofsplatz.
Der Trunkenbold
Vor der Brasserie, die sich am Rande dieses Platzes befand, standen Tische auf dem Trottoir, an denen Menschen saßen, tranken, rauchten und sich unterhielten. Ganz in der Nähe stand auch eine Erfrischungshalle, an der scheinbar noch gebaut wurde.
Ich setzte mich an einen leeren Tisch und bestellte bei dem kleinen Kellner, der mich nach meinem Begehr fragte, in dem mir nun schon geläufigen Tonfall die bewusste Flasche Bier. Er brachte sie und bekam seinen Franc, den er grinsend einstrich. Nun hatte ich Zeit, über den bisherigen Verlauf meiner Reise nachzudenken. Bei meiner Wanderung durch Frankreich hatte ich alle Hemmungen verloren. Jetzt fühlte ich mich vollkommen sicher.
Und dann … wenn ich morgen mit dem Zug nach Lyon fuhr, hatte ich es nicht mehr weit nach der Schweizer Grenze. Noch zwei Tage – – wenn es gut ging. Aber nun wollte ich nicht mehr daran denken, was mir noch bevorstand. Das Bier tat seine Wirkung. Es machte mich froh und auch ein wenig leichtsinnig. Als der Kellner wieder an mir vorbeistrich und fragend auf die geleerte Flasche sah, bestellte ich eine zweite.
Jetzt wurde ich aber verteufelt müde. Die anderen Gäste brachen auf, und über den Bahnhofsplatz marschierten bereits die Bahnhofspatrouillen. Offenbar wurde um diese Zeit Polizeistunde geboten. Wohin jetzt …? Da ich nicht riskieren wollte, den Bahnhof aus den Augen zu verlieren, schien es mir wenig ratsam, mich weit von ihm zu entfernen.
Da fiel mir die Erfrischungshalle ein, die leer und verlassen auf die Maurer wartete, die am nächsten Morgen kommen sollten, um an ihr weiter zu schaffen. Sie war ja so nah, und sicher konnte ich in ihr die Nacht ungestört verbringen. Ich ging hin, verschwand im Schatten ihrer Wände und legte mich auf dem Mörtel, der am Boden lag, zur Ruhe nieder. Müde war ich zwar, aber der Schlaf wollte doch nicht kommen, denn von draußen herein schollen die gleichmäßigen Schritte einer Wache. Sie kamen näher und entfernten sich wieder – immer in ganz regelmäßigen Abständen.
Vorsichtig erhob ich mich und lugte über die Brüstung hinweg. Ein Posten patrouillierte auf dem Bahnhofsplatz und näherte sich dabei stets meinem Unterschlupf. Da war ich also in eine schöne Falle geraten! Beim vierten Male entfernten sich die Schritte nämlich nicht wieder, sondern ich hörte ein Poltern am Holz der Halle und über mir erschien die Silhouette eines französischen Stahlhelms. Der Posten musste mein Einsteigen bemerkt haben; nun blickte er herein und sah mich natürlich.
Jetzt ist es aus! – fuhr es mir siedend heiß ins Herz. Sollte ich aufstehen und weggehen? Sollte ich versuchen, still und heimlich fortzuschleichen? Tausend Pläne kamen und wurden verworfen. Der Posten hatte sich wieder zurückgezogen und seinen Marsch fortgesetzt; aber jedes Mal, wenn er wieder an die Halle herankam, trat er näher und blickte zu mir herein. Ein heimliches Entwischen schien unmöglich. Die Erfrischungshalle stand vollkommen isoliert, und wenn der Franzose auch nur ein wenig achtgab, musste er mich bemerken.
Dann kam die Ablösung. Die Posten sprachen miteinander, und der Abgelöste machte seinen Kameraden auf mich aufmerksam. Was sollte ich tun? Zunächst drehte ich mich in dem kalkigen Mörtel ein paarmal um mich selbst, bis mein Anzug völlig mit Dreck überzogen war und ich für einen Maurer gelten konnte. Auch mein Gesicht hatte ich mit Kalk beschmiert.
Es war mir nämlich eingefallen, dass man sich in Frankreich um Betrunkene kaum kümmert. Auf unseren Spaziergängen in der Nähe von Montoire waren wir oft an solchen vorbeigekommen, die schnarchend am Grabenrand gelegen hatten. Die Leute machten zwar boshafte Bemerkungen, ließen die Berauschten aber ruhig liegen und weiterschlafen.
Ich wollte also tun, als sei ich ein Maurer, der hier seinen Rausch ausschlief. Wenn der Posten wieder einmal zu mir hereinblickte, dann spie und stöhnte ich entsetzlich. Als es mir dann an der Zeit schien, ernst zu machen, tat ich so, als erwachte ich. Mich auf die Theke stützend spuckte ich fürchterlich.
Der Posten stand ganz nahe bei mir, als ich wie ein Betrunkener aus meinem Versteck heraustorkelte, mich schwankend zu einer hell leuchtenden Laterne rettete, an der ich mich scheinbar festklammern musste, um nicht hinzuschlagen. Er blieb interessiert stehen und beobachtete den Saufsack, der den Kanal gründlich voll zu haben schien. Mit unsicheren Schritten torkelte ich zur Brasserie hinüber, fand die Straße, die in die Stadt hinein führte, und schwankte weiter.
Der Posten kam misstrauisch hinter mir her und passte auf, ob ich in meinem Suff keinen Unfug anstellte, aber er war sicherlich auch froh, dass ich ihm keinen Ärger bereitete.
So lange er mich sehen konnte, wankte ich; erst als ich um eine Ecke herum war, richtete ich mich auf. Niemand war auf den leeren, schlecht beleuchteten Straßen. Mein Herz klopfte wild, und ich schwor jetzt einen heiligen Eid, keinen Tropfen Bier mehr zu trinken, solange ich mich noch auf französischem Boden befand. Denn nur das Bier war es gewesen, was mich so schlapp gemacht und zum Schlafen in der Erfrischungshalle verführt hatte.
Ich marschierte nun aufrecht weiter und sah mich nach einem Plätzchen um, wo ich die Nacht verbringen konnte. Es war bereits nach 2 Uhr. Viel Zeit hatte ich also nicht mehr, denn in vier Stunden ging mein Zug nach Lyon. Als ich einen schönen Park fand, in dem es dichte Büsche und einen kleinen See gab, ließ ich mich auf einer Bank nieder und wartete geduldig. Der Schlaf war mir gründlich vergangen. Ich fürchtete auch, vielleicht meinen Zug zu versäumen. Schließlich hatte ich nachher auf der Fahrt genug Zeit, das Versäumte nachzuholen.
So sicherte ich wie ein Reh und horchte mit allen Sinnen in die Nacht. Gegen 4 Uhr begann ich mich für die Reise fertig zu machen. Schnell war ich frisch rasiert und konnte beginnen, meinen Anzug abzubürsten. Das war eine Hundearbeit, denn der Kalk saß fest an dem Gewebe. Als ich dann aber noch meine Stiefel unter Zuhilfenahme von Wasser poliert hatte, sah ich fast sonntäglich elegant aus. Die dunkle Hose, der schwarze Lüsterrock – ich schien ein Arbeiter zu sein, dem es verhältnismäßig gut ging.
Den Bahnhof fand ich bald wieder und mischte mich in den Strom der Frühaufsteher, die gleich mir den Zug erreichen wollten. Zwei Fahrkartenschalter waren schon geöffnet. An dem einen saß ein griesgrämiger, alter Bursche, an dem anderen aber ein nettes Mädel, das mit einem französischen Offizier kokettierte. An sie wandte ich mich, betete mein eingelerntes Sprüchlein – „une troisième Lyon aller“ – reichte ihr zwanzig Francs, bekam eine Fahrkarte und noch etwas Geld zurück.
Leider stand unmittelbar vor dem Zugang zum Perron ein Gendarm und neben ihm ein Mann in Zivil. Kriminalpolizei. Ich betete ein kleines Vaterunser, machte mein harmlosestes Gesicht und kam auch glücklich an den misstrauisch blickenden Burschen vorbei. Der Zug hatte beträchtliche Verspätung, so dass ich lange auf dem Bahnsteig hin und her laufen musste. Dabei entdeckte ich ein Büfett, an dem es alles Mögliche zu kaufen gab. Überall stand der Preis dran, so dass ich gar nicht zu sprechen brauchte, sondern schnurstracks ein Schinkenbrot ergriff, die fünfzig Centimes auf das Zahlbrett legte und nun ein glänzendes Frühstück hatte. Die Reste meiner Vorräte waren doch bereits am Tage vorher zu Ende gegangen.
Auch eine Zeitung erstand ich. Nicht zum Lesen, aber vielleicht war es gut, so ein Blatt zu besitzen. Als der Zug endlich einlief, war er vollkommen überfüllt. Ich drängte mich in das erste beste Abteil hinein, das so voll war, dass ich keinen Sitzplatz mehr fand. Mich scheinbar in meine Zeitung vertiefend, lehnte ich an der Wand zwischen zwei Coupés, um, falls es notwendig werden sollte, gegebenenfalls in das eine oder das andere hinüberwechseln zu können.
Wie gut diese kleine Vorsichtsmaßregel war, merkte ich schon eine halbe Stunde später. Ein Pastor hielt sich für verpflichtet, den Versuch zu machen, mich in eine Unterhaltung zu ziehen. Zum Glück sauste der Zug gerade durch eine Kurve, und es sah aus, als drückte mich die Zentrifugalkraft in das andere Abteil hinüber. Der Abbé gab sich zufrieden, und ich war froh, der Gefahr einer Entdeckung wieder einmal entgangen zu sein.
Der Zug war wirklich ein „Train rapide“, der rasend durch die Landschaft sauste. Bäume, Häuser und Straßen sausten in wechselnder Folge draußen vorbei. Oft sah ich auf der Landstraße, die dem Schienenweg folgte, Radfahrerpatrouillen und war selig, mit dem Zug an ihnen vorbeizukommen. Wäre ich zu Fuß gewandert, hätte ich ihnen schließlich doch einmal in die Hände laufen müssen.
Der Zug wurde immer leerer. Da es nun genügend Platz gab, musste ich mich auch setzen. Mir gegenüber saß ein Soldat, und um seiner Anrede zu entgehen, las ich ostentativ in meiner Zeitung. Nach einer Weile tat ich so, als schliefe ich ein. In Wirklichkeit beobachtete ich jedoch den Soldaten, der sich sehr langweilte, und nicht übel Lust zu haben schien, sich durch eine Unterhaltung mit seinem Gegenüber über die Öde der langen Bahnfahrt hinwegzubringen.
Was war da zu tun? Lange grübelte ich nach, ehe ich das Gegengift fand. Ich wollte den Idioten spielen. Auch diese Pose hatte ich mir vor Antritt meiner Flucht in Montoire zurechtgelegt und eine fürchterliche Grimasse vor dem Spiegel einstudiert. Wenn ich die zog, sah ich so herrlich idiotisch aus, dass jedem die Lust zu einem Gespräch mit einem solchen Trottel vergehen musste.
Die Brauen hochgezogen, den Mund halb geöffnet, murmelte ich unverständliches Zeug vor mich hin, während ich blöd durch das Fenster hinausstierte. Der Soldat sah ein, dass es wirklich keinen Sinn hatte, sich mit mir abzugeben. So verrannen die Stunden, während der Zug durchs Land jagte. In Roanne stieg mein Soldat aus.
Aber schon trat eine neue Gefahr an mich heran. Hier fand eine Zugkontrolle statt, die von Soldaten und Gendarmen gemeinsam durchgeführt wurde. Auch einen Polizeihund hatten sie mit und sahen in jedes Abteil. Ich tat, als hätte ich mich mit dem aussteigenden Soldaten gut unterhalten und winkte noch hinter ihm her. Das Kontrollpersonal behelligte mich nicht.
Doch … verdammt, jetzt erkannte ich in einem der revidierenden Gendarmen einen meiner Gefangenenbegleiter, mit dem ich vor anderthalb Jahren auf meiner Reise nach Montoire einen ganzen Tag lang in einem Abteil gesessen hatte. Ich war froh, dass dieser Mann kein so gutes Personengedächtnis besaß wie ich, denn sonst wäre es mir wohl übel ergangen.
Dann aber ruckte der Zug wieder an. Noch fast zwei Stunden musste ich fahren, ehe Lyon erreicht war. Dort kam ich gut durch die Sperre und sah mich nach einem Zug um, mit dem ich weiterreisen konnte. Von Lyon führte eine Bahnlinie nach Bellegarde. Das liegt in der Gegend von Genf, ganz nahe der Schweizer Grenze.
Ich hatte mir einen Fahrplan gekauft. Auch dort war diese Strecke verzeichnet. Als ich mich aber anschickte, festzustellen, wann mein Zug weiterging, trat ein Neger in Uniform auf mich zu und fragte mich etwas. Ich verstand ihn nicht, zuckte die Achseln und ging weiter. Auch hier gab es viele Kriminalbeamte in Zivil – Gott sei Dank durch ihren typischen Aufzug auf zehn Schritt Entfernung als solche zu erkennen. Ich schlug einen Bogen um sie und fand vor dem Bahnhof einen Eisstand.
Trotz des Spätnachmittags war es glühend heiß. Ich erfrischte mich und kaufte bei einem Obsthändler zwei Pfund herrlicher Trauben, die ich in einer nahen Anlage verzehrte. Dann trottete ich wieder zum Bahnhof, denn in der Auslage der Bahnhofsbuchhandlung hatte ich Karten des Alpengebiets entdeckt, die ich gern erstanden hätte. Ich selbst besaß ja nur ein dreifingerbreites Stück einer Karte sehr großen Maßstabes, das mir leider wenig nützen konnte, wenn ich Genaueres wissen wollte.
Mein ganzes „Kartenmaterial“ in Originalgröße
Obwohl ich dem Verkäufer die in der Auslage hängende Karte zeigte, verstand er mich nicht, und so musste ich davon ablassen, wenn ich mich nicht auffällig machen wollte. Als ich in meinem Fahrplan blätternd dahinschritt, hatte ich eine schlimme Nervenprobe zu bestehen. Ohne auf den Weg zu achten, war ich vor ein großes tristes Gebäude gekommen, dessen Tor aufsprang … und heraus trat ein langer Zug Gefangener, der von Polizisten eskortiert wurde. Fast hätten mich in diesem Augenblick die Nerven verlassen. Dort marschierte mein eigenes Schicksal greifbar an mir vorüber. Ich habe mich sehr zusammenreißen müssen, um die Blicke der Gefangenenbegleiter unbefangen auszuhalten.
Wie ich aus meinem Fahrplan ersah, musste ich in Richtung Ambérieu fahren. Um alle Ausspracheschwierigkeiten zu vermeiden, wollte ich eine Fahrkarte nach dem Städtchen Annemasse verlangen, aber vorher im Rhône-Tal aussteigen. Da ich bis zum Abgang des Zuges nicht mehr viel Zeit hatte, kaufte ich ein Billett, nachdem ich vorher den Preis auf einem Fahrpreisanzeiger festgestellt hatte.
Mehr Mühe machte aber das Auffinden des richtigen Zuges, und es war ein großes Glück für mich, dass mein Zügle Verspätung hatte. So lange irrte ich nämlich auf den verschiedenen Bahnsteigen herum, dass die vorgeschriebene Abfahrtszeit längst vorüber war.
Ein „imitierter“ Pass
Jetzt brachte mich jeder Kilometer der ersehnten Grenze näher. In Ambérieu musste ich umsteigen und suchte mir ein neues Abteil im Anschlusszug. Als ich gerade im Begriff war, mich hineinzuschwingen, kam aus dem Nebencoupé eine Frau auf mich zu. Sie sah mich scharf an und fragte mich, ob ich Italiener sei. Na, das war ja noch schöner, dass man mich jetzt schon für einen Italiener hielt! „Mais non, madame!“, wehrte ich ab und verschwand.
Es schien mir zu gefährlich, in der Nähe jener Frau zu bleiben, die vielleicht eine alte Bekanntschaft auffrischen wollte. Inzwischen war es dunkel geworden. Jetzt rollte der Zug durch die Nacht auf Culoz zu. Dort hatten wir einen längeren Aufenthalt. Mit mir saßen verschiedene Damen und Herren im Abteil, und – als ob es alle französischen Frauen an diesem Tage auf mich abgesehen hätten – auch hier kam eine auf mich zu und fragte mich, ob ich vielleicht ein Spanier sei.
„Mais non“, knurrte ich wieder und verschwand auch aus diesem Coupe. Eigentlich hätte ich jetzt besser versuchen sollen, mich vom Bahnhof wegzuschmuggeln und die Weiterreise zu Fuß fortzusetzen. Aber das schnelle Vorwärtskommen mit der Bahn war doch so verlockend, dass ich mich nicht überwinden konnte, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen.
Da saß ich nun im weiterrumpelnden und ratternden Zuge, der immer näher an die Grenze kam. Jeden Augenblick musste ich nun auf eine Passkontrolle gefasst sein, und in der Unterhaltung meiner Reisegenossen, die sich tausend Geschichten zu erzählen wussten, kehrte das Wort „Passeport“ immer häufiger wieder.
Ich konnte nicht verstehen, wovon sie sprachen, aber ihren Bewegungen musste ich entnehmen, dass es Begegnungen mit Kontrollbeamten oder Zöllnern waren, die sie so in Erregung brachten. Wenn der Zug in einen der kleinen Bahnhöfe einlief, dann klopfte mein Herz zum Zerspringen, denn schon im nächsten Augenblick konnten die Beamten erscheinen, um nach den Pässen zu fragen, und ich hatte noch keinen blassen Schimmer, wie ich mich aus dieser Klemme ziehen konnte.
Aber die Aufenthalte waren immer nur kurz. Ein unbemerktes Entwischen schien unmöglich, denn die Perrons zogen sich lang hin. Auch erhoben sich auf der anderen Seite der Bahnstrecke jetzt steile Wände, denn der Schienenstrang führte durch das Rhône-Tal ganz dicht an den hohen Felsmauern entlang. Die Nacht war tief und dunkel. Während sich die Leute in meinem Abteil zum Aussteigen fertig machten, zermarterte ich mein Hirn nach einem brauchbaren Ausweg aus dem Dilemma, dem mich der Zug entgegentrug.
Bellegarde war der letzte größere Ort vor der Schweizer Grenze. Wenn also bisher keine Kontrolle stattgefunden hatte, dort musste sie auf jeden Fall erfolgen. Ich war noch zu keinem Entschluss gekommen, als der Zug schon in die hellerleuchtete Halle des Bahnhofs einfuhr. Uniformen, Polizeihunde … jeder Zug nämlich, das war mir bekannt, wurde mit Hunden abgesucht.
Die Beamten näherten sich dem Wagen, in dem ich saß. Alles war bereits ausgestiegen, da sprang ich ebenfalls aus dem Zug und schloss mich den andern an. Auf dem Wege zur Treppe einer Unterführung holte ich ein ganzes Rudel Bauernweiber ein, die gemütlich aussahen und nur einen Mann aus ihrer Sippe bei sich hatten. Ich tat, als gehörte ich zu diesem Trupp, stapfte neben ihnen her durch den Tunnel und die Treppe wieder hinauf. Da standen wir plötzlich in einer Bahnhofshalle, die in der Mitte völlig leer war.
Rings herum zogen sich hohe Holzgitter aus rohem Holz und zwischen diesen und der Wand musste sich der Strom der Reisenden hindurchzwängen. Am Ausgang standen drei Gendarmen und kontrollierten die Pässe. Hier also war das Ende meiner Reise! Ich war unsäglich traurig darüber, dass alles, was ich bisher erlebt hatte, vergeblich gewesen sein sollte. Denn hier gab es keinen Ausweg. Aber – wie immer in meinem Leben – wenn die Gefahren ins Ungeheure wuchsen, wenn es keine Rettung mehr zu geben schien, bäumte sich auch jetzt mein Wille auf gegen das Schicksal.
Mit bleiernen Füßen ging ich mitten unter den Bauernweibern, die umständlich in ihren Röcken kramten und ihre Pässe suchten. Sollte ich einen gewaltsamen Durchbruchsversuch machen? Ich sah, dass sich hinter der Passkontrolle erst die eigentliche Bahnhofssperre mit der Fahrkartenausgabe befand. Eine Kette konnte ich vielleicht durchbrechen, zwei aber auf keinen Fall. An der Sperre müsste ich den Franzosen doch in die Hände fallen.
Ich sah mir die Pässe an, die die Weiber jetzt in ihren Händen hielten, bereit sie den Beamten vorzuweisen. In der Mitte dieser Dokumente befand sich die Fotografie, so groß etwa, wie meine Fahrkarte. Mit zitternden Händen faltete ich meine Zeitung so zusammen, dass sie genau das Format eines Passes bekam. Nur eine Annonce war zu sehen. Dann presste ich mit dem Daumen meine Fahrkarte auf dieses Papiergebilde … wenn die Kerle nicht scharf aufpassten, konnten sie das für einen Pass halten.
Ich musste es eben darauf ankommen lassen: entweder siegte die Frechheit, oder ich war verloren. Mich noch mehr zwischen die Bauernweiber drängend, tat ich, als unterhielte ich mich mit ihnen. So kamen wir der Sperre näher, wo drei Gendarmen die Pässe kontrollierten. Es gab zwei Durchgänge. Links kontrollierte ein Gendarm die Pässe, während rechts zwei hintereinander aufgebaut waren.
Ich war schon fast auf den linken zugesteuert … da, in der letzten Sekunde folgte ich einer blitzartigen Eingebung, trat rechts auf die beiden Gendarmen zu, zwängte mich dicht an die Bauernweiber heran, die gerade dem hinteren Gendarm ihre Pässe vorzeigten, und hielt ihm meinen „Pass“ ostentativ hin. Auf diese Art kam ich an dem ersten Gendarm vorüber, der annehmen musste, dass sein Kollege meinen Pass nun visitieren würde. Der hatte aber gerade mit der Kontrolle der Bauernweiber zu tun, beobachtete nicht, dass ich, ohne revidiert worden zu sein, meinen „Pseudopass“ ihm hinhielt.
Bevor er noch aufblickte, zog ich die zusammengefaltete Zeitung mit der Fahrkarte wieder zurück, hielt sie rückwärts in Richtung auf den ersten Gendarm und tat jetzt so, als hätte mich dieser kontrolliert. Ich steckte mein Papier ein und war so durch die gefürchtete Passkontrolle.
Ohne dass einer von ihnen in der Lage gewesen war, auch nur einen prüfenden Blick auf das zu werfen, was ich in meiner Hand hielt, hatte ich die Kontrolle passiert und war im Grunde selbst darüber erstaunt, dass es mir geglückt war, so ungeschoren zwischen Szylla und Charybdis hindurchzukommen. Ein gütiger Gott hatte ein großes Wunder an mir vollbracht.
Im gleichen Trott mit den anderen Reisenden schritt ich durch einen langen Gang zur Sperre. Hier brauchte ich meine Fahrkarte nicht abzugeben, sondern zeigte sie nur vor, denn sie galt ja bis Annemasse. Ich trat hinaus auf den nächtlichen Bahnhofsplatz, wo sich die Reisenden sehr schnell nach allen Richtungen verloren. Auch ich musste machen, dass ich wegkam. Der Zug hatte Verspätung gehabt, und es war bereits gegen 2 Uhr nachts.
Ich versuchte, mich zu orientieren. Kein Mond, kein Stern. Instinktiv schlug ich die Richtung ein, in der es abwärts ging. Dort musste es ins Rhônetal führen. Als ich ein Stück gegangen war, lag vor mir eine Brücke, deren Kopf von einer Lampe hell beleuchtet war. Daneben lief ein Posten auf und ab. Das war also der richtige Weg; dort ging es hinüber nach der Schweiz. Ein altbewährtes Mittel half mir wieder einmal, an dem Posten vorbeizukommen: meine Frechheit. Ich ging direkt auf ihn zu, damit er mich deutlich sehen konnte. Da er annahm, dass ich zu den Reisenden gehörte, die eben mit dem Zuge angekommen waren, deren Pässe man also gerade revidiert hatte, ließ er mich ohne Anruf passieren.
Ein paar hundert Meter ging es so weiter. Rechts von mir stiegen steile Böschungen hoch, deren Kamm in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Links war eine tief eingeschnittene Schlucht, und ich hätte gern gewusst, ob dort unten die Rhône floss. Später erfuhr ich, dass der Fluss in der Nähe von Bellegarde völlig unter den Felsen verschwindet und erst nach einer ganzen Weile wieder empor zum Tageslicht kommt.
Hätte ich dies gewusst, wäre ich weitermarschiert. So aber wollte ich nicht aufs Geratewohl in die Nacht hineinlaufen, sondern stieg die Böschung hinan. Ich musste hier richtig an den Felsen emporklettern, bis ich weit oben eine kleine Plattform fand, auf der Gebüsch wucherte. Hier, beschloss ich, die Nacht zu verbringen, um dann am nächsten Morgen, wenn ich mehr sehen konnte, den Weitermarsch anzutreten. Mit meiner Wickelgamasche band ich mich an einem Zweig fest, um im Schlaf nicht den steilen Abhang hinunterzukullern. Halb wach verbrachte ich die letzten Nachtstunden, frierend und durchnässt von einem feinen Nieselregen.
Als es um 6 Uhr dämmerte, sah ich mir meine Umgebung etwas genauer an. Ich saß mitten drin in einer Talschlucht, durch die sich ein Weg wand. Ob das die Richtung war, in der ich gehen musste, konnte ich nicht feststellen, denn noch war alles von dicken grauen Nebeln eingehüllt. Ich kletterte hinunter zu dem Weg, den ich gekommen war, marschierte ein Stück zurück und bog kurz vor dem Posten links auf einen anderen Weg, der etwas anstieg.
Nun brachen helle Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken, und ich musste feststellen, dass ich nach Süden lief. Also hatte ich mich verfranzt. Oben auf der Höhe entdeckte ich ein paar Hirtenbuben, und als ich an ihnen vorüberkam, fragte ich die Bengels: „Où est le Rhône?“ Das musste ich unbedingt wissen, denn das Rhônetal wollte ich hinaufwandern. Die Jungen verstanden mich bald und wiesen in der Richtung, aus der ich gekommen war.
Ich musste also wieder zurückwandern. Auf der Brücke patrouillierte noch immer ein Posten, aber ich brauchte nicht mehr an ihm vorbei. In dieser Gegend hieß es ganz besonders vorsichtig sein. Die Bevölkerung war auf das Ergreifen von Flüchtlingen ganz besonders dressiert, weil es für jeden aufgegriffenen Prisonnier de guerre eine hohe Belohnung gab. Gegen 8 Uhr morgens begegneten mir die ersten beiden Menschen. Es waren zwei Straßenarbeiter, die ihre alten Alpenjägermützen trugen, also Soldaten gewesen waren. Sie musterten mich sehr eingehend, aber ich kam ihnen nicht verdächtig vor.
Immer weiter ging es den Berg hinan. Vor jeder Biegung passte ich scharf auf, denn ich rechnete natürlich damit, dass sich auf diesen Straßen Gendarmen und Zollbeamte aufhielten, deren Pflicht es war, jeden unbekannten Wanderer anzuhalten. Auch musste irgendwo vor der Grenze doch noch einmal eine Passkontrolle kommen.
Nachdem ich etwa zehn Kilometer weiter gelaufen war – inzwischen wurde es 11 Uhr mittags – kam ich in die Gegend, die auf dem kleinen Kartenabschnitt, den ich bei mir hatte, verzeichnet war. Am Wege fand ich ein paar Holunderbüsche, und als sich niemand zeigte, der mich beobachten konnte, verließ ich die Straße und legte mich unter die Sträucher.
Der nieselnde Regen, der in den Morgenstunden gefallen war, hatte meine Kleider ziemlich durchnässt, und nun musste ich mich in der Sonne, die strahlend die dicken Wolkendecken durchbrach, aufwärmen. Da ich schon lange nichts mehr gegessen hatte, langte ich mir die schwarzen Holunderbeeren von den Büschen. Meine Mutter kochte uns Kindern diese Beeren oft mit Zucker; das hatte glänzend geschmeckt. Aber roh und ohne Zucker schmeckte das Zeug widerwärtig. Ich schluckte es eben tapfer runter, denn ich musste doch wenigstens etwas im Magen haben.
Noch keine zwanzig Minuten waren vergangen, da bekam ich fürchterliche Magenschmerzen, und diesen folgte urplötzlich ein Durchfall, so schlimm, dass ich meinte, ich hätte die Ruhr. Davon wurde ich so schwach und so müde, dass ich kaum aufstehen konnte.
Die Grenze war nun nicht mehr allzu weit. Solange es Tag war, wollte ich mich noch etwas näher heranarbeiten, und erst wenn die Nacht hereinbrach, sollte es hinübergehen in die Schweiz. An einer Stelle, wo die Rhône die Grenze zwischen Frankreich und dem Bund bildet, wollte ich über den Fluss schwimmen.
Etwa drei Stunden blieb ich noch in meinem Versteck. Mit Schokolade hatte ich den Ruhranfall etwas gemildert. An Hand des winzigen Kartenausschnittes machte ich mich mit der Gegend, so gut es ging, vertraut. Die blauen Berge, die weit, weit hinten in der Ferne schimmerten … das war die Schweiz, und rechts unter mir, da floss in der Tiefe die Rhône.
Deutlich sah ich, dass an der Stelle, wo sich der Fluss durch die Felsen brach, nach Süden ziemlich steile Felswände sich erhoben, und auf der Nordseite reckte sich eine Bergnase terrassenartig in die Höhe. Der Weg, den ich entlanggegangen war, schlang sich in Serpentinen zu einer Terrasse dieser Bergnase, und dann verlor er sich durch ein Tor. Da war eine Art kleiner Festung.
Auf dem Berge gab es noch weitere Befestigungen, und da der Weg mitten durch das Fort hindurchführte, musste dort bestimmt eine Passkontrolle sein. Ein zweites Mal wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, die französischen Gendarmen mit Zeitungsanzeigen irrezuführen, und beschloss, das Fort zu umgehen.
Ich stieg weiter, bog ab und kletterte hinunter ins Tal. An der Rhône entlang wollte ich mich durchschmuggeln. Es ging ein schönes Stück in die Tiefe. Das Tosen des Flusses wurde immer gewaltiger. Als ich unten am Ufer stand, sah ich, wie die Rhône sich mit ungeheurer Wucht durch die nackten Felsen zwang. Unglaublich schnell brausten die Wassermassen vorüber und überspülten rauschend und tosend die blankgewetzten Felsen.
Gerade wollte ich mich nach einem Weg umsehen, da sah ich plötzlich einen Franzosen mit einer Angelrute in der Hand am Wasser stehen. Das musste einer der Zollbeamten sein, die oben in dem Fort stationiert waren. Himmelkreuzsakra – was war das nun schon wieder für eine ekelhafte Geschichte! Der Mann kam auf mich zu; ich überlegte, ob ich ihm einen Stein an den Kopf werfen und ihn dann ins Wasser stoßen sollte. Als er neben mir stand, fragte er mich, was ich hier täte. Er musste sehr laut brüllen, um das Tosen des Wassers zu überschreien.
„Baigner“, schrie ich zurück, denn ich musste ihm doch eine plausible Erklärung für meine Anwesenheit geben. Um meine Harmlosigkeit zu dokumentieren, begann ich mich in aller Seelenruhe vor dem Zollbeamten auszuziehen und stieg – wie mich der Herrgott geschaffen hat – in einen der kleinen Tümpel, die rechts und links des Flusses in kleinen Mulden standen.
Da es außerordentlich heiß war, leuchtete es dem Manne ein, dass ich eine kleine Abkühlung nötig hatte. Er war wieder ans Ufer gegangen und angelte weiter, passte aber scharf auf mich auf. Während ich mich anzog, sah er mir sehr interessiert zu und folgte mir noch mit den Blicken, als ich den Weg, den ich gekommen war, wieder zurückging. Dass ich mich wieder nach Frankreich hineinwandte, zerstreute sein Misstrauen.
Auf halber Höhe zwischen dem Flusstal und der Straße verdeckten mich Felsen und Büsche seinen Augen. Ich legte mich in Deckung und wartete eine halbe Stunde. Zwischen dem Fort und der Rhône schlängelte sich auch noch die Bahnlinie hindurch. Unten am Bahndamm wucherte Dornengestrüpp, und in der Zeit von 4 Uhr bis um 7 kroch und schlich ich durch diese Gebüsche hindurch am Bahndamm entlang weiter. Ich passte scharf auf, dass man mich weder oben vom Fort aus noch von unten vom Flusse her erspähen konnte. So legte ich in den zwei Stunden drei bis vier Kilometer zurück.
Hinter mir weit oben lag jetzt das Fort, auf dem auf der anderen Seite die Straße auch richtig wieder herauskam. Ich hatte es also, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, glücklich umgangen. Es war Abend geworden. Der Himmel hatte sich stark bezogen. Es begann zu regnen, und dieser Regen wuchs sich zu einem Wolkenbruch aus. Schnell brach die Nacht herein. Ich hatte mich wieder zur Straße hinaufgearbeitet, kam an einem Bahnhof vorbei, einem Ort, der mit „Tou“ anfing. Der Rest seines Namens stand nicht mehr auf meiner Karte. Unmittelbar daneben lag auf meiner Karte Chancy. Das musste schon auf der Schweizer Seite liegen.
Nun war ich also ganz dicht an der Grenze, und ich hatte Glück, denn dieser Wolkenbruch, der nicht wieder aufhören wollte, war das richtige Wetter für einen Flüchtling. Jetzt ging bestimmt kein Zollbeamter und kein Gendarm spazieren. Es war so dunkel geworden, dass ich buchstäblich meine Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Nur in der Ferne nahm ich durch den niederbrausenden Regen einen leichten Lichtschimmer wahr.
Ob das wohl schon die Schweiz war? Dort brannten nämlich scheinbar elektrische Lampen, und in ganz Frankreich hatte ich eigentlich nirgendwo elektrisch beleuchtete Ortschaften angetroffen. Schritt für Schritt arbeitete ich mich vorwärts – diesem Lichtschimmer zu.
Wettschwimmen mit dem Tode
Der Wolkenbruch war zu einem Gewitter geworden. Grelle Blitze zuckten mit fürchterlichem Donnergetöse nieder, und als ein langer Blitz aufflammte, sah ich, dass ich mich mitten in einer kleinen Ortschaft zwischen niedrigen Bauernhäusern befand. Im nächsten Augenblick war es aber schon wieder so dunkel, dass nichts mehr zu sehen war.
Nicht weit von mir toste die Rhône, und jenseits sah ich jetzt häufiger Häuser, vor denen elektrische Lampen brannten. Nach meiner Karte musste dort unten auch eine Brücke sein, die sicher scharf bewacht wurde. Im Aufleuchten eines Blitzes sah ich sie dann auch – – ein dunkler Bogen, der sich über den Fluss spannte.
Über harte Felsen kletterte ich zum Ufer hinunter und tastete mich am Wasser entlang weiter, bis ich eine Stelle fand, wo dichtes Gestrüpp ganz an die Rhône herantrat. Der Fluss machte an dieser Stelle einen Bogen. Ich ging noch fünfzig Schritte flussaufwärts. So … hier wollte ich hinüber. Da drüben musste die Schweiz sein.
Nun zog ich mich aus. Meine Kleider waren so nass, dass sie auch im Wasser nicht noch nässer werden konnten. Ich wand sie aus, schnürte sie zu einem Bündel, das ich mir mit der Wickelgamasche so auf den Kopf band, dass ich es gegebenenfalls herunterreißen konnte. Meine Schuhe band ich um den Hals. Was ich nicht mehr brauchen konnte, die Schokolade und meine Gurkenflasche, packte ich fein säuberlich in der Khakihose zusammen und versteckte das Bündel in dem Felsen.
Als ich meine Vorbereitungen beendet hatte, wollte ich zunächst einmal probieren, ob ich mit meinem hohen und auch ziemlich schweren Kopfputz überhaupt schwimmen konnte. Ich stieg in das eiskalte Wasser hinein, aber plötzlich verlor ich den Grund unter den Füßen und musste schwimmen, ob ich wollte oder nicht. Die Strömung hatte mich gepackt, und ehe ich es mich versah, war ich schon so weit vom Ufer weg, dass ich nur noch mit größter Anstrengung die französische Seite wieder erreicht hätte.
Mit unerhörter Wucht riss es mich in den wilden Strom hinaus, und da ich die Generalprobe nun schon bestanden hatte, wandte ich mich, ohne noch einmal zurückzukehren, gleich der Schweizer Seite zu. Die Strömung trieb mich rasend schnell stromabwärts. Tief drückte das schwere Bündel meinen Kopf ins Wasser hinein, die Wellen schlugen mir ins Gesicht, ich bekam überhaupt keine Luft mehr und schluckte entsetzlich viel Wasser …
In diesen kritischen Sekunden, als mich meine Kräfte schon zu verlassen begannen, und ich bereits alle Hoffnungen aufgegeben hatte, das andere Ufer überhaupt noch zu erreichen, riss ich mir mit einem Ruck das verdammte Kleiderbündel vom Kopfe, bekam wieder Luft und konnte unter Aufbietung meiner letzten Kräfte weiterschwimmen. Das Bündel hatte ich nicht losgelassen, sondern hielt es krampfhaft in der linken Hand, während ich mit der rechten gegen die Wellen ankämpfte.
Da stießen meine Füße hart auf. Es tat sehr weh, aber ich krallte mich fest an den Steinen, legte den Kopf auf die nur wenig über den Wasserspiegel hinausragenden Felsen und blieb – unfähig, mich an das Ufer zu schleppen – völlig erschöpft ein paar Minuten in dem eiskalten Wasser liegen.
Dann erst raffte ich mich auf und kroch ans Ufer. Auf der Böschung ruhte ich mich eine Weile aus. Noch einmal musste ich eine kleine Wasserfläche überwinden. Ein toter Arm der Rhône … schnell durchschwamm ich ihn und war dann richtig am jenseitigen Ufer. Das reißende Wasser hatte mich so weit abgetrieben, dass ich jetzt ganz genau die Brücke erkennen konnte.
In einem kleinen Wäldchen zog ich mich langsam an. Ein Teil meiner Sachen war verlorengegangen. Ich besaß nur noch den Rock, die Hose und meine Stiefel. Pudelnass gelangte ich auf eine Straße und fand wenige Schritte weiter eine Ortstafel, auf der Chancy stand. Das musste also die Schweiz sein, und ich hatte richtig denjenigen Ort erreicht, den ich mir auf meiner kleinen Karte zum Überschreiten der Grenze ausgesucht hatte.
Aber noch war ich meiner Sache nicht ganz sicher. Jetzt, nachdem ich den endgültigen Sieg vielleicht schon erkämpft hatte, musste ich ganz besonders Vorsicht walten lassen, denn auch nach meinem Abschuss war ich durch einen dummen Zufall, obschon ich mich den Franzosen bereits entkommen wähnte, doch noch in Gefangenschaft geraten.
Wie leicht war es möglich, dass die Nachkriegswirren Veränderungen auf der Landkarte gebracht hatten, von denen wir Kriegsgefangene nichts erfuhren. Und dann, – wenn ich auch in der Schweiz war, es war ja doch die französische, in der ich immer noch Gefahr lief, so nahe der Grenze von ein paar gutgesinnten französischen Leuten gepackt und zur nächsten Gendarmeriestation geschleppt zu werden.
Sehr vorsichtig arbeitete ich mich an das Gebäude heran, vor dem jene rote Lampe hing, die ich schon von der anderen Seite aus gesehen hatte. Als ich durch das Fenster ins Zimmer blickte, sah ich an den Wänden lauter französische Plakate und Verordnungen hängen, und wieder stiegen in mir Zweifel auf, ob ich mich auch wirklich auf Schweizer Boden befand.
Nicht weit entfernt war eine Wirtschaft. Drin brannte düsteres Licht, und ich sah an einem Tisch zwei Männer ins Gespräch vertieft. Vielleicht der Wirt und ein Arbeiter, die beim abendlichen Schoppen zusammensaßen. Hier wollte ich mein Glück versuchen. Ich trat in die Gaststube und sicherte mir zunächst den Rückweg. Dann erst trat ich auf die beiden Leute zu und fragte sie:
„C’est la France ici?“ Wenn ich mich nämlich noch in Frankreich befand, so war es weniger auffällig, diese Frage zu stellen. Die Leute sahen mich sehr erstaunt an, denn aus meinen Kleidern lief das Wasser in Strömen und bildete kleine Seen zu meinen Füßen. „Mais non, c’est la Suisse, Monsieur“, lautete die Antwort. Ich tat sehr enttäuscht und fragte noch einmal, ob hier nicht doch französischer Boden sei. Aber die beiden Männer schüttelten die Köpfe und sagten, Frankreich sei auf dem anderen Flussufer.
Jetzt erst hatte ich also Gewissheit. Und nun entrangen sich mir die Worte: „Dann bin ich frei!“ Was darin für mich lag, mussten die beiden wohl auch gefühlt haben. Sie zogen die Augenbrauen hoch und fragten: „Ja, sind Sie ein Dütscher?“ Ich bejahte. Ein Wort gab das andere, und ich erzählte, dass ich von drüben gekommen war.
„Über die Bruck?“ Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich sei geschwommen. Aber das wollten sie mir nicht glauben, denn sie wussten, wie reißend an jenem Abend die Rhône war.
Es waren gute Kerle, die mir gleich von ihrem Wein gaben. Ich trank einen Schluck, der mir wie Feuer durch die Kehle rann, und in mir stieg ein unbeschreibliches Glücksgefühl auf. Vergessen waren die Strapazen der langen Flucht, vorbei die Erschöpfung, die dem Kampf mit dem reißenden Strome gefolgt war. Der Sieg war erfochten. Denen dort drüben hatte ich nun doch ein Schnippchen geschlagen, brauchte nun nicht als Gefangener zu warten, bis man mich gnädig wieder in die Heimat zurücktransportierte.
Ich hatte mir meine Freiheit erkämpft!
Obwohl die beiden Männer ganz ungefährlich schienen, fürchtete ich doch, dass sich meine geglückte Flucht im Dorfe herumsprechen könnte. Wie leicht konnten sich da ein paar Schweinehunde finden, die mit den Franzosen unter einer Decke steckten und mich noch um den Lohn meines Kampfes brachten.
Es erschien mir sicherer, mich unter den Schutz der Behörde zu begeben. Ich fragte die beiden, wo die nächste Gendarmeriestation sei. Sie zeigten mir das Haus mit der roten Lampe, und ich beschloss, dorthin zu gehen, um mich offiziell bei den Schweizer Behörden zu melden. Wenn man mich dann noch nach Frankreich hinüberstieß, so war dies ein Bruch des Völkerrechts. Die beiden Männer wollten mich zwar begleiten, aber ich verzichtete gern, und da es immer noch fürchterlich regnete, ließen sie mich auch allein wandern.
Lange musste ich an die Tür der Gendarmeriestation pochen. Schlurfende Schritte – einer der beiden Gendarmen, die hier wohnten, öffnete mir und ließ mich ein. Ich erzählte ihm meine Geschichte. Er zog mich in seine Privaträume, seine Frau brachte mir ein frisches Hemd und eine Hose von ihrem Mann, während meine Sachen zum Trocknen aufgehängt wurden. Die Frage, ob ich Hunger hätte, brauchte ich gar nicht erst zu bejahen. Ich bekam ein herrliches Essen: Corned Beef aus Büchsen und Brot und Butter, soviel ich haben mochte. Ich aß und berichtete den netten Leuten von meinen Abenteuern.
Als wir uns zur Ruhe begeben wollten, brachte mich der Brigadier, der mir entweder nicht traute oder kein anderes Gastzimmer besaß, in den Keller und öffnete eine dicke Tür. Es war das Arrestlokal, in dem die unsicheren Kantonisten eingesperrt wurden. Dort stand eine Pritsche, auf der viele Decken lagen. Dieses Lager wies er mir für die Nacht an und erklärte, dass er leider über keine andere Liegestatt verfügte.
Die Tür klappte zu, und der Riegel kreischte im Schloss. Noch einmal war ich also Gefangener. Aber es war ein schöner Raum, sauber geweißt, und im Vergleich zu den französischen Gefängnissen, durch die man mich geschleift hatte, ein wahrer Salon. Ich lachte und freute mich; ich hatte frische Wäsche an, lag wie ein Prinz in meinen weichen Decken und war rasch entschlummert.
Mitten in der Nacht wachte ich auf, rieb mir lange die Augen und überlegte, was eigentlich los war. Hatte ich nur geträumt, saß ich noch in Montoire oder gar in einem Gefängnis? Als ich dann aber die Decken sah und die Lampe, da freute ich mich unbändig und merkte erst jetzt, dass ich fürchterlichen Durst hatte. Neben meiner Pritsche stand ein sauberer Krug mit frischem Wasser. Es mochten zwei bis drei Liter darin gewesen sein. Den hob ich hoch, setzte ihn an und ließ den erfrischenden Trunk solange durch die Kehle rinnen, bis auch nicht ein einziger Tropfen mehr übrig war. Dann schlief ich fest, bis mich das Knirschen des Riegels weckte und der Brigadier mich zum Frühstück holte.
Das schwere Gewitter vom Vorabend, das mir so wunderbar geholfen hatte, war verzogen. Strahlender Sonnenschein drang durch die Fenster, und auf der anderen Seite des Flusses sah ich grüne Höhenzüge und Berge liegen: Frankreich. Und ich war frei …
Mein Fluchtweg aus dem Gefangenenlager Montoir
Heimkehr
Da meine Kleider noch nicht ganz trocken waren, wurden sie gebügelt. Inzwischen machte ich mir schnell aus meiner Wickelgamasche ein Käppchen, und mit diesem etwas merkwürdigen Kopfputz marschierte ich neben meinem Brigadier zur Haltestelle der Straßen bahn, die nach Genf hineinführte. Dort sollte ich bei der Kommandantur abgeliefert werden.
Im Dorf hatte es sich schon herumgesprochen, dass ein Flüchtling des Nachts über die Rhône geschwommen war. Die Leute standen vor den Häusern und starrten mich an, als wir vorübergingen. Viele freundliche und anerkennende Blicke trafen mich. Aber so mancher musterte mich finster und verbissen. Es war schon gut gewesen, dass ich mich unter amtlichen Schutz begeben hatte.
In der Straßenbahn saß ich am Fenster. Immer weiter wichen die Höhenzüge des französischen Jura zurück. Und mein Gesicht strahlte vor Glück, ein Ausweis für mich … besser als alle Pässe der Welt, die ich hätte bei mir haben können.
Auf der Kommandantur wurde ich einem Kapitän vorgestellt, der meine Personalien aufnahm und das deutsche Generalkonsulat verständigte. Nicht lange darauf erschien ein freundlicher Herr unserer Genfer Vertretung und übernahm mich zur Zurückleitung in die Heimat. Der Kalender zeigte den 16. September. In Montoire war ich am 9. entflohen. Ich hatte mich also genau eine Woche lang mit all den Schwierigkeiten und Gefahren herumzuschlagen gehabt.
Im Generalkonsulat, wo der damalige Generalkonsul Geißler, ein liebenswürdiger und hilfsbereiter Mann, amtierte, musste ich natürlich noch einmal alle Daten zu Protokoll geben, denn es kam vor, dass Leute auf dem Konsulat erschienen, die in Wirklichkeit gar keine entflohenen Kriegsgefangenen waren, sondern Schwindler, denen es auf eine Unterstützung ankam. Aber meine Angaben waren leicht nachzuprüfen. Da ich aus Montoire kam, wusste ich selbstverständlich auch von Menckhoff zu erzählen, der vor mir geflohen und etwa zehn Tage vorher durch das Konsulat in die Heimat überführt worden war.
Menckhoff hatte die französische Grenze in der gleichen Gegend wie ich überschritten, jedoch war es für ihn leichter gewesen, weil er noch vom Frieden her mit den örtlichen Verhältnissen vertraut war. Man glaubte mir, und plötzlich war ich wieder der Hauptmann Köhl. Nicht mehr der gehetzte und getriebene Flüchtling.
Das Glück der nächsten Tage zu beschreiben, diese Seligkeit … das ist nicht möglich. Diese Tage in Genf waren der Höhepunkt meines Lebens. Wer nie Gefangener war, wer nie die stets so als selbstverständlich betrachtete Freiheit sich bitter hat zurückerkämpfen müssen, der versteht es nicht. Der kann sich diese gewaltige Freude nicht vorstellen, der weiß nicht, wie schön das Leben ist, nur weil man eben wieder frei ist. Wenn später in meinem Leben mir einmal dunkle Wolken die Sonne verdeckten, dann brauchte ich nur an die Gefangenschaft zurückzudenken, und dann erschien selbst die trostloseste Situation erträglich.
Zwei Tage musste ich in Genf bleiben, ehe mein Pass fertig war und ich alle notwendigen Formalitäten erfüllen konnte. Dann brachte mich die kleine deutsche Kolonie noch auf den Bahnhof. Händedrücke, Hüteschwenken, und nun rollte ich entlang den herrlichen Gestaden des Genfer Sees, durch das schöne Schweizer Land der Heimat zu.
Der Pass des Heimkehrers
Der Zug hatte schwer zu arbeiten. Es ging die Schweizer Höhen südlich vom Bodensee hinauf. Gleich musste man das schwäbische Land sehen können. Dann waren wir oben auf den Höhen. Gierig suchten die Augen in der Ferne die Heimat. Silbern glitzerte der See, und dahinter verschwommen im Dunst ein dunkler Streifen. Das war … Deutschland. – – –
Mir gegenüber saß ein Bauernmädchen. Es sah mich ganz erschrocken an, als mir plötzlich die Tränen aus den Augen schossen und in breiten Bächen über die Wangen rannen. Fühlte sie, dass es Freudentränen waren …?
Der Zug rollte über die Grenze. Wir fuhren ein in Konstanz und mussten aussteigen. Die Passrevision war überstanden, aber dann kam der Zoll.
Ich hatte in Genf gehört, wie schlecht es in der Heimat drüben aussah und dass es nichts zu essen gab. Da man mir außer meinem Fahrgeld zweiter Klasse auch noch ein Zehrgeld von zehn Franken mit auf den Weg gegeben hatte, verzichtete ich lieber auf die weichen Polster im Zuge und kaufte statt dessen ein wenig Schokolade, etwas Kaffee und ein paar Schweizer Stumpen, die ich den Lieben zu Hause bei meiner Rückkehr nach so langer Abwesenheit mitbringen wollte.
Ich hatte ja kein weiteres Gepäck und glaubte nicht, dass man mir dieser Kleinigkeiten wegen Schwierigkeiten bereiten würde. Aber ich hatte vergessen, dass trotz der großen Umwälzungen, die Deutschland erlebt hatte, der Amtsschimmel munter weitergaloppierte. So musste ich für das kleine Mitbringsel aus anderthalbjähriger Gefangenschaft über zwanzig Mark Zoll entrichten – einen Betrag, der den Rest meiner Barschaft ziemlich auffraß. Das war der erste Gruß der Heimat.
In Konstanz begab ich mich in das Übergangslager, wo man mich freundlich empfing. Da die Züge in Deutschland damals nur sehr spärlich und keineswegs fahrplanmäßig verkehrten, musste ich dort übernachten und nahm mir vor, am Abend zum ersten Male in Deutschland auszugehen. Es kam aber nicht dazu. Ich hatte mich auf mein Bett gelegt, schlief ein, und als ich erwachte, guckte der Morgen schon zum Fenster herein.
Jetzt gab ich das erste Telegramm an meine Angehörigen auf und fuhr hinein ins schwäbische Land – Ulm, meiner Heimatstadt, zu. Abends um 8 Uhr kam ich dort glücklich an und suchte eine befreundete Familie auf, bei der ich in meiner Leutnantszeit viele schöne Stunden verlebt hatte. Als ich vor der Wohnungstür stand, drückte ich, wie ich es immer getan hatte, zweimal ungestüm auf den Klingelknopf. Drin, wo man beim Abendessen saß, auch mein Bruder, der kurz zuvor aus Deutsch-Ostafrika zusammen mit Lettow-Vorbeck zurückgekommen war, fielen die Worte: „Das ist Hermann!“
Das Mädchen, das mich gut kannte, öffnete. Wie riss sie die Augen auf, als sie mich plötzlich vor sich sah! Sie war sprachlos und konnte sich nicht vorstellen, dass ich, der ich doch in Gefangenschaft war, so urplötzlich auf der Bildfläche erschien. Im Zimmer drin hörten sie meine Stimme und schmissen vor Schreck alles um, was auf dem Tisch stand.
Wirklich, der Hermann! Mein Telegramm war nämlich noch nicht eingetroffen. Zu jener Zeit, da Deutschland noch unter den Nachwehen der Revolution und den Streiks, die allerorts an der Tagesordnung waren, erzitterte, funktionierte auch die Post nicht mit der gewohnten Pünktlichkeit.
Natürlich telefonierte ich nun auch gleich mit meinem Vater in Pfaffenhofen. Der alte Herr geriet vor Freude fast aus dem Häuschen. Da ihm kein Gefährt zur Verfügung stand, wollte er durchaus die 16 Kilometer lange Strecke nach Ulm noch in der Nacht marschieren. Es kostete viel Überredung, ihn davon abzuhalten. Am nächsten Tage wollte ich ja sowieso zu ihm hinausfahren.
Es war ein herrlicher Abend. Die ganze Nacht hindurch erzählte ich. Als wir, trunken von Glück und Wein und Wiedersehensfreude, den Schlaf suchten, graute draußen bereits der Morgen …
Am nächsten Tage trieben wir einen Krümperwagen auf, und nun ging es zu Vater und Mutter. Von dem Elternhause flatterte die größte Fahne, die mein Vater sich hatte besorgen können. Aufs tiefste erregt lagen wir uns in den Armen … vieles, was ich in der Jugendzeit verbrochen hatte, all die Kümmernisse, die ich meinem Vater durch meinen jugendlichen Leichtsinn bereitet hatte, sah man jetzt in einem anderen Licht. Nun zeigte es sich, wie gut es gewesen war, dass ich während der Schulzeit durch meine Streiche auch noch manches andere gelernt hatte, denn dies war es nicht zuletzt gewesen, was mich meinen Sieg erringen ließ.
Friedensarbeit
So plötzlich wie die Revolution über Deutschland hereingebrochen war, so überraschend kam auch für mich das neuartige Leben. Die ersten Tage in der Heimat … in Ulm, in Stuttgart und in Berlin – – ich konnte es einfach nicht begreifen, ich verstand die Menschen nicht mehr. Sie regten sich über Nichtigkeiten auf, vergaßen über dem Kleinkram des Tages alles Große. Nur die Partei, nur das eigene Ich regierten. Hatte man sich damit abgefunden, dass Deutschland zu einer Nation zweiter Klasse geworden war?
Auch bei meinem alten Pionierbataillon hatte sich vieles verändert. Ein großer Teil der Kameraden war nicht mehr zurückgekommen aus dem großen Völkerringen, und die meisten Aktiven hatten nach dem Zusammenbruch ihren Abschied genommen. Überall herrschten noch völlig ungeordnete Verhältnisse, und niemand wusste so recht, welche Formationen weiterbestehen bleiben würden. Mir wurde, als ich mich zurückmeldete, die Aufstellung eines Scheinwerferzuges übertragen. Aber das dauerte nur ein paar Tage, denn ich erhielt kurz darauf die Mitteilung, dass ich bei der württembergischen Polizeiwehr eine Polizeifliegerstaffel führen sollte. Da wir damals noch hoffen konnten, dass uns die Entente derartige Formationen gestatten würde, nahm ich den Posten an und begab mich nach Böblingen, wo ich aus den dort herumliegenden Trümmern meine Staffel aufzubauen begann.
Polizeiflieger in Böblingen: Vor einer alten Sablatnig-Maschine mit zwei Kriminalkommissaren
Das war keine dankenswerte Aufgabe; es gab viele Differenzen mit dem dort liegenden Reichswehrfliegerhorst, der in uns eine unerwünschte Konkurrenz sah. Ein harter und aufreibender Kampf begann nun für mich, wenigstens das Notwendigste für meine Staffel aufzutreiben, und als sich mir bei der Aufstellung des 150 000-Mann-Heeres die Möglichkeit bot, wieder zur Truppe zu kommen, griff ich mit beiden Händen zu.
Bevor ich dann aber zur Reichswehr übertrat, machte ich noch die endgültige Auflösung unserer einst so stolzen Fliegerwaffe mit. Wir versammelten uns im Kriegsministerium zu Berlin, wo die Aufteilung der Formationen und die Überführung ihrer Angehörigen in andere Truppenteile verfügt wurde. Das war ein schwarzer Tag für uns deutsche Kriegsflieger: mit allen unseren Kräften hatten wir uns aufgelehnt und versucht, wenigstens etwas zu retten. Aber der Feind wünschte die Vernichtung unserer Fliegerei. Es half nichts – wir mussten uns dem Diktat fügen, denn das deutsche Volk war uneinig geworden und zerfleischte sich selbst, statt zusammenzuhalten …
Kurze Zeit tat ich dann noch als Hauptmann beim Stabe einer Kraftfahrabteilung Dienst, bis man mich bei der Reduzierung unserer Reichswehr auf das 100 000-Mann-Heer vor die Wahl stellte, Kraftfahrer zu bleiben oder zur Infanterie hinüberzuwechseln. Ich zog das letztere vor und kam zum Schützenbataillon des 13. Infanterieregiments nach Ludwigsburg, wo ich bald die 7. Kompanie übernahm. Als Kompaniechef hatte ich viel zu tun, denn wir brauchten wieder möglichst schnell vollwertige Truppenteile. Aber Spaß machte diese Arbeit, und ich freute mich, wieder in der schwäbischen Heimat Soldat sein zu können.
Als meine Kompanie richtig zusammengestellt und durchgebildet war, fand ich auch Zeit, mich um etwas persönlichere Dinge zu kümmern. Ich war alt genug geworden und fand es an der Zeit, mir unter den Schönen des Landes die Schönste auszusuchen. Nach vielen Irrfahrten auf diesem Gebiet landete ich schließlich bei meinem Peterle; aber so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte, ging die Heiraterei doch nicht. Ein Mädchen, das zu heiraten es sich lohnte, hatte ich wohl gefunden, es mussten jedoch noch eine ganze Reihe von Hindernissen überwunden werden, ehe ich ans Ziel kam.
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, erklärte ich dem Peterle gleich am zweiten Tage unserer Bekanntschaft frisch und fröhlich, dass ich sie heiraten wolle, ohne zu erwarten, dass mir die junge Dame, die gerade aus der Pension gekommen war, gleich begeistert um den Hals fiel. Gut Ding will Weile haben … das wusste auch ich, aber ich sagte mir, dass es gut sei, wenn sie von Anfang an wüsste, was ihr bevorstünde. Vorsichtshalber hatte ich – allerdings ohne ihr Wissen – auch ihren Eltern geschrieben, welches Attentat ich auf ihr Töchterlein beabsichtigte.
Wenn ein so alter Krieger wie ich sich etwas in den Kopf setzt, dann versteht er auch, den Hebel an der richtigen Stelle anzusetzen, und da der Frontalangriff hier nicht am Platze schien, beschloss ich einen Umgehungsversuch zu machen, um, wenn auch auf Umwegen, doch die belagerte Festung zu erobern. Nun – das ist mir schließlich auch gelungen.
Mitten in der Inflation feierten wir unser Hochzeitsfest, und wenn ich nicht auf der anschließenden Hochzeitsreise trotz des „jungen Glücks“ einen kühlen Kopf behalten und gleich in Innsbruck die Rückfahrkarte gekauft hätte, dann wären wir bestimmt nicht wieder nach Haus gekommen. Es waren schon verrückte Zeiten, die wir damals durchlebten. Ein Trost, dass ich einen Zentner Mehl und zwanzig Pfund Butterschmalz mit in die Ehe gebracht hatte und immer in der Lage war, von einem Metzger auf der Schwäbischen Alb stabile Dauerwürste zu besorgen, – sonst wäre Schmalhans oft bei uns Küchenmeister gewesen.
Weit, weit hinter mir lag die Fliegerei. Nur manchmal, wenn die Fachzeitschriften kamen oder ich mit den alten Kameraden zusammentraf, regte sich in mir der Wunsch, wieder einmal hinter dem brausenden Propeller hoch in der Luft durch die dunkle Nacht zu ziehen. Aber der Pakt von Versailles hatte unsere militärische Fliegerei zerschlagen, und nur sehr zaghaft und unsicher begann man, aus ihren Trümmern einen zivilen Luftverkehr aufzubauen.
Uns Kriegsflieger hatte das Schicksal auf andere Posten gestellt. Uns waren die Hände gebunden. Jedoch vergessen … das konnten wir nicht; wir blieben sprungbereit, denn einmal musste ja der Tag kommen, an dem die Nachtraben wieder aufstiegen zum nächtlich dunklen Himmel. Vier Jahre führte ich meine Kompanie, vier Jahre war ich glücklich als Soldat, aber mit tausend Fäden zog es mich doch immer wieder zur Fliegerei, die keinen loslässt, der ihr einmal verfiel.
Im Jahre 1923 traf ich mit Gotthart Sachsenberg zusammen, dem Manne, der den Junkers-Luftverkehr aufzog und in richtiger Erkenntnis der Erfordernisse eines wirtschaftlichen Verkehrsflugbetriebes auch an die Einführung des Nachtfluges dachte. Unter seinen zähen Händen erhob sich allen Widerständen zum Trotz aus den Trümmern von Versailles etwas Neues. Die furchtbare Vernichtungswaffe des Weltkrieges wurde friedlicheren Aufgaben dienstbar gemacht. Als ich ein Jahr später von Ludwigsburg nach Ulm zu den Pionieren versetzt wurde, beteiligte sich mein Bataillon an einer Übung in Klausdorf bei Zossen. Von dort aus besuchte ich Sachsenberg in Berlin, und wir kamen überein, den Versuch zu machen, die erste deutsche Nachtflugstrecke einzurichten.
Anschließend an die Klausdorfer Wasserübung nahm ich den mir zustehenden Sommerurlaub, den ich später sogar um vierzehn Tage verlängern ließ, und arbeitete bei Junkers-Luftverkehr. Wenn meine neue Tätigkeit auch viel Ähnlichkeit mit dem Dienst draußen im Felde hatte, denn viele alte Fliegerkameraden schafften mit uns zusammen, so war es doch ein ganz anderes Arbeiten als im straffen militärischen Betrieb. Man war freier und selbständiger, aber dafür strengte der Dienst umso mehr an. Ich war selig, wieder in der Luftfahrt tätig zu sein und freute mich, dass ich zusammen mit meinem Nachfolger im Felde, dem Hauptmann von Schröder, der dann leider im Jahre 1929 beim Rückflug von den Kanarischen Inseln gemeinsam mit meinem tüchtigen Flugzeugführer Albrecht bei Neuruppin im Nebel strandete und verbrannte, hier den ersten Grundstein zur Entwicklung des Nachtflugverkehrs legen durfte.
Leider ließen sich die organisatorischen Vorbereitungen auf dieser ersten Nachtstrecke, die von Berlin zunächst bis nach Warnemünde führen sollte, nicht so rasch bewerkstelligen, wie ich gehofft hatte. Wochenlang war ich auf meinem Fahrrad durch die Mark und das mecklenburgische Seengebiet gefahren, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, Streckenlichter zu platzieren und brauchbare Notlandeplätze auszukundschaften. Viel zu rasch ging mein Urlaub vorüber. Ich erlebte nur die allerersten Flugversuche, die dann nach meiner Rückkehr zur Truppe sehr bald wieder eingestellt wurden.
Die freiwillige Betätigung während der Urlaubstage hatte mir einen Weg in die Zukunft gewiesen. Die Entwicklung des zivilen Nachtflugverkehrs war eine Aufgabe, die ich gern gelöst hätte. Blieb ich weiter Soldat, so hatte ich wohl die besten Aussichten, bei der Reichswehr weiterzukommen, aber die Möglichkeit, fliegerisch tätig zu sein, fiel vollkommen fort. Die Liebe zur Fliegerei und das Bewusstsein, dass ich im Dienste des Luftverkehrs wertvolle Arbeit zu leisten vermochte, waren stärker als die Bande, die mich an die sichere militärische Position fesselten. Mein Entschluss stand fest: wenn sich mir eine Gelegenheit bieten sollte, würde ich mich ganz der Luftfahrt verschreiben. Schon im nächsten Frühjahr war es soweit, nur musste ich dazu noch einmal rasch nach Berlin fahren, um dort mit den maßgebenden Stellen Fühlung zu nehmen.
Mein damaliger Kommandeur zeigte für meine Pläne und Absichten keinerlei Sympathien. Er wollte es nicht, dass ich mich einstweilen zur Fliegerei beurlauben ließ, und da er mir selbst für die kurze Reise schwerlich Urlaub erteilt hätte, verschwand ich still und heimlich nach einer Geländeübung, die in der Nähe von Ludwigsburg stattfand. Ich setzte mich in den D-Zug, fuhr nach Berlin und war zur rechten Zeit wieder in Ulm. Niemand hatte diesen Ausflug bemerkt: nur die Dienststellen, mit denen ich in Berlin verhandelt hatte, erwähnten ihn zufällig in einem Schreiben an meinen Kommandeur.
Er ließ mich kommen, um mir gründlich den Kopf zu waschen. Seltsam – da stand ich wieder einmal vor meinem Pionierkommandeur in dem alten und mir recht vertrauten Dienstzimmer, und wieder fielen fast die gleichen Worte, die ich im Jahre 1914 zu hören bekommen hatte, als ich auch damals durch mein eigenmächtiges Handeln – meine Versetzung zur Fliegerei durchzusetzen versuchte. Mein Kommandeur sprach mir sein „tiefstes Missfallen“ aus, aber in dem Kampf mit den militärischen Dienststellen siegte ich schließlich doch.
Im April verabschiedete ich mich von meiner Kompanie, verließ die Kaserne in meiner Geburtsstadt Neu-Ulm und zog nach Berlin, wo ein gewaltiges Schaffen begann, dessen Erfolg sich bald zeigte, als die erste Nachtstrecke Berlin– Warnemünde–Stockholm sich glänzend bewährte. Nun reichte ich meinen endgültigen Abschied ein. Er wurde mir bald bewilligt, und jetzt war ich der Fliegerei wieder mit Haut und Haaren verschrieben. Wenn ich an die erste Zeit der Aufbauarbeit zurückdenke, so möchte ich fast sagen, dass sie der schönste Teil meiner fliegerischen Tätigkeit gewesen ist. Ich konnte frei und selbständig arbeiten, und die großen Fortschritte, die der Nachtflug in diesen Monaten machte, waren der schönste Lohn für die durchwachten Nächte und die Tage, die ich auch nicht schlafend verbrachte.
Sachsenberg unterstützte mich in jeder Hinsicht; auf dem Flughafen Tempelhof, wo nun ein paar Bretterbuden als Vorläufer der heutigen Pracht standen, fand ich viele tüchtige Mitarbeiter, und wir fügten Stein auf Stein, um den Aufbau des Nachtfluges, der in Bezug auf Sicherheit dem am Tage abgewickelten Verkehr in nichts nachstehen sollte, zu vollenden.
Aus dem Exerzierplatz Tempelhof entsteht ein Flughafen 1924
Leicht war es nicht im Anfang. Immer wieder quälte uns die Sorge um die Wirtschaftlichkeit des Betriebes und die Herbeischaffung der notwendigen Mittel. Was uns an Gelde fehlte, ersetzten wir durch den guten Willen und die Hingabe an die gemeinsame Arbeit.
Als ich damals mein Amt als Nachtstreckenleiter antrat, kam ein kleiner, untersetzter Mann auf mich zu, in dessen klugen und verständigen Augen die ganze Hoffnungslosigkeit unseres jungen Unternehmens zu lesen war. Der Werkmeister Goller musterte mich misstrauisch und erklärte: „In vierzehn Tagen ist der ganze Zauber hier aufgeflogen!“ Das war die Begrüßung. Aber nach vierzehn Tagen war der Zauber nicht aufgeflogen, im Gegenteil, wir kamen vorwärts, und der kleine Pessimist ist mir im Laufe der Zeit ein guter Freund und ein treuer Helfer geworden, nachdem er sein angeborenes Misstrauen begraben hatte. Wäre der Meister Goller nicht gewesen, wir hätten so manches Mal Bruch machen müssen, denn er war es, der die Motoren unserer Nachtmaschinen betreute, die wichtigsten Teile unserer Maschinen, auf die sich gerade der Nachtflieger ganz besonders verlassen muss.
Goller hat damals schnell umgelernt und erkannt, wie notwendig der Nachtflug für die Verkehrsfliegerei ist. Aber nicht nur er, auch die Piloten zeigten anfangs wenig Neigung, unter die „Nachtschwärmer“ zu gehen. Wer 1924 die ersten Versuchsflüge mitgemacht hatte, war laurig geworden, und von den alten und bewährten Verkehrsfliegern dachte niemand daran, zum Nachtflug mit seinen Unbequemlichkeiten hinüberzuwechseln. In der ersten Zeit musste ich mich darum meist mit jungen neueingestellten Piloten begnügen. Noch heute bin ich glücklich darüber, dass wir trotz der misslichen Verhältnisse im Anfang wenig Bruch machten. Keiner von denen, die mit mir arbeiteten, büßte bei diesen nicht ungefährlichen Versuchen sein Leben ein.
Bald waren jedoch die Kinderkrankheiten überstanden. Wir führten die Funkentelegrafie ein, stellten Richtungslichter auf, entwickelten besondere Nachtfluggeräte und richteten auf den Hilfslandeplätzen Flugwachen ein, die zur Abgabe von Wettermeldungen angehalten wurden. Sehr rasch schon bewies die Streckenstatistik, dass unsere Nachtstrecke ebenso regelmäßig zu befliegen war wie die Tageslinien. Nun wandte sich das Blatt, und als die Direktion in richtiger Erkenntnis der Wichtigkeit des Nachtfluges die Kilometergelder für Nachtflüge verdoppelte, befreundeten sich auch die alten und bewährten Flugzeugführer mit dieser neuen Sparte des Luftverkehrs. Heute ist es so, dass nur die besten und verdientesten Piloten beim Nachtflug Verwendung finden.
Es wird auch schon nachts geflogen …… mit Junkers A 20… mit Junkers F 13
Neben unseren bewährten offenen Junkers-Flugzeugen erprobten wir auch reine Verkehrsmaschinen. Schon gegen Ende der Flugsaison 1925 stellten wir die erste dreimotorige Junkers G 24 in Dienst, die sich ganz besonders bewährte. Als im Jahre darauf Junkers-Luftverkehr mit dem Aero Lloyd zusammengeschlossen wurde und die neugeschaffene Deutsche Luft Hansa die Durchführung des gesamten deutschen Luftverkehrs übernahm, bekam ich dort die Nachtflugleitung. Was nun kam, war eigentlich nicht mehr so schwierig. Der Grund war gelegt, die notwendigen Erfahrungen waren vorhanden, und bis heute hat sich kaum etwas wesentlich geändert. Dass der Ausbau des Streckennetzes vorwärts ging, dass die technischen Hilfsmittel Schritt hielten mit der immer weiterstrebenden Funktechnik, dass die Nachtfluggeräte und Landebeleuchtung verfeinert wurden, das war eine zwangsläufige Entwicklung, nachdem sich der Nachtflug durchgesetzt hatte.
Aber Nachtflug ohne Nebelflug blieb eine halbe Sache. Hier musste ich also meine Arbeit fortsetzen, und Schritt für Schritt, wie ich den Nachtflug entwickelt hatte, wollte ich jetzt den Nebelflug, der für die Regelmäßigkeit des Verkehrs von größter Bedeutung ist, als Ergänzung meines bisherigen Schaffens einführen. Jedoch … meine Vorschläge fanden bei der neuen Gesellschaft wenig Verständnis. Meine Stellung machte im Laufe der Zeit einen Wandel durch. Ich flog kaum noch und musste meine Tage am Schreibtisch verbringen.
Das war ein böses Leben. Ich wollte doch helfen, unsere Fliegerei vorwärts bringen, wirklich positive Arbeit leisten und musste statt dessen Akten führen und Berichte schreiben. Sehr ernsthaft spielte ich mit dem Gedanken, meinen Posten aufzugeben und mir ein anderes Tätigkeitsfeld zu suchen. Aber wo? – In Deutschland war dies kaum möglich. Und in Amerika …? Nein, davon hielt mich wieder meine Liebe zum Vaterland ab, denn ich wollte nicht mir, sondern der deutschen Fliegerei helfen.
Erster Ozeanflugversuch
Da brachte das Jahr 1927 mit seinen ersten Ozeanflügen, die im Nonstop-Flug über den Atlantik führen sollten, etwas Neues. Nungesser und Coli starteten ins Ungewisse und blieben verschollen. Die Welt trauerte um die kühnen Piloten, die bei dem Versuch, eine Brücke über die Wasserwüste des Atlantik zu schlagen, den Tod gefunden hatten. Dann glückte Lindberghs weltgeschichtlicher Flug nach Paris …
Nun saß ich nächtelang über den Karten und rechnete. Jeden Versuch verfolgte ich mit größter Spannung und interessierte mich vor allem für die Gründe, die so viele dieser mutigen Unternehmungen zum Scheitern brachten. Es war immer wieder das eine: die Nacht. Sie vollendete das Schicksal so vieler, die auszogen und nicht wiederkehrten. Hier war ein Problem, das mir der Lösung wert erschien.
In jener Nacht, als wir auf dem Tempelhofer Feld die Ankunft des amerikanischen Fliegers Chamberlin erwarteten, der uns dann leider im Stich ließ und in Cottbus landete, entschied sich mein Schicksal. Jetzt, wo sich die Besten aller Nationen bemühten, den Ozean zum ersten Male in ostwestlicher Richtung zu bezwingen, durften wir alten deutschen Kriegsflieger nicht fehlen. In den langen Stunden vergeblichen Wartens wurden wir uns klar darüber, dass ein solcher Flug mit einer deutschen Maschine und deutschem Motor gemacht werden musste. Und wenn uns das Wagnis nicht glücken sollte, dann war es für uns jedenfalls ehrenvoller, den Fliegertod zu sterben, als abseits zu stehen und überhaupt nicht an diesem Wettbewerb der Nationen beteiligt zu sein.
Der Entschluss war gefasst. Auch jetzt war es wieder Gotthart Sachsenberg, der meinen Plan förderte. Er war inzwischen Direktor bei den Junkers-Flugzeugwerken geworden. Da wir mit einer Junkers W 33 fliegen wollten, war seine Hilfe außerordentlich wertvoll. Die nun einsetzenden Verhandlungen wurden nervenaufreibend.
Während man in Dessau an der Verbesserung und Spezialausrüstung der Maschine arbeitete, musste in Berlin die Finanzierung betrieben werden. Dadurch, dass sich der Norddeutsche Lloyd sehr für unser Vorhaben interessierte und es tatkräftig förderte, lernte ich Ehrenfried Günther Freiherrn von Hünefeld kennen, der in Dessau die Verhandlungen für die Schifffahrtsgesellschaft führte. Zwei Flugzeuge, die „Bremen“ und die „Europa“, wurden gekauft, und ein paar Tage später fanden wir uns als Besatzung der „Bremen“ zusammen.
Die technischen Vorversuche, bei denen es vor allem darauf ankam, festzustellen, wie stark sich die Maschinen belasten ließen, führte der Pilot Loose durch. In der Kabine waren Wassersäcke aufgehängt worden, die von Start zu Start mehr gefüllt wurden. Vor der Landung wurde dieses Wasser wieder abgelassen. Als so die Grenze der Belastungsmöglichkeit erreicht worden war, starteten Loose und Ristics, um den von Chamberlin gehaltenen Dauerweltrekord zu brechen. Nach einem heillos gefährlichen Start beim ersten Morgenlicht pendelten sie zwischen Dessau und Leipzig hin und her, bis sie infolge einer Störung an der Betriebstoffleitung in der Nacht zur Notlandung gezwungen wurden.
Trotz dieses Misserfolges ließen wir uns nicht abschrecken. Erst, wenn der Angriff auf den Weltrekord geglückt war, wollten wir zum Flug über den Atlantik antreten. Der zweite Versuch, diesen Rekord zu brechen, sah beide Maschinen am Start. Ristics und Edzard gelang es mit der „Europa“ nach einem 52-stündigen Fluge, den Amerikanern den Dauerweltrekord zum ersten Male zu entreißen und an Deutschland zu bringen. Loose und ich in der „Bremen“ hatten Pech.
Nach etwa drei Stunden versagte der eine Magnet unseres Motors. Da wir mit dem zweiten, noch heil gebliebenen unmöglich zwei Tage in der Luft bleiben konnten, mussten wir uns zur Landung entschließen. Aber unsere Tanks waren noch voll. Bei der Landung mit einer so schwer beladenen Maschine liefen wir Gefahr, Bruch zu machen. Um das Flugzeug zu retten, kletterte ich in das Innere der Kabine, öffnete die großen Betriebsstofftanks und ließ das Benzol auslaufen. Was wir jedoch vorher mit Wasser erprobt hatten, klappte mit dem Benzol nicht.
Durch den ungeheuren Luftzug wurde der ausströmende Betriebsstoff wieder in das Innere der Kabinen hineingezogen, und ich geriet in die ausströmenden Benzolgase. Lange konnte ich in dieser Atmosphäre nicht bei Besinnung bleiben. Zu meinem großen Schrecken bemerkte ich auch, dass die Gase nach vorn in den Führersitz drangen. Wenn Loose ebenfalls bewusstlos wurde, mussten wir abstürzen. Schnell riss ich das seitliche Kabinenfenster auf, sah, dass der Benzolstaub sich wie eine Nebelwolke am hinteren Ende des Flugzeugrumpfes ballte, und spürte bereits das Summen und Brummen, das einer Narkose vorausgeht. Ich versuchte im letzten Moment, die Tanks wieder zu schließen. Dabei brach ich bewusstlos zusammen, blieb im ausströmenden Benzol liegen, und erwachte erst wieder, als ich im Sanitätswagen lag und ins Krankenhaus geschafft wurde. Nur einen Augenblick schlug ich die Augen auf, hörte das Brummen des Motors, sah Bäume vorüberhuschen und dachte: „Herrgott, fliegt der aber niedrig!“, denn ich glaubte noch im Flugzeug zu sein. Dann war ich wieder weg. Erst im Krankenhaus kam ich wieder zu mir.
Ich hatte Benzolverbrennungen am ganzen Körper davongetragen, die äußerst schmerzhaft waren. Und jetzt erfuhr ich auch die Zusammenhänge meiner Rettung. Im gleichen Augenblick, als ich bewusstlos zusammenbrach, hatte vorn der Motor versagt. Loose musste sofort notlanden, und nur diesem zufälligen Zusammentreffen zweier kurz aufeinanderfolgender Motorpannen hatte ich es zu verdanken, dass ich bei diesem Abenteuer mit dem Leben davon kam. Acht Tage später war ich so weit wiederhergestellt, dass der erste Versuch, den Atlantik zu überqueren, angetreten werden konnte.
Am 14. August 1927 – einem Sonntag – starteten die „Bremen“ und die „Europa“ um 5 Uhr 20 Minuten nachmittags mit gewaltiger Zuladung von der 750 Meter langen betonierten Startbahn in Dessau. Wir kamen glücklich in die Luft, überflogen, solange es noch Tag war, die norddeutsche Tiefebene, und erreichten bei Einbruch der Nacht die Nordsee. Dort hatten sich gewaltige Gewitter zusammengebraut. Die „Europa“ geriet hinein, kehrte um und landete bei Nacht auf dem Flughafen in Bremen, wobei die Maschine zu Bruch ging.
Hünefeld, Loose und ich in der „Bremen“ witschten durch die Gewitter hindurch und kamen zunächst wieder in besseres Wetter. Als wir uns aber der Küste von Schottland näherten, ballten sich dicke Nebelwolken vor uns, die vom Meeresspiegel bis auf viertausend Meter Höhe reichten. Wir versuchten, sie mit unserer schwerbeladenen Kiste zu überklettern, gerieten aber plötzlich mitten hinein in den dicken Nebel, und mussten feststellen, dass weder Loose noch ich den Nebelflug beherrschten.
Die Flügel unserer „Bremen“ begannen eigenartig zu heulen und zu pfeifen, der Geschwindigkeitsmesser schlug dabei bisweilen über die Skala von 300 Stunden-Kilometer aus, der Tourenzähler sprang hin und her, der Kompass drehte sich wie wild, und der Höhenmesser fiel rapide. Loose riss die obere Klappe auf und sah in den Nebel hinaus, während ich die scheinbar verrücktgewordenen Instrumente beobachtete. Nur meiner langjährigen Erfahrung als Nachtflieger verdankten wir es, dass wir nicht vollends abschmierten.
Wir machten kehrt und kamen wieder aus dem Nebel heraus. Jetzt bogen wir nach Südwesten aus, überflogen nicht Schottland, sondern England, dort, wo die Insel am schmalsten ist. In strömendem Regen und wildem Sturm kämpften wir uns durch. Schlimm war es, als wir in Bergtäler hineingerieten. Aber wir kamen heil über England hinweg und erreichten im Morgengrauen die Irische See.
Faustdicker Nebel lag über der grünen Insel. Wie weit waren wir schon? Nichts war zu sehen. Wenn der Nebel über Irland hinwegreichte, war es faul für uns, denn an der Westküste der Insel wusste ich Randgebirge, gegen die wir leicht anrennen konnten. Wir drehten um, flogen wieder auf die See hinaus und umflogen Irland im Süden. Nun sollte der eigentliche Ozeanflug beginnen, aber jetzt schon hatten wir fünf Stunden Verspätung. Wenn wir in ähnlichen Stürmen weiterfliegen müssten, reichte unser Betriebsstoff nur noch knapp bis nach Neufundland, wo die ausgedehnten und gefährlichen Nebelbänke auf uns warteten, die unseren Vorgängern zum Verderben geworden waren.
Der Sieg konnte uns nicht mehr winken; darum beschlossen wir – wenn auch schwersten Herzens – den gleichen Weg zurückzufliegen und landeten nach 22½-stündigem Flug glatt auf dem Flughafen in Dessau. Ich war nur zurückgekehrt, weil ich wusste, dass ich den Flug ein zweites Mal antreten würde, dann aber besser gerüstet.
Durch die Rückkehr der beiden Maschinen waren die für den Flug getätigten Versicherungen hinfällig geworden. Wollten wir ein zweites Mal fliegen, mussten die gleichen Gelder noch einmal aufgebracht werden. Das gelang uns jedoch nur für eines der beiden Flugzeuge, und es wurde beschlossen, das zweite Mal nur noch mit der Bremen zu starten. Die finanziellen „Opfer“ waren nicht umsonst gebracht worden, denn auf Grund der Erfahrungen dieses grässlichen ersten Versuches war es mir möglich, die Vorbereitungen für den zweiten Flug so zu treffen, dass wir mehr Aussicht auf Erfolg hatten.
Wir mussten vor allen Dingen eine Wetterlage abwarten, bei der es wenigstens streckenweise über dem Atlantik Rückenwind gab. Tagtäglich erhielten wir wieder wie bisher von der Hamburger Flugwetterwarte Wetterberichte, aber diese lauteten stets entmutigender. „Auffrischende westliche Winde!“, die, je näher der Herbst rückte, immer stärker wurden. – Bis wir dann erkannt hatten, dass diese Meldungen von der falschen Voraussetzung ausgingen, dass unsere Maschine nur 130 Stundenkilometer machte und nicht 210, wie es in Wirklichkeit der Fall war, war es leider zu spät geworden, den Flug noch im Jahre 1927 zu versuchen. Wir brachen deshalb unsere Vorbereitungen ab und kehrten an unsere Arbeitsstätten zurück.
Als wir damals nach Dessau gekommen waren, und es überall in der Welt bekannt wurde, dass von dort aus ein deutscher Ozeanflug unternommen werden sollte, waren zahlreiche Berichterstatter und Fotoleute erschienen. Wir wurden die Zielscheibe ihrer Aufmerksamkeit und konnten in der Tagespresse viel Vorschusslorbeeren ernten. Es war uns wirklich nicht darum zu tun. Viel lieber hätten wir es gesehen, wenn nichts darüber berichtet worden wäre. Als aber in der Zwischenzeit viele Piloten anderer Länder auf dem Atlantik verschollen blieben oder unverrichteter Sache wieder kehrtmachten, schlug die Stimmung um. Es meldeten sich Fachleute, die behaupteten, die Ozeanflugversuche könnten zu keinem Erfolg führen, weil die Zeit noch nicht reif dazu sei. Dieser Ansicht schlossen sich auch unsere amtlichen Luftfahrtorgane an. Als ich wieder zur Luft Hansa zurückkehrte, von der ich ohne Gehalt beurlaubt worden war, bekam ich nichts Angenehmes zu hören. Dass ich mich für die Idee eines Ozeanfluges einsetzte, hatte man sehr ungern gesehen.
Hünefeld und ich brachten nun in Erfahrung, dass wir von offizieller Seite keinerlei Unterstützung unserer Pläne zu erwarten hatten. Die Schwierigkeiten, die sich jetzt vor uns auftürmten, als wir an die Vorbereitung unseres zweiten Fluges gingen, waren noch größer als bisher. In aller Stille und Heimlichkeit wurde die Neufinanzierung unseres Planes betrieben. Hier war es vor allem mein treuer Freund Hünefeld, der mit seiner scharfen Feder und seinem noch schärferen Wort auch das Unmöglichste möglich machte. Er ganz allein bettelte bei Bremer Kaufleuten, dem Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie die notwendigen Gelder zusammen, und es bleibt sein unvergängliches Verdienst, dass er durch die Schaffung der finanziellen Grundlagen unseren Flug ermöglichte.
Während er damit beschäftigt war, traf ich in den Wintermonaten die technischen Vorbereitungen, studierte alle bisherigen Ozeanflugversuche noch einmal, und suchte nach Mitteln, wie sich den über dem Ozean und über Neufundland lauernden Gefahren am besten begegnen ließ.
Auf die Navigierung mussten wir den größten Wert legen, dann aber auch darauf Rücksicht nehmen, dass die Übermüdung einer der gefährlichsten Feinde des Fliegers ist. Wir durften deshalb beim zweiten Mal den Bogen nicht zu sehr überspannen. Es kam ja nicht darauf an, von Berlin nach New York zu fliegen, sondern als die ersten den Nordatlantik von Osten nach Westen zu überqueren. Für den sicheren Erfolg war es darum notwendig, möglichst nahe an die Küste des Atlantik heranzugehen. So entschieden wir uns für Irland und fuhren in den ersten Monaten des Jahres 1928 hinüber zur grünen Insel, die wir schon einmal bei Nacht und Nebel und Sturm aus der Luft kennengelernt hatten.
Da an der Westküste sich Randgebirge erhoben, mussten wir im Osten nach einem geeigneten Startplatz suchen. Im Jahre 1927 hatte der Schotte McIntosh mit einem irischen Flieger namens Fitzmaurice von Baldonnel in der Nähe von Dublin aus einen Ozeanflugversuch unternommen. Sie kehrten aber nach neun Stunden wieder zurück. Wenn sie mit ihrem einmotorigen Fokker weggekommen waren, mussten wir mit unserer sicherlich noch besseren „Bremen“ dort ebenfalls starten können. Wir besichtigten den Platz und entschlossen uns, ihn zum Start zu benutzen, da sich nichts Besseres finden ließ. Ideal war er nicht.
Neue Pläne
Acht Tage, bevor wir endgültig abfliegen wollten, bekam ich ein Flugzeug vom Typ der „Bremen“ zum Einfliegen in die Hand. Wir brachten es von Dessau nach Tempelhof, wo ich mich jeden Morgen in die Maschine setzte und sechs bis sieben Stunden in der Luft blieb. Wir mussten Versuche über die Eigenstabilität, des Flugzeuges anstellen, weil Fachleute behauptet hatten, dass dieser Typ nicht so eigenstabil sei, dass man damit riskante Flüge unternehmen könnte. Nach wenigen Stunden hatten wir unseren Vogel so eingetrimmt, dass wir Hände und Füße von der Steuerung fortnehmen konnten und er halbe Stunden lang ganz allein flog.
Nachdem wir dies erkannt hatten, ging ich an die Lösung des zweiten Problems, das ich mir vor Antritt des Fluges gestellt hatte: die Erlernung des Nebelfluges. Der war damals noch nicht so richtig „erfunden“, wir aber brauchten ihn, wenn wir auf Erfolg rechnen wollten. Bei meiner Nachtflugtätigkeit war ich ihm durch die vielen persönlichen Versuchsflüge schon recht nahegekommen. Ich hatte aber bisher keine Möglichkeit gehabt, diese Kenntnisse auszuwerten.
Von der Firma Askania, die eng mit mir zusammenarbeitete, waren Instrumente entwickelt worden, die nach den Erfahrungen des ersten Ozeanflugversuches noch wesentlich verbessert wurden.
Mit ihrer Hilfe wollten wir des Nebels Herr werden. Wir machten das so, dass der eine Führer aufpassen musste, damit der Vogel nicht abrutschte, während der andere nur nach den Instrumenten steuerte. Nach wenigen Übungsstunden bereits wurde mir klar, dass es ging, und damit war in der langen Kette der Vorbereitungen auch das letzte Glied endgültig geschlossen. Jetzt hatte ich felsenfestes Vertrauen, dass unser Flug glücken musste, wenn wir nicht allzu großes Pech dabei hatten.
An einem Sonnabend holten wir die eigentliche „Bremen“ nach Tempelhof. Einer der besten Junkers-Ingenieure und zwei tüchtige Monteure bekamen sie in ihre Obhut und machten sie fertig für den weiten Flug. Am Montagmorgen sollte die Maschine startfertig sein. Absichtlich hatten wir uns einen Sonnabend und Sonntag für die letzten Arbeiten ausgesucht, weil wir hofften, an diesen Tagen nicht so scharf beobachtet zu werden. Als die „Bremen“ nämlich nach Berlin kam, stand abends schon in den Zeitungen, dass wir einen neuen Ozeanflug planten. Ich musste mich zu meinen Vorgesetzten begeben, wo mir erklärt wurde, dass man meinen Flug nicht unterstützen könnte. Auch machte man mich darauf aufmerksam, dass ich den dazu notwendigen Urlaub nicht erhalten würde. Dagegen wurde mir die erste Anwartschaft auf die im Bau befindliche „Rohrbach-Romar“, ein Flugzeug, das – wie ich wusste – wohl niemals imstande sein würde, den weiten Atlantik zu überfliegen, angeboten, wenn ich vom Ozeanflug zurücktrat.
Als ich dies ablehnte, wollte man wissen, wann wir starten wollten. Da ich merkte, dass es nicht bei dem Abraten bleiben würde, hütete ich mich davor, etwas verlauten zu lassen. Wir hatten unter der Hand erfahren, dass alle deutschen Flugwachen bereits Anweisung hatten, Maschinen mit so schwerer Überladung nicht starten zu lassen. Gemeint war natürlich unsere „Bremen“. Bei den langen Unterhaltungen, die ich führen musste, hatte ich es deshalb darauf angelegt und ganz gut verstanden, unseren Abflugtermin stark zu verschleiern. Ich erklärte, dass wir es genauso machen würden, wie es bisher alle anderen Ozeanflieger auch schon getan hatten, dass wir also auf eine recht schöne Vollmondnacht warten wollten – womöglich bis zum Juni, weil in diesem Monat die Nächte besonders kurz sind.
Das wurde mir auch geglaubt. Als ich dann noch erzählte, dass wir vor dem Start noch den Nebelflug erlernen wollten, hatte man für mich nur noch ein mildes Lächeln. Man wusste, dass ich kein richtiger Streckenpilot war und glaubte, dass ich sicher Jahre dazu brauchte, bis ich den Nebelflug erlernt hatte. Daher waren wir zunächst in Ruhe gelassen worden.
Am Montagmorgen um 6 Uhr wollten wir starten. Um unsere Absicht zu verschleiern, verschoben wir aber in letzter Stunde diesen Start auf 8 Uhr. Die Flugwache in Tempelhof war nämlich daran gewöhnt, dass wir um diese Zeit zu unseren Probeflügen aufstiegen. Mit meinem kleinen Hanomag, dem lustig knatternden Kommissbrot, fuhren wir zum Flugplatz. Hünefeld wurde heimlich in der Maschine versteckt. Ich ging zur Flugwache, trug dort ins Bordbuch ein: „Probeflug nach Dessau“, bekam ein paar Stempel … und dann hauten wir ab – nach Irland, womit wir allen Weiterungen glücklich entflogen waren.
Wir hatten es nicht gewagt, uns eine Wetterberatung für die Strecke nach Irland geben zu lassen, um ja nichts von unseren Absichten zu verraten. Kaum waren wir hinter Hannover, da ballten sich ekelhafte Nebelwolken vor uns auf, die bis auf den Boden reichten. Wir waren wenig erbaut darüber, dass wir jetzt schon mit dem Nebel ringen sollten. Ernsthaft überlegten wir, ob es nicht besser war, kehrtzumachen und nach Dessau zu fliegen, um dort zu warten, bis der Nebel weg war. Ich wusste sehr wohl, dass bald eine Wetterlage kommen musste, bei der es möglich war, Irland ohne Nebel zu erreichen. Aber beim Weiterflug von dort aus – draußen auf dem Ozean, blieb uns der Nebelflug auf keinen Fall erspart. Wenn wir es uns jetzt nicht zutrauten, im Nebel zu fliegen, wo wir es doch eben erst gelernt hatten, dann würden wir später draußen auf dem Atlantik bestimmt versagen. Darum wollten wir lieber gleich die Probe aufs Exempel machen. Wenn wir sie nicht bestanden, dann war es besser, jetzt schon, solange wir noch über deutschem Boden waren, mit unserer Maschine im Nebel zu zerschellen, als später draußen auf dem Atlantik verschollen zu bleiben.
So stießen wir denn gleich hinein in die dicken Nebelschwaden. In der ersten Viertelstunde herrschte große Angst, dass die Sache schief gehen könnte. Dann aber merkten wir, dass wir unserer Aufgabe gewachsen waren, zogen in aller Ruhe unsere Maschine durch den Nebel nach oben durch und kamen nach 45 Minuten in 1600 Meter Höhe über der Nebeldecke heraus.
Vor uns, soweit das Auge reichte, ein weißlich wogendes Meer. Wir hatten keine Ahnung, wie weit es sich ausdehnte. Wenn es über Irland wegreichte, wusste ich, dass wir ohne Funkentelegrafie den Flugplatz Baldonnel nicht so leicht auffinden konnten. Ich hoffte aber auf Grund der Kenntnisse der allgemeinen Wetterlage, dass es besser kommen würde. Alle diese Schwierigkeiten waren mir im Grunde gar nicht so unangenehm. Da konnte ich die Navigation über der geschlossenen Wolkendecke erproben, die etwas schwieriger ist als das Entlangrutschen an geraden Eisenbahnstrecken und Flussläufen.
Ich hatte mir für das Fliegen über den Wolken ein recht einfaches Navigationssystem zurechtgelegt. Die Sonne, die links hinten über uns stand, malte rechts vor uns auf das weiße Nebelgewoge den dunklen Schatten unseres Flugzeugs. Und nun flogen wir die ganze Zeit hinter diesem Schatten her. Nur mussten wir bei dieser Art des Navigierens aufpassen, dass der Schatten auch immer in einem ganz bestimmten Winkel zu der rechten Vorderkante unserer Tragfläche blieb. Diesen Winkel hatten uns Astronomen und Seeleute vorher genau errechnet, so dass wir ihn nur entsprechend einsetzen mussten.
Während wir über den Wolken dahinzogen, klingelte in Tempelhof bei der Flugwache das Telefon. Sie bekam Anweisung, unsere Maschine zu beschlagnahmen. Es war beobachtet worden, dass am Sonnabend die eigentliche „Bremen“ nach Tempelhof gekommen war und an ihr intensive Vorbereitungen getroffen worden waren, die auf einen sehr baldigen Start zu deuten schienen. Die Meldung lag wohl schon am Sonntag auf den Amtsstuben; in den höheren Regionen wurde sie an diesem Tage aber nicht gelesen, und am Montag wohl auch nicht allzu früh. Als nun die Beschlagnahme ausgesprochen wurde, waren wir bereits hinter allen Wolken verschwunden und schwebten Irland zu.
Nach zwei Stunden änderte sich die Wetterlage. Vor uns türmten sich aus dem Nebelmeer hohe Wolkenberge auf. Schon zehn Minuten später sahen wir unter uns kleine Wolkenlöcher. Ich konnte durchorientieren und erkannte sofort die zahllosen Kanäle von Holland in der Gegend westlich von Amsterdam. Unsere Navigation war gut gewesen. Wir befanden uns genau an dem Punkt, den ich über den Wolken auf meiner Karte eingezeichnet hatte.
Weitere Experimente wollte ich jetzt nicht mehr machen und nahm den Gashebel zurück. Im Gleitflug ging es durch die Wolken nach unten. In niedrigster Höhe flogen wir bei dickem Nebeldunst entlang der belgischen und französischen Küste. Vor Calais gab ich wieder Vollgas und zog durch den Nebel bis auf 2000 Meter. Jetzt kam der dreißig Kilometer breite Kanal. Wir hatten Angst, dass wir schon hier ins Wasser fallen könnten, falls wir zu niedrig flogen.
Aber wenn wir in 2000 Meter Höhe über den Kanal wegzwitscherten, konnte der heimtückische Motor ruhig mitten über dem Kanal stehenbleiben. Im Gleitflug kamen wir dann immer noch entweder hinüber nach England oder zurück nach Frankreich. Nur mussten wir uns dann schnell entschließen, in welches Land wir wollten.
Der Motor dachte nicht daran, stehenzubleiben. Er brummte wunderbar weiter. Wir blieben noch zwanzig Minuten länger über den Wolken, nachdem ich schon berechnet hatte, dass wir jetzt über England sein mussten. Unter uns zogen die dunkelgrauen Rauch- und Nebelschwaden Londons durch. Das Wetter klärte jetzt auf, brachte Sonnenschein und die herrlichste Fernsicht.
Unter uns zog England durch mit seinen saftig grünen Wiesen, schmucken Ortschaften und rauchigen Industriegebieten. Bald kamen wir in das Bergland von Wales. Dort änderte sich das Wetter wieder. Geschlossene Wolken senkten sich herab auf die 1300 Meter hohen Berggipfel. Nach einem herrlich schönen Flug durch diese kahle, waldlose Gebirgswelt erreichten wir die Irische See. Dort, wo wir nach Irland rüber mussten, ist sie einhundert Kilometer breit. Jetzt konnten wir nicht mehr hinter unserem Schatten herfliegen, sondern mussten unsere Navigation auf selbstentwickelten Windfeststellungsmethoden aufbauen. Nach einer halben Stunde hatten wir die Genugtuung, dass auch diese Navigation klappte. Genau zur errechneten Minute kamen wir drüben bei Dublin an, nahmen Kurs auf den Flugplatz Baldonnel, fünfzehn Kilometer südwestlich von Dublin, und landeten dort.
Schon bei unserem ersten Besuch in Irland, ganz besonders aber jetzt, als wir mit unserem schmucken Silbervogel ankamen, wurden wir vom irischen Volke, von allen amtlichen Stellen, vor allem aber von den ritterlichen irischen Fliegeroffizieren mit einer solchen Gastlichkeit und Herzlichkeit empfangen, wie sie in der Heimat nicht besser hätten sein können. Die Iren taten alles, um uns weiterzuhelfen.
Wir wollten schon am nächsten Morgen starten. Zu diesem Zweck hatten wir zwei Junkersmonteure, den guten Weller und Lengerich, acht Tage vorher nach Irland beordert. Auch das notwendige Benzol war bereits zwei Monate vorher nach Baldonnel verfrachtet worden. Es war eben erst auf zwei großen Lastkraftwagen aus Dublin herausgebracht worden, und die Laien, die herumstanden und zusahen, wie die Menge der Fässer von den Wagen herunterrollte, schüttelten den Kopf. Sie konnten es nicht verstehen, wo diese Unmenge Betriebsstoff in der kleinen einmotorigen Maschine verstaut werden sollte.
Aber im Laufe der Nacht verschwand das gesamte Benzol in den vierzehn verschiedenen Tanks, die sich im Innern der Kabine, unter dem Führersitz und in den Flügeln befanden. Unser Vogel, der am Abend leer 1300 Kilogramm wog, hatte im Laufe der Nacht eine Zuladung von über 2500 Kilogramm bekommen, also fast das Doppelte seines Eigengewichtes. Als die schwer beladene „Bremen“ am Morgen zur Startstelle geschoben werden sollte und auf den Rasen hinauskam, sahen wir, dass sie dort bis über die Achsen der Räder im Boden versank.
Seit acht Tagen hatte es drüben in Irland in Strömen geregnet. Der Boden war so weich geworden, dass wir den Start verschieben mussten.
Hünefeld und ich waren sehr ungeduldig. Wir ließen Schlacke anfahren und Dampfwalzen kommen; aber dort, wo die rauchenden Ungetüme die Schlacke in den Boden gepresst hatten, sahen wir entsetzt, dass er nur noch weicher wurde als an allen anderen Stellen. Wir mussten die Versuche bleiben lassen und abwarten, wenn es uns auch furchtbar schwer fiel. Warten, bis Sonne und Wind den Platz mit natürlicheren und auch billigeren Hilfsmitteln getrocknet hatten.
Auf diese Art verbrachten wir über vierzehn Tage im Fliegerlager von Baldonnel in herzlicher Kameradschaft mit den irischen Offizieren, die uns alle Steine aus dem Wege zu räumen bemüht waren. Vor allem hatte es ihnen unsere „Bremen“ angetan, über die sie sich voll Bewunderung und Anerkennung äußerten – und neidlos sprachen sie es uns gegenüber oftmals unumwunden aus, dass – wenn der Ost-West-Flug über den Nordatlantik überhaupt zu schaffen sei – es sicher nur uns Deutschen gelingen würde, den Ozean zu besiegen.
Dieses unbedingte Vertrauen der Iren half uns über manche bange Stunde hinweg, stärkte unser Selbstgefühl und vertrieb die dummen Zweifel, die sich manchmal an uns heranschlichen, denn bald trafen auch die ersten Presseberichte aus Deutschland ein, die sich mit unserem Flug und dem heimlichen Start in Tempelhof beschäftigten. Was wir da alles lesen mussten, war in keiner Weise geeignet, unseren Mut auch nur um ein Fünkchen anzufachen.
Es kamen wieder viele Luftfahrtfachleute zu Worte, die behaupteten, dass wir mit der Maschine, die wir uns ausgesucht hatten, nicht einmal die Hälfte des Betriebsstoffes in die Luft bekommen würden, den wir brauchten, um nach Amerika zu fliegen. Auch sprach man davon, dass ich überhaupt nicht fliegen konnte. Hier hatten die Leute eigentlich gar nicht so unrecht. Ich konnte es als alter Kriegsflieger nicht ermöglichen, die uns laut Luftfahrtbestimmungen – nicht laut Versailler Vertrag – auferlegten Pflichtlandungen alljährlich zu absolvieren. Das kostet einen Haufen Geld, was ich ebenso wenig besaß wie alle die anderen Kriegspiloten. So war natürlich mein Flugzeugführerschein im Rückstand. Ich besaß nicht mehr den amtlichen Befähigungsnachweis zur Führung einer so schweren Maschine wie der „Bremen“, und das genügte, um daraus zu folgern, dass ich nicht fliegen konnte.
Außerdem erfuhr ich, dass mich die Luft Hansa fristlos entlassen hatte. Ich war darauf vorbereitet gewesen, denn ich hatte mich ja heimlich von Tempelhof weggestohlen. Am letzten Sonnabend bereits beim Fertigmachen der Maschine war mir von einem Bekannten, der gerade von der Direktion kam, vertraulich mitgeteilt worden, dass man beschlossen habe, mich zu entlassen, falls ich wirklich abfliegen sollte. Vorbereitet war ich darauf also wohl, aber als ich die vollendete Tatsache drüben in Irland erfuhr, machte es mich doch recht betreten. Was musste zu Hause das Peterle wohl von ihrem geächteten Mann denken?! –
In diesen bitteren Stunden war es mein lieber Freund Hünefeld, der mit seinem flammenden Dichterwort den sinkenden Mut immer wieder hob. In jenen trostlosen Tagen schrieb er ein wunderschönes Gedicht, dessen Schlussverse aussprachen, wie es uns damals ums Herz war und was uns zu diesem Fluge trieb. Dort hieß es:
„Wir wollen nur eins: wie im feldgrauen Kleid
Uns die Sonne der Zukunft erstreiten …“
Dieses Gedicht schickten wir den Verfassern der Artikel und schmähenden Briefe, die uns die Post gebracht hatte.
Während unseres Aufenthaltes in Irland bekamen wir zweimal täglich die notwendigen Wetterberichte vom englischen Air Ministry. Ich muss dankbarst betonen, dass diese im sportlichsten Geiste abgegeben wurden. Wir waren genötigt, unsere Entschlüsse lediglich auf diesen Meldungen aufzubauen, da die Hamburger Seewetterwarte, die uns im Jahre vorher so ausgiebig mit „auffrischenden westlichen Winden“ versorgt hatte, nicht angewiesen worden war, uns Wetterberichte nach Irland zu funken.
Am ersten Morgen nach unserem Eintreffen auf der grünen Insel, als wir starten wollten und ins Kasino kamen, trat der Kommandant des Lagers, Major Fitzmaurice, auf uns zu. Er brachte uns auf einem Karton aufgeklebt ein vierblättriges Kleeblatt und behauptete, dass dies sein Talisman sei, dem er es verdanke, dass er im vergangenen Jahre so glücklich, allerdings auch ein bisschen frühzeitig, wieder nach Irland zurückgekommen war. Er, der jetzt über kein Flugzeug verfügte, mit dem er selbst über den Atlantik fliegen konnte, wollte uns seinen Talisman mitgeben, damit wir auch bestimmt nach Amerika kämen.
Ein paar Tage später boten wir Fitzmaurice einen Platz in unserer Maschine an, damit er seinen Talisman selbst erproben konnte. Der irische Flieger hatte so unbegrenztes Vertrauen zu seinem Glücksbringer und scheinbar auch zu uns Deutschen, dass er sofort zusagte, den Flug mitmachen zu wollen. In der Zwischenzeit hatten Sonne und Wind den Platz abgetrocknet, die Grasnarbe war fester geworden, und wir beschlossen, am 12. April zu starten.
Die letzte Nacht in Irland war nicht gerade die ruhigste meines Lebens. Ich hatte vor Start und Flug doch allerhand Angst. Der Schlaf wollte stundenlang nicht kommen, und als er kam, wurde ich von dunklen Träumen gepeinigt. Ich träumte, wir flögen bereits mitten über dem Atlantik, als plötzlich der Motor stehenblieb und wir runter mussten … Mit einem fürchterlichen Herzklopfen wachte ich auf. Wie froh war ich, als ich merkte, dass ich immer noch in Irland war und friedlich in meinem Bett lag.
Den Offizier vom Dienst, der uns um 4 Uhr morgens wecken sollte, hörte ich schon eine Stunde vorher im Lager herumtrampeln. Aber als ich aufgestanden und frisch gewaschen war, verflogen die dunklen Träume sehr rasch.
Wir begaben uns zum Startplatz. Als ich dort nach dem Windwimpel sah, erschrak ich. Er hing schlaff und regungslos hernieder. Völlige Windstille war eingetreten, eine Wetterlage, die drüben in Irland höchstens zweimal im Jahre vorkommt. In ruhigen Stunden hatten wir uns vorgenommen, den Start bei Windstille zu verschieben. Das war aber nicht so einfach, wie wir es uns vorgestellt hatten. Während der Nacht waren viele Neugierige aus Dublin herausgekommen. Der Präsident des irischen Freistaates stand da, die vielen irischen Würdenträger und der deutsche Generalkonsul. Alles wartete in stummem Schweigen auf den Start. Da brachten wir es nicht übers Herz, alle die lieben Leute wieder nach Hause in die Betten zu schicken, sondern wollten den Start trotz der Windstille wagen. Allerdings mussten wir hundert Kilogramm von unserem kostbaren Betriebsstoff wieder ablassen, sonst wären wir nicht in die Luft gekommen.
Ich selbst hatte noch einen anderen Grund, so schnell wie möglich abzufliegen: in drei Tagen wurde ich vierzig Jahre alt. Da ich ein Schwabe bin und wir bekanntlich mit vierzig gescheit werden sollen, musste ich machen, dass ich vor Eintritt dieses merkwürdigen Zustandes abhaute. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich nicht so gescheit würde, dass ich überhaupt kehrtmachte und nach Deutschland zurückflog.
So kletterte ich in die „Bremen“ und ließ den Propeller anwerfen, damit sich der Motor warmlaufen konnte. Bald kam auch Hünefeld, und dann mit zehn Minuten Verspätung Fitzmaurice, der noch unendlich viel zu erledigen gehabt hatte. Wir bremsten den Motor ab. Er lief einwandfrei. Das war mir nicht ganz recht, denn seit einer halben Stunde saß ich in der Maschine, dachte nur an die Windstille!
Mein Herzklopfen wurde immer stärker. Wenn der Motor jetzt ordentlich gekotzt hätte, konnten wir den Start verschieben. Aber aussteigen und erklären, die Kerzen seien verrußt – das war leider nicht möglich. Unsere Monteure hätten schon gewusst, bei wem sie die Kerzen auszuwechseln hatten. Wenn wir uns nicht blamieren wollten, mussten wir jetzt starten.
Schnell nahm ich noch einmal die fünf Finger meiner linken Hand hervor, gab Fitzmaurice einen Stoß und zählte ihm die Verrichtungen auf, die er in den nächsten Minuten durchführen sollte. Er sah mir hochinteressiert zu und nickte sehr freundlich, wenn er verstanden hatte. Diese Zeichensprache haben wir auch später über dem Ozean mit bestem Erfolg geübt. Ein Blick noch hinaus zu meinen tüchtigen Monteuren. Ich nickte ihnen freundlich zu, damit sie Vertrauen zu uns fassten, und gab ihnen das Zeichen: „Bremsklötze weg!“
Der Ozeanflug
Fertigmachen der „Bremen“ zum ersten Start in Dessau 1927Eine halbe Stunde vor dem Start in BaldonnelDer Start
Baldonnel: Die Bremsklötze sind weg
Der Ozeanflug
Langsam schob ich den Gashebel vor … gab Vollgas. Hell sangen die blitzenden Metallflügel ihr brausendes Lied, und in dieser Sekunde hatten wir alle den gleichen Gedanken: wenn nur der Propeller nicht stehenbleibt, bevor wir in Amerika sind!
Schwerfällig begann die Maschine zu rollen. Wir mussten zuerst zwischen zwei Hallen hindurch. Dort auf dem betonierten Boden hofften wir so viel Fahrt zu bekommen, dass wir auf dem Rasen nicht mehr einsanken. Das erste Drittel des Platzes stieg etwas an. Ich fühlte, tief drückten die Räder in den feuchten Grund, und fast schien es mir, als könnte der schwache, nur 350-pferdige Motor die vier Tonnen hinter sich die Anhöhe nicht hinaufbringen. Jedenfalls bekamen wir die notwendige Beschleunigung nicht.
Hinter den Hallen hervor schossen zwei Sanitätsautos. Die Monteure hatten sie noch in der Nacht mit Feuerlöschern, Beilen und Sägen ausgerüstet: Wenn unser Start missglückte, wollten sie uns aus den Trümmern des Flugzeuges heraushauen. Und nun begann ein Wettrennen mit den Sanitätswagen den Berg hinauf. Beinahe sah es so aus, als würden die früher in Amerika ankommen als wir. Auf der Höhe des Platzes ging es eben voraus. Jetzt gewannen wir aber das Rennen.
Das letzte Drittel des Platzes ging abwärts. Ich hoffte die anfänglich nicht erreichte Geschwindigkeit hier aufholen zu können, denn wir brauchten 120 Stundenkilometer zum Aufheben der Maschine, und der Geschwindigkeitsmesser zitterte bereits auf 110. Schon wollte ich frohlocken, dass alles glatt ging – da brüllte Fitz mir etwas in die Ohren. Ich hatte es nicht verstanden – es war englisch. Ich sah nur, wie er in der nächsten Sekunde das Höhensteuer anriss.
Von rechts her war uns ein Schaf in die Startbahn gelaufen. Fitz hatte es beobachtet und riss im letzten Moment die Maschine hoch. Aber sie hatte nicht genügend Fahrt, sackte durch und kam infolge der Federung des Fahrgestells in mehrmaliges Aufbumsen. Ich glaubte, dass alles verloren war, dass wir Bruch machen mussten.
Vor uns glühte der Auspufftopf und spuckte Flammen, hinter uns waren zweitausend Liter Benzin verstaut. Wenn sich das zu einer Feuersbrunst vereinigte, saßen wir mitten drin. Ich überlegte, ob es nicht besser war, die Zündung herauszureißen. Vielleicht konnten wir dadurch dem Verbrennungstod entgehen.
Aber dann stand der Propeller. Das durfte nicht sein! So ließ ich die Zündung drin und hielt die Maschine ganz ruhig. Ich wollte nicht selbst Schicksal spielen.
Wir hatten gerade das Ende des Platzes überrollt. 400 Meter Wiesenfläche lagen noch voraus. Hier aber sollten wir schon stolz in den Lüften sein. Nun rollten wir noch 250 Meter. Dann aber fühlte ich im Steuer, dass der Vogel vom Boden weg wollte. Es war mir nicht wohl zumute. 150 Meter voraus erhob sich ein vier Meter hoher Erdwall mit hohen Bäumen darauf. Ich glaubte nicht, dass wir dort glatt rüber kommen konnten. Da machten wir das einzige, was wir noch tun konnten: drückten die Maschine an den Boden heran, damit sie mehr Fahrt bekam, und zogen erst in der letzten Sekunde dicht vor dem Hindernis das Höhensteuer an.
Der Vogel bäumte sich auf, das Fahrgestell streifte durch die Baumkronen, dahinter sackte die Maschine nochmals gewaltig durch, aber sie hielt sich in der Luft. Der Start wäre jetzt gewonnen gewesen, wenn es eben vorausginge. Wir waren aber in ein Bergtal hineingestartet. Rechts, links und voraus stiegen die Hänge schneller an, als wir mit der Maschine klettern konnten. Nur rechts hinter uns, dort wo wir in die Mausefalle hineingeraten waren, dehnte sich ein flaches Tal. Wenn wir da hinauskamen, konnte der Start noch glücken.
Ich glaubte nicht, dass es möglich war, mit der schwer beladenen Maschine in so geringer Höhe bei so geringer Fahrt auch noch eine Rechtskurve zu nehmen. Als aber der Boden an die Räder herankam, riskierten wir das Letzte. Wir legten die Maschine in die Kurve. Der rechte Flügel neigte sich tiefer; er streift die Grasnarbe, schlug an einer Hecke an, aber dank ihrer glänzenden aerodynamischen Eigenschaften bekamen wir sie herum, hatten das Tal voraus, drückten hinein.
Gleich hatte die „Bremen“ 220 Kilometer Fahrt, und in anderthalb Minuten waren wir auf 150 Metern. Der Start war geglückt. Freudestrahlend sahen Fitz und ich uns in die Augen. Wir schüttelten uns die Hände und beglückwünschten uns. Dann regulierten wir unseren Vogel fein ein und stellten ihn Richtung Amerika.
Lachend zeigten wir uns Hände und Füße. Wir hatten nichts am Steuer, und trotzdem flog die Maschine ganz allein in der Luft dahin. Hätten wir nicht dringesessen, sie wäre ganz allein nach Amerika gerutscht. Zunächst kam Fitzmaurice dran. Er sollte sich auf der „Bremen“ einfliegen, während ich noch Berechnungen über Geschwindigkeit und Kompassabtrift anzustellen hatte. Von Zeit zu Zeit sah ich fragend zu ihm hinüber, ob er noch etwas wissen sollte, aber er hatte alles, was ich ihm täglich durch den Dolmetscher hatte vorbeten lassen, tadellos kapiert. Ganz stolz saß er am Steuer und begann schon von den Ehrungen zu träumen, die ihm bei der Rückkehr in seine Heimat zuteilwerden sollten. Daran war der Kriegsminister seines Landes schuld. Der hatte ihm wenige Minuten vor dem Start versprochen, dass er sofort vom Major zum Oberst befördert würde, falls der Flug gelänge.
Auch ich begann zu träumen und dachte daran, dass mir wohl die Polizeistrafe wegen meines heimlichen Abfluges erlassen würde, wenn ich wieder nach Tempelhof zurückkam. Indessen zog Irland unter uns durch. Leichte Morgennebel stiegen in den Niederungen auf, und als wir die letzte Stadt, Galway, überflogen, lag sie unter dichten Nebelschleiern versteckt. Nur noch die Kreuze der Kirchtürme ragten heraus, gleichsam als wollten sie uns den letzten Segen auf die weite Reise geben.
In der Ferne glitzerte und blitzte es silbern. Bald flogen wir über die nackten roten Felsmassen von Irlands Westküste. Und dann … dann lag der Atlantik unter uns. Es schien fast, als hätte er Respekt vor dem Silbervogel, der da angeflogen kam. Nur eine sanfte Dünung und leichtgekräuselte Wellen bespülten die kahlen Felsmassen, gegen die der wilde Weststrom sonst tagaus, tagein die Wogen des Meeres schleudert.
Weit draußen noch ein kleiner Leuchtturm, an dem wir mit 210 Kilometer Fahrt vorüberbrausen, und fern im Süden ein Dampfer, der erste und letzte auf dem ganzen Fluge. Nach einer halben Stunde schon waren diese letzten Zeugen Europas hinter uns verschwunden. Dann schwebten wir über dem unendlichen Ozean – unter uns die unendliche Wasserwüste, über uns Himmel und Wolken.
Das ist die Karte, die uns den Weg über den Atlantik wiesDie Rückseite der Karte morgens um 3 Uhr
Die ersten achtzehn Stunden, die wir über den Ozean hinwegflitzten, hatten wir verhältnismäßig günstiges Wetter. Wenn ich allstündlich meine gelben Rauchbomben aufs Meer hinunterfeuerte, konnte ich errechnen, dass wir immer zwischen zwanzig und vierzig Stundenkilometer Gegenwind hatten. Da diese Winde mit jedem Meter nach oben zu gewaltig an Geschwindigkeit zunehmen, flogen wir den ganzen Tag über nur in Höhen von fünf Metern. Manchmal, wenn die Sonne schien, wurden wir sogar übermütig und versuchten, mit den Rädern die Spitzen der Wellen zu kitzeln.
Die Sonne wanderte hinter uns her. Nicht wie sonst mittags um 12 Uhr holte sie uns ein, sondern erst am Nachmittag um 2 Uhr 30. Da wussten wir, dass wir uns genau über der Mitte des Ozeans befanden. Wir hatten Aprilwetter. In der feuchten fernsichtigen Luft hingen gigantische Wolkenmassen, die oben von der Sonne grell beleuchtet wurden, während unten Hagel und Schneemassen niedergingen. Aber wir konnten sie alle umfliegen, denn sie waren nicht so ausgedehnt.
Während wir über die weite Wasserwüste wegzogen, nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, wie wir es von zu Haus gewohnt waren. In großen Thermosflaschen hatten wir Schleimsuppe, Kaffee und Tee mitgenommen. Die Offiziere des Fliegerlagers hatten uns während der Nacht vor dem Start belegte Brötchen zurechtgemacht, Apfelsinen und Bananen geschält. Die Schalen ließen wir in Irland und konnten dafür ein ganzes Kilogramm Betriebsstoff mehr mitnehmen.
Weiter wanderte die Sonne. Ihr Reflex leuchtete den ganzen Nachmittag wie ein breites Flammenband vom Meeresspiegel zu uns herauf. Bisher hatte es sich fern am Horizont verloren. Als wir unseren Tee tranken und ich wieder einmal hinaussah, war dieses Flammenband plötzlich wie abgeschnitten. Ich nahm das Fernglas zur Hand. Niedrige Nebel zogen über dem Meere. Dahinter ballten sich zusammenhängend gigantisch dunkle Wolkenmassen, soweit das Auge von Süden nach Norden reichte. Über ihnen in unerreichbaren Höhen zogen schnell von Westen her graue Strichwolken auf. Die Sonne verschwand dahinter, es wurde schaurig kalt.
Wir bekamen Angst, gaben Vollgas und kletterten hoch bis auf 2400 Meter. Da standen wir vor der grauen Nebelwand. Es war ein richtiges Tief, das sich uns in den Weg stellte. Das englische Air Ministry hatte uns davor gewarnt und mitgeteilt, dass es von Süden nach Norden zog. Wie ausgedehnt es war, wussten wir nicht, sonst hätten wir es vielleicht umfliegen können, wie es der Zeppelin macht.
Da wir so dicht vor Neufundland nicht nach Süden in den Ozean abbiegen wollten und auch nicht die Absicht hatten, eine Nordpolexpedition zu machen, blieben wir auf Kurs. Machten nicht einmal mehr eine Angstkurve, sondern schlossen die Klappen unseres Flugzeugs und steuerten nur noch nach Instrumenten. So nahmen wir es gar nicht wahr, wann wir in den Nebel hineinstießen. Erst nach einer halben Stunde – es war ganz düster geworden – blickten wir hinaus. Wir steckten mittendrin im undurchsichtigen, feuchten und salzigen Seenebel. Nach einiger Zeit gingen wir wieder langsam tiefer. Ich hoffte, dass die erste Welle des Tiefs vorüber war und wir, wenn auch in strömendem Regen, wieder in den Wolken fliegen konnten.
Der Höhenmesser sank. Er zeigte nur noch wenige hundert Meter. Wir rissen die Klappen des Flugzeugs auf und spähten ängstlich hinaus. Jede Sekunde konnte das Wasser kommen. Und dann flogen wir noch eine ganze Zeitlang an den Meeresspiegel herantastend immer noch in grauem Nebel.
Wir waren gerade noch hundertfünfzig Meter hoch, da wurde es plötzlich blauschwarz unter uns. In der nächsten Sekunde waren wir dicht über den Wogen. Jetzt, da wir an den Wassern sahen, wie die „Bremen“ herumgerissen wurde, erkannten wir den fürchterlichen Orkan, in den wir hineingeraten waren. Windböen packten die Maschine und schleuderten sie in die Wellentäler hinein. Sichtbar bogen sich die Flügel unter der Wucht des Sturmes. Der ganze Vogel ächzte und zitterte. Wellenberge rollten auf uns zu, dass wir Vollgas geben mussten, um über sie wegzukommen. Und während die „Bremen“ wie ein Pfeil über die Schaumkronen hinwegschoss, war der obere Teil schon wieder in den Nebeln versteckt. So dicht drückte der Nebel auf das Meer.
Mehr als dreiviertel Stunden lang kämpften wir so um unser Leben und glaubten nicht, dass wir kleinen Menschlein aus diesem wilden Orkan als Sieger hervorgehen konnten. Unsere schwache, von Menschenhand erbaute „Bremen“ musste von den entfesselten Elementen in Stücke gebrochen werden! Aber dann … nach einer Stunde hatten wir unseren ersten Sieg über den Atlantik errungen.
Doch wir wurden dieses Sieges nicht froh, denn jetzt brach die Dämmerung herein. Ich wusste, dass dieser eine Nacht von neun bis zehn Stunden folgen würde. Wie sollten wir die überstehen …?!
Als das Licht dieses Tages dahinschwand, wagten wir kaum noch zu hoffen, dass uns ein neuer Sonnenstrahl aufgehen würde. Bald waren auch die letzten weißlichen Schaumkronen im Dunkel der Nacht verschwunden.
Nun müssten wir Vollgas geben und hineintauchen in die Dunkelheit, in Nebel und Sturm. Es ging auf 800 Meter hinauf, denn gleich kamen die Berge von Neufundland. Flogen wir niedriger, konnten wir im Nebel gegen sie rennen. Blieben wir aber so hoch, dann war es nicht ausgeschlossen, dass die noch gefürchteteren Eisnebel von Neufundland uns anfielen, die Maschine vereisten und sie durch ihre Zentnerlast hinunterdrückten.
Von dem Augenblick ab, als wir hineingetaucht waren in Nacht und Sturm, flogen wir über 7½ Stunden, ohne irgendetwas zu sehen. Es war eine fürchterliche, eine lebenslange Nacht. Wenn ich glaubte, es seien schon viele Stunden vergangen, und dann auf die Uhr sah, war der Zeiger höchstens zehn Minuten weitergerückt. Wir konnten uns das anfangs gar nicht erklären … war die Uhr stehengeblieben? Ein Vergleich mit den anderen zeigte, dass die Uhren schon in Ordnung waren. Etwas anderes war in Unordnung geraten: wir.
Die Müdigkeit fiel uns grimmig an. Bleiern drückte der Schlaf die Augenlider nieder. Kaum noch konnten wir uns dieses übermächtigen Schlafbedürfnisses erwehren. Jetzt musste Hünefeld den Mokka vorgeben, und der hat uns während der Nacht wach und dadurch am Leben erhalten. Die elektrische Beleuchtung des Führersitzes hatte schon gleich bei Einbruch der Nacht versagt. Mit den Taschenlampen leuchteten wir von Zeit zu Zeit unser Instrumentenbrett, unsere Benzin- und Ölkontrollapparate ab.
Da – das Ölschauglas war leer. Vor fünf Minuten erst hatte ich aus dem Reservetank den Haupttank mit Öl aufgefüllt. Es musste also etwas in Unordnung sein. Ich machte Fitzmaurice darauf aufmerksam. Mit der Taschenlampe suchte er nun minutenlang die Zuleitungsrohre unten ab und kam mit einem fürchterlich bekümmerten Gesicht wieder herauf.
„Wir verlieren irgendwo Öl. Es ist sehr schlimm. Geh an Land so schnell wie möglich!“ – schrieb er auf einen Zettel. Das war eine schöne Geschichte! Sollte unser Flug durch ein lumpiges Leck irgendwo im Öltank scheitern? Mit Herzklopfen verfolgten wir den Lauf des Motors und drehten nordwestlich ab, um möglichst bald Land unter uns zu haben. Der Flug nach New York war jetzt sicherlich nicht mehr durchzuführen; aber wir hofften weiter.
Ich ließ erneut aus dem Reservetank Öl überlaufen, das Schauglas war wieder voll, solange der Reservetank geöffnet war. Nach bangen Stunden erst merkte ich, dass wir uns getäuscht hatten. Das Reserveöl war durch das Schauglas nur sehr langsam in den Haupttank geflossen, und so war es gekommen, dass das Glas wieder leer wurde, wenn ich den Tank schloss. Wir hatten bei unseren Versuchsflügen das Auffüllen des Haupttanks niemals praktisch erprobt und verdankten nun dieser Unterlassungssünde bittere und qualvolle Stunden.
Es war ein eigenartiges Fliegen in dieser tollen Nacht. Vor uns im Dunkeln ein paar helle Striche – die radiumbeschrifteten Zifferblätter unserer Instrumente. Auf dem mittleren Strich bewegte sich ein Pfeil. Wenn dieser einen halben Millimeter nach links ausschlug, musste ich nach rechts reintreten, damit er nach der anderen Seite wieder genau so weit ausschlug. Oder umgekehrt … und so die ganze Nacht hindurch. Angespannt hingen die Augen an diesen Zeigern. Wir durften keinen Blick von ihnen wenden, denn sie waren die letzten Rettungsanker, die uns mit dem Leben verbanden.
Nach 7½ Stunden blitzten für Sekunden über mir Sternbilder auf. Jetzt konnten die Wolken nicht mehr allzu hoch sein. Ich gab Vollgas und zog die Maschine höher und höher. In zweitausend Meter kamen wir über die höchsten Wolkenberge und stürmten hinein in den strahlenden Sternenhimmel. Von diesem Augenblick ab war das Fliegen wieder sinnlos einfach im Verhältnis zu den letzten zwölf Stunden. Wir nahmen den Polarstern zu Hilfe und flogen nun Südwestkurs. Das musste hineinführen – mitten nach Amerika.
Unter uns suchten wir nach Land, über dem wir schon längst sein mussten. Aber nur graue Nebel huschten vorüber. Plötzlich blinkten Lichter in der Ferne. Ich glaubte, das mussten die Leuchtfeuer der großen amerikanischen Seen sein. Froh flogen wir darauf zu, aber dann lagen urplötzlich Millionen Lichter unter uns.
War das schon eine der amerikanischen Riesenstädte? Wie glücklich war ich, dass ich wieder Leben unter uns spürte. Aber bald stutzte ich. Diese Lichter kamen nicht näher. Sie blieben immer in der gleichen Entfernung. Da erkannte ich, dass es Sterne waren. Nun hatten wir nicht mehr den Eindruck zu fliegen. Es war, als schwebten wir draußen im Weltenraum, – losgelöst von der Mutter Erde. Irrlichter waren’s nicht, sondern wirklich die Sterne, die sich auf einer feuchten Luftschicht widerspiegelten.
Fitz, der gerade eine halbe Stunde geschlafen hatte, wachte auf und rieb sich die Augen. Er sah hinunter, wurde plötzlich ganz aufgeregt und machte mir mit der Hand ein merkwürdiges Zeichen. Ich sollte die Maschine umdrehen, meinte er, weil er der Ansicht war, dass wir die ganze Zeit schon auf dem Rücken flogen. Ich gab ihm einen Stoß, zeigte nach oben – – da sah er die richtigen Sterne, und nun fing auch er an zu lachen, als er dieses seltsame Naturschauspiel ebenfalls erkannte.
Nach einer Stunde verblassten die Sterne. Dunkle und helle Flächen huschten vorüber. Nach 9½ Stunden langer Nacht kam leise das Grau des neuen Tages. Im fahlen Morgenlicht gingen wir auf die dunklen Stellen herunter, schossen drei Leuchtkugeln ab, und in ihrem Schein erkannten wir unter uns Tannenwälder. Jetzt schüttelten wir uns die Hände, beglückwünschten uns und sagten: „Labrador“
Der Tag kam. Da lag ein in Eis und Schnee erstarrtes Land unter uns. Über 1400 Meter hohe Bergspitzen mussten wir wegziehen. Nirgends eine menschliche Ansiedlung. Wir überquerten ein tiefeingeschnittenes Flusstal, das nach Süden zog, nahmen Gas weg, tauchten hinunter ins Tal und drehten ebenfalls nach Süden ab. Wir wollten hinaus aus diesem menschenleeren, unheimlichen Land.
In dem breiten Flusstal hofften wir bald Amerikaner zu finden. Glutrot kam die Sonne herauf und tauchte die Berge rings um uns herum in ein märchenhaftes Rosarot … eine Winterlandschaft, so schön, wie ich sie noch nie gesehen, jedenfalls noch nie so herrlich empfunden hatte. Wunderbares, neu erkämpftes Leben!
Glückselig flogen wir im Flusstal weiter nach Süden. Als aber immer noch keine menschliche Ansiedlung, nicht einmal die Spur eines Wildes zu sehen war, wurden wir bange. Fitz und ich wagten es nicht mehr, uns anzusehen. Wir wollten einander die Angst, die in uns hochkam, nicht verraten. Aber als auch nach einer weiteren halben Stunde sich unter uns nichts änderte, da fanden sich unsere Augen. Es war ein banger Blick, den wir tauschten. Wir schüttelten dabei die Köpfe und zeigten hinaus: totes Land. Wenn der Motor jetzt nicht mehr mitmachte und wir runter mussten, waren wir unrettbar verloren.
Und nun begann ein neuer Kampf. Mit dem weißen Tod, der seine Arme nach uns auszustrecken schien, um uns den schon gewonnenen Sieg über den Atlantik zu entreißen. In jagender Hast ging es das Tal entlang, über Höhen hinweg und ausgedehnte weite Wälder. Um die Mittagszeit hörten die Wälder auf. Bergland kam. Es begann zu schneien, und im Schneegestöber, zwischen Bergspitzen hindurch kämpften wir uns weiter.
Bereits 35 Stunden waren wir nun unterwegs. Zuletzt waren wir nach Süden geflogen, aber immer kälter war es geworden. Das Land unter uns sah so aus, wie ich mir den Nordpol immer vorgestellt hatte. Zeigte der Kompass falsch? Hatten wir uns verflogen? Ich erwog tausend Möglichkeiten. Auf den Seekarten, die wir von diesem Lande hatten, gab es schraffierte Stellen, und daneben stand: starke erdmagnetische Störungen. Waren wir über einem solchen Gebiet?
Zu all den tausend Unsicherheiten kamen jetzt die Folgen der Übermüdung. Wir konnten nicht mehr rechnen, nicht mehr denken. Eine fürchterliche Gefahr in dieser Situation. Aber ich biss die Zähne zusammen, ich kannte ja diese Ermüdungserscheinungen, diese Stimmen, die auf uns einflüsterten, wir sollten kehrtmachen oder abbiegen. Ich rang mit ihnen, schüttelte sie ab, zwang mich zur Ruhe und behielt den alten Kurs bei. Wenn’s falsch war, wenn’s hinaufging nach dem Nordpol … diese letzten Stunden, die wir noch fliegen konnten, wollte ich mir durch Angst nicht vergällen. Wenn es später wirklich Schluss war mit allem, dann hatten wir wenigstens etwas Ordentliches gesehen und erlebt.
In diesen Stunden glaubten wir nicht mehr an den Erfolg unseres Fluges, und in dieser bitteren Not beteten wir alle drei. „Herr Gott, lass diesen Flug nicht scheitern um Deutschlands willen –!“, flehten wir Deutschen.
Nach einer Stunde hörte das Bergland auf. Es fiel steil ab. Vor uns dehnte sich eine verschneite Ebene. Weit draußen lagen Packeismassen. Das musste die Küste sein. Wir drehten nach Osten ab, flogen noch fünf Minuten, da brüllte Fitzmaurice: „A boat, a boat!“ Als wir darüber hinwegflogen, ragte aus den Nebeln die Spitze eines Leuchtturms. Sturm zerriss undurchsichtigen Schleier. Da lag auch noch ein schmuckes Leuchtwärterhaus und kleine Gebäude daneben. Jetzt hatten wir die Grenze der Zivilisation erreicht. Noch wussten wir aber nicht, ob der Leuchtturm bewohnt war. Wir umkreisten ihn, es öffneten sich Türen, Menschen kamen heraus – nun hatten wir wirklich Grund uns zu freuen. Wir waren drüben!
Genau 36½ Stunden waren wir unterwegs gewesen. Während der Nacht hatten die Benzinuhren versagt. Wir wussten nicht, ob wir noch für eine oder – wie es sich später herausstellte – für neun Stunden Betriebsstoff besaßen. Jetzt wollten wir aber nichts mehr riskieren. Unser Ziel – Amerika –, das lag ja unter uns. Der Leuchtturm war der Anfang. Wir hatten genug gesiegt in den letzten anderthalb Tagen. Ich hatte keine Lust, mich noch vollends zu Tode zu siegen. Darum beschlossen wir, hier zwischenzulanden. Sicher konnten wir in absehbarer Zeit weiterfliegen.
Wir suchten einen geeigneten Landeplatz, da ich auf dem gefrorenen Meer nicht landen wollte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass dort die Eisdecke noch über drei Meter dick war. Aber nahe dem Leuchtturm lag ein kleiner Weiher. Wenn wir dort landeten und die Eisdecke brach, so konnten wir bestimmt nicht zu tief ins Wasser fallen. Tiefer neigte sich die „Bremen“, wir setzten auf, die Räder drückten auf die Eisfläche – bums … da brach sie, und wir standen auf dem Kopf. Schnell hatte ich noch die Zündung herausgerissen. Der Propeller war an der Spitze verbogen. Sonst war unser Vogel aber heil geblieben.
Als ich ausstieg, packte mich der Sturm und blies mich über die spiegelglatte Eisfläche, um mich in den Felsen hineinzuwerfen. Hünefeld kletterte auf der anderen Seite heraus, wurde ebenfalls vom Sturm gepackt und ins Wasser hineingeblasen. Dort nahm er sein erstes, bitterkaltes und unfreiwilliges Bad auf Greenly Island.
Mit Hilfe der herbeigeeilten Bewohner versuchten wir, die „Bremen“ aus dem Wasser herauszuziehen. Fitzmaurice sollte dolmetschen, aber die Leute verstanden ihn genau so wenig wie uns. Sie sprachen nicht englisch, sondern ein noch viel schlechteres Französisch, als ich es in der Schule gelernt hatte. Infolge der dadurch entstandenen Missverständnisse packten sie unseren Vogel falsch an und rissen eine Strebe des Fahrgestells ab. Ich war wütend, aber wir waren zu müde, um noch vernünftige Arbeit zu leisten. Darum nahmen wir dicke Taue, warfen sie über die Maschine weg und fesselten sie an die Felsen, damit sie während der Nacht nicht allein weiterflog.
Greenly Island
Im Leuchtturmwärterhaus erfuhren wir, dass sich zwei Kilometer entfernt am Festland eine Telegrafenstation befand. Schnell verfassten wir unsere Landemeldungen, die auf Hundeschlitten fortgebracht wurden, während wir zu todähnlichem Schlaf in die Betten fielen. Am nächsten Morgen schneiten bereits die ersten Glückwunschtelegramme zu uns herein. In zwei Stunden mussten die armen Telegrafisten jetzt mehr Telegramme aufnehmen als bisher in den ganzen zwanzig Jahren seit dem Bestehen der Station.
Präsident Coolidge gratuliert
Am zweiten Tag besuchte uns das erste Flugzeug. Mit ihm flog Fitz nach Kanada hinein, um die Herbeischaffung der notwendigen Ersatzteile zu betreiben. Nach zehn Tagen kam er mit einer Ford-Maschine zurück. Er hatte zwar alles Mögliche mitgebracht, gebratene Hühner, Benzol und Öl, aber keine Schneekufen. Eigenartigerweise war gerade die Hauptsache vergessen worden. Darum mussten wir unsere „Bremen“ zunächst auf Greenly Island zurücklassen. Der Frühling hatte die Eisdecke aufgetaut. Mit Rädern kamen wir nicht mehr weg, und wenn wir nicht überhaupt machten, dass wir weiterkamen, konnte der Südoststurm hereinbrechen. Dann müssten wir Monate warten, ehe uns irgendjemand weiterhelfen konnte.
Das durften wir aber den Amerikanern nicht antun. Wir setzten uns in die Ford-Maschine und flogen mit ihr weiter. Am ersten Tage ging es entlang der 1200 Kilometer langen Küste des Sankt-Lorenz-Golfes. In Murray Bay landeten wir auf einem gefrorenen See. Während der Nacht bekam unser Flugzeug statt der Schneekufen Räder, und am nächsten Morgen in aller Frühe, solange die Eisdecke noch fest war, flogen wir den Sankt-Lorenz-Strom hinauf über Quebec nach Montreal und von dort nach Süden den Hudson hinunter.
In der Ferne ragten aus Albany die ersten Wolkenkratzer zu uns herauf. Im Süden vereinigten sich, auf einen Punkt zu, viele Eisenbahnstränge, dort zwängte sich unter uns der Hudson durch eine malerische Felsenpracht. Als wir sie überflogen hatten, lag vor uns New York. Dichter Nebel drang vom Meer herein. Plötzlich sahen wir uns im Nebeldunst mitten im Gewirr der Wolkenkratzer, dieser eigenartigen Bauwerke. Wir landeten auf dem Curtis-Field und wollten gleich nach Washington weiterfliegen, denn dorthin rief uns eine heilige Pflicht.
Im gleichen Flugzeug, mit dem wir nach New York flogen, war Tage vorher Floyd Bennett aufgestiegen, um uns Hilfe zu bringen. Auf der ersten Etappe dieses Fluges war er fiebernd aus dem Flugzeug ins Krankenhaus nach Quebec gebracht worden und dort einer tückischen Grippe erlegen. Zur selben Stunde, da wir in New York landeten, wurde er in Washington auf dem Ehrenfriedhof der amerikanischen Flieger zur letzten Ruhe getragen. Am nächsten Morgen legten wir die Flaggen unserer Heimatländer auf dem frischen Grabhügel dieses amerikanischen Fliegerhelden nieder, der sein Leben gelassen hatte, um uns zu helfen. Dann kehrten wir zurück nach New York, und jetzt begann ein neuer Sturm über uns hereinzubrechen – fast so wild, wie der von Neufundland … der Sturm der Empfänge.
Der Empfang in Amerika
Einzug in New YorkIn Washington am Grabe Floyd BennettsBei Kardinal HayesNach der Verleihung des „Flying Cross“
Bremsklötze weg!
Als am Tage nach unserer Landung die ersten Glückwunschtelegramme in die winterliche Einöde der kleinen Insel Greenly Island hereinschneiten, als uns der Reichspräsident von Hindenburg, der Präsident unseres Deutschen Reichstages und die amerikanischen Staatsoberhäupter zu unserem Sieg über den Atlantik gratulierten, da schlugen unsere Herzen voll freudigem Stolz. Noch betrachteten wir dies alles als Anerkennung persönlicher Leistung. Als aber dann die Flut der Telegramme aus aller Welt nicht versiegen wollte, wuchs in uns von Stunde zu Stunde die Überzeugung, dass es Deutschland war, unsere Heimat, die man in uns ehren wollte.
Nicht wir, sondern dieses oft geschmähte und viel verleumdete Deutschland hatte einen Sieg errungen! Und als wir hineinflogen ins amerikanische Land, als man uns in New York, in Washington, in Milwaukee und Chikago zujubelte, als von hohen Fahnenmasten neben dem Sternenbanner und dem irischen Grün-weiß-orange die deutschen Fahnen flatterten, da brachte uns der gewaltige Eindruck dieses Empfanges die beseligende Gewissheit: wir waren Werkzeuge geworden, mit denen man Brücken schlug von Nation zu Nation, von Kontinent zu Kontinent. – – –
Die „Columbus“ durchfurchte den gewaltigen, aber dennoch von der kleinen, silbernen „Bremen“ besiegten Atlantik. Im fahlen Morgenlicht tauchte vor uns ein schmaler, dunkler Streifen auf: Deutschland … die Heimat. Flatternde Wimpel an vielen Masten und am Kai von Bremerhaven winkende Menschen. War es hier im großen nicht genau so wie damals draußen im Felde im kleinen –?
Wieder in Deutschland
An diesem Morgen der Heimkehr ins Vaterland stand es wie eine Vision vor mir auf – – – unser Flugplatz in Fleez. – Während fern am Horizont die explodierenden Munitionsmassen von Cerisy grelle Lichter drüben hinter der Front an den nächtlich dunklen Himmel warfen, senkte sich unser „Walfisch“ im Gleitflug zu Boden. Die ganze Staffel stand auf dem Rollfeld. Gespannt hatte man dort das schaurig-schöne Schauspiel verfolgt und jubelte uns zu, als wir aus der Maschine kletterten. Noch wussten wir nicht, was wir eigentlich angerichtet hatten. Wir fühlten nur, dass es etwas Großes gewesen sein musste. Damals bekam ich den Hohenzollern …
Diesmal gab es keinen Orden, aber noch schöner als die äußere Anerkennung war die Liebe eines ganzen Volkes, die uns hier beim Betreten der Heimaterde entgegenströmte, der Dank eines Volkes, für das wir ausgezogen waren, um mit dem Ozean zu kämpfen, – eines Volkes, dem wir mit allen Fasern unseres Herzens verwachsen waren. – – –
Genauso unauslöschlich wie dieser erste Empfang in Deutschland grub sich in mir das Erlebnis der Begegnung mit jenem Manne ein, der für uns Vorbild eines echten Deutschen ist. Der greise Feldmarschall und Reichspräsident von Hindenburg hatte uns empfangen. Schon reichte er uns die Hand zum Abschied, da nahm er mich noch einmal beiseite. Es war, als spräche ein Vater zu seinem Sohn, so grundgütig klang seine Frage:
„Man hat mir gesagt, Sie wollten ins Ausland …? Na, das müssen Sie mir aber versprechen, dass Sie das nicht tun!“ Aus tiefster, innerster Überzeugung heraus habe ich ihm dies versprechen können: mich lockte nicht die weite Welt. Daheim in Deutschland wollte ich weiterarbeiten!
*
Unendlich viel neue Probleme hatte der Ozeanflug an mich herangetragen, deren Lösung mein weiteres Schaffen gewidmet sein sollte. Darüber darf es keinen Zweifel geben: unsere wackere „Bremen“, die Junkers W 33, war im Jahre 1928 die beste und brauchbarste Maschine, die sich für einen Ozeanflug finden ließ. Was jedoch für einen Erstlings-, einen Pionierflug ausreicht, kann nicht genügen, das Endziel zu erreichen: den wirtschaftlichen Transozean-Luftverkehr. Diesem Problem wollte ich nachspüren und versuchen, eine Lösung zu finden. Hier erschloss sich für mich eine dankenswerte, neue Lebensaufgabe. Schon gleich nach dem Fluge, noch in Amerika drüben, stellte ich mein Denken ganz auf die Verwirklichung dieser Idee ein.
Dazu musste ich ganz neue Wege beschreiten. Da war das „Tanken in der Luft“. Vielleicht konnte man dadurch den Aktionsradius mehrmotoriger Flugzeuge erweitern. Aber die vielen Berechnungen, die ich nun anstellte, zeigten mir deutlich, dass dieser Weg nicht zum Ziele führte. Die Reichweiten der Maschinen wurden nicht verbessert, dafür verschlechterte sich jedoch die Wirtschaftlichkeit. Dann waren die „schwimmenden Inseln“ ein vielerörtertes Problem. Auch mit ihnen beschäftigte ich mich eingehend, allerdings … um dabei feststellen zu müssen, dass derartige Anlagen für uns heute wirtschaftlich nicht tragbar sind.
Wo aber war ein Weg, den man gehen konnte?! Im „Nur-Flügel-Flugzeug“ – – dem „Fliegenden Flügel“? Vielleicht … man musste es erproben. Ich suchte die Zusammenarbeit mit Männern, die auf diesem Gebiet bereits brauchbare Vorarbeiten geleistet hatten. Basierend auf den Erfahrungen, die der Ozeanflug vermittelt hatte, formte sich nun in mir in großen Umrissen die Form eines neuen Flugzeugtyps. Wenn man das Gute der bisherigen Flugzeugmuster mit den vielfachen neuen Erkenntnissen verband, die vor allem bei der Segelfliegerei gemacht worden waren, so konnte man versuchen, eine Maschine zu entwickeln, die unter Ausnutzung aller die Flugsicherheit bedingten Faktoren auch die vom Luftverkehr geforderte Wirtschaftlichkeit und Schnelligkeit in sich vereinigte.
Mit größter Aufmerksamkeit verfolgte ich die Versuche mit schwanzlosen Flugzeugen, wie sie von Etrich, Soltenhoff, Riediger und Espenlaub durchgeführt wurden. Auch die Arbeiten der Rhön-Rositten-Gesellschaft interessierten mich ganz besonders. Dort hatte man den „Storch“ konstruiert. Segelflugzeugtragflächen, darunter ein Rumpf und hinten dran ein schwacher Motorradmotor, der einen Liliput-Propeller drehte.
Auf dem Flugplatz in Darmstadt sah ich diesen seltsamen Vogel, gesteuert von dem jungen Segelflieger Günter Groenhoff, der ein paar Jahre später nach einem beispiellosen Aufstieg so jäh aus dem Leben gerissen wurde. Mit Hilfe eines Gummiseils wurde die Maschine gestartet, brauste über uns hinweg, kurvte und kam mit großer Fahrt wieder zurück. Die Kiste flog. Was tat’s, dass der Motor streikte und Groenhoff, von einer Bö gepackt, zu Boden gedrückt wurde und einen ganz passablen Bruch machte?! – – Ich hatte genug gesehen.
Mit Groenhoff auf der WasserkuppeDer „Storch“
In dieser Stunde fasste ich einen schwerwiegenden Entschluss. Die Rhön-Rossitten-Gesellschaft war am Ende ihrer Kräfte. Es standen ihr keine Mittel mehr zur Fortführung der Versuche zu Verfügung. Der „Storch“ als solcher schien mir noch nicht brauchbar; aber wenn man die Sache richtig anpackte, konnte er schon die Grundlage für ein Flugzeug werden, wie es mir vorschwebte. Darum erteilte ich der Rhön-Rossitten-Gesellschaft den Auftrag, mir eine Maschine zu bauen, die unter Verwertung der bereits vorhandenen Erfahrungen eine Reihe meiner Gedankengänge verwirklichen sollte.
Da ich den Bau selbst finanzierte und mir nicht unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung standen, wurde zunächst ganz klein begonnen. Als dann die zunächst hergestellten Segelflugmodelle brauchbare Leistungen aufwiesen, konnten wir einen Schritt weitergehen und ein Segelflugzeug in dieser „Nur-Flügel-Form“ schaffen.
Das Modell
Wir bauen den „Fliegenden Flügel“
Das, was diese Maschine von allen bisher bekannten Flugzeugtypen grundlegend unterschied, war die Tatsache, dass wir mit ihr dem Idealtyp des Flugzeuges überhaupt so nahe wie möglich kommen wollten: dem „Fliegenden Flügel“, den der geniale Professor Hugo Junkers bereits vor zwanzig Jahren erdacht hatte, der aber leider noch niemals gebaut worden war. Jedem Laien wird es klar sein, dass letzten Endes nur der tragende Flügel am Flugzeug unbedingt notwendig ist. Rumpf und hintenliegendes Leitwerk können also fortfallen, wenn es gelingt, den Flügel auch ohne das schädliche Widerstände erzeugende Leitwerk steuerfähig zu gestalten.
Diese Widerstände beeinträchtigten nicht nur Tragfähigkeit, Aktionsradius und Geschwindigkeit recht beträchtlich, sondern vor allem auch die Wirtschaftlichkeit des Flugbetriebes. Alexander Lippisch, der die technische Durchführung des Baues für die Rhön-Rossitten-Gesellschaft leitete, und ich hofften, diese Forderungen in dem neuen Flugzeugtyp verwirklichen zu können.
Nachdem das Segelflugzeug – wiederum von Günter Groenhoff eingeflogen worden war und unseren Erwartungen entsprach, ließ ich es umbauen und mit einem Kleinmotor ausrüsten. Leider sind diese Motoren immer noch sehr teuer. Direktor Croneiß von der Deutschen-Verkehrsflug-Aktiengesellschaft enthob uns aber dieser Sorge, indem er uns freundlicherweise einen solchen schenkte. Meine Zusammenarbeit mit der Rhön-Rossitten-Gesellschaft und die dabei erreichten Erfolge veranlassten auch das Reichsverkehrsministerium, Gelder für den Bau eines ähnlichen Flugzeuges zur Verfügung zu stellen.
Der Umbau wurde vollendet. Am Himmelfahrtstage des Jahres 1931 startete der „Fliegende Flügel“ zum ersten Male mit Motorkraft. Von Groenhoff geführt, zog er über der Wasserkuppe siegreich seine ersten Kreise, und in diesem Augenblick sah ich blitzartig den Weg in die Zukunft erleuchtet. Als dieses erste „Nur-Flügel-Flugzeug“ nach Berlin gebracht wurde, flog ich es selbst in Tempelhof. Dabei konnte ich feststellen, wie groß die Vorteile diese ersten tastenden Versuchsbaus anderen Maschinen gegenüber waren.
Der fliegende Flügel
Natürlich konnte diese Konstruktion noch nicht ganz reif sein. Wenn man aber die hier eingeschlagene Richtung konsequent beibehält, führt sie bestimmt in eine erfolgversprechende Zukunft.
Wie immer in meinem Leben, ging es auch hier nicht ohne Kämpfe ab. Sie sind hart gewesen und hitzig geführt worden, immer hatten sie jedoch nur den einen Zweck … der Sache zu dienen und die Entwicklung vorwärtszutreiben.
*
„Bremsklötze weg!“ – das brüllte ich drüben in Baldonnel meinen Monteuren beim Start zu … und dann begann der große Flug über den Atlantik. – Einer, der mir andere Bremsklötze fortnahm und die Bahn freimachte – – Hünefeld, mein Freund, ist schon lange gestartet zum letzten Fluge über die stillen Ozeane der Ewigkeit. Er fehlt mir, dieser mutige Kämpfer, und so manches hätte ich anders gestaltet, müsste ich seine Hilfe nicht entbehren.
Heute gilt es zu neuem Start zu rüsten! Die deutsche Fliegerei – noch immer geknebelt und gefesselt durch die Bande von Versailles – muss starten zum Freiheitsflug.
Unser Motor ist abgebremst. Wir deutschen Flieger haben der Welt durch Taten bewiesen, dass wir fähig sind, unentbehrliche Kulturarbeit zu leisten … als Flugzeugkonstrukteure, als Segel-, Sport- und Verkehrsflieger. Wir brauchen Freiheit für unser Schaffen und Gleichberechtigung!
Darum fordern wir von den Nationen der Welt:
„BREMSKLÖTZE WEG FÜR DEUTSCHLAND!“
Notizen zur Digitalisierung des Originals
Titel: Bremsklötze weg!
Untertitel: Das Lebensbuch eines deutschen Fliegers
Autor: Hermann Köhl (1888–1938)
Erstveröffentlichung: 1932
Verlag: Deutsches Leben und Sieben-Stäbe-Verlag, Hamburg
Druck und Einband: J. J. Augustin, Glückstadt und Hamburg
Gestaltung von Einband und Schutzumschlag: Paul Pfund (* 1895)
Copyright: Sieben-Stäbe-Verlags- und Druckereigesellschaft m. b. H, Berlin NW 7
Die hier digitalisierte Ausgabe ist ein Buch mit Pappeinband im Format von 14,5 cm × 21,5 cm aus der Druckauflage von 21 000 bis 30 000 Exemplaren. Der Buchblock hat 228 Seiten, zuzüglich 32 Bildseiten und vier Kartenseiten. Gesetzt wurde es in Antiqua mit einer kräftigen Bodoni-Schriftart; für die wenigen Textauszeichungen wurde Sperrsatz verwendet.
Für diese Digitalisierung wurde ein Buch aus kaeseschem Familienbesitz verwendet, deren Schutzumschlag und Originaleinband leider nicht mehr erhalten sind. Auf dem Schmutztitel findet sich die handschriftliche Widmung des Autors: „Glück ab! Hermann Köhl 27.V.1934“.
Für das Digitalisat sind die wenigen Satzfehler korrigiert, einige behutsame stilistische Änderungen vorgenommen (beispielsweise Zahlwörter statt Ziffernschreibweise und die Ausschreibung von Abkürzungen) sowie Schreibweisen an die aktuelle Rechtschreibung angepasst. Textauszeichnungen und Absätze sind vom Original übernommen. Der hier gezeigte Einband ist kein Scan, sondern wurde dem Original nachempfunden.