Dem Ozeanflieger
Hermann Köhl,
einst mein Beobachter im Flugzeug „Albatros B3“,
als kameradſchaftlicher Fliegergruß gewidmet.
Der Verfaſſer
Geleitwort zum „Flieger-Robinſon“
von Wolf Hirth
Wir Menſchen können heute fliegen!
Entweder raſen wir mit Motoren von Stadt zu Stadt – Verkehr! Arbeit! Taumel der Geſchwindigkeit!
Oder fliegen wir mit dem Segelflugzeug – Erholung! – Freude! – Begeiſterung!
Als ich ein zehnjähriger Junge war, lag ich an einem Glutſommertag im Schatten einer Burgruine im Schwarzwald. Über mir ſegelten Buſſarde. Ein gewohntes Bild! Plötzlich aber ſah ich einen eigenartigen Vogel niedrig über die Nippenburg wegflitzen. Er hatte durchſichtige und abgerundete Flügel wie eine Libelle. Ich weiß, das gibt es nicht. Aber ich habe es geſehen und das Bild nie vergeſſen, weil anſchließend an dieſe Erſcheinung meine Gedanken in die ferne Zukunft hinausflogen: Ich baute mir einen Rieſenvogel mit geſchweiften Schwingen und einem richtigen Vogelkopf, in dem ich als Führer lag und durch die Vogelaugen hinausſpähte. Den Hängen des Schwarzwaldes ſah ich mich entlangſtreichen, über Täler und Höhen. Menſchlein unten erſchraken ob des Rieſenvogels, die Jäger wagten nicht zu ſchießen. So ging es weiter, der Traum verlor ſich.
Ernſtlich glaubte ich natürlich nicht an die Verwirklichung eines ſolchen Phantaſiegebildes, damals, 1910. Und nun iſt doch alles wahr geworden! Mit meinem Rieſenvogel flog ich leicht und mühelos über Wald und Feld.
1928 ſah ich in Frankreich erſtaunte Menſchen heraufſtarren, ein Bauer ſtarb am Herzſchlag vor Schreck ob des geheimnisvollen Drachens, der auf ihn zuflog.
1930 zog mein ſchlanker Segler ſeine engen Kreiſe am klarblauen Himmel beim erſten Thermikflug. Verblüffte Amerikaner waren die Zeugen, verwundert und ohne Verſtändnis, wie der mächtige Holzvogel ſich höher und höher hinaufſchraubte.
1931 wuchſen unſere Streckenleiſtungen mächtig. Wir flogen mit den Gewittern, in den Wolken, und zum erſten Male gelang mir der Sprung von der Rhön über den Rhein.
Heute können wir Menſchen fliegen!
Auf manchem Gebiet nicht nur wie die Vögel, nein, ſogar beſſer wie unſere Vorbilder in der Natur!
– – „Flieger-Robinſon!“ Phantaſieerlebnis eines alten Fliegers. Wer von euch Erfindern und Pionieren des Fluges hat nicht in Gedanken ſeine Werke vorauserlebt!
„Flieger-Robinſon“, wir Menſchenvögel haben alle deine Erlebniſſe ſchon einmal geträumt. Wir folgen gerne noch einmal deinen Taten und freuen uns an deinem techniſchen Verſtändnis, an deinem Erfindergeiſt, an deiner, unſerer
Liebe zum Flug!
Wolf Hirth
Aufſtieg
Unwahrſcheinlich blau und nahegerückt ſtand die Silhouette der Alpen über dem ſmaragdgrün funkelnden See. Noch deckte der Schnee die Berge bis tief in die Täler. Aber an den Ufern des Bodenſees glänzten die Knoſpen der Bäume in verräteriſcher Lebensfülle. Der erſte warme Hauch mußte genügen, um ſie zu ſprengen. Der Frühling ſtand wartend an der Pforte des Südens.
Es war unſagbar ſtill. Als Reinhold Hartmut langſam den ſchmalen Uferweg entlang ging, der durch Gehölz und über Wieſen zur Flugzeugwerft führte, klangen Hammerſchläge und Rufen, das dünne Singen einer Säge hart und klar aus der Ferne herüber. Dann zerriß plötzlich das dröhnende Aufheulen eines Motors die Stille, die um ſo fühlbarer wurde, als der rauhe Ruf der Maſchine unvermittelt wieder ſchwieg.
Hartmut empfand die Ruhe in der Natur wie eine Drohung. Die Sonne, die ſich über den öſtlichen Alpenrand emporhob, ſandte ſtechende Strahlen. Hartmut öffnete die pelzgefütterte Jacke, reckte ſich, blieb ſtehen und ſah prüfend nach Süden.
Das tiefe Blau des Horizonts war in plaſtiſche Nähe gerückt. Hartmut beſchattete ſeine Augen mit der linken Hand. Sein Geſichtsausdruck, der zuerſt weich und verträumt geweſen war, glich nun, als er ſeinen Blick in die Ferne bohrte, dem eines Raubvogels. Richtig – er fand, was er ſuchte: ein haarfeiner, ſchwarzer Strich lag über der Kuliſſe der Alpenberge. Er wurde ſichtbar dicker und ſchien ſich mit großer Geſchwindigkeit dem Rande des Gebirges zu nähern.
Dieſe Anzeichen bedeuteten Föhn, und dieſe dünne Wolkenſchicht, die von Süden hoch über das Gebirge heranzog, war der ſicherſte Vorbote.
Als Hartmut grüßend beim Pförtner der Werft vorüberging, wurden die ſcharfen, langen Schatten der frühen Sonne mit einem Male weich und verſchwommen. Hartmut, gewohnt, auf alle Wetteränderungen und Anzeichen zu achten, blickte auf und ſah, daß von Süden her ein milchig weißer Wolkenarm vorgedrungen war, der den ſüdöſtlichen Himmelsraum überſpannte.
Wahrend Hartmut die Erſcheinung betrachtete und voll Staunen feſtſtellte, mit welch ungeheurer Geſchwindigkeit der Wolkenarm nah Norden vorſtieß, trat der Flugmeiſter zu ihm:
„Stimmt, Herr Hartmut, Föhn! Und er hat's eilig. Er mußte dieſes Jahr lange genug warten!“
Hartmut nickte nur.
Der andere fuhr fort: „Ich hab’ ſchon Auftrag gegeben, die Tore zu ſchließen. Mit dem Wetter, das eben aufzieht, iſt nicht zu ſpaßen.“
Hartmut überlegte einen Augenblick, dann fragte er: „Iſt M I ſtartbereit?“
„Natürlich, Herr Hartmut, wie befohlen!“, war die erſtaunte Antwort.
„Laſſen Sie die Maſchine ſofort zu Waſſer, vertäuen Sie ſie draußen an der Sturmboje und machen Sie das Motorboot klar. Ich möchte in zehn Minuten ſtarten.“
„Starten? Sie ſollten doch den Föhn kennen! Starten?“
„Jawohl – ſtarten. Wenn ich mit dem M I vor einem Sturm in dieſem Waſſerglas bange ſein ſoll – dann bleibe ich lieber gleich zu Hauſe. Wenn der Kahn das bißchen Seegang und Wind hier nicht aushält, wie ſoll er ſich dann draußen benehmen, wenn wirklich Sturm und Wellengang mich im Weltmeer überfallen ſollten?“
„Herr Hartmut, Sie ſollten doch den Föhn kennen; der, der uns heute bevorſteht, nimmt’s beſtimmt mit jedem Tropenſturm auf. In einer halben Stunde ſtehen wir hier an dieſer Stelle bis an die Bruſt im Waſſer – verlaſſen Sie ſich drauf! Und mit ein paar eingedrückten Fenſtern und vielleicht auch Hangartüren rechne ich beſtimmt.“
„Um ſo beſſer! Aber jetzt genug der Worte! Heraus mit der Maſchine, ſolange der See noch ruhig iſt – Sie brauchen doch keine Verantwortung zu übernehmen.“
„Und Ihre, Herr Hartmut, wünſche ich mir beileibe nicht“, entgegnete der Flugmeiſter und trollte ſich kopfſchüttelnd.
Hartmut ſah noch einmal prüfend in die Runde, dann ging er mit raſchen Schritten zum Büro der Werft, trat beim Direktor ein und meldete ſeine Startbereitſchaft.
Im gleichen Augenblick klingelte das Telephon. Der Direktor nickte und ſagte dann zu Hartmut: „Eben ruft mich der Flugmeiſter an. Er warnt mich, den Start zuzulaſſen.“
Hartmut wurde einen Augenblick blaß, eine Ader auf ſeiner Stirn begann zu ſchwellen. Doch dann biß er die Zähne hart aufeinander und ſagte mit erzwungener Ruhe: „In meinem Vertrag ſteht in § 2 ausdrücklich, daß mir der M I jederzeit zu Probeflügen zur Verfügung ſteht …“
„Womit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß Sie das Recht haben, ihn mutwillig aufs Spiel zu ſetzen, Herr Hartmut!“
„Wenn Sie den Eindruck haben, daß ich den M I und damit mich ſelbſt mutwillig aufs Spiel ſetze, ſo iſt es beſſer, Sie ſuchen ſich einen andern als mich, Herr Direktor. Wenn es Ihnen lieber iſt, daß ich ſamt dem M I irgendwo draußen das Schickſal der andern Verſchollenen teilen ſoll, dann verhindern Sie bitte Dinge, die ich mir reiflich genug überlegt habe. Ich bin mit meinen Vorbereitungen längſt fertig – bis auf dieſen einen abſchließenden Verſuch, der entweder heute oder überhaupt nicht erfolgt!“
Der Direktor zuckte die Achſeln: „Ich habe getan, was ich tun konnte, Hartmut. Ich muß die Verantwortung ablehnen und ſtelle Ihnen frei, zu tun, was Sie nicht laſſen können!“
„Sie ſollten wiſſen, Herr Direktor, daß ich mich noch keiner Verantwortung entzogen habe, die ich tragen will. Auf Wiederſehen!“
„Glück ab!“, rief der Direktor leiſe dem Davonſtürmenden nach.
Während der wenigen Minuten dieſer kurzen Unterhaltung hatte ſich das Landſchaftsbild völlig verändert. Bis über den halben See hatte ſich eine ſchwarze, dichte Wolkenbank vorgeſchoben, deren vorderer Rand mit weißer, ſonnenbeſtrahlter Schärfe in das Blau des Vorfrühlingstages einſchnitt.
Die Klarheit und Stille, in der die Landſchaft gebannt ſchien, war beklemmend.
Das dumpfe Donnern der Motore des M I zerriß die Spannung. Von allen Seiten, aus allen Werkſtätten ſtrömten die Arbeiter und Beamten zum Kai. Hartmut ſprang in das Motorboot und erreichte den M I in dem Augenblick, als er vor der Boje vor Anker lag. Sein Bordmonteur ſtand auf dem Tragdeck und rief ihm zu:
„Eilen Sie ſich! Es wird gleich ſchweren Seegang geben.“
„Ganz im Gegenteil“, lachte Hartmut. „Mach’, daß du von der Kiſte runterkommſt und bring’ die Nußſchale da unten in Sicherheit.“
„Ich ſoll nicht mitfliegen?“
„Meine Knochen pflege ich allein zu riskieren, das ſollteſt du riſſen! Schau nicht blöd, ſondern mach voran! Wir haben vollen Ballaſt und wieviel Brennſtoff?“
„Haupttank voll, die übrigen Tanks leer – wie befohlen!“
„Gut ſo!“, erwiderte Hartmut, ſtieg durch die Luke in das aus unzerbrechlichen Glasſcheiben gebildete Vorderteil des eigenwillig konſtruierten Waſſerflugzeuges ein.
Das Flugzeug war ein freitragender Eindecker. Der organiſch in der Mitte des Tragdecks angeordnete Rumpf war ſtreng ſtromlinienförmig ausgebildet. Sein Vorderteil beſtand aus einem Leichtmetallgerippe, das mit Triplex-Glas verkleidet war, und enthielt den Führerraum, der völlig freie Sicht nach allen Seiten bot.
Der für zwölf Paſſagiere berechnete Raum in der Rumpfmitte war, dem Spezialzweck des Flugzeugs entſprechend, als Vorratskammer für die Werkzeuge und Materialien, die Hartmut auf dieſem Flug mitnahm, überſichtlich eingerichtet und enthielt außerdem den Reſervetank, der den zur Bewältigung der Rekordſtrecke notwendigen Betriebsſtoff faßte und in direkter Verbindung mit den eigentlichen Betriebsſtoffbehältern ſtand, die im Mittelteil des Tragdecks rechts und links vom Rumpf als „Flächentanks“ angeordnet waren. Im rückwärtigen Teil des Rumpfes war ein Maſchinenraum eingebaut, der in ſeinem oberen Teil die geſamte Anlage für drahtloſe Telegraphie und Telephonie enthielt, während in ſeinem unteren Teil die Kompreſſorenanlage zur Vorverdichtung der von den Triebmotoren benötigten atmoſphäriſchen Luft eingebaut war.
Rechts und links von dieſem Rumpf waren im Tragdeck die Maſchinenräume eingebaut. Die beiden Reißner-Metallpropeller mit veränderlicher, vom Führerſitz aus einſtellbarer Steigung, lagen hinter dem Tragdeck. Die Motorenräume wuchſen organiſch aus dem Tragdeck heraus und waren ſtromlinienförmig verkleidet. Sie enthielten die beiden vierundzwanzigzylindrigen M-Motore von je zweitauſend Pferdeſtärken.
An dem Unterteil dieſer Motorenräume waren die beiden Hauptſchwimmer angeordnet, und zwar derart, daß ſie während des Fluges hochgezogen werden konnten und zuſammen mit dem Oberteil der Motorenräume einen ſtromlinienförmigen Körper bildeten, der einen in ſich geſchloſſenen Durchdringungskörper des Tragdecks bildete. Eine Preßluftanlage bediente die Klappvorrichtung, durch die die Schwimmer nach abwärts bewegt wurden und für Landung und Start des Flugzeuges bereit ſtanden.
Durch dieſe Anordnungen hatte das Flugzeug im Fluge ein Minimum von Luftwiderſtand, während es auf der breiten Baſis, die die beiden Schwimmer im niedergeklappten Zuſtande bildeten, völlig ſicher auf dem Waſſer ruhte und auch bei hohem Seegang ſchwimmtüchtig blieb, da ſelbſt hohe Wellenberge weder das Tragdeck noch den Mittelrumpf erreichen konnten.
Das Baumaterial des Flugzeugs beſtand vorwiegend aus einer neuen Aluminiumlegierung von annähernd Stahlfeſtigkeit, die völlig korroſions- oder roſtfrei war und den Unbilden der Witterung ſowie der Einwirkung des Seewaſſers ſtandhielt.
Das Flugzeug war der Typ der Höhenmaſchine, das ſeine Flugſtrecken in Höhen über achttauſend Meter bewältigen ſollte, und zwar aus folgenden Gründen: mit zunehmender Höhe nimmt die Dichtigkeit der Luft, der Atmoſphäre entſprechend, ab. Der Luftwiderſtand, alſo derjenige Vorgang, auf dem das Fliegen mit Maſchinen, die ſchwerer als die Luft ſind, letzten Endes beruht, nimmt entſprechend der Luftverdünnung, der Abnahme der Luftdichte, ebenfalls ab. Das Flugzeug vermag alſo bei gleicher Kraftleiſtung in großen Höhen entſprechend ſchneller zu fliegen als nahe dem Erdboden.
Gleichzeitig mit der Verdünnung der atmoſphäriſchen Luft bei zunehmender Höhe wird jedoch die Leiſtung der Exploſionsmotore geringer, da die zum Verbrennungsvorgang notwendige Luft aus der Atmoſphäre angeſaugt wird. Wird nun dieſe Luft mechaniſch vorverdichtet und den Motoren unter Druck zugeführt, ſo kann je nach dem Grad der Vorverdichtung und entſprechend der Höhe und der damit verbundenen Verdünnung der Atmoſphäre die Leiſtung der Motore in allen Flughöhen konſtant und nach Bedarf auf dem Maximum der Leiſtungsabgabe gehalten werden.
Hartmuts Flugzeug entwickelte in tauſend Meter Höhe bei normaler Laſt eine Geſchwindigkeit von annähernd dreihundert Kilometer pro Stunde im Horizontalflug. Bei Höhen über zehntauſend Meter war die Geſchwindigkeit im Horizontalflug mehr als doppelt ſo groß. Naturgemäß waren Flüge in dieſer Höhe für die Inſaſſen nur erträglich, wenn künſtliche Atmung vorgeſehen war, das heißt der Sauerſtoffgehalt der Atmoſphäre ſo erhöht wurde, daß den Lungen dieſelbe Sauerſtoffmenge zugeführt wurde wie an der Erde. Eine völlig neuartige Anordnung, die gleichzeitig von der Kompreſſoranlage betrieben wurde, verſorgte alſo die luftdicht abſchließbaren Perſonenräume des Mittelrumpfes mit ſauerſtoffreicher Luft. Die Anlage ſchied aus der angeſaugten atmoſphäriſchen Luft den Stickſtoff aus, erzeugte alſo entſprechend der Verdünnung in den Paſſagierräumen eine ſauerſtoff-angereicherte Atemluft auf völlig automatiſchem Wege. Ganz entſprechend der Druckverminderung begann die Anlage zu arbeiten und erzeugte ſolche Mengen von ſtickſtoffarmer, alſo ſauerſtoffreicher Luft, daß die Paſſagierräume ſtets mit Atemluft erfüllt waren. Die durch die Atmung ausgeſchiedene Kohlenſäure wurde fortgeſetzt abſorbiert, ſo daß eine phyſiologiſche Wirkung der Höhe für die Inſaſſen nicht zu bemerken war.
Die außerordentlich niederen Temperaturen, die in großen Höhen herrſchen, wurden durch eine umfangreiche Heizanlage bei gleichzeitiger Iſolierung der Außenhaut des Rumpfes ebenfalls automatiſch in ihrer Wirkung auf die Maſchine und ihre Innenräume ausgeglichen.
Das Flugzeug ſollte dem transatlantiſchen Schnellverkehr dienen. Die bei Höhenflügen erreichbare Geſchwindigkeit ſollte eine normale Durchſchnittsleiſtung von fünfhundert Kilometer Flugſtrecke pro Stunde ergeben. In dieſen Flughöhen glaubte man außerdem von den Wetterverhältniſſen unabhängig zu ſein, da einerſeits weder Nebel noch Wolken und höchſt ſelten Gewittervorgänge bis in dieſe Höhen der Atmoſphäre hinaufreichen und andererſeits die hohen Windgeſchwindigkeiten in dieſen Höhen für das Flugzeug gefahrlos waren, da hier die Luftſtrömungen wirbelfrei verlaufen. Zudem beſtand meteorologiſch die Annahme, daß in dieſen Höhen in ihrer Richtung gleichbleibende Strömungen vorhanden ſind, die bei richtiger Einteilung der Flugſtrecken und Höhen als Rückenwind ausgenützt werden konnten.
Bei Annahme einer mittleren Stundengeſchwindigkeit von fünfhundert Kilometer mußte alſo ein Flug um den Äquator, deſſen Länge annähernd vierzigtauſend Kilometer beträgt, in achtzig Stunden reiner Flugzeit durchzuführen ſein. Einen ſolchen Flug ſollte Hartmut ausführen als Vorbereitung für die Einrichtung regelmäßiger transozeaniſcher Flugverbindungen von Kontinent zu Kontinent.
Als Verſuchsſtrecke war in Ausſicht genommen: Friedrichshafen–Pernambuco, von hier längs der Nordküſte Südamerikas und über den Amazonenſtrom quer durch Braſilien und das nördliche Peru an die Weſtküſte Südamerikas; von hier in ununterbrochenem Flug weiter, etwa dem Äquator folgend über den Stillen Ozean, Ozeanien und den malaiiſchen Inſelarchipel nach Singapur; von Singapur in direkter Linie über das nördliche Indien, nach Überquerung des Himalaja durch das ſüdliche Rußland zurück nach Deutſchland, wo die Landung auf dem Flughafen Wannſee bei Berlin erfolgen ſollte.
Der Bericht über dieſe Reiſe wurde durch eingebaute, automatiſch arbeitende kinematographiſche Apparate vorbereitet, die ununterbrochene Aufnahmen von faſt eintauſend Meter Filmlänge ermöglichten und durch Druckknöpfe vom Führerſitz aus zu betätigen waren. Hartmut hatte durch Wochen hindurch keine freie Minute, da er ſich mit all dieſen Apparaturen bis in jede Einzelheit vertraut machen mußte.
Die Vorbereitung des Fluges wurde geheim gehalten. Nur wenige Eingeweihte wußten, um was es ſich handelte. Stöße von Karten wurden zerſchnitten und zu dem Streifen der Flugſtrecke zuſammengeſtellt, der über einem Rollmechanismus vor dem Führerſitz ablief; die feinſten Inſtrumente zur Ortsbeſtimmung und Orientierung waren ausprobiert und eingebaut. Der urſprüngliche Plan, einem zweiten Inſaſſen des Flugzeuges die Bedienung dieſer Inſtrumente zu überlaſſen, ſcheiterte an dem kategoriſchen Nein, das Hartmut ausſprach. „Ich muß die ganze Verantwortung auf mich nehmen und will ſie auch ganz allein tragen. Nur dann bin ich in meinen Entſchlüſſen ſo frei, wie ich ſein muß, um die geſtellte Aufgabe zu löſen.“
Die Ausrüſtung des Flugzeuges mit Werkzeugen und den verſchiedenartigſten Materialien wurde Hartmut überlaſſen. Er ſtellte das zuerſt als notwendig Erſcheinende zuſammen, hielt dann Ausleſe, um ſich auf das Allernotwendigſte zu beſchränken. Trotzdem machten die Werkzeuge und Geräte, Materialien und Reparaturteile, die er mit ſich führen wollte, ein ſo erhebliches Gewicht aus, daß die Konſtrukteure den Kopf ſchüttelten. Hartmut widerlegte ihre Befürchtungen, indem er einen Start mit einer Überlaſt von Ballaſt vornahm, die ein Vielfaches der vorgeſehenen Flugzeugladung ausmachte. Von dieſem Tage an verſuchte man ihn nicht mehr zu überreden und ließ ihn gewähren. Lächelnd ſtellte man feſt, daß er ſogar ein Jagdgewehr mit Munition und eine Angel mitnahm und Speiſevorräte herbeiſchaffte, die einer gut verſehenen Küche zur Zierde gereicht hätten.
Hartmut hatte inzwiſchen mit aller Ruhe die Inſtrumente kontrolliert, Leitung und Schaltapparate geprüft, und war durch den engen Gang des Tragdecks zu den Motoren gekrochen, wo er nichts zu beanſtanden fand.
Während er ſich an der Kompreſſoranlage zu ſchaffen machte, begann die Maſchine plötzlich zu ſchwanken, und als er nun raſch zum Führerſitz kletterte, pfiff ein Sturmſtoß über den See, der die Maſchine gewaltig an ihrem Ankertau zerren ließ und mit ſolcher Gewalt unter die Tragdecke griff, daß Hartmut das Gefühl hatte, emporgeriſſen zu werden.
Er lachte: „Bravo, Vater Föhn, faſt ſo tüchtig wie meine viertauſend PS! Alſo zeigen wir, was wir können!“
Nach kurzer Stille, die dieſem einzelnen Sturmſtoß folgte, fegten jetzt in immer raſcherem Wechſel die Böen über das Waſſer und peitſchten in einem Nu den friedlichen, glatten Spiegel des Sees zu einem wogenden Meer voll ſtrudelnder Schaumköpfe auf. Immer gleichmäßiger wurde das ſingende Heulen des Sturms, ſchließlich fegte er mit ungehemmter Gewalt dem Ufer zu, das Land weit überſpülend und an Felsblöcken und Kaimauern wahre Fontänen von Waſſerſpritzern und zerſprühendem Giſcht aufwühlend.
Der M I tanzte auf den Wellenbergen und riß immer wütender an der Vertäuung. Hartmut ſchaltete die beiden Motore zur Unterſtützung des Haltetaues ein, ließ ſie jedoch nur mit ſo ſchwacher Kraft laufen, daß ſich die Maſchine nicht voranbewegen konnte, ſondern vom Winddruck auf der Stelle gehalten wurde. Erſt als er gewiß zu ſein glaubte, daß der Föhnſturm ſeinen Höhepunkt erreicht hatte und die Schwimmer dieſe erſte Feuerprobe glänzend beſtanden hatten, gab Hartmut vorſichtig Gas und löſte den automatiſchen Verſchluß der Vertäuung. Dann gab er Vollgas und mit einem Ruck ſchoß die Maſchine dem Sturm entgegen. Sprühend brachen ſich die Wellen an dem Schwimmer.
Mit geſpannter Aufmerkſamkeit verfolgte Hartmut den Rhythmus von Wellenberg und Wellental, korrigierte Seiten- und Höhenſteuer, um ein Unterſchneiden der Schwimmer im Waſſer zu vermeiden, was zur Kataſtrophe führen konnte. Willig gehorchte der M I den Hilfen ſeines Führers, und nach unverhältnismäßig kurzem Anlauf hob er ſich vom Waſſer ab.
Die Menſchen am Ufer hatten mit atemloſer Spannung dieſes Schauſpiel mitangeſehen. Dicht gedrängt ſtanden ſie am Rande der immer weiter vordringenden und das Ufer überſchwemmenden Waſſer und waren ſo gefeſſelt von ihrem Schauen, daß einige unvermittelt bis an die Hüften in die hochgepeitſchten Waſſermaſſen gerieten.
Als ſich der M I vom Waſſer abhob und ſchwebte, wurde es bei den Zuſchauern noch ſtiller als zuvor. Jetzt kämpfte einer von ihnen da draußen gegen die entfeſſelten Gewalten. Mit jeder Faſer ihres Herzens wünſchten ſie den Sieg, an dem ſie in dieſem Aufruhr der Elemente zweifeln mußten.
Der einzige, der bei all den Vorgängen ruhig blieb, war Hartmut ſelbſt. Er hielt zwar das Steuer feſter in Händen als ſonſt und mußte dem M I gröbere Hilfen geben, als er bisher zu tun gewohnt war. Die Böen ſchlugen mit dumpfem Knall unter die Tragdecks, daß oft das ganze Gefüge des Flugzeugs zitterte. Doch die Motore donnerten gleichmütig ihr erzenes Lied, und aus dem dröhnenden Schwirren ihrer Stimme klang es Hartmut entgegen: „Wir halten feſt, wir halten durch!“
Sehr langſam näherte ſich der M I dem andern Ufer. Hartmut ließ das Schwimmergeſtell einklappen, aber die Geſchwindigkeit ſteigerte ſich nur unweſentlich. Die Gewalt des Gegenwindes war rieſig.
Knapp hinter dem Ufer drehte er ab, und nun raſte die Maſchine nach Norden, von den Schwingen des Föhns getragen. In Gedankenſchnelle war das andere Ufer erreicht. Wenige hundert Meter über der Werft warf Hartmut den M I ſcharf in die Kurve, bis er ſenkrecht über den Hallen, von Böen auf und ab geworfen, ſtehen zu bleiben ſchien.
Den Jubelruf, der in dieſem Augenblick aus Hunderten von Kehlen nah oben drang, konnte Hartmut nicht vernehmen. Plötzlich flammte die Signalapparatur der Radioanlage auf. Mit raſchem Griff ſchnallte Hartmut den Kopfhörer um und brachte das mit Gummi gedichtete Sprechmundſtück in Aufnahmeſtellung.
„Hallo, Hallo! Sind Sie empfangsbereit?“, kam die Stimme des Werftfunkers.
„Alles in Ordnung an Bord“, antwortete Hartmut.
„Wir gratulieren und hoffen, daß Ihnen die Landung ebenſo gut gelingt wie der Start!“
„Ich gehe über die Wolken“, entgegnete Hartmut. „Meine Landung wird früheſtens in einer Stunde erfolgen. Machen Sie das große Boot bereit!“
„Es liegt zum Auslaufen klar.“
„Ich unterbreche. Mein Anruf kommt früheſtens in einer halben Stunde.“
„Danke. Glück ab.“
Nun begann für Hartmut ein Kampf, viel ſchwerer als der, den die Menſchen am Ufer mit atemloſer Spannung verfolgt hatten. Er näherte ſich den Wolken und kam damit in die Grenzzone zweier Windſtrömungen von völlig verſchiedener Geſchwindigkeit.
Die Wolkenbank war nicht dick, aber außerordentlich dicht. Hartmut konnte ſich nur nach den Inſtrumenten orientieren und das Flugzeug in ſeiner Lage halten. Von mächtigen Böen gerüttelt und geworfen wie nie zuvor, näherte ſich Hartmut dem oberen Wolkenrande.
Die graue Dunkelheit ging in fahles Licht über, das ſich raſch zu blendender Helle ſteigerte. Trotz aller Bemühungen wollte es Hartmut nicht gelingen, bei voller Motorleiſtung, auch mit eingeſchalteten Kompreſſoren, die wenigen Meter zu gewinnen, die ihn über die Wolkenſchicht tragen mußten. Erſt als er Kurs nach Norden nahm, ſchoß er im wahren Sinne des Wortes aus der Wolkenbank heraus. Der von Süden wehende Wind hatte ſeiner Maſchine rieſige Geſchwindigkeit erteilt, ſo daß ſie mit größter, lebendiger Wucht in die Zone ruhiger Strömungen hineingeworfen wurde und nun normal weiterſtieg.
Das Bild, das ſich Hartmut bot, war zauberhaft. Wie ein wogenloſes, glattes, weißes Meer lagen die Wolken tief unter ihm. Nur die höchſten Gipfel der Alpen tauchten aus dieſer Decke empor, im Sonnenlichte funkelnd und gleißend. Der Himmel wölbte ſich tiefblau über dem märchenhaften Weiß. M I glitt völlig ruhig ſeine Bahn.
Hartmut ließ die Maſchine ſteigen. Raſch näherte er ſich den Alpenbergen. In viertauſend Meter Höhe überflog er die erſten, aus den Wolken emportauchenden Gipfel, und vor dem Maſſiv der Zentralalpen, das greifbar dicht unter ihm lag, machte er kehrt.
Das war ſein Abſchied von der Heimat. In der Himmelsnähe dieſer Berge, in der Reinheit ihrer Luft und der Klarheit ihrer Konturen hatte er die ſchönſten Stunden ſeines Lebens verbracht, die glückſelige Gelöſtheit der Jugend bis in alle Faſern ſeines Weſens gefühlt.
Noch einen Blick warf er auf die leuchtende Klarheit zurück, dann ſetzte er mit halb gedroſſeltem Motor zum Gleitflug an. Ohne die Inſtrumente zu beachten, ſteuerte er einen Punkt in dieſer weißen Wüſte an, unter dem er die Werft vermutete. Er verließ ſich auf ſeine ſeltene Gabe: ein faſt unfehlbares Orientierungsvermögen, das viel zu ſeinen Fliegererfolgen beigetragen hatte.
In raſender Fahrt ging es der Wolkendecke zu. Knapp über ihr drehte er in ſcharfer, ſpiraliger Kurve nach Süden, und im nächſten Augenblick ſchon war er von Dunkelheit und dröhnenden Böen umſchloſſen. Dann lichtete ſich der Wolkendunſt zu bleigrauer Helle, und unter Hartmut erſchien das Ufer des Sees, von Schaumſtreifen geſäumt.
Gleichzeitig ſchaltete er die Radioanlage ein: „Ich lande in wenigen Minuten. Alles klar?“
„Das Boot läuft aus.“
„Ich bleibe im Kurs des Gegenwindes.“
Achtlos ſtreifte Hartmut die Höranlage beiſeite. Mit zuſammengebiſſenen Zähnen ſetzte er zur Waſſerung an. Das Schwimmergeſtell klappte wenige Meter über dem Waſſer aus. Die linke Hand an der Gasdroſſel, die rechte Hand feſt um das Steuer gepreßt, näherte Hartmut den M I dem von Wellen kochenden See.
Mit hartem Schlag trafen die erſten Wogenkämme den Schwimmer, dann faßten ſie mit einem Ruck, der die ganze Maſchine erſchütterte, und im nächſten Augenblick tanzte der M I auf Wellentälern und ‑bergen.
Hartmut hielt das Flugzeug mit geſpannteſter Aufmerkſamkeit in Gegenwind.
Nach wenigen Minuten ſchoß, von Waſſer umſpült, das Motorboot heran. Hartmut ließ die Ankerleine mit der kleinen Schwimmboje ablaufen. Hinter dem Flugzeug faßte das Boot die Boje, ließ die Leine verſinken, fuhr im Bogen um das Flugzeug herum und nahm es ins Schlepptau.
Jetzt begann der ſchwierigſte Teil: Bei der Gewalt des Sturmes war es unmöglich, das Flugzeug zu wenden. Hartmut ſtellte die Motore ab, das Verbindungstau zum Boot ſtraffte ſich. Der Führer des Motorbootes droſſelte und ließ das Boot ſamt Flugzeug langſam rückwärts treiben, nur darauf achtend, daß die Abtrift genau in Richtung zur Auslaufhalle erfolgte und das Flugzeug am Kran befeſtigt werden konnte.
Die Bergung des Flugzeuges war für Hartmut viel aufregender als Start und Landung. Mehrere Male wurde der Verſuch gemacht und immer wieder geriet die Maſchine in Gefahr, an den Kaimauern und Hallentoren zu zerſchellen.
Nur durch die halsbrecheriſche Geſchicklichkeit und den Wagemut ſeines Bordmonteurs, der am Kranhaken zwiſchen Himmel und Erde ſchwebend nach dem auf und ab tanzenden Flugzeug „angelte“, gelang ſchließlich die Bergung. Aber erſt als einige fünfzig Mann mit Stricken das Flugzeug an den Flächen und am Rumpfende hielten, konnte man die Maſchine unverletzt in die Halle einbringen.
Sie hatte ihre Feuerprobe beſtanden.
Weltflug
Am 13. April, vormittags ſieben Uhr, ging der Start von ſtatten. Der Wetterbericht war nach Rückfrage bei den weſtlichen und ſüdlichen Stationen ausgezeichnet. Ein direkter Nonſtop-Flug nach der öſtlichen Spitze von Südamerika, nach Pernambuco, war geplant.
Mit ſeiner enormen Belaſtung an Betriebsſtoffen und Zuladung erhob ſich der „Transozean“ – ſo war das Flugzeug genannt worden – ſchwerfällig aus dem Waſſer des Sees. Die ganze Belegſchaft der Werft ſtand am Ufer und winkte. Hartmut flog eine Ehrenrunde und zog die kleine Signalflagge, die von ſeinem geſchloſſenen Führerſitz aus bedient werden konnte, und ließ ſie auf und ab gehen. Dann ſtellte er die drahtloſen Peilinſtrumente ein, brachte das Flugzeug genau auf Kurs Zürich und begann unter Vollgas der Motore ſo ſtark zu ſteigen, wie dies bei deſſen Überbelaſtung überhaupt möglich war. Als er das Schweizer Ufer erreichte, gab er einen Funkſpruch: „Transozean nimmt Abſchied von Deutſchland, grüßt die Schweiz auf dem Flug nach Südamerika.“ Gleichzeitig ſchnallte er ſich die Kopfhörer an und begann eine drahtloſe Unterhaltung mit den Direktoren der Werft.
Trotz der Überlaſt ſtieg die Maſchine unverhältnismäßig gut. Schon über Zürich hatte er dreitauſend Meter Höhe erreicht, und noch immer ſtieg das Barogramm ſteil an. Er machte auf dem elektriſch angetriebenen, fortlaufenden Barogrammſtreifen, der wie ein Notizblock in ſeiner greifbaren Nähe angebracht war, die Ortseintragungen, während die Uhrzeit durch ein zweites Schreibwerk unmittelbar von fünf zu fünf Minuten markiert wurde. Über Bern waren viertauſendzweihundert Meter erreicht, und es war Zeit, die künſtliche Atmung einzuſchalten.
Gleichzeitig berechnete Hartmut auf dem ringförmigen Spezialrechenſchieber die Fluggeſchwindigkeit und ſtellte ſie mit zweihundertundſechzig Kilometer pro Stunde feſt.
Dieſes Reſultat war ungünſtig. Hartmut mußte alſo, wenn er die Rekordzeiten einhalten wollte, die vorgeſehen waren, weſentlich größere Höhen aufſuchen, um in der dünnen Luft bei geringerem Luftwiderſtand die höchſte Geſchwindigkeitsgrenze der Maſchine zu erreichen. Er ſchaltete die Kompreſſorenanlage ein, die die dünnere atmoſphäriſche Luft verdichtete und unter Druck den beiden Triebmotoren zuführte.
Die Kurve des Barogramms fing wiederum unvermittelt ſteil zu ſteigen an, und das gewaltige Maſſiv der Weſtalpen von der Jungfrau bis zum Montblanc lag bald dreitauſend Meter unterhalb des „Transozean“. Hartmut flog in ſiebentauſendfünfhundert Meter Höhe. Bei Marſeille erreichte er die Küſte des Mittelmeeres in einer Höhe von achttauſendfünfhundert Meter. Die Stundengeſchwindigkeit war auf vierhundertundfünf Kilometer geſtiegen, blieb alſo hinter den Erwartungen um faſt hundert Kilometer zurück.
Das Wetter war beim Abflug leicht dieſig geweſen. Trotz der enormen Höhe, in der Hartmut jetzt flog, lag das Mittelmeer klar unter ihm, und er hatte einen Rundblick, wie ihn ein Sterblicher vor ihm kaum jemals gehabt hatte: Hunderte von Kilometer weit reichte ſein Blick in die Runde. Die Küſte der Riviera verlor ſich im tiefen Blau des Horizonts, die Küſte Spaniens tauchte aus dem Blau wie eine Verheißung glücklicher Gefilde auf.
Ununterbrochen liefen die Funkmeldungen ein. Die engliſche Station auf Gibraltar gab einen Wetterbericht, der die Tätigkeit eines Zyklons in der Gegend der Kanariſchen Inſeln meldete. Aus einer neuen Geſchwindigkeitsmeſſung ſtellte Hartmut feſt, daß er mit einem Rückenwind von großer Stärke flog, der die Geſchwindigkeit ſeines Flugzeuges auf faſt ſechshundert Kilometer pro Stunde erhöhte. Nach vier Stunden reiner Flugzeit lag Gibraltar ſenkrecht unter ihm, – er war alſo den eintauſendſiebenhundert Kilometer langen Weg mit einer durchſchnittlichen Geſchwindigkeit von rund vierhundertundfünfundzwanzig Kilometer pro Stunde geflogen. Die Geſchwindigkeit des Windes in dieſer Höhe nahm ſtetig in ſeiner Flugrichtung zu, denn die nächſte Peilung, die er über den Kanariſchen Inſeln ausführte, ergab für eine Wegſtrecke von eintauſendzweihundert Kilometer eine Flugzeit von weniger als zwei Stunden.
Zugleich aber begann ſich über dem Meer eine Trübung bemerkbar zu machen, und Hartmut ſah an dem Flimmerkranz um die Sonne, daß er in Zirruswolken flog, deren Eiskriſtalle einen blitzenden Kranz um das Flugzeug bildeten.
Die Kanariſchen Inſeln verſchwanden raſch hinter ihm, und er war allein in rieſenhafter Höhe über den endloſen Waſſerfluten des Atlantiſchen Ozeans. Da und dort ſah er den Rauch eines Dampfers. Wie ein winziger Keil wurde das Schiff ſelbſt beim Näherkommen ſichtbar, und ſeine Bugwellen pflügten die Oberfläche des Ozeans in langen, dreieckigen Furchen auf. Der Horizont vor ihm wurde dunkel, das Meer unter ihm bedeckte ſich immer dichter, und bald konnte Hartmut erkennen, daß ein heftiger Regen unter den Wolken die Fluten peitſchte. Er hatte das Gefühl, daß ſeine Geſchwindigkeit ſich ſtark verringert hatte, obwohl jeder Anhaltspunkt zu ihrer Meſſung über dieſem Meer von Wogen und Wolken für ihn fehlte.
Er begann Ausſchau nach den Kapverdiſchen Inſeln zu halten, ohne jedoch durch die Wolkenſchicht, die nun in geſchloſſener Decke unter ihm das Meer bedeckte, das mindeſte Anzeichen von Land zu erkennen.
Die drahtloſe Verbindung mit Friedrichshafen hatte ſeit langem aufgehört. Er empfing eine große Zahl von Funkſprüchen, die ohne Bedeutung und Sinn für ihn waren. Nur einmal hatte der Deutſchlandſender in der vereinbarten Wellenlänge gute Fahrt gewünſcht. Er hatte geantwortet und war augenſcheinlich verſtanden worden, denn es kam die Antwort: „Wir gratulieren!“
Nun begann Hartmut in der Wellenlänge der Radioſtation auf den Kapverdiſchen Inſeln zu telegraphieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich in ſeinem Hörer die Antwort vernahm. Die Verſtändigung war außerordentlich ſchwierig. Wie er aus den Geräuſchen im Hörer entnehmen konnte, tobte ein gewitterartiger Regen über den Kapverdiſchen Inſeln. Seine Peilinſtrumente zeigten ihm, daß eine erhebliche Kurskorrektur notwendig war. Augenſcheinlich hatte ſich der Rückenwind in Seitenwind zu ſeiner Flugrichtung umgewandelt, ſo daß er ſeinen Flug faſt genau ſüdlich mit einem kleinen Schlag nach Oſten einſtellen mußte.
Jetzt begannen die Stunden zu kriechen. Bis zu den Kapverdiſchen Inſeln war eine weſentliche und beängſtigende Geſchwindigkeitsabnahme noch nicht erfolgt. Seiner Berechnung nach hätte er aber längſt über der kleinen Inſel St. Paul nahe am Äquator ſein müſſen, wenn er ſeine Geſchwindigkeit beibehalten hätte. Es war ihm aber nicht möglich, irgend eine Verbindung mit der kleinen drahtloſen Station auf dieſer Inſel zu erhalten, trotzdem er fortgeſetzt in deren Wellenlänge anfragte.
Allmählich begann die Wolkendecke vor ihm Lücken zu zeigen, und der Horizont klärte ſich auf. Er war über den Bereich des Zyklons hinausgekommen und fand nun wieder ſchönes Wetter vor. Unvermittelt tauchte aus einem Wolkenloch die kleine Inſel St. Paul vor ihm auf. Der Krater dieſer kleinen vulkaniſchen Inſel, den das Meer in eine kreisrunde Bucht verwandelt hatte, die wie ein Kunſtbau wirkte, machte leichte Orientierung möglich. Sein Kurs war genau eingehalten. Jetzt lagen noch tauſend Kilometer Wegſtrecke vor ihm. Hartmut hatte ſchon über Gibraltar die Motore ſtark abgedroſſelt, um ihre Überlaſtung zu verhindern und die Windſtrömung auszunützen. Erſt über der Wolkenbank von den Kapverdiſchen Inſeln war er wieder auf dreiviertel der Motorleiſtung hinaufgegangen, um jetzt über St. Paul die Leiſtung wiederum bedeutend herabzuſetzen. So kam es, daß Stunde auf Stunde verrann, ohne daß er das Feſtland Südamerikas herannahen ſah. Er war nun faſt fünfzehn Stunden in der Luft, ohne ein Zeichen des Landes zu bemerken. Die Dämmerung begann einzuſetzen, obwohl er auf ſeinem Flug eine ganze Reihe von Stunden gewonnen hatte. Die Zeitdifferenz zwiſchen Friedrichshafen und dem Ort, wo er zu landen beabſichtigte, betrug nicht weniger als dreieinhalb Stunden.
Hartmut war gerade damit beſchäftigt, die Peilinſtrumente zu kontrollieren, als er plötzlich einen lauten Funkſpruch vernahm. Er blickte unwillkürlich auf und ſah unmittelbar vor ſich die Küſte Südamerikas ſcharf umriſſen aus der Dämmerung auftauchen. Nach fünfzehn Stunden und dreiundvierzig Minuten reiner Flugzeit landete der „Transozean“ im Hafen von Pernambuco.
In Pernambuco war nichts zum Empfang von Hartmut vorbereitet. Niemand hatte angenommen, daß in knapp ſechzehn Stunden ein Flugzeug aus Europa nach Südamerika gelangen könnte. Die Hafenbehörden ſtellten Hartmut bereitwilligſt alle Hilfsmittel zur Verfügung. Er verankerte das Flugzeug an der Mole des Hafens und ließ ſofort den bereitgeſtellten Betriebsſtoff einfüllen. Alle Arbeiten geſchahen unter ſeiner Aufſicht und waren in wenigen Stunden beendet. Dann bat Hartmut um Wachen, nahm ein frugales Mahl ein und legte ſich in dem Mittelraum des Flugzeuges auf das vorgeſehene Feldbett zur Ruhe. Er war nach wenigen Minuten eingeſchlafen und ſchlief traumlos durch, bis ihn am nächſten Morgen der Wecker bei Beginn der Dämmerung aus dem Schlaf ſchreckte.
Völlig ausgeruht erhob er ſich und machte einen Hechtſprung in das Meer, um ſich durch ein Bad zu erfriſchen. Inzwiſchen waren die Herren der deutſchen Kolonie im Hafen eingetroffen und bewirteten Hartmut mit einem Frühſtück, das er mit großem Appetit verſpeiſte. Als Gruß Braſiliens wurde ihm ein Zweig des Kaffeeſtrauches überreicht, mit Blüten und reifen Früchten. Die Aufforderung, noch einige Tage als Gaſt in der deutſchen Kolonie zu bleiben, lehnte er lächelnd ab. Er ging ſofort an die Überprüfung der Motore und Inſtrumente, und nach einer Stunde eindringlicher Arbeit war der „Transozean“ wieder ſtartfähig. Die Motore machten ihre Probeläufe und unverſehens ſtartete Hartmut aus dem Hafen zum Weiterflug.
Bei dem friſchen Gegenwind ging der Start trotz der enormen Überlaſtung der Maſchine leicht von ſtatten. Hartmut telegraphierte und telephonierte ſeine Abſchiedsgrüße, ſtellte die Peilinſtrumente ein und nahm Kurs längs der Nordküſte von Südamerika bis zur Mündung des Amazonenſtroms, den er bei der Stadt Para erreichen wollte. Der Rückenwind hielt während des ganzen Fluges an, ſo daß er die zweitauſend Kilometer lange Strecke nach Para mit gedroſſelten Motoren und in Flughöhen unter viertauſend Meter in knapp vier Stunden zurücklegte. Über der Bucht des Rio Para ging es in der Luftlinie parallel zum Äquator an die Gabel der Mündung des Amazonenſtroms und längs dieſes Stromes über die Urwälder Braſiliens bis zu den Cordilleren.
Ganz allmählich ließ Hartmut die Maſchine ſteigen, bis er die Kompreſſoranlage einſchalten mußte und mit gedroſſelten Motoren achttauſend Meter Höhe erreicht hatte. Die Orientierung war außerordentlich einfach, da trotz der teilweiſe geſchloſſenen Wolkendecke, die über dem braſilianiſchen Urwaldgebiet lag, immer die Einſenkung in dem Wolkenmeer den Lauf des Amazonenſtroms deutlich kennzeichnete. Bei Iquitos konnte er eine genaue Ortsbeſtimmung vornehmen. Für die dreitauſend Kilometer lange Flugſtrecke von Para bis Iquitos hatte er knapp fünf Stunden gebraucht.
Vor ihm begann das Gelände ſtark gebirgig zu werden und nach einer Stunde Flugzeit ſchwebte er in zwölftauſend Meter Höhe hoch über der Gipfelkette der Cordilleren, die hier bis zu ſechstauſend Meter aufragen.
Das Wetter war außerordentlich günſtig. In vollſter Klarheit verlor ſich der Blick über das von hohen Schneebergen überragte Maſſiv der Cordilleren, um unvermittelt in den zauberhaften Anblick des Golfes von Guayaquil zu verſinken. Der „Transozean“ hatte die Küſte des Großen Ozeans erreicht. Die fünftauſend Kilometer lange Strecke war in weniger als neun Stunden bewältigt. Der Betriebsſtoffvorrat in den Tanks reichte für einen ununterbrochenen Flug bis zu dem Inſelarchipel des Chineſiſchen Meeres, das heißt für eine Flugſtrecke von rund zwanzigtauſend Kilometer.
Hartmut zögerte keinen Augenblick, dieſen Rekord aller Rekorde zu verſuchen. In noch größeren Höhen, die ihm nach der Entlaſtung des Flugzeuges von verbrauchten Betriebsſtoffen zu erreichen möglich war, mußte er noch größere Geſchwindigkeiten erzielen, zumal er glaubte, in einer etwa parallel zum Äquator verlaufenden Luftſtrömung von großer Geſchwindigkeit zu fliegen. Er beſchloß eine Probe auf dieſes Exempel zu machen und nach genauer Ortsbeſtimmung und Zeitfeſtſtellung nahm er direkten Kurs auf die Galapagos-Inſeln, deren größte, Iſabela, als Meßpunkt für die Geſchwindigkeit dienen ſollte. Die Flugſtrecke nach dieſer Inſel betrug von Guayaquil genau eintauſendzweihundertundfünfzig Kilometer. Mit voller Motorenleiſtung brachte Hartmut den „Transozean“ auf ſechzehntauſendfünfhundert Meter Höhe, droſſelte dann auf Dreiviertel der Leiſtung und erreichte nach einer Stunde vierzig Minuten die Küſte der Inſel Iſabela. Er war alſo mit der Geſchwindigkeit von etwa ſiebenhundertundfünfzig Kilometer pro Stunde geflogen und hatte, ohne es zu wollen und ohne es zu wiſſen, einen Weltrekord aufgeſtellt: nie hatte ein Sterblicher vor ihm dieſe Geſchwindigkeit erreicht.
Die Galapagos-Inſeln verſchwanden raſch hinter ihm. Er konnte die Filmapparate in Ruhe ſetzen. Nach zwanzig Minuten Weiterflug mit ſtark gedroſſelten Motoren war er in etwa zehntauſend Meter Höhe allein über dem größten Meer der Welt. Kein Schiff zeigte ſich. Er flog außerhalb der großen Linien. Aber ſeine Einſamkeit ſchreckte ihn nicht. Vielleicht zum erſten Male in ſeinem Leben empfand er ein Gefühl der Gehobenheit, des Stolzes.
Die Zeit begann zu kriechen. Keinerlei Abwechſlung bot das Bild unter ihm. In tropiſcher Klarheit lag das Meer blau zu ſeinen Füßen; in ſamtner Schwärze wölbte ſich der Himmel über ihm: Und – ſeltſames Wunder – in fahlem Glanz ſtanden die Sterne am hellen Tag in der luftleeren Schwärze des Firmamentes. Der Horizont war kaum durch einen dünnen Streifen markiert, Himmel und Erde ſchienen zur Einheit verſchmolzen. Der „Transozean“ ſchwebte über einer Schale reinſten, leuchtenden Blaues.
Beim Abflug von den Galapagos-Inſeln hatte Hartmut ſeinen Kurs auf die Marqueſas-Inſeln korrigiert, die nach viertauſendfünfhundert Kilometer Flugſtrecke erreicht ſein mußten. Trotzdem er vor der Nacht mit ungeheurer Geſchwindigkeit herflog, holte ihn der Abend allmählich ein. Die Nacht kam aber nicht, wie ſie ſonſt in tropiſchen Gebieten zu kommen pflegt, ſo raſch, daß der Übergang von Hell zu Dunkel nur wenige Minuten dauert. Als das Meer ſchon längſt in ſchwarzer Dunkelheit verhüllt unter ihm lag, traf den „Transozean“ noch immer ein Streifen der Sonne, die zögernd hinter dem Horizont ins Meer hinabtauchte. Hartmut gab ſich ſelbſtvergeſſen dieſem Schauſpiel hin. Es war das großartigſte Naturerlebnis, das einem Menſchen beſchert werden kann. Hätte das Dröhnen der Motore Hartmut nicht an ſeine irdiſche Gebundenheit gemahnt, er hätte glauben mögen, weſenlos durch das All zu fliegen, das ihm ſeine geheimſten Schönheiten offenbarte.
So wurde es Nacht. Der Himmel über ihm war nun beſät mit zahlloſen Sternen, die unwahrſcheinlich hell funkelten. Hartmut begann leichte Müdigkeit zu ſpüren. Das Flugzeug lag völlig ruhig im ſtetigen Strom der Luftbewegung in dieſer Höhe, er konnte die Steuer dem automatiſchen Stabiliſator überlaſſen und ſich im ſchmalen Raum Bewegung machen. Er nahm eine ausgiebige Mahlzeit ein und verſuchte dann drahtloſe Verbindung mit den Stationen der Südſee oder den großen europäiſchen und amerikaniſchen Sendern aufzunehmen. Aber keine von dieſen Stationen antwortete. Erſt als er die mit Deutſchland vereinbarte Wellenlänge einſchaltete, hatte er ſofort deutlichen Empfang und verſtand die Worte, die zu ihm geſprochen wurden, ſo gut, als ſäße er an dem Empfangsapparat der Werft in Friedrichshafen. Man teilte ihm mit, daß keine Nachricht mehr von ihm in Friedrichshafen eingelaufen ſei, ſeit er die ſüdamerikaniſche Küſte verlaſſen hatte. Man hoffte, daß er ſich wohl befinde und wünſchte ihm Glück zu der ungeheuren Geſchwindigkeit, mit der er die vorhergehenden Etappen hinter ſich gebracht hatte.
Noch während Hartmut dem Deutſchlandſender lauſchte, wurde der Empfang durch atmoſphäriſche Geräuſche ſtark beeinträchtigt. Irgendwo in der Nähe mußte ein Gewitter ausgebrochen ſein, denn deutlich hörte man das Knacken der einzelnen Blitzſchläge. Hartmut nahm ſeinen Sitz an der Steuerung wieder ein und verſuchte, eine Ortsbeſtimmung nach den Sternen vorzunehmen. Er wurde aber davon abgelenkt, als er plötzlich vor ſich das fahle Aufzucken von Blitzen zu bemerken glaubte. Hartmut lächelte über die Unruhe, die ihn erfaßt hatte: was ſollte ihm in faſt zehntauſend Meter Höhe das Gewitter antun, das dort unten über dem Ozean tobte? Hoch über den höchſten Spitzen der Wolken führte ſein Flug – nichts konnte ſich ihm entgegenſtellen.
Plötzlich aber ſpürte er ſchwach rüttelnde Bewegungen in dem ſtetigen Flug ſeiner Maſchine. Er war in den Bereich von Böen gekommen, eine ganz unwahrſcheinliche Erſcheinung in dieſen Höhen. Er hielt mit geſpannteſter Aufmerkſamkeit Umſchau und glaubte einige Male, die Sterne vor ſich durch Trübungen verdeckt zu ſehen. Aber die tiefe Dunkelheit verhinderte jede weitere Beobachtung. Durch das Dröhnen der Motore hindurch glaubte er manchmal das Rollen des Donners zu vernehmen. Er ſpannte ſeine Sinne ſo an, daß er ſchließlich die Geräuſche um ſich überhaupt nicht mehr zu unterſcheiden vermochte und ſeine Augen zu tränen begannen.
Unter Aufbietung aller Energie entſpannte er ſich und beſchloß, größere Höhen aufzuſuchen. Unvermittelt flammte vor ihm durchdringend blaues Licht auf. Ein ungeheurer Blitz erleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde den Ausblick aus dem Flugzeug. Hartmut ſah vor ſich greifbar eine ſchwarze Säule ſtehen, drohend und ſchwer, die über ſeine Flughöhe hinaufreichte. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken, er war im unmittelbaren Bereich einer Gewittertrombe von unerhörter Größe und Mächtigkeit. Ein Luftwirbel von unvorſtellbarer Größe und Geſchwindigkeit ſtand vor ihm, bereit, ihn in ſich aufzuſaugen, hochzuheben und hinabzuſchleudern.
Bevor er den augenblicklichen Entſchluß der Kursänderung ausführen konnte, fing der „Transozean“ in allen Fugen zu beben an. Eine Böe griff unter den linken Flügel, ſo daß es des vollen Ausſchlages des Querruders bedurfte, um die Maſchine zu halten. Im gleichen Augenblick hatte Hartmut das Gefühl, mit einem Ruck emporgehoben zu werden. Der „Transozean“ zitterte und bebte unter dem Druck des Luftſtromes, der ihn in die Höhe riß. Hartmut gab den Motoren und der Kompreſſoranlage Vollgas. Der „Transozean“ ſchoß einen Augenblick voran. Im nächſten Augenblick hatte Hartmut das Gefühl, als würde die Maſchine raſend ſchnell um ihre eigene Achſe gedreht. Der Kreiſelkompaß vor ihm und das Gyroſkop drehten ſich wie beſeſſen, die Motoren heulten auf, die Tachometer ſtiegen auf ein Vielfaches der zuläſſigen Tourenzahl. Mit einem Ruck riß Hartmut die Gashebel zurück. Bevor er die Kompreſſoranlage abſtellen konnte, erhielt das Flugzeug einen Schlag von ſolcher Wucht, daß er ſich mit beiden Händen an das Steuer feſtklammern mußte.
Hartmut hatte nie das Gefühl gehabt, willenlos der Gewalt der Elemente ausgeliefert zu ſein, in welch schlimmer Situation er auch geweſen ſein mochte. Auch in dieſem Augenblick wehrte er ſich gegen dieſes Gefühl, trotzdem er wußte, daß er jede Orientierung über die Lage des Flugzeuges verloren hatte und wahrſcheinlich von einem abſteigenden Strom der Windhoſe im Zentrum der Gewittertrombe nach unten geriſſen wurde. Ein Blick auf das Barogramm überzeugte ihn davon: ſeine Kurve ſtürzte ſteil nach unten, man konnte der Abwärtsbewegung des Zeigers mit dem Auge folgen.
Blitz auf Blitz erhellte nun die brodelnden Wolkenräume, durch die er nach unten ſtürzte. Der Kompreſſormotor donnerte dumpf dazwiſchen. Mit einem Griff ſtellte Hartmut ihn ab. Dann praſſelte es rings um das Flugzeug – es war in einen Hagelſchlag gelangt, der die Triplexglasſcheiben des Führerſitzes zerſchlug und zerbeulte. Hartmut beobachtete unausgeſetzt das Gyroſkop und den Kreiſelkompaß. Mit zäher Energie und robuſter Gewalt riß er die Steuer ſo lange herum, bis die Inſtrumente normale Lage des Flugzeuges anzeigten.
Als ihn jedoch die Waſſertropfen des Regenguſſes, in dem er nun flog, wie mit Nadeln ins Geſicht ſtachen, durchzuckte ihn ein faſſungsloſer Schreck. Noch war ſeine Flughöhe über fünftauſendfünfhundert Meter, und ſein Sauerſtoffvorrat im Führerſitz wurde von der eindringenden Atmoſphäre fortgeblaſen. Gleichzeitig mit dieſer Erkenntnis ſpürte er Schwierigkeiten beim Atmen. Er verſuchte, durch raſche Atemſtöße den fehlenden Sauerſtoff zu erſetzen. Sein Puls wurde immer ſchneller, er ſpürte deutlich, wie ſein Herz zu raſen anfing. Dann fühlte er, wie ſeine Sinne ſchwanden.
Die letzte bewußte Handlung, die Hartmut vornahm, war die Betätigung der Preßluftanlage zum Auslegen der Schwimmer. Deutlich hörte er noch das Ziſchen und ſpürte den metallenen Schlag der Arretierung in ihrem Sitz. Dann wurde er bewußtlos.
SOS
Hartmut ſchwebte im Mittelpunkt tiefblauer Dämmerung. Vor ihm wuchs die Sonne rieſengroß als feurige Kugel aus dem Weſenloſen heraus, aber er ſpürte nichts von der Wärme ihrer Strahlen. Es war eine kalte Sonne, die zu erſchreckender Größe vor ihm anwuchs und über ihn hinwegrollen wollte. Um vor ihrer zermalmenden Kraft zu fliehen, wollte er aufſtehen, aber keines ſeiner Glieder gehorchte ihm. Ein eherner Ring ſchien um ſeinen Hals gepreßt; je mehr er ſich bemühte, ſich von ihm zu befreien, um ſo enger umſchloß er ſeinen Nacken. Er ſchloß die Augen vor dem Phantom.
Tiefe Nacht ſtand vor ihm, in der es grau zu dämmern begann. Aus tiefer Stille wuchs ein Rhythmus wie fernes Rauſchen. Die Geräuſche ſchwollen an. Bald klang es wie Sturmwind in hohen Bäumen, bald heulte es wie Föhn im Kamin, immer auf- und abſchwellend und immer ſtärker und ſtärker, Meeresrauſchen, ewiger Rhythmus, ewiges Auf und Nieder, ewiger Gleichklang. Hartmut lauſchte und horchte auf das Rauſchen. Er mußte ſehen, woher es kam – und riß mit übermenſchlicher Anſtrengung die Augen auf. Eine Lichtwelle flutete ihm entgegen. Er ſchloß die Augen wieder und wußte nun, daß er wach war, daß keine Traumbilder ihn umnachteten. Langſam hob er die Lider wieder und ſah unter ſich Waſſer, das im Rhythmus vor und zurück floß, wundervolles, klares, leuchtend-grünes Waſſer. Er wollte den Kopf heben und merkte, daß ſein Hals eng umſchloſſen war.
Ungeheurer Durſt brannte ihm auf den Lippen. Nur ein Wunſch war in ihm: in dieſes Waſſer, das nahe unter ihm floß, hinabzulangen und zu trinken, zu trinken. Er begann ſeine Glieder zu bewegen – ſie ſchmerzten ihn; er verſuchte mit ſeinen Beinen Stand zu faſſen – ein heftiger Schmerz in ſeinem linken Oberſchenkel machte ihn ganz wach.
Nun ſah er; er lag im Vorderteil der Führergondel des „Transozean“. Sein Kopf hatte die Scheibe durchſchlagen. Der Rumpf des Flugzeuges war eingebeult, und das Gerippe hatte ſich wie ein Ring um ſeinen Hals geſchloſſen. Er konnte nicht aufblicken, bevor er ſich nicht von dem Ring befreit hatte.
Mit unerhörter Mühe brachte er ſeine Arme in Schulterhöhe und verſuchte, mit ſeinen Händen das dünne Strebenwerk aufzubiegen. Aber ſeinen Armen fehlte jede Kraft. Er war wie gelähmt. Dann begann er, die Arme gegenſeitig mit den Händen zu maſſieren. Die erſten Griffe erſchienen ihm unausführbar, aber allmählich ſpürte er, wie neue Kräfte in ſeinen Händen und Armen wach wurden. Wieder brachte er die Hände an die Klammern um ſeinen Hals. Unter Aufbietung ſeiner ganzen Willenskraft riß und bog er die Streben auseinander. Sein Kopf war frei. Aber er vermochte ihn kaum aufrecht zu halten. Er ſank in das Flugzeug zurück.
Vor ſeinen Augen tanzten blaue Ringe. Er kämpfte mit neuer Bewußtloſigkeit. Sein Durſtgefühl wurde unerträglich. Ganz langſam gelang es ihm, ſich aufzurichten. Die Türe zum Vorrats- und Schlafraum ſtand offen, eine Thermosflaſche lag an ihrer Schwelle. Er konnte ſie erreichen und ihren Inhalt leeren. Es war ſtarker, noch immer warmer Kaffee, den er zur Auffriſchung während des Nachtfluges vorbereitet hatte. Gierig trank er die Flaſche leer.
Nach wenigen Minuten fühlte er, wie neues Leben durch ſeinen Körper floß. Es gelang ihm, ſich aufzurichten. Er ſetzte ſich auf den Führerſitz und hielt Umſchau.
Der „Transozean“ trieb im Meer. Der linke Schwimmer und der größere Teil des linken Tragdecks waren vollkommen geborſten, das äußere Ende des Tragdecks abgebrochen und verſchwunden. Der Vorderteil des Rumpfes war eingedrückt und zerbeult, die ganze rechte Flügelſeite mit dem Schwimmer hingegen anſcheinend unverletzt. Die Kapokſäcke des gebrochenen linken Schwimmers hatten ſich unter die Fetzen des Tragdecks gelegt und verhinderten ein Kentern und Sinken des „Transozean“.
Sein Rumpf war am hinteren Teil geknickt, die Steuerflächen ſtanden mit ſchwacher Neigung nach oben gerichtet.
Hartmut wußte: er war gerettet. Der Kompaß war intakt. Er orientierte ſich nach der Himmelsrichtung und ſtellte feſt, daß ein Wind von Weſten ihn mit ziemlicher Geſchwindigkeit durch das Meer trieb, voran das Schwanzſteuer der Maſchine als Richtungsfloſſe. So ſegelte der „Transozean“ – das ſchnellſte Flugzeug der Welt – kümmerlich und langſam durch die endloſen Fluten des Stillen Ozeans.
Bevor Hartmut ſeine Lage überdenken konnte, trieb ihn der Hunger zu ſeinen Eßvorräten, denen er reichlich zuſprach. Erſt gegen das Ende ſeiner Mahlzeit fiel es ihm ein, daß er ja ſparen müſſe. Wie lange würde es wohl dauern, bis ein vorüberfahrendes Schiff ihn auffiſchte, oder er Land ſichten würde?
Hartmut hatte keinen Augenblick das Gefühl, daß er in dieſer Waſſerwüſte zugrundegehen müßte. Ohne daß er ſich über die Art und die Möglichkeit klar war, ſtand es bei ihm feſt, daß er auf irgend eine Weiſe gerettet würde.
Seine Mahlzeit hatte ihn erfriſcht. Er ſpürte, wie ſein urſprünglicher Lebenswille in ihm wieder wach wurde, und nun begann er zu überlegen und, ohne lang zu ſpintiſieren, zu handeln.
Faſt mußte er lächeln über ſeine Gedankenloſigkeit. Ihm ſtand doch die Funkanlage zur Verfügung, mit der er ſeinen SOS-Ruf ſicher ſo weit über das Meer ſchicken konnte, daß er auf einem Dampfer oder auf einer Inſel gehört wurde. Bevor er jedoch in den Maſchinenraum zu den Funkgeräten hinüberging, beſchloß er, eine Ortsbeſtimmung zu machen, um gleichzeitig mit ſeinem Hilferuf den Ort angeben zu können, an dem er trieb.
Das Chronometer war unverletzt. Die Inſtrumententaſche mit dem Sextanten hatte zwar einen äußerlichen Hieb bekommen, der Inhalt ſchien jedoch heil geblieben zu ſein. Mechaniſch nahm er die Ortsbeſtimmung vor, machte mehrere Kontrollbeobachtungen und ſtellte feſt, daß der „Transozean“ in annähernd hundertundzwanzig Grad weſtlicher Länge und etwa fünf Grad ſüdlicher Breite trieb.
Seine Entfernung von den umliegenden Inſelgruppen, deren nächſte die Marqueſas-Inſeln waren, die er bei ſeinem Fluge angeſteuert hatte, betrug alſo rund zweitauſend Kilometer. Damit ſchwand jede Hoffnung, daß der „Transozean“ mit eigener Kraft Land erreichen konnte, und es blieb nur die Möglichkeit einer Rettung durch Schiffe. Ein Blick auf die Schiffsroutenkarte zeigte ihm jedoch, daß er weit außerhalb der üblichen Linien trieb, und nur ein Zufall oder ſein drahtloſer Ruf ihm Hilfe bringen konnte.
Sofort ſchnallte er ſich den Kopfhörer um und begann zu ſuchen. Die Empfangsanlage war augenſcheinlich intakt, ohne daß er aber irgendwelche Zeichen drahtloſen Verkehrs hätte vornehmen können. Er ſchalt ſich einen Narren, als es ihm einfiel, daß durch direkte Berührung mit dem Waſſer die Maſſen- und Antennen-Leitung kurzgeſchloſſen und infolgedeſſen ein Empfang gar nicht möglich war. Er mußte ſich eine Luftantenne ſchaffen, die von dem Flugzeugkörper und dem Meer völlig iſoliert war. Schon als er den Antennenkontakt öffnete, vernahm er im Kopfhörer ſehr ſchwache Zeichen. Seinem Vorrat entnahm er eine Rolle iſolierten Drahtes und Iſolierband und ſtieg durch die Deckluke auf den Rumpf des „Transozean“ hinauf. Ohne ſich zu beſinnen, rutſchte er vorſichtig bis zur Abbruchſtelle des linken Flügels, bog eine der herausſtehenden Flügelrippen hoch und befeſtigte mit Iſolierband das eine Ende des Drahtes an der Rippe. Dann kletterte er bis zur äußerſten rechten Flügelſpitze und befeſtigte dort das andere Ende des Drahtes ebenfalls iſoliert vom Flugzeugkörper an einem Scharnier der Verwindungsklappe. In der Mitte dieſes freigeſpannten Drahtes ſchabte er eine Stelle frei und ſtellte von hier aus eine direkte Verbindung mit dem Antennenkontakt des Empfängers her.
Sofort hatte er einwandfreien Empfang. Er verſuchte nur einen Augenblick die Meldungen der Schiffstelegraphie zu entziffern, ſtellte dann auf den Deutſchlandſender ein und hörte – den Börſenbericht. Hartmut brach in lautes Lachen aus: der einſamſte der Menſchen in einer Lage, die verzweifelt zu nennen war, empfing als Gruß der Heimat die Berichte über Getreidepreiſe!
Hartmut erſchrak faſt vor ſeinem eigenen Lachen, und doch war es ihm wieder, als hätte ſich damit zugleich der letzte Druck gelöſt, der auf ihm laſtete. Er riß den Kopfhörer herunter, ſchaltete die Senderanlage ein und blickte geſpannt nach den Inſtrumenten. Nichts regte ſich. Der Zeiger des Ampèremeters, das die Sendeenergie anzeigte, blieb unbeweglich ſtehen. Hartmut ſprang auf und zwängte ſich an dem Hilfstank am Rumpf vorbei in die Maſchinenkammer. Mit einem Blick überſah er den Schaden: die Akkumulatorenbatterie, die die Station bei Stillſtand der Maſchinen als Notanlage verſorgte, war von der Gewalt des Aufpralls aus ihrem Einbau herausgeriſſen worden. Ohne daß dabei den Zellen etwas paſſiert zu ſein ſchien, hatte ſie ſich mit ihren Polklemmen an einem der konſtanten Widerſtände angelegt und hatte ſich ohne Überlaſtung völlig entladen. Verſchiedene Leitungen der Senderanlage waren durch den Sturz der Batterie zerriſſen, die Inſtrumente aber hatten augenſcheinlich in keiner Weiſe gelitten.
Sofort begann Hartmut die Senderanlage in Ordnung zu bringen. Er reparierte die zerriſſenen Leitungen, kontrollierte ſie an Hand des Schaltplanes und prüfte mit Hilfe einer kleinen Taſchenbatterie, ob die Röhren und alle anderen Verbindungen intakt waren.
Es beſtand für ihn die Möglichkeit, die Senderanlage doch in Tätigkeit zu ſetzen, wenn er den Kompreſſormotor in Lauf brachte und von ihm den kleinen, normaler Weiſe durch einen Propeller vom Luftſtrom des Fluges angetriebenen, Generator treiben ließ.
Ein einziger Blick in den unteren Maſchinenraum genügte jedoch, um Hartmut die Gewißheit zu geben, daß dieſe Hoffnung völlig zunichte war. Der Kompreſſormotor hatte ſich aus ſeinem ganzen Einbau herausgeriſſen und mitſamt den eingebauten Aggregaten den Rumpf des Flugzeuges zerſchlagen; er hing zur Hälfte im Waſſer. Faſt den einzigen Halt, den er noch hatte, bildete die Vergaſerleitung, deren urſprünglich ſpiralig gedrehtes Kupferrohr ſtraff ausgezogen war und am Oberteil des Motors feſthielt.
Hartmut ging ſofort daran, den Motor mit Tauen ſo feſt an das Flugzeug anzubinden, daß er auch bei Seegang nicht verloren gehen konnte.
Die angeſtrengte körperliche Arbeit ließ Hartmut gar nicht recht zur Beſinnung kommen. Erſt als ihn ein neuer Schwächeanfall packte, daß er ſich taumelnd auf das Feldbett im Mittelraum warf, überfiel ihn die Gewißheit ſeiner faſt hoffnungsloſen Lage. Was nützte es ihm, daß er in ſeiner Empfangsanlage hören konnte, was rings um ihn vorging und was am entfernteſten Punkte der Welt geſchah? Hoffnungslos war ſeine Lage!
Hoffnungslos? Und war es ihm nicht trotz allem, als wäre es nur eine Epiſode ſeines Lebens, die vorübergeht und an die man ſpäter mit einem Lächeln zurückdenkt?
Leiſe wiegte ſich der „Transozean“ auf der ſchwachen Dünung. Es begann zu dämmern und wurde unvermittelt raſch dunkel. Hartmut ſah durch die geöffnete Deckluke die Sterne aufgehen. Geſtern war er ihnen näher geweſen als heute. Oder war er ihnen heute näher?
Hartmut war tief eingeſchlafen und erwachte erſt bei den erſten Sonnenſtrahlen. Er fühlte ſich wie neugeboren, und nachdem er ſich einige Minuten auf ſeinem Lager wohlig gereckt und geſtreckt hatte, riß er ſich die Kleider herunter, kletterte durch die Luke auf den Rumpf und ſprang von der äußerſten Spitze des rechten Tragdecks im Kopfſprung ins Meer.
Die laue Flut ſpielte um ſeinen Körper, er ließ ſich von ihr tragen. Halb im Spiel umſchwamm er den „Transozean“ und unterſuchte dann ganz ernſthaft ſeinen Zuſtand. Es war ein ſchwerer „Bruch“, aber die Werft in Friedrichshafen hätte den Vogel in ein paar Tagen wieder flügge gemacht. Hartmut packte eine verbiſſene Wut, als er daran dachte, daß gerade in dem Augenblick, in dem er die Maſchine aus der Gewalt der Gewittertrombe befreit hatte, der Bruch der Scheiben und der Mangel an atembarer Luft zum Schwinden ſeines Bewußtſeins führen mußten. Seine letzte Erinnerung war der Griff nach der Sperrklinke, mit der er die Steuerung an den Stabiliſator anſchloß. So hatte der brave „Transozean“ ſich im Gleitflug durch die entfeſſelten Gewalten des Gewitters ſicher hinabgeſenkt. Aber kein denkender Kopf, kein abſchätzendes Auge hatte ihn „abgefangen“. So flach wie er durch die Luft geglitten war, war er auch auf das Waſſer aufgeprallt, augenſcheinlich mit dem linken Schwimmer zuerſt. Der Bruch des Schwimmers und des Tragdecks hatten die Hauptwucht des Aufprallens gemildert, ſo daß die übrigen Teile des Flugzeugs verhältnismäßig glimpflich davongekommen waren.
Hartmut wurde in dieſen Überlegungen durch einen aufblitzenden Gedanken unterbrochen: er badete hier mitten im Ozean in einer Gegend, die wegen ihrer zahlloſen Haifiſche bekannt war. Mit einigen raſchen Stößen ſchwamm er zu der Bruchſtelle des linken Tragdecks und kletterte auf den Rumpf.
Er ließ ſich vom Wind und der Sonne trocknen und hielt Umſchau. Nichts regte ſich ringsumher. Kein Vogel war in der Luft. Nichts unterbrach die Endloſigkeit von Waſſer und Himmel, die unmerklich im Horizont ineinander übergingen. Hartmut nahm das ſcharfe Fernglas und hielt erneut Umſchau. Aber auch die ſcharfen Linſen des Inſtrumentes zeigten nichts anderes als die zitternde Ungewißheit des Überganges von Waſſer und Himmel.
Reſigniert begann ſich Hartmut ein Frühſtück zu bereiten. Wenn es ſchon dem Ende zugehen ſollte, dann wollte er wenigſtens die letzten Tage ſeines Lebens nicht darben. Er zündete den Benzinkocher an und kochte, daß es eine Art hatte.
Dann machte er gründlich Toilette mit Seife, Raſierzeug und Zahnbürſte, zog einen der rohſeidenen Schlafanzüge an, die ihm die Damen der Werft auf ſeinen weiten Flug als Geſchenk mitgegeben hatten, und machte ſich auf dem rechten Schwimmer im Schatten des Tragdecks ein Plätzchen zurecht, auf dem er in Gemütsruhe ſeine Morgenzigarette rauchen konnte.
Seine Gedanken begannen zu wandern. Er kam ſich vor wie ein Zuſchauer bei einem unerhörten Spektakel. Als wäre er ſelbſt ganz unbeteiligt, ſo dachte er über ſich und ſeine Lage nah. Zwiſchen halbgeſchloſſenen Augenlidern blickte er in die flutende Helle der Tropenſonne. Von Zeit zu Zeit fielen ihm die Augen zu und aus dem Wechſelſpiel von Hell und Dunkel tauchten Bilder aus ſeiner Vergangenheit in ihm auf. Hatte er das alles nicht ſchon als kleiner Bub auf der Rauhen Alb geträumt? Hatte er nicht ſchon einmal ſo auf einem weißen, kahlen Kalkfelſen gelegen in glühender Auguſtſonne und das Wehen der Unendlichkeit um ſich geſpürt? Sollte alle Mühe und Arbeit ſeines Lebens nur dazu gedient haben, ihn hierher zu bringen, um ihn namenlos in der Tiefe des Weltmeeres verwehen und verſinken zu laſſen?
Ein hartes „Nein!“ fuhr ihm von den Lippen und er wachte auf. Sich treiben laſſen war nie ſeine Sache geweſen – er hatte immer zugepackt und ſelbſt geſteuert, dorthin, wohin er wollte.
Hartmut kletterte hinüber zu dem geborſtenen Schwimmer und griff ſich eine Handvoll Kapokflocken. Er tauchte ſie ins Waſſer ein, daß ſie hart unter der Oberfläche ſchwammen und ſtellte mit der Stoppuhr die Zeit feſt, die ſie brauchten, um unter dem vierzehn Meter langen Rumpf hindurchzuwandern, woraus ſich die Bewegungsgeſchwindigkeit des „Transozean“ ergeben mußte. Hartmut ſtellte die relativ hohe Geſchwindigkeit von zwei Meter pro Sekunde feſt, ſo daß er alſo in der Stunde annähernd ſieben Kilometer zurücklegte. Was bedeuteten dieſe ſieben Kilometer gegen die Unendlichkeit des Großen Ozeans?
Er trieb genau nach Weſt-Südweſten, der Karte nach alſo auf den Inſelarchipel der Südſee, Polyneſien, zu. Wie gerne hatte er die Bücher über dieſes Wunderland geleſen, wie hatte er die Reiſeberichte verſchlungen. Bali – nackte, bronzefarbene Menſchen, die im paradieſiſchen Frieden in paradieſiſcher Landſchaft lebten, blumengeſchmückt und ſelbſt wie Blumen dem Daſein hingegeben. Es mußte ſchön ſein, ſo zu leben, ohne Wünſche, ohne Hoffnungen, rein um des Daſeins willen.
Auf ſolche Augenblicke nachdenklicher und doch zugleich hoffnungsvoller Reſignation folgte raſch der Umſchwung. Der Tätigkeitsdrang erfaßte Hartmut; er war nicht dazu geſchaffen, ſich blind dem Schickſal und den Ereigniſſen zu überlaſſen. Was ſich um ihn und mit ihm ereignete, wollte er ſelbſt geſtalten und ſein Schickſal formen nach ſeinem Willen.
Zuerſt hielt er Umſchau bei ſeinen Nahrungsmitteln. Er hatte große Vorräte von Hülſenfrüchten mitgenommen, da er in ſeiner Ernährung während des Fluges keinerlei Experimente machen und nur die gleiche einfache Koſt zu ſich nehmen wollte, die er von Jugend auf gewohnt war. Sein Vorrat reichte für viele Tage bei einigermaßen ſparſamer Einteilung. Auch Süßwaſſer war ausreichend vorhanden, da der Kompreſſormotor Waſſerkühlung beſaß und die Schlauchleitungen zum Kühler und den Kondenswaſſerbehältern intakt geblieben waren. Zur Not hätte er an unter Zuhilfenahme des Kühlers als Kondenſator aus dem Meerwaſſer Trinkwaſſer herausdeſtillieren können dank der faſt unerſchöpflichen Brennſtoffvorräte, die der Haupttank und die unverletzten Flächentanks noch enthielten.
Dann faßte er den Plan, das Rumpfende abzubiegen, ſodaß das Seitenſteuer in das Waſſer zu liegen kam. Gleichzeitig wollte er dem „Transozean“ eine noch ſteilere Schräglage zum Waſſer geben, um mit ihm, ſeine Tragfläche als Segel, das Seitenſteuer als Ruder benützend, mit erhöhter Geſchwindigkeit dem Inſelarchipel entgegen zu ſteuern.
Von dieſem Vorhaben lenkte ihn ein anderer Plan ab: wenn es ihm gelänge, den Generatormotor durch eine Riemenüberſetzung ſo raſch anzutreiben, daß er die Senderanlage, wenn auch ſchwach, erregen würde, ſo war ihm geholfen. Aber woher die Mittel zu einem ſolchen Antrieb nehmen? Er überdachte alle Möglichkeiten, ohne einen Weg zu finden.
Faſt drei Tage trieb Hartmut auf dieſe Weiſe im Ozean. Immer wieder unterlag er der Verlockung, ſeine Empfangsanlage auf den deutſchen Sender einzuſtellen, obwohl die Lebensdauer ihrer Batterien nur noch auf Stunden bemeſſen war. Und eines Abends hörte er ſeinen eigenen Namen: der deutſche Sender berichtete, daß man ſeinen Flug bis zu den Galapagos-Inſeln verfolgt habe und daß von dieſem Augenblick an jede Nachricht fehle. Weder von einem Schiff noch von irgend einer der Inſeln, die in ſeiner Flugrichtung lagen, war der „Transozean“ geſichtet worden. Wohl aber hat man in Erfahrung gebracht, daß ein Gewitter von unerhörter Mächtigkeit in außerordentlich breiter Front über die Paumotu- und die Marqueſasinſeln nach Oſten gezogen war, das Hartmut aller Berechnung nach etwa auf dem hundertzwanzigſten Längengrad erreicht haben mußte. Verſchiedene Dampfer hatten Kursänderung in dieſe Gegend vorgenommen, ohne daß bisher irgend ein Erfolg oder eine Meldung zu verzeichnen war.
Man hatte ihn nicht vergeſſen, und vielleicht war ihm die Hilfe näher als er glauben konnte. Faſt ununterbrochen blieb er am nächſten Tag unter einem proviſoriſchen Sonnenſegel, das er ſich auf der höchſten Spitze des rechten Tragdecks aufgebaut hatte, auf Beobachtungspoſten und ſuchte den öſtlichen Horizont mit ſeinem ſtarken Glaſe ab, bis ihm die Augen ſchmerzten. Einmal erhielt er auch einen Funkſpruch von einem zweifellos nahe bei ihm kreuzenden Schiff. Er konnte ſpaniſche Worte entziffern, aus denen er nur erriet, daß dieſer Dampfer eine Meldung über den „Transozean“ abgab, alſo auf der Suche nach ihm war.
Wiederum vergingen einige Tage, ohne daß ſich etwas Beſonderes ereignet hätte. Mit großer Beſorgnis ſtellte Hartmut feſt, daß die Schwimmfähigkeit des „Transozean“ dauernd merklich abnahm. Es konnte ſich nur noch um Tage handeln, bis das Wrack des „Transozean“ in die grundloſe Tiefe des Ozeans verſank. Trotz eifrigen Suchens hatte er auch keinen weiteren Bericht durch ſeine Empfangsanlage über ſich ſelbſt erhalten – die Welt da draußen ſchien ihn ſchon vergeſſen zu haben, Fliegerruhm iſt von kurzer Dauer. Und Mitleid von noch kürzerer.
Die Batterien der Empfangsanlage näherten ſich nun merklich der Erſchöpfung. Immer ſchwächer wurde der Empfang und mußte bald ganz aufhören, wenn er den Batterien nicht Zeit gab, ſich zu erholen.
Dieſe Erkenntnis verſetzte ihn zum erſten Male in einen Zuſtand völliger Hoffnungsloſigkeit. Er war bereit, alles aufzugeben, als ihn eine neue Idee völlig gefangen nahm. War nicht der rechte Motor ſamt ſeinem Propeller völlig intakt? Konnte er nicht verſuchen, ihn in Gang zu bringen, um mit motoriſcher Kraft ſeinem Ziel – dem Inſelarchipel – zuzuſteuern?
Nach unſäglichen Bemühungen gelang es ihm wirklich, die Maſchine in Gang zu bringen. Aber das einzige, was er damit erreichte, war, daß der „Transozean“ ſich im Kreiſe drehte um den Mittelpunkt der im Waſſer liegenden linken Tragdeckhälfte, um ſo ſchneller, je ſtärker er den Motor arbeiten ließ. Als er dieſen Verſuch ſchon aufgeben wollte, durchblitzte ihn ein neuer Gedanke: wenn er den Generator der elektriſchen Anlage, der von einem Propeller durch den Flugwind getrieben wurde, in den Wind des Propellers brachte, ſo mußte die auf dieſe Weiſe übertragene Energie völlig ausreichen, um den Generator ſo ſtark zu erregen, daß er genügend Strom zum Betrieb der Sendeſtation lieferte.
Unverzüglich ging Hartmut ans Werk. Er montierte den Generator ab, der unterhalb des Rumpfes eingebaut war und in der jetzigen Lage des „Transozean“ teilweiſe vom Waſſer überſpült wurde und baute ihn in der richtigen Stellung zu dem Hauptpropeller unmittelbar auf die Hinterkante des Tragdeckes der rechten Flügeldecke auf.
Da er befürchtete, daß ein neues Inbetriebſetzen des Motors mit noch größeren Schwierigkeiten als beim erſten Mal verbunden ſein würde, ſtellte er die Maſchine nicht ab, ſondern ließ ſie mit langſamen Touren laufen. Die Befeſtigung des Generators auf dem Tragdeck mußte daher in kürzeſter Zeit erfolgen und wurde von Hartmut haſtiger und mit weniger Sorgfalt ausgeführt, als er es ſonſt bei ſeinen Arbeiten gewohnt war. Im Bruchteil einer Stunde hatte er den Generator mit Draht und Blechſtücken ſo feſt gemacht, daß ſein Propeller hinter der Tragdeckkante parallel zum Hauptpropeller frei rotieren und ein Verſuch unternommen werden konnte. Er ſtellte den Hauptmotor auf Halbgas. Der Propeller des Generators begann zu rotieren. Hartmut ſchaltete die Inſtrumente der Senderanlage ein und konnte ſofort volle Leiſtung ableſen, obwohl der Generator nur vom Sog des Propellers getrieben wurde. Mit fiebernden Händen ſtellte er auf die international vereinbarte Wellenlänge des Schiffshilferufes ein und begann den Taſter zu drücken: kurz – kurz – kurz – Pauſe – lang – lang – lang … Beim dritten Langzeichen hörte Hartmut einen hellen Schlag und verſpürte eine ſchwache Erſchütterung des Flugzeuges. Im gleichen Augenblick fielen die Inſtrumente des Senders auf Null zurück. Mit einem raſchen Griff ſtellte Hartmut den Hauptmotor ab. Sein Dröhnen verſtummte, und Hartmut kletterte in höchſter Eile auf das Tragdeck, um nachzuſehen, was paſſiert war.
Kalter Schreck fuhr ihm durch die Glieder: der Generatormotor hatte ſich ans ſeiner Befeſtigung verſchoben und war nach hinten gerutſcht. Der Hauptpropeller hatte den Propeller des Generators getroffen und ſamt ſeiner Nabe abgebrochen. Der Generator ſelbſt war bei dem Schlag nach vorne geworfen worden und ſteckte wie ein Geſchoß tief in dem Tragdeck.
Auf halbem Wege zu der Unglücksſtelle warf ſich Hartmut auf das Tragdeck. Zum erſtenmal in ſeinem Leben begann er haltlos zu weinen.
Ein grenzenloſes Gefühl der Hilfloſigkeit hatte ihn gepackt und lähmte ihn geiſtig und körperlich vollſtändig. Unfähig zu denken, preßte er ſich an das Tragdeck und fühlte, wie ihm die Sinne halb in grenzenloſer Müdigkeit, halb in Bewußtloſigkeit ſchwanden.
Stechende Hitze rief Hartmut ins Bewußtſein zurück. Er ſpürte ſein Erwachen durch alle Stadien vom erſten Aufdämmern an. Je wacher er wurde, um ſo mehr wehrte er ſich gegen dieſes Wachſein und preßte den Kopf dichter in den Arm, auf dem er ruhte. Mochte die Sonne ihn verbrennen – lieber ein qualvolles Ende als endloſe Qual. Einen halben Tag und eine ganze Nacht hindurch hatte er geſchlafen. Vielleicht noch einen zweiten halben Tag – die Sonne mußte hoch ſtehen. Der Wind ſchien nachgelaſſen zu haben und die Hitze war unerträglich. Hartmut war in Schweiß gebadet. Noch immer lag er bewegungslos. Die Hitze tanzte in Feuerkreiſen vor ſeinen Augen. Seine Sinne fieberten und hetzten ihn mit Vorſtellungsbildern, die durch ſein Hirn jagten. Bald glaubte er an den Ufern des Bodenſees zu ſtehen und die Kühle der ſchneebedeckten Alpengipfel zu fühlen. Bald ſah er ſich im Feuerregen einer Gießerei, und hätte ſchreien mögen vor Schmerz, wenn ihn die ſtrahlende Hitze des geſchmolzenen Metalls aus der Gießpfanne traf. Dann wieder glaubte er Vogelgeſang zu hören, Muſik und Rauſchen des Waſſers – Brandungsrauſchen. Die ewige Melodie des Meeres.
Aus ſeinem krankhaften Wachtraum, aus ſeinem ſchmerzhaften Traumwachen weckte ihn ein harter Stoß, der den „Transozean“ erzittern machte. Hartmuts willenloſer Körper wurde mit einem Ruck zur Seite geworfen. Einen Augenblick goß ſich ſtrahlende Helle in ſeine vor Schreck geweiteten Augen. Er ſpürte, wie er vom Tragdeck herunterrollte – einen Augenblick, der ihm endlos lang erſchien; durch die Luft ſtürzte und dann in lauer Flut verſank. Endlos tief – in endloſe Dunkelheit verſank.
Erſt als das Waſſer ihm in Mund und Naſe drang, wurde er völlig wach. Noch war er ohne Willen, aber ſein Inſtinkt übernahm das Kommando über die Maſchine ſeiner Muskeln. Hartmut ſchwamm, tauchte empor, wurde von einer Brandungswelle erfaßt und mit unwiderſtehlicher Gewalt, aber trotzdem weich, auf den Strand geworfen.
Noch hatte er keine Vorſtellung von dem, was ihm geſchehen war. Bewegungslos lag er auf der Seite, und ab und zu überſpülte ihn der Brecher einer Brandungswelle völlig. Mühſam öffnete er die Augen, ſein Kopf fiel matt nach hinten über, und er blickte in die Blätter eines Palmbaums, der hoch über ihm ſeinen Wipfel im Hauch des Windes wiegte.
Die Inſel
Hartmut erwachte am nächſten Morgen auf ſeinem Ruhebett im „Transozean“. Die Gedanken jagten in ſeinem Hirn. Was hatte er geträumt? Was war wirkliches Erlebnis?
Er fuhr hoch und blickte durch das Rumpffenſter hinaus. Da lag es greifbar vor ihm, Strand, an den das Meer brandete, bald in ſchroffen Klippen eines tiefſchwarzen Geſteines jäh in den grünen Grund des Waſſers verſinkend, bald in ſchmalen Buchten in das Land eingeſchnitten mit flach in das Meer verlaufendem, ſtrandartigem Geröll.
Vor einer ſolchen Bucht ſchaukelte der „Transozean“ auf den Brandungswellen. Der Waſſeranker war ausgeworfen und ein langes Haltetau knüpfte ihn an den Stamm einer Kokospalme am Ufer. Jetzt wußte Hartmut, daß er dieſes Haltetau geſtern in einem ungekannten Zuſtand von wachem Schlaf geknüpft hatte, daß er den Waſſeranker geworfen hatte und dann wie tot auf ſein Lager geſunken war.
Er war gerettet. Vor ihm greifbar, mit wenigen Schritten erreichbar, lag feſtes Land. Üppige Vegetation bedeckte die Küſte. Sie würde ihm alles bieten, deſſen er zum Leben bedurfte. Wo immer dieſes Land auch lag – ob es nur eine winzige Oaſe in der Wüſte des Stillen Ozeans war, – eine jener zahlloſen kleinen Inſeln – es bot ſeinen Füßen Stand und gab ſeinem Leben Halt.
Jetzt erſt hatte Hartmut die volle Erkenntnis, daß er gerettet war, und was es hieß – gerettet ſein. Ihm war es, als läge hinter ihm ein Abgrund, tauſendmal tiefer und dunkler als die Abgründe, über die ihn die Motore des „Transozean“ getragen hatten. Das Leben war ihm neu geſchenkt, und dieſes neue Leben wollte er jetzt beginnen mit all dem zähen Lebenswillen, der in ſeinem jungen Körper ſteckte.
Ohne ſich zu beſinnen ſprang er ins Meer, ſchwamm in zwei Stößen zum Ufer und hielt Umſchau. Vor ihm lag eine Kokosnuß in der faſerigen Hülle, in der ſie vom Baum niedergefallen war. Er riß die Hülle auseinannder und zerſchlug mit einem Stein die Schale der Nuß. Milchiger Saft ſpritzte umher, den er aus der ganz gebliebenen Hälfte der Nuß wie aus einem Becher gierig trank. Nie hatte ihm ein Trunk ſo geſchmeckt und ihn ſo erfriſcht wie dieſer. Dann brach er das reine weiße Fleiſch der Nuß aus der Schale heraus und hatte ein Morgenfrühſtück ſo köſtlich, wie man es nur träumen konnte.
Er hatte ſchon begonnen, an dem ſteilen Hang des Geſteines am Strand hinaufzuklettern, als er wieder umkehrte und die Bucht, vor der der „Transozean“ verankert lag, in Augenſchein nahm. Das Waſſer war tief genug, und mit einigem Geſchick mußte es ihm gelingen, den „Transozean“ in die Bucht hineinzubugſieren, wo er völlig ſicher lag. Sofort ging er aus Werk, ſchwamm hinüber, hob den Waſſeranker und zog den „Transozean“ an dem Haltetau bis in den Eingang der Bucht. Es war ein hartes Stück Arbeit, das Flugzeug in der Brandung ſo zu drehen, daß es, den intakten Flügel ſchräg voran, Platz fand. Das hochſtehende rechte Tragdeck ſtieß dabei faſt bis in das Ufergeſtrüpp an der oberen Kante des Felsabhanges, ſo daß es Hartmut leicht möglich war, dieſen Teil außerordentlich feſt an dem Ufer zu verankern. Auch das Rumpfende wurde auf ähnliche Weiſe mit den Steinen am Ufer verbunden, und als er ſchließlich das zerborſtene linke Flügelende an dem Stamm einer Palme vertäut hatte, war er ſicher, daß kein noch ſo großes Unwetter den „Transozean“ losreißen konnte.
Zum Schluß bildete er aus zwei Tauen von einem Palmſtamm aus nach dem Rumpfvorderteil eine Brücke, über die er in den „Transozean“ gelangen konnte, ohne durch das Waſſer ſchreiten zu müſſen.
Er zog den auf den Flug mitgenommenen weißen Tropenanzug auf die bloße Haut, ſeine hohen Schnürſtiefel mußten ihn vor Dornen und vielleicht auch vor Schlangenbiſſen ſchützen. Dann hielt er Umſchau in ſeinem Vorrat und verließ den „Transozean“, ausgerüſtet mit einer kleinen, ſcharfen Axt, ſeinem Jagdgewehr mit Patronen und einem Feldſtecher. Eine ſeiner letzten Doſen mit Fleiſchkonſerven mußte für den Unterhalt des Tages reichen.
So ausgerüſtet ging er auf die Abbruchſtelle der Felſen über dem Strand hinauf und verſuchte, durch den Wald vorzudringen.
Faſt undurchdringliches Geſtrüpp umfing ihn. Mit der Axt bahnte er ſich einen Weg, ſo zugleich eine Markierung für ſeine Rückkehr ſchaffend. Nach wenigen Minuten wurde ihm klar, daß er dieſen mühevollen Weg nicht weiter fortſetzen konnte; er kehrte daher um und beſchloß, längs des Strandes vorzudringen. Nach einigen hundert Meter Weg, immer hart längs der Felskante, ſah er vor ſich eine lange Strecke völlig flachen Strandes liegen, der freien Weg bot und gegen das Land von niederem Geſtrüpp ohne Bäume abgetrennt war.
Rüſtig ſchritt Hartmut voran, ſeinem unbekannten Ziele zu. Je weiter er wanderte, um ſo eintöniger wurde der Strand, und um ſo länger lag freie Wegſtrecke vor ihm. So erreichte er um die Mittagszeit eine Stelle, an der aus dem Ufergeſtrüpp ein mächtiger Geſteinsdurchbruch herausragte. Hartmut unterſuchte die Felſen und ſtellte feſt, daß ſie aus einer ihm unbekannten Geſteinsart beſtanden, die aber vulkaniſchen Urſprungs zu ſein ſchien. Das ganze Geſtein bildete eine amorphe Maſſe, die ſchalig und kugelig gebrochen und verwittert war und deutlich an Schlacke erinnerte. Er bahnte ſich einen Weg durch das Geſtrüpp auf die Höhe der Felſen, um von dort aus Umſchau zu halten.
Kurz bevor er die Höhe erreichte, hielt er verſteinert inne, er glaubte eine Stimme gehört zu haben. Aber tiefe Stille war rings um ihn. Nur das Rauſchen der Brandung und der Pulsſchlag ſeines eigenen Blutes tönten ihm in den Ohren. Gerade als er weiter ſchreiten wollte, hörte er deutlich wieder den Sprechlaut. Er machte ſein Gewehr ſchußbereit und drang in der Richtung vor, aus der die Laute gekommen waren. Immer noch hörte er leiſe Geräuſche und Stimmen. Plötzlich ertönte ein durchdringender Pfiff, gefolgt von einem ſchrillen Schrei. In der tiefen Stille klangen dieſe Geräuſche ſo heftig und erſchreckend, daß Hartmut zuſammenfuhr und dabei unverſehens den Abzugshebel des Gewehrs zurückriß. Auf den Krach des Schuſſes ſtob eine ganze Wolke von Papageien aus dem Gebüſch vor ihm und flog davon, buntſchillernd in der hellen Sonne.
Beluſtigt blickte ihnen Hartmut nach und winkte ihnen mit der Hand. Die erſten Lebeweſen ſeit Tagen mußten ihn ſo erſchrecken – und wie hatte er ſich geſehnt nach ihnen! Daß es dazu noch Papageien waren, die ihn auf dieſer fremden Erde begrüßten! Papageien – der Inbegriff jedes Kindes für alles, was Urwald, Abenteuer, Tropen und fremde weite Ferne heißt.
Raſch hatte Hartmut die Höhe erreicht und hielt Raſt.
Vor ihm lag in weitem Bogen der Strand, geſäumt von der Brandung und dem dichten Ufergeſtrüpp. Er ergriff nun ſein Glas, ſuchte ſyſtematiſch jede Stelle des Strandes ab, ohne irgend etwas Beſonderes zu bemerken. Dann blickte er landeinwärts, und als er auf die äußerſte Stelle des Felsabbruchs trat, von wo aus er über das nach dem Land zu abnehmende Geſtrüpp hinvegſehen konnte, ſah er eine lange, von ganz niedern Geſtrüppflecken und ſteppenartigen Gräſern bedeckte Fläche vor ſich liegen, die im Landinnern ſteil anſtieg und einen Hügel von beträchtlicher Höhe zu bilden ſchien.
An dieſe Stelle mußte er gelangen, dann lag ihm der Weg zu einem Ausſichtspunkt offen, der weiten Rundblick über das Land bieten mußte.
Hartmut beſchloß, kurze Raſt zu halten, ſich ein Mittagsmahl zuzubereiten und dann den Weg in die Steppe ſofort zu ſuchen. Neugeſtärkt brach er auf und ließ ſeine Axt den Kampf mit den Schlinggewächſen und dem Strauchwerk beginnen. In Schweiß gebadet mußte er ſich nach einigen Stunden beſiegt bekennen.
Kurz entſchloſſen machte er kehrt und ging zurück ſo raſch er konnte, um noch vor der Dunkelheit den „Transozean“ zu erreichen. Völlig erſchöpft kam er an, erfriſchte ſich durch ein Bad und legte ſich auf ſein Ruhebett nieder, wo er ſofort in tiefen Schlaf verſank.
Früh am nächſten Morgen wachte er auf und ging den Weg zurück, den er geſtern gefunden hatte. Als er den Strand erreichte, fand er das Ufer von Hunderten von Möwen bedeckt, die ihn bis auf wenige Schritte herankommen ließen und ihn ohne Scheu neugierig umkreiſten. Er erreichte die Stelle, durch die er durch das Geſtrüpp vorgedrungen war, und kam raſch bis zu dem Punkte, wo er geſtern den Kampf gegen das Dickicht aufgegeben hatte. Von neuem ließ er ſeine Axt wüten, um nach wenigen Metern auf eine Stelle zu kommen, an der ein deutlicher Pfad durch das Geſtrüpp getreten war. Im erſten Augenblick durchzuckte Hartmut der Gedanke: Menſchen. Doch dann ſah er ſofort, daß er nur in tief gebückter Stellung dem Pfad folgen konnte, da über ihm das Geſtrüpp dicht verwachſen war. Er folgte mühelos dem Pfade in der Richtung nach der von ihm geſichteten Steppe zu und ſtand nach einem Marſch von knapp einer halben Stunde in einer Lichtung des Geſtrüppes, die in den freien Teil der Steppe überging.
Die ganze Ebene vor ihm war mit faſt mannshohem, ſchilfartigem Gras bewachſen, das vollkommen dicht den Boden überzog und meſſerſcharfe, harte Ränder beſaß, die ſelbſt dem harten Leinenſtoff von Hartmuts Anzug gefährlich werden konnten. Die Hände in den Taſchen zum Schutz vor den Gräſern, bahnte er ſich einen Weg und kam, zwar beſchwerlich, aber doch ohne beſondere Mühe voran.
Um die Mittagszeit hatte er den anſteigenden Teil der Steppe erreicht. Der Hügel lag vor ihm. Wenn er vor der Dunkelheit zurück ſein wollte, mußte er jetzt umkehren. Aber ohne ſich lange zu beſinnen, ſchritt er weiter und erreichte nach vierſtündigem Marſch die Kuppe des Hügels. Er wäre nicht ſo raſch vorangekommen, wenn die Vegetation ſich nicht mit ſteigender Höhe geändert und niedrigen, moosartigen Gewächſen Platz gemacht hätte, die den ganzen Hügel wie ein Teppich bedeckten. Die Erdſchicht, auf der dieſe Vegetation Nahrung fand, war ſehr dünn; ein feſter Tritt genügte, um den Schuh bis auf den harten Felsgrund durchdringen zu laſſen.
Der eigentliche Kamm des Hügels ſtieg ſteiler an, als es von unten den Anſchein hatte. Hartmut mußte das letzte Stück auf allen Vieren bewältigen. Atemlos kam er oben an. Das Blut brauſte ihm in den Schläfen und hämmerte vor ſeinen Augen. Erſchöpft warf er ſich einen Augenblick auf die Erde. Als ſein Herz ruhiger ſchlug, erhob er ſich, um Umſchau zu halten. Nach einem kurzen Rundblick hatte er die Gewißheit: er ſtand auf dem höchſten Teil einer Inſel, deren Ufer er von hier aus ringsum überblicken konnte. Sie wurde gebildet von einem langgeſtreckten Höhenzug von wenigen Kilometer Länge, der in ſich einen ſchwachen Bogen bildete, der nach Oſten offen war.
Hartmut ſtand auf der höchſten Spitze eines Kraterrandes, der vor ihm lag und deſſen tiefſte Stelle mit Waſſer gefüllt war, während ſeine Innenränder mit einer eigentümlich vermoderten Vegetation bedeckt waren. Die Ränder des Kraters waren von Wind und Wetter freigeweht. Hartmut erkannte, daß ſich über dem vulkaniſchen Geſtein Korallenkalk angeſetzt hatte. Die Inſel, auf der er ſtand, war alſo augenſcheinlich ein unterſeeiſcher Vulkan geweſen, der durch die Erdkräfte aus dem Meer herausgehoben worden war und nun dieſe Inſel bildete.
Hartmut ſuchte mit ſeinem Glaſe den Horizont Stück für Stück ab. Nicht eine Andeutung von Land. Nicht ein Hauch des Rauches von Schiffen war zu erblicken trotz der abendlichen Klarheit, die ſich niederſenkte. Zum erſten Male genoß Hartmut den märchenhaften Anblick eines tropiſchen Sonnenunterganges. Aus der ſtrahlenden Helle des Tropentages, aus dem ewigen Einerlei des Blau von Luft und Waſſer brach eine Flut von Farben hervor, wie ſie auch die glühendſte Phantaſie nicht zu erſinnen vermochte.
Vor der Großartigkeit dieſes Schauſpiels verblaßten alle Wünſche und Hoffnungen in Hartmut. Es war ihm andächtig zumute und er hatte das Gefühl, als müſſe er dem Schöpfer dieſer Dinge danken, der ihn ſolche Wunder ſchauen ließ.
So unvermittelt wie der Loderbrand der Farbenflammen aus dem weſtlichen Horizont hervorgebrochen war, ebenſo unvermutet und unvermittelt verſanken er und alles ringsumher in ſchwarze Nacht. Der Himmel funkelte auf im Flimmerlicht der Sterne, und wie ein freundlicher Gruß aus der Heimat fern im Oſten tauchte die volle Scheibe des Mondes aus dem Meere empor.
Hartmut ſaß tief in ſich verſunken, völlig dem Genuß dieſes Anblickes hingegeben. Alte Kinderlieder fielen ihm ein, Märchen, die ihm die Großmutter erzählt hatte. „Guter Mond, du gehſt ſo ſtille.“ Was war Fremde – was war Ferne?
Du biſt Gaſt auf dieſer Erde, kleines Menſchenkind, und über dir wölbt ſich der Lauf der Geſtirne, zählt deine Tage und läßt ſie als ein Nichts zerrinnen in die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes …
Im Funkeln der Geſtirne und dem milden Licht des Mondes machte ſich Hartmut ein Lager zurecht und ſank in tiefen Schlaf, furchtlos und müde, wie ein nach langer Wanderung heimgekehrtes Kind.
Hartmut erwachte noch in der Nacht. Fahler Schimmer im Oſten verkündete den nahenden Morgen, und es war ſo kühl, daß er vor Froſt zitterte.
Zuerſt verſuchte er, ſich in den mooſigen Grund einzugraben und ſich an dem ſonnenwarmen Geſtein zu erwärmen. Es kam aber ein leichter Wind auf, der durch ſeine dünne Kleidung blies, ſo daß Hartmut aufſprang, um ſich durch Bewegung warm zu machen.
Er hatte kaum einen Schritt gemacht, als er in nächſter Nähe ein bösartiges Fauchen und Schnauben vernahm, und gleich darauf hörte er unter ſich eine ganze Anzahl von Tieren haſtig davongaloppieren. Es war nicht der weiche Schritt des Raubtiers, ſondern klang wie das Geräuſch von ſchmalen Hufen, ähnlich wie von abſpringenden Rehen. Sollten Gazellen dieſe winzige Inſel bevölkern?
Ein paar Kniebeugen brachten Hartmuts Blut in Fluß, er fühlte die Erwärmung und ſeine ſteifen Glieder wurden gelenkig, Zuerſt war er verſucht, ein Feuer anzuzünden, um ſich daran zu erwärmen, gab aber bald dieſes Vorhaben auf, weil er unter keinen Umſtänden vielleicht vorhandene Bewohner der Inſel aufmerkſam machen wollte, bevor er näheres über ihre Art und ihr mutmaßliches Verhalten ihm gegenüber in Erfahrung gebracht hatte.
Unvermittelt raſch erfolgte der Sonnenaufgang. Der öſtliche Horizont färbte ſich leuchtend gelb und im nächſten Augenblick tauchte die weiße Scheibe der Sonne aus dem Meere auf, um ſofort ihre ſengenden Strahlen auf die Erde zu ſchicken.
Hartmut aß die letzten Reſte ſeines Mundvorrates und begann erneut Umſchau zu halten. Der Höhenzug der Inſel ſenkte ſich von ſeinem Standpunkt aus nach Norden ziemlich ſteil und häufig terraſſenartig bis zum Meere hinunter, während er nach Süden ſehr flach gelagert war, hie und da von kleineren Zwiſchenkuppen unterbrochen und überragt. Am ſüdlichſten Ende, wo er ins Meer verſank, konnte Hartmut zwei Gruppen von ſchroffen Felſen mit dem Glaſe erkennen, die klippenartig zerriſſen und zerklüftet, anſcheinend frei aus dem Meer oder den Ausläufern des Strandes emporragten. Hartmut entdeckte zugleich eine Bewegung in der Luft in der Nähe der Klippen. Er legte ſich flach auf die Erde und ſtützte ſein Glas ſo ab, daß das Bild ohne Zittern vor ihm ſtand. Nun ſah er, daß dieſe Klippen von Tauſenden von Vögeln umflogen und umſegelt wurden, ſo daß es oft den Anſchein hatte, als würden weiße Wolken aus den Klüften der Klippen ausgeſtoßen.
Hartmut war nach ſeinem kargen Mahl noch hungrig geblieben und bekam ſolchen Appetit auf Möweneier, daß er am liebſten gleich den Weg dorthin angetreten hätte. Es galt aber heute für ihn in erſter Linie einen direkteren Weg von hier aus zu der Bucht zu finden, in der das Wrack des „Transozean“ verankert war.
Er ſchätzte die Entfernung bis zu den Möwenklippen auf etwa zehn bis zwölf Kilometer. Die Entfernung bis zum nördlichen Ende der Inſel, wo augenſcheinlich ein Steilhang den Blick auf den Strand verſperrte, ſchätzte er auf die Hälfte dieſer Strecke. Hartmut beſchloß, ſo bald als möglich eine genaue Ortsbeſtimmung vorzunehmen, und, falls es möglich wäre, mit den Inſtrumenten zur Ortsbeſtimmung, vor allem dem Sextanten, eine Vermeſſung der Inſel durchzuführen. Die Luftlinie zu der Bucht des „Transozean“ glaubte Hartmut ziemlich genau auf dem Rückweg einhalten zu können. Er ſah von hier oben, daß die Steppe in dieſer Richtung in Form eines Dreiecks tief in das Dickicht vor dem Strand vordrang, und zwar unmittelbar auf eine Stelle zu, die von einem dichten Wald von Kokospalmen beſtanden war.
Dieſen Wald nahm er als Richtungspunkt und begann den Abſtieg. Nach einem Marſch von etwa vier Kilometer ſtand er in dem äußerſten Winkel der Lichtung und fand, daß von dort aus ein tief ausgetretener Wildwechſel durch das Dickicht in den Wald hineinzog, etwa in der Richtung, in der er ſein Ziel vermutete. Er machte ſich ſofort ans Werk, dieſen Pfad mit ſeiner Axt ſo zu erhöhen, daß er ohne ſich zu bücken hindurchſchreiten konnte. Je näher er an den Kokoswald kam, um ſo üppiger wurde die Vegetation. Im Schatten der Palmen wuchſen zahlloſe von Saft und Kraft ſtrotzende Pflanzen, die Hartmut alle unbekannt waren. Einmal glaubte er die Blätter der Muſa zu erkennen. Er hatte ſich nicht getäuſcht, zwiſchen den Kokospalmen ſtand eine ganze Anzahl von hohen Muſa, die den mächtigen Fruchtſtand der Bananen in allen Stadien der Entwicklung trugen.
Hartmut wäſſerte der Mund nach den Früchten. Doch wie ſollte er auf die ſchlanken, aſtloſen Stämme hinaufkommen? Kurz entſchloſſen nahm er ſein Gewehr und ſchoß auf den Stiel eines der Bananenfruchtträger. Aber erſt beim zweiten Schuß hatte er Erfolg: der ganze Fruchtkörper ſtürzte herunter. Er war voll von überreifen Bananen, von deren Geſchmack die nach Europa importierten Früchte nur eine ſchwache und klägliche Probe abgaben. Hartmut aß ſich richtiggehend ſatt, konnte aber trotz redlichſter Bemühungen nur den kleinſten Teil der Früchte verzehren. Er füllte ſich die Taſchen damit und ſchritt nun weiter voran.
Der ſüße, ſchwere Duft der Bananen wurde bald von anderen Düften abgelöſt. Eine Lianenart mit orchideenähnlichen Blüten verbreitete Wolken von Duft, die berauſchend ſüß und ſchwül rochen und zugleich an den Geruch von Aas erinnerten. Die Luft war von Feuchtigkeit überſättigt. Hartmut kam ſich vor wie in einem überheizten Treibhaus. Er verſuchte, ſo raſch wie möglich aus dieſem in der Überfülle des Lebens modernden Ort herauszukommen.
Nachdem der Wildpfad ſich allmählich vor ihm im Geſtrüpp verloren hatte, führte er einen erbitterten Kampf mit den Lianen. Immer dichter und netzartiger wurden die zähen Ranken, und er mußte aus Leibeskräften zuhauen, um ſich Platz zu ſchaffen. Schon hatte er das Gefühl, nicht mehr weiter vordringen zu können, als ſich plötzlich eine ganze Wand von mit Lianen verſchlungenen Blattpflanzen und Äſten vor ihm löſte und über den Abbruch der Felſen zum Strand hinunterſtürzte. Das Meer lag frei vor ihm, und Hartmut ſtellte feſt, daß er kaum fünfzig Meter neben der Bucht des „Transozean“ angelangt war.
Den Ort, an dem der „Transozean“ verankert lag, beſchloß er „Transozeanbucht“ zu nennen und führte die Taufe gleich durch, indem er in dem glashellen Waſſer ein gründliches Bad nahm. Er wuſch ſeinen Anzug aus und kam ſogar in die Verſuchung, das Raſiermeſſer in dem Geſtrüpp, das inzwiſchen an ſeinem Kinn gewachſen war, ebenſo grauſame Ernte halten zu laſſen wie zuvor ſeine Axt im Lianenwald. Ein Blick in den Spiegel ſeines Reiſekoffers belehrte ihn aber, daß er ſchon einen ganz annehmbaren Vollbart trug, der ihm gar nicht ſchlecht zu Geſicht ſtand.
Hartmut lächelte über dieſe Feſtſtellung; hatte er nichts Wichtigeres zu tun, als hier mitten im Ozean darüber nachzudenken, ob er mit oder ohne Bart beſſer in die Landſchaft paſſe?
Als er wieder am Ufer ſtand und die Vertäuungen des „Transozean“ nochmals unterſuchte, fiel ſein Blick auf den geborſtenen Teil des Rumpfes, aus dem der Kompreſſormotor herausragte und ins Waſſer hing. Sofort ging Hartmut an die Bergung des Motors, der von dem Seewaſſer in kurzer Zeit völlig zerſtört werden mußte. Jedoch wie ſollte er die ſchwere Maſſe bewältigen? Ein leichter Flaſchenzug zum Heben des Waſſerankers war vorhanden – doch wo ihn befeſtigen? Hartmut blickte zu den Felswänden hinauf, die die Bucht umſäumten. Auf der äußerſten Spitze, am Eingang zur Bucht, ſtand, vom Sturm ſchief geweht, eine kräftige Kokospalme. Wenn es ihm gelang, den Stamm zu fällen, ſo mußte der Baum wie eine Brücke über dem Eingang zur Bucht liegen. Er konnte alſo den Flaſchenzug hier befeſtigen und den Motor heranziehen. Auch mußte es möglich ſein, auf dieſe Weiſe alle ſchweren Teile des „Transozean“ an Land in Sicherheit zu bringen.
Hartmut war es ganz gleichgültig, ob dieſe Teile ſeinen Zwecken auf der Inſel dienen konnten. Es war ihm ein unleidlicher Gedanke, daß das wertvolle Material, und vor allem die wundervoll durchgearbeiteten Maſchinen hier ſinnlos zugrunde gehen ſollten.
Er machte ſofort den Verſuch, mit ſeiner kleinen Axt die Kokospalme zu fällen, aber es wurde Abend, ohne daß er tiefer als bis zur Hälfte in das zähe, faſerige Holz des Stammes eingedrungen war.
In der Nacht erwachte er von einem Gewitterſturm. Blitz auf Blitz zuckte hernieder. Der Regen goß in Strömen und trommelte auf den „Transozean“, Die Brandung begann ſo zu toben, daß auch die Bucht von ſtarkem Wellenſchlag erfüllt wurde. Der „Transozean“ riß und zerrte an ſeinen Haltetauen, ohne ſich jedoch von der Stelle zu rühren.
Plötzlich krachte und praſſelte es über Hartmut und ein dumpfer Fall erfolgte. Als er bei Morgengrauen nachſah, war die von ihm angekerbte Palme vom Wind gefällt und lag genau ſo als Brücke über dem Buchteingang, wie er es erwartet hatte. So hatte ihm ſein grimmigſter Feind – der Gewittergott, der an ſeinem Scheitern auf dieſer einſamen Inſel ſchuld war – als er zum zweiten Male in der Südſee auf ihn traf, einen Dienſt erwieſen.
Er konnte den Tag kaum erwarten, und bevor er an ein Frühſtück dachte, ſchwebte der Kompreſſormotor bereits an dem Flaſchenzug unter dem Palmſtamm. Doch ehe Hartmut daran denken konnte, den Motor völlig an Land zu ſchaffen, mußte er zuerſt die Inſel in allen Winkeln ausgekundſchaftet haben.
Wie leicht hätte er mit einem Boot an das nördliche Ende vordringen können. Sollte es denn unmöglich ſein, ein Boot zu ſchaffen? Während Hartmut über dieſe Frage nachdachte, hielt er Umſchau in ſeinen Vorräten, und ſein Blick fiel auf die Angel, die er mitgenommen hatte zum Gelächter der Herren auf der Werft. Wie nützlich konnte ſie ihm nun ſein! Er wollte ſofort einen Verſuch mit Fiſchfang machen, der den größten Teil ſeiner Nahrungsſorgen überwinden konnte.
Von einem vorſpringenden Teil des Ufers warf er die Angel mit einem Spinner in geübtem Schwung ins Meer und zog den blitzenden Metallkörper durch das Waſſer. Schon beim zweiten Wurf erfolgte ein Anbiß, und er zog einen Fiſch von Halbarmlänge an Land.
Seine Beute ſah aber keineswegs appetiterweckend aus: es war ein außerordentlich ſchlanker Fiſch, der faſt knochig ausſah, in allen Farben ſchillerte und zum größten Teil ans Kopf beſtand, ein ſpitzer, giftiger Kopf, mit ſehr großem Maul, das mit einem furchterregenden Gebiß bewehrt war.
Um den Fiſch von der Angel freizumachen, mußte er ihn töten, da der Räuber den Metallköder völlig verſchluckt hatte. Er mußte den Angelhaken herausſchneiden, Als er die Stücke des Fiſches in das Meer warf, ſah er, wie eine andere Fiſchart ſich gierig darauf ſtürzte. Er befeſtigte daher an der Angelſchnur anſtelle des künſtlichen Köders einen großen Angelhaken, an dem er Stücke des Fiſches anbrachte, und zog nun mit jedem Wurf einen forellenartigen Fiſch ans Land, der in ſeinen größten Exemplaren etwa einen halben Meter lang war.
Die Paſſion des Fiſchers hatte Hartmut gepackt – er hatte ſchon acht der Fiſche gelandet, als es ihm einfiel, daß er höchſtens für einen Verwendung hatte. Die noch lebenden warf er ins Meer zurück, zwei nahm er mit ſich zum Zubereiten, während er die anderen als Köder liegen ließ.
Hartmut hatte, um zu ſparen, in ſeiner Lehrzeit meiſtens ſein Eſſen ſelbſt zubereitet. Seine Kochkünſte, bei denen immer Schmalhans Küchenmeiſter geweſen war, kamen ihm hier zuſtatten. Er hielt ein ſo opulentes Mahl, daß er faul und träge ſein Nachtlager ſchon aufſuchte, als die Sonne noch hoch über dem weſtlichen Horizont ſtand.
An den folgenden Tagen machte Hartmut den Weg zur Kuppe der Kraterwand ſo oft er konnte, da es ihn immer wieder trieb, von der Höhe Umſchau über die Inſel und das Meer zu halten. Es war ihm unvorſtellbar, daß keines der zahlloſen Schiffe, die das Weltmeer bevölkerten, in Sichtweite der Inſel vorüberkommen ſollte, daß die Inſel, auf der er ſich befand, vergeſſen im Ozean läge, unentdeckt inmitten des engmaſchigen Netzes, das der Weltverkehr um die Erdkugel geſpannt hatte. Doch die Tage vergingen, ohne daß auch an der fernſten Stelle des Horizontes die Rauchwolke oder das Segel eines Schiffes aufgetaucht wäre. Und wenn ſich wirklich ein Fahrzeug dort in der Ferne bewegt hätte, wäre es nicht vorübergefahren, ohne den winzigen Flecken Erde zu beobachten – ohne zu ahnen, daß dort ein hilfebedürftiger Menſch ſehnſüchtig die Arme nach ihm ausſtreckte?
Hartmut ſträubte ſich gegen dieſe Willenloſigkeit des Wartens. Er fuhr aus ſeinem ſtundenlangen Sitzen und In-die-Runde-Starren auf, getrieben von dem Drange zu handeln, anzurennen gegen die Wand, die das Schickſal ihm gebaut hatte.
Mit wütender Energie teilte er geſtürzte und dürre Palmbäume in ſcheitgroße Stücke, die er bis zur Erſchöpfung in mühſamer Arbeit auf die Kraterkuppe hinaufſchaffte. Dort errichtete er einen Holzſtoß, einen mächtigen Scheiterhaufen von kunſtgerecht übereinander gelegten Stämmen, deſſen Inneres er mit trockenen Aſtſtücken und dürrem Gras anfüllte. Die Oberfläche dieſes Scheiterhaufens deckte er mit Palmblättern und Schilf dick und ſo dicht ab, daß kein noch ſo ſtarker Regenguß die Stämme und das dazwiſchen aufgeſchichtete Zündmaterial durchnäſſen konnte.
Schließlich ſicherte er den Holzſtoß gegen den Angriff des Sturmes, indem er ihn mit Tauen an in Felsriſſe hineingekeilte Pflöcke feſtband.
Flamme und Rauch ſeines Bauwerks mußten ein bei Tag und Nacht weithin ſichtbares Zeichen bilden, das kein noch ſo fern vorüberkreuzendes Schiff überſehen konnte.
Sein mühſames Werk vollendete Hartmut, indem er den kleinen Signalmaſt, der auf dem Rumpfdach des „Transozean“ feſt eingebaut war, entfernte, ihn um ein Stück Stahlrohr von den gebrochenen Schwimmerſtützen verlängerte und mit drei Drähten auf dem Kraterrand verſpannte und befeſtigte. Unter den aus dünnem Leichtmetall hergeſtellten Signalflaggen befand ſich das Zeichen SOS, der Hilferuf auf See. Dieſes Zeichen hatte er drehbar an ſeinem Signalmaſt befeſtigt und mit einer Schnur verſehen, ſo daß er es ſtets ſo einſtellen konnte, daß die Fläche des Signals einem etwa herannahenden Schiff zugekehrt und das Zeichen erkenntlich war.
Während dieſer Arbeiten hatte Hartmut ernſthaft darüber nachgedacht, wie falſch es von ihm war, tatenlos zu ſitzen und auf Rettung zu warten. Die Rettung, die er erwartete und die er mit dem Bau des Holzſtoßes vorbereitet hatte, konnte ihm nur der Zufall bringen. Sein Leben aber vom Zufall abhängig zu machen, war Wahnſinn. Die gegebenen Verhältniſſe hinnehmen und ſie nach klarer Überlegung ſo geſtalten, daß alle aus ihnen erzielbaren Vorteile dem Kommenden dienen mußten – das war die Aufgabe, die er zu ſeiner Rettung, zum Weiterbeſtand ſeines Daſeins durchzuführen hatte.
Sein Daſein war mit dieſer winzigen Inſel vorläufig und auf unabſehbare Zeit feſt und unlösbar verbunden. Das war die einzig feſtſtehende Tatſache, an die er ſich halten konnte, von der er ausgehen mußte, und die ſein ganzes Tun beſtimmte. Er mußte zuerſt erkennen, welche Möglichkeiten ihm die Inſel für ſein ferneres Handeln bot, und ſich damit ſelbſt und aus eigener Kraft die Mittel ſchaffen, die es ihm erlaubten, auf eine zufällige Rettung zu hoffen und zu warten.
Wie lange es dauern konnte, bis dieſer Zufall eintraf, war nicht zu beſtimmen und mußte gleichgültig ſein. Müßige Blicke und Gedanken konnten den Kurs eines Schiffes nicht ablenken und anziehen. Müßigſein bedeutete hier Untergang und Verderben.
Boot und Meer
An den folgenden Tagen unternahm Hartmut mehrfach Verſuche, in den nördlichen Teil der Inſel vorzudringen. Immer aber ſcheiterten ſeine Bemühungen an der Undurchdringlichkeit des Wald- und Dickichtſaumes oder an der Unzugänglichkeit der Strandfelſen.
Er mußte ein Boot haben um jeden Preis. Zuerſt dachte er daran, einen Palmbaum auszuhöhlen in der Art der Auslegerboote, der „Einbäume“, wie ſie die Eingeborenen benützen. Aber er allein würde dieſe Arbeit kaum bewältigen können.
Außerdem konnte er ein ſolches Boot ſchwer handhaben, und es war faſt unmöglich, es an Land in Sicherheit zu bringen.
Darum hielt er nochmals eindringlich Umſchau in den Teilen des „Transozean“, ob ſich nicht irgend ein Stück in ein Boot verwandeln laſſen könnte.
Zuerſt dachte er daran, den ganzen Schwimmer abzumontieren, was mit Hilfe der Palmbaumbrücke möglich geweſen wäre. Aber dieſer Schwimmer war viel zu groß und zu unhandlich und hätte außerdem der Ausarbeitung eines Sitzes bedurft, was mit den vorhandenen Werkzeugen eine langwierige Arbeit geweſen wäre. Da fiel ſein Blick auf die Verkleidung des Motorenraumes auf der Oberſeite des Tragdecks. Sie war völlig unverletzt und ließ ſich, um den Motorenraum zugänglich zu machen, im Ganzen abheben. Sie bildete eine flache, ſtromlinienförmige Mulde aus getriebenem Aerokonſtanblech, die im Innern mit Querrippen und einem Verſtärkungsrand verſteift war. Sie konnte leicht ein Boot bilden, das für zwei Perſonen genügend Platz und Waſſerverdrängung hatte.
Hartmut ging ſofort an die Abmontierung dieſer Verkleidung, die ohne Werkzeuge in wenigen Minuten durchführbar war. Er brachte ſein „Boot“ in der Bucht zu Waſſer und konnte voller Befriedigung feſtſtellen, daß es ausgezeichnet und ſtabil im Waſſer lag. Die Beſchaffung eines Ruders machte ihm wenig Kopfzerbrechen. Aus dem zerborſtenen Flügelteil ragte eine ganze Reihe von Rohrverſtrebungen hervor. Hartmut ſägte eines dieſer unverletzten, faſt zwei Meter langen Rohre ab. Dann meißelte er einige Knotenbleche an der Bruchſtelle aus ihrer Vernietung, ſchnitt und bog ruderſchaufelförmige Stücke daraus zurecht, die er in die Rohrenden einſteckte, nachdem er dieſe oval geſchlagen und dann völlig flach gehämmert hatte, ſo daß er mit drei durchgehenden Nieten einen völlig feſten Verband herſtellen konnte.
Mit dieſen Rudern paddelte er in ſeinem Boot durch die Bucht. Es war ihm aber faſt unmöglich, die ſtromlinienförmige Wanne in Richtung zu halten. Mit jedem Ruderſchlag drehte ſie blitzſchnell nach der anderen Richtung ab, ſo daß er im beſten Falle im wilden Zickzack vorwärtskommen konnte.
Hartmut montierte deshalb an dem ſpitzen Hinterteil der Mulde eine regelrechte Floſſe mit dem Erfolg, daß ſein Boot nicht nur tadellos Richtung hielt, ſondern ſich außerordentlich ſchnell bei einem Minimum von Kraftaufwand durch Rudern voran bewegen ließ. Er übte damit ſo lange, bis er das kleine Fahrzeug ſicher durch die Brandung hindurchtreiben konnte, ohne daß ihm die Wellen gefährlich wurden.
Die erſte große Entdeckungsfahrt mit ſeinem neuen Fahrzeug begann er wohl vorbereitet und ausgerüſtet. In waſſerdichten Säcken waren Mundvorräte, Munition und Inſtrumente untergebracht, alles zu einem Bündel vereinigt und in die Schwimmweſte eingehüllt. Hartmut hatte ſeinen leichten Tropenanzug an und trug eine Kopfbedeckung, die er in langer, mühevoller Arbeit fertiggeſtellt hatte: aus dürren Palmblättern hatte er einen korbdeckelförmigen Hut gemacht, der zwar auf dem Kopfe nur hielt, wenn er kunſtvoll mit Stricken und Bändern feſtgebunden wurde, aber ſeinen Zweck vollkommen erfüllte; er gab Schatten und hielt die ſengenden Strahlen der Sonne, die ſenkrecht herniederprallten und auf dem Waſſer unerträglich heiß brannten, vollkommen ab.
In der Kühle des erſten Morgenſchimmers ging Hartmut auf die große Fahrt. Geſchickt paßte er den Rhythmus der Brandung ab und ſchoß über die Wellenberge, ohne daß ein Spritzer das Innere des Bootes traf. Außerhalb der Brandungsgrenze nahm er Kurs auf das Nordende der Inſel und trieb ſein Boot mit langen Ruderſchlägen ſchnell voran.
Möwen umkreiſten den Eindringling mit heiſerem Schreien. Und dann nahm Hartmut ein Bild gefangen, das einen Traum ſeiner Kindheit vor ihm wahr werden ließ: ein mächtiger Albatros kam ohne Flügelſchlag mit ſeinen weit ausgeſtreckten ſchmalen Schwingen auf ihn zugeſtrichen, ſchwenkte in ſteilen Kurven mehrere Male um das Boot, ſchoß bis tief auf das Waſſer nieder und ſtrich dann wenige Zentimeter über den Wellen in pfeilſchnellem Fluge ab, ohne jede Bewegung ſeiner Flügel. Hartmuts Augen folgten ihm, bis er als winziger Punkt in der Ferne verſchwunden war. Wie kümmerlich war alles, wie klein waren alle Künſte des Menſchen gegen dieſes Flugwunder, das die Natur hier hervorgebracht hatte. Der Menſchenflug war ein Kampf gegen die Elemente, eine Übertrumpfung der groben Kräfte von Wind und Böen durch größere, gröbere Kräfte. Der Vogel Albatros, die Spitzenleiſtung der Natur von allem, was ſie an Flug hervorgebracht hatte – er war in die Kräfte des Windes und der Böen hineingewachſen, ſie waren ihm nicht Feinde, ſondern Freunde geworden, ſie waren es, die ihn trugen. Aus dem tiefſten Einfühlen in die geheimſten, unſichtbaren Vorgänge der Luft floſſen die Quellen des Segelfluges, der den Albatros tagelang ohne Flügelſchlag durch das Luftmeer ziehen ließ.
Doch heute galt es nicht, über die Wunder der Natur nachzuſinnen. Es galt auszukundſchaften, wie die Natur dieſe Inſel gebildet und geſchaffen hatte, und welche Hilfsmittel ſie Hartmut bot, um ſeine primitivſten Lebensbedürfniſſe zu befriedigen.
Hartmut folgte mit ſeinem Boot dem nördlichen Ufer der Inſel, das einen weiten Bogen bildete und überall ſchroff etwa zwanzig Meter tief in das Meer faſt ſenkrecht abfiel. Überall hatte die Brandung kleine Schluchten und Buchten in die Felſen geſägt, und da und dort lagen Felsblöcke im Meer, in deren Nähe ſich ſtrandartige Geröllkuppen gebildet hatten. Nach einer Fahrt von etwa zwei Kilometer Länge ſah Hartmut in der Felswand einen ſchmalen Spalt, der den Eingang zu einer ziemlich geräumigen Bucht zu bilden ſchien, denn der hinter dem Spalt liegende Teil war hell von Sonnenlicht erleuchtet und die Kokospalmen auf der Höhe des Geſteinsrandes bildeten einen weiten Ring.
Mit raſchen Schlägen trieb Hartmut ſein Boot auf den Felsſpalt zu, in der Brandung geſchickt den zerſtreut liegenden Felsblöcken ausweichend, und fand eine Fahrrinne von großer Waſſertiefe, die in das wenige Meter breite Felſentor der Bucht hineinführte. Langſam auslaufend ließ er ſein Boot durch das Felstor hindurchgleiten. Die linke Felswand lief faſt parallel zu der Einfahrt, während die rechte ſcharf, faſt gleichlaufend ſeinem Ufer, umbog.
Ein zauberhafter Anblick bot ſich Hartmut: ſein Boot war in eine rings von ſchroffen Felswänden umſchloſſene Bucht hineingeſtoßen, die ein Oval von faſt vierzig Meter Länge und etwa dreißig Meter Breite bildete. Das Waſſer in der Bucht lag völlig ruhig. Es war von umwahrſcheinlicher Klarheit, ſo daß jeder Stein des Grundes deutlich ſichtbar wurde. Schwärme von Fiſchen füllten das Becken. Beim Herannahen von Hartmuts Boot ſtoben ſie auseinander, die Flut mit einem Blitzen und Funkeln erfüllend, als würden Edelſteine hineingeleert.
Über die Steinwände ſtürzten ſich Kaskaden von Schlingpflanzen, beſät mit Blüten und umgaukelt von handgroßen, in allen Farben ſchillernden Schmetterlingen. Die Kronen der Palmbäume auf der Höhe zeichneten bizarre Ornamente in dem klaren Himmel, die ſich im ſteten Spiel des Windes in der anmutigſten Weiſe veränderten und erneuerten. Ein faſt armdicker Waſſerfall ſtürzte ſich aus einer Mulde des oberen Geſteinrandes im glatten Strom über die Felswand, fing ſich mit leiſem Gurgeln in einer ausgewaſchenen Mulde der Felſen nahe am Waſſerſpiegel und floß von dort wie aus einer Schale über den ſchmalen Strandſtreifen in die Bucht.
Hartmut hielt völlig verſunken in den Anblick dieſer Wunder ſein Boot in der Mitte der Bucht an. Die Fiſche beruhigten ſich und umkreiſten neugierig das Fahrzeug.
Hartmut war benommen von der heimlichen Pracht, die ſich um ihn erſchloſſen hatte. Er kam ſich vor wie ein Eindringling, der ein ſorgſam behütetes Geheimnis der Natur mit profanen Blicken auskundſchaftet und entweiht. Er ſtreichelte mit den Augen die Blüten an den Felſenhängen, deren Duft in zarten Wolken, eine Ahnung von Kühle mit ſich bringend, durch die Glut des Tropentages von den Felswänden niederwehte. Die Wand zu ſeiner Linken hing weit über. Sie lag im ſcharfen Schatten. Das Gebüſch darüber ließ einen dichten Vorhang von Schlingpflanzen niederhängen, der faſt die Hälfte der Wand bedeckte. Hartmut trieb ſein Boot nahe an die Wand, um Einblick in die Geheimniſſe, die der Vorhang barg, zu gewinnen. In etwa halber Höhe ſah er eine tiefe Höhlung in dem Fels; vor der ein ſchmales Band durch die Felswand zog. Mit einem Blick wußte Hartmut: hier wird deine neue Heimat ſein – dort oben wirſt du wohnen.
Faſt fünf Meter hoch lag der Eingang zu der Höhle. Das Geſtein war unter dem Überhang wenig verwittert und griffig genug, um einen Einſtieg zu ermöglichen.
Hartmut machte ſein Boot am Geröll des Ufers feſt und wollte ſchon beginnen, in die Felswand einzuſteigen, als er ſich beſann, umkehrte und ſeinen Revolver zu ſich nahm. Die Waffe zwiſchen den Zähnen begann er emporzuklettern. Vorſichtig jeden Griff und Tritt benützend, erreichte er den Rand der Höhle, und mit einem Klimmzug war er oben.
Schwarze Finſternis gähnte ihm entgegen. Erſt als ſich ſeine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er erkennen, daß er in eine Höhle von etwa zwanzig Meter Tiefe und acht Meter Breite eingedrungen war, die ein Ellipſoid bildete. Sie ſchien eine Blaſe von eingeſchloſſenen Gaſen in dem vulkaniſchen Geſtein geweſen zu ſein, die durch die Bildung der Bucht einen Ausgang erhalten, vielleicht als Exploſion das Geſtein zertrümmert und die Bucht geſchaffen hatten.
Beim Licht ſeines kleinen Benzinfeuerzeuges machte Hartmut einen Rundgang. Die Höhle war vollkommen trocken, und keinerlei Zeichen, daß ſie von Tieren beſucht war, ſchien vorhanden. Dann aber fand Hartmut an einer Stelle einen wahren Berg von Unrat, und als er aufblickte, ſah er über ſich dreißig oder vierzig dunkle Klumpen an einem Riß des Geſteins von der Decke herabhängen. Es waren Fledermäuſe von der doppelten Größe einer Männerfauſt mit auffallend großen Ohren. Hartmut beſchloß ſofort, ſie zu ſeinen Hausgenoſſen zu machen, da ſie ihn auf die natürlichſte Weiſe vor jeder Moskitoplage ſchützen mußten.
Der Entſchluß, die Höhle für ſeine Zwecke einzurichten und ſein Standquartier auf der Inſel hier aufzuſchlagen, ſtand für Hartmut ſofort feſt. Ein beſſeres Verſteck, das ihm ſicheren Schutz bot, konnte er gar nicht finden. Und um das haifiſchſichere Bad, das mit einem Kopfſprunge vom Höhlenausgang aus erreichbar war, konnten ihn die Milliardäre Amerikas aus vollem Herzen beneiden.
Aber bevor er nicht jeden Winkel der Inſel kannte, waren alle Pläne, die er machte, Luftſchlöſſer. Seinen Abſtieg kürzte er auf einfachſte Weiſe ab, indem er mit einem Kopfſprung im weiten Bogen in die Bucht hinunterſchoß. Von einem Kranz glitzernder Fiſchleiber umgeben, ſchwamm er in ſein Boot zurück, nahm ſeinen Platz ein, verließ die Bucht, deren Eingang er ſich genau merkte, und trieb mit raſchen Schlägen dem nördlichſten Punkt der Inſel zu.
Wie er die Bucht nennen wollte, machte ihm viel Kopfzerbrechen: Zauberbucht – Paradieswinkel – Iene Heimat – hundert Namen ſchwirrten ihm durch den Kopf, ohne daß er den richtigen fand. Doch bald wurden ſeine Gedanken durch andere Dinge gefangen genommen. Je weiter ſein Kurs dem Uferbogen folgend nach Weſten umbog, um ſo langſamer kam er voran. Er hörte zu rudern auf und merkte, daß er von einer Meeresſtrömung nach rückwärts abgetrieben wurde. Die Strömung kam von der nördlichen Spitze der Inſel her und bildete in der Brandung auf der öſtlichen Uferſeite einen deutlichen Sogwirbel. Kurz bevor er auf der Höhe des nördlichſten Kaps der Inſel war, ſah er, dem Steilabbruch der Uferfelſen vorgelagert, einen flachen, kahlen Geſteinsrücken, der ſich weit in das Meer hinauszog, teilweiſe vou der Flut überſpült.
Mit dem Glaſe hielt er Ausſchau und konnte erkennen, daß zwiſchen dem Steilabbruch und der flachen Felſenbank eine ſchmale Waſſerrinne frei war, in der lebhafte, ſtromartige Waſſerbewegung zu herrſchen ſchien. Er trieb ſein Boot dieſer Durchgangsſtelle zu. Mit jedem Stück Weg, das er näher kam, nahm die Stärke des Gegenſtromes zu, und um durch die knapp zwei Meter breite Rinne zwiſchen dem Felsabbruch des Inſelufers und dem herausragenden Rücken der nördlichen Felſenbank hindurchzukommen, mußte er unter Aufbietung aller ſeiner Kräfte rudern. Aber erſt beim zweiten Verſuch gelang ihm die Durchfahrt, und nach einer Viertelſtunde kräftiger Ruderarbeit hatte er den Punkt der Küſte erreicht, wo ſie ſcharfwinklig nach Süden abbog.
Der Meerſtrom, gegen den er vorhin arbeiten mußte, half ihm nun. Faſt ohne Ruderſchlag trieb ſein Boot langſam längs der Küſte, die noch immer von Steilufer und Felſen gebildet wurde. Je weiter er jedoch nach Süden vordrang, um ſo niedriger wurden die Uferfelſen, um ſo flacher wurde der Strand. Nach einer Stunde Fahrt hatte er die Höhe des höchſten Inſelberges, auf deſſen Kuppe er geſtanden hatte, erreicht. Die Uferfelſen waren dort verſchwunden und breiter, ſandiger Strand erſtreckte ſich nach Süden, ſoweit er mit dem Auge folgen konnte.
Er ſchien längs der Sturmſeite der Küſte zu fahren. Nur vereinzelte Kokospalmen, vom Winde zerzauſt und ſchief geweht, überragten das Stranddickicht, das ſeinem ganzen Ausſehen nach einen erbitterten Kampf mit dem Meer führte. An einer Stelle hatte ſich in dem Stranddickicht eine flache Bucht gebildet. Dort beſchloß Hartmut zu landen und einen kurzen Gang über das Land auszuführen.
Er zog ſein Boot auf den Strand. Das Meer war vollkommen ruhig, ſo daß wenige Meter genügten, um es vollkommen ſicher zu lagern.
Hartmut hing ſich den Feldſtecher um, ſchulterte ſein Gewehr und ging auf die Lichtung im Geſtrüpp los. Plötzlich ſchrak er zuſammen: hatte der Steinblock vor ihm ſich nicht bewegt? Als er näher zuſah, merkte er, daß er vor einer rieſigen Schildkröte ſtand, die ſich hier ſonnte. Das gewaltige Tier fauchte ihn an, zog aber beim Näherkommen ſofort den Kopf und die Füße in die mächtige Schale ein. Hartmut ſtellte ſich auf ihren Rücken und hielt Umſchau mit dem Glas: überall am Strand ſah er die Tiere in allen Stadien ihres Wachstums liegen, wie ſie ſich von der Sonne durchglühen ließen. Dieſer Anblick war eine beredte Sprache dafür, daß die Inſel unbewohnt war. Den Tieren wurde in allen bewohnten Gegenden auf die grauſamſte Weiſe nachgeſtellt ihres wohlſchmeckenden Fleiſches und vor allem des Schildpatts wegen, aus dem ihre oft zentnerſchweren Panzer beſtanden.
Faſt wäre Hartmut von ſeinem Stand heruntergefallen, denn das ſchwere Tier ſetzte ſich plötzlich in Bewegung. Hartmut ſprang ab und ſah zu, wie es unverhältnismäßig raſch dem Waſſer zulief und darin verſchwand, um nach ſehr kurzer Zeit weit draußen einen Augenblick aufzutauchen, Umſchau zu halten und aufs neue in dem vertrauten Element zu verſinken.
Als Hartmut den Rand des Geſtrüppes erreicht hatte, ſah er vor ſich die vermorſchten Reſte eines dicken Baumſtammes, der halb im Sand eingebettet, halb im Strandgeſtrüpp eingewachſen war. Als er näher hinſah, ſtellte er feſt, daß er vor einem Einbaum ſtand, einem Boot der Eingeborenen der Südſee. Die Aushöhlung und ſogar die Durchbohrung des Stammes für die Träger des Auslegers waren noch ſichtbar. Die Träger ſelbſt waren vermodert, und nur noch Teile des eigentlichen Hilfsſchwimmers ragten aus dem Sand.
Es mußte ein außerordentlich großes Boot geweſen ſein, deſſen Trümmer vor ihm lagen. Zweifellos hatte es für etwa zwanzig Menſchen Platt geboten und mindeſtens zehn Ruder zu ſeiner Bedienung gebraucht.
Hartmut ſuchte die Umgebung nach weiteren Spuren von Menſchen ab und fand nach kurzer Zeit nahe dem Boot den zerſchlagenen Schädel eines Tieres. Der Zahnbildung nach waren es die Überreſte eines ſchweinsähnlichen Tieres, das hier vielleicht von den Inſaſſen des Bootes verzehrt worden war. Hartmut drang bei der weiteren Nachſuche in das Uferdickicht vor, ohne etwas zu finden, was auf die Anweſenheit von Menſchen einſt oder jetzt ſchließen ließ. Er wollte ſchon wieder umkehren, als er nahe vor ſich durch das Dickicht die Trümmer eines Bauwerks liegen ſah. Auf vermorſchte Pfähle waren die Trümmer einer Hütte geſtürzt, die aus einem Geflecht von Lianen und Palmblättern und Faſern hergeſtellt geweſen zu ſein ſchien. Als Hartmut die kärglichen Überreſte näher unterſuchte und mit dem Fuß beiſeite räumte, legte er einen menſchlichen Schädel frei, der, zuſammenhängend mit dem Gerippe, in dem Moder eingebettet war. Um die Halswirbel lag eine Kette, die aus Tierzähnen, Muſcheln und kleinen Knochen gebildet war. Letztere glaubte Hartmut als Finger oder Zehenknochen des Menſchen zu erkennen.
Nun begann er die Umgebung ſorgfältig abzuſuchen und ſtieß nach kurzer Zeit auf eine Stelle in dem Geſtrüpp, an der menſchliche Knochenreſte geradezu angehäuft waren: vierzehn Schädel, darunter die von Kindern, konnte Hartmut zählen. Die ganze Anordnung der Gebeine ließ darauf ſchließen, daß hier ein eilig angelegter Begräbnisplatz war. Alles, was er vorfand, legte die Vermutung nahe, daß eine größere Anzahl von Wilden mit Weib, Kind und Hausrat auf der Inſel gelandet, ſich angeſiedelt hatte, aber nach kurzer Zeit einer Krankheit erlegen war, die alle nacheinander dahinraffte bis auf einen, deſſen Gerippe in dem Getrümmer der Pfahlhütte lag. Dieſer letzte war hilflos und einſam zulegt zugrunde gegangen, der Tod hatte ihn in der Hütte erreicht, die ihn unter ihren Trümmern begraben hatte.
Unter den Reſten der Hütte fand Hartmut bei ſorgfältiger Nachſuche auch eine große Menge von Hausrat der Einwohner. Alle Gegenſtände waren aus Stein, Ton, Tierknochen oder Schildpatt hergeſtellt und wieſen eine zwar ſehr primitive, aber doch außerordentlich künſtleriſche und zweckmäßige Verarbeitung auf. Hartmut ſammelte alle dieſe Teile und beſchloß, ſie bei nächſter Gelegenheit mit ſich zu nehmen, wenn ſein neues Heim eingerichtet war.
Faſt zwei Stunden hatte ſein Aufenthalt gedauert. Er wollte noch vor Abend an das ſüdlichſte Kap der Inſel gelangen und mußte ſich beeilen, um weiterzukommen.
Als er den Strand erreichte, durchfuhr ihn eiſiger Schrecken: ſein Boot war verſchwunden. Die Brandung reichte weit über die Grenze, wo er das Boot gelagert hatte. Er hatte der im Stillen Ozean zwar ſehr ſchwachen Flut keine Rechnung getragen. Vielleicht hatte auch die aufgekommene friſche Briſe das Waſſer an dem flachen Strand geſtaut und ſein Boot entführt. So ſehr er aber auch das Meer abſuchte, er konnte ſelbſt mit ſeinem Glas das Fahrzeug nirgends entdecken.
In tiefſter Niedergeſchlagenheit machte er ſich auf den Weg längs des Strandes auf das Südkap zu. Er hoffte die Möwenklippen noch zu erreichen, bevor die Dunkelheit einſetzte. Vor allem trieb ihn der Hunger dorthin, denn mit dem Boot waren zugleich ſeine Mundvorräte für drei Tage verloren gegangen.
Hartmut hatte jedoch kaum die Hälfte des vor ihm liegenden Weges zurückgelegt, als die Nacht einſetzte. Noch eine Weile ſchritt er im Sternenlicht weiter, bis der Strand anfing, wieder ſchmäler und ſo felſig zu werden, daß er in der Dunkelheit nicht mehr weiter vordringen konnte. Zwiſchen zwei Felsblöcken am Ufergeſtrüpp machte er ſich ein Lager, vermochte aber lange nicht einzuſchlafen. Heftiger Hunger und Durſt hielten ihn lange wach, und ſeine Gedanken kreiſten unaufhörlich um das verloren gegangene Boot. Der Verluſt erſchien ihm unerſetzlich und bedeutete eine ſolche Erſchwerung ſeines Weiterkommens auf der Inſel, daß ihn tiefſte Mutloſigkeit packte. Schließlich fiel er in unruhigen Halbſchlaf, hatte die traurigſten Träume und wachte immer wieder in Schweiß gebadet auf. Erſt gegen Morgen ſank er völlig erſchöpft in tiefen Schlummer.
Als ihn die Strahlen der ſchon hochſtehenden Sonne trafen, wachte Hartmut auf. Nach der unruhigen Nacht auf ſeinem harten Lager fühlte er ſich ganz zerſchlagen und brauchte eine Weile, bis er ſeine Gelenke wieder frei bewegen konnte. Dann aber trieb ihn der Hunger, und er ſchritt, ſo raſch er konnte, den Möwenklippen zu.
Es war ein mühevoller Weg. Der Strand wurde immer felſiger und zerklüfteter, und er mußte ſich nah an der Waſſergrenze einen Weg durch die Felsblöcke ſuchen, deren Zwiſchenräume mit zerwaſchenem Geröll angefüllt waren. Der Strand bog immer mehr in ſüdlicher Richtung ab, die Geröllhalde verbreiterte ſich, während die aus ihr herausragenden Felsblöcke immer größer wurden und ſchließlich klippenartigen Charakter annahmen.
Das den Strand bildende Geröll wurde auch zuſehends ebener. Die Brandung brach ſich an den Klippen und überſpülte in flachen Wellen unregelmäßig den Geröllſtrand. Hartmut watete mit jedem Schritt tiefer durchs Waſſer auf eine mauerförmige hohe Klippe zu, hinter der die von ihm vom anderen Ufer her geſichteten Möwenklippen liegen mußten. Er ſtand ſchon faſt bis an die Bruſt im Waſſer, als er an das Ende der Klippenmauer gelangte und der Blick nah Südoſten frei wurde.
Kaum hundert Meter vor ihm erhob ſich ſteil aus dem Waſſer eine mächtige Klippe voller Klüfte und Spalten, deren Gipfel in eine große Anzahl von einzelnen Felſennadeln zerteilt war. Im Augenblicke, in dem Hartmut ſichtbar wurde, erhob ſich eine unüberſehbare Schar von Möwen, ſo daß die Klippe in eine Wolke von krächzenden und ſchrille Schreie ausſtoßenden Vögeln eingehüllt war. Hunderte der Tiere ſchoſſen auf Hartmut hernieder, umkreiſten ihn in nächſter Nähe, ſo daß er das Pfeifen der Luft und den Druck der Flügelſchläge verſpürte. Nach einer kurzen Weile legte ſich der Aufruhr, und nun ſah Hartmut, daß die Klüfte und Höhlungen der Klippen mit Neſtern geradezu überſät waren.
Er barg ſeine Waffen auf einem der Geſteinsblöcke und watete zu den Klippen hinüber, die er zum Schluß ſchwimmend erreichte. Eine ſehr kräftige Waſſerſtrömung zwiſchen den Klippen und dem Ufer hatte ihn ein großes Stück abgetrieben. Halb im Waſſer hängend, taſtete er ſich längs der Felſen gegen den Strom bis an einen Spalt in den Klippen, wo er hinaufſteigen konnte. Das ganze Geſtein war dick von dem Guano der Vögel überzogen. Hartmut taſtete einige Neſter ab und fand bald mehrere, in denen kalte, alſo vorausſichtlich noch ungebrütete Eier lagen. Er nahm ſo viel mit ſich, als er in den Taſchen ſeines Rockes unterbringen konnte, und ſchwamm dann zu ſeinen Waffen zurück. Dort reinigte er ſich ſo gut es ging von dem Unrat der Vögel und verſuchte die Eier. Sie ſchmeckten bis auf eine helle, blau geſprenkelte Art reichlich tranig, ſtillten aber Hartmuts Hunger, ſo daß er bald mit neuen Kräften weiter wandern konnte. Er watete durch das Waſſer zurück und ging nun bis an den eigentlichen Abbruch des Felsufers, das nur wenige Meter das Geröll des Strandes überragte und dicht mit dem Strandgeſtrüpp bewachſen war.
Der letzte Teil ſeines Weges führte über immer größer werdende Felsblöcke, deren ſcharfe Kanten in ſeine Hände einſchnitten, ſo daß er nicht glaubte, weiterkommen zu können. Auf einem der höchſten Blöcke ſtehend, ſah er jedoch, daß unmittelbar vor ihm die eigentlichen Uferfelſen ſich wie eine Mauer ſcharf nach Süden bis zu den Möwenklippen hinzogen und eine Verbindung zwiſchen dem Feſtland und den vermeintlich frei ſtehenden Klippen bildeten. Hartmut erreichte bald dieſe ſchmale Landzunge, und als er oben ſtand, lag vor ihm eine halbkreisförmige Bucht, die von niederen Felswänden gebildet wurde. Unmittelbar vor dieſer Bucht in etwa vierhundert Meter Entfernung erhob ſich frei aus dem Meer eine noch mächtigere Klippe als die zuvor von ihm ausgekundſchaftete. Sie ragte wie ein maſſiger Turm aus dem Waſſer und ihre Gipfelzacken waren ſicher hundert Meter hoch. Nun erkannte Hartmut, daß dies die eigentliche Möwenklippe war, die er bei ſeiner erſten Entdeckungsfahrt auf der Inſel geſichtet hatte. Sie verdiente ihren Namen noch mehr als die weſtliche Klippe, denn unaufhörlich ſpie ſie wie ein Vulkan Wolken von Vögeln aus, die ſie wie in brodelnden Dampf einhüllten.
Hartmut war von dem Schauſpiel der ſchwarzen Klippe im blauen Meer und dem Zauberſpiel der wallenden und wogenden Vogelſcharen in der blauen Luft ſo gefeſſelt, daß er erſt nach einer Weile in die Bucht vor ſich hinunterblickte. Mit dem erſten Blick hatte er auch den Namen der Bucht gefunden – ſie mußte „Triftbucht“ heißen. In ihr drehte ſich ein mächtiger Waſſerwirbel, und ihr Strand war beſät von angeſchwemmten Stücken: Balken, Holz, Schiffsteile, Tonnen, zahlloſe Kokosnüſſe, Pflanzenteile. Und in dem ganzen Tohuwabohu von Strandgut, das zum Teil auf dem Strand lag, zum Teil noch in dem Waſſerwirbel ruhelos im Kreiſe umhertrieb, mitten drin, trieb unverletzt und in der Sonne blinkend – ſein Boot.
Mit einem Schlag war die Welt wieder hell und licht geworden. Hartmut glaubte den Jodler zu hören, den ſein alter Fluglehrer – ein Oberbayer – immer losgelaſſen hatte, wenn er nach einem weiten Überlandflug zum Gleitflug auf das Ziel einſetzte. Und im gleichen Augenblick, wo er daran dachte, hörte er ſich ſelbſt den gleichen Jodler hinausſingen, daß er als Echo von den Felswänden zurückſchallte. Sogar die Möwen drüben auf der Klippe quittierten ihn, und ein tauſendſtimmiger Vogelſchrei ſchrillte nah einer Weile wie ein letztes fernes Echo weit vom Meer herüber.
Mit ein paar Sprüngen war Hartmut unten auf dem Strand, watete in das Waſſer hinein und paßte ab, bis ſein Boot in Griffnähe vorübertrieb. Er zog es an Land, unterſuchte es nach allen Seiten, ohne die geringſte Beſchädigung feſtſtellen zu können. Auch ſeine Eßvorräte hatten nicht gelitten. Er entzündete den Benzinkocher und kochte ſeinen ganzen Eiervorrat ab. In hart gekochtem Zuſtand ſchmeckten die Eier ganz ähnlich wie unſere Kiebitzeier, die als beſondere Delikateſſe geſchätzt werden, und Hartmut hielt auf dieſe Weiſe ein Mahl, das lange vorhielt und ihn zu neuer Tatkraft anregte.
Bevor er weiterfuhr, wollte er Umſchau unter den Schätzen halten, die das Meer als Strandgut hier angeſammelt hatte. Faſt alles, was er zum Hausbau bedurfte, war hier vorhanden. Bretter und Bretterſtücke in jeder Dicke und in jedem Zuſtand der Erhaltung, Balken bis zu den unförmigſten Größen, und ſogar eine ganze Reihe von völlig intakten Fäſſern lag für ihn bereit. Er hätte am liebſten gleich ein Floß aus den beſterhaltenen Stücken zurechtgemacht, um ſie mit ſich in ſeine Bucht zu ſchleppen und die Höhle wohnlich einzurichten. Aber es lag noch ein weiter Weg vor ihm, und bevor er nicht auf der Inſel völlig zu Hauſe war, durfte er nichts unternehmen, was ihn von ſeinen Forſchungsfahrten abhielt.
Hartmut machte ſich auf ſeinem ſo glücklich wiedergefundenen Boot auf die Fahrt, ſteuerte es aus der „Triftbucht“ heraus und fuhr längs des Strandes den weiten Bogen des Ufers entlang der „Transozean-Bucht“ zu.
Der Strand war flach und die Vegetation drang bis hart an das Waſſer vor. In dieſem ſüdlichſten Teil der Inſel war die Brandung ſehr ſchwach. Während Hartmut mit langſamen und weit ausholenden Schlägen ſeines Ruders das Boot weitertrieb, dachte er über das Geſchaute und Erlebte nach. Die Inſel, auf der er nun lebte, lag in einer Meeresſtrömung, die von Nordweſten nach Südoſten zog. An ihrem Nordende brach die durch ſie hervorgerufene Stauung der Strömung durch und bildete in der ſchmalen Fahrrinne zwiſchen der Inſel und dem halb unterſeeiſchen Gebirgszug, der ſich nach Norden fortſetzte, eine Art Stromſchnelle, durch die ſich der weſtliche Staudruck mit dem öſtlichen Sog ausglich.
Die Meeresſtrömung folgte auf der Sogſeite dem bogenförmigen Ufer, um am ſüdlichen Ende mit dem Stauſtrom in Berührung zu kommen, der dort um die Felſenklippen brandete. Beide Ströme bildeten bei ihrer Vereinigung einen mächtigen Sogwirbel, deſſen Zentrum in der „Triftbucht“ lag und von dem alle auf der Oberfläche des Meeres ſchwimmenden Teile angeſaugt wurden. Die „Triftbucht“ wirkte wie ein Magnet, der das Strandgut ſammelte, das der Meeresſtrom in der Breite der Inſel herantrieb.
Nach ermüdender Fahrt im heißen Sonnenbrand erreichte Hartmut die Stelle am Ufer, an der er den erſten Einſtieg in das Inſelinnere erzwungen hatte. Eine weitere Stunde Fahrt brachte ihn in die Bucht des „Transozean“, wo er nach dem Rechten ſchauen wollte.
Nichts hatte ſich verändert. Hartmut unterſuchte die Maſchine, um feſtzuſtellen, welche Teile er abmontieren konnte, um den „Transozean“ in ſeine Wohnbucht einzuſchleppen. Bei dieſen Arbeiten überraſchte ihn die Nacht. Nach den Anſtrengungen des Tages fielen ihm die Augen zu, kaum daß er ſich auf ſeinem Federbett ausgeſtreckt hatte, in das er ſich heute wie in das weichſte Pfühl fallen ließ.
Die neue Heimat – Radio
Die nächſten Tage verwandte Hartmut dazu, um den „Transozean“ zum Transport in die Wohnbucht fertigzumachen. Die Tragdecks ließen ſich an den Motorengondeln abmontieren und wurden von Hartmut mit Hilfe des Flaſchenzuges auf das Mittelteil des Tragdecks aufgelegt und daran feſtgebunden. Den Kompreſſormotor hatte er vorher ebenfalls auf den Rumpf gelagert.
Der Rumpf ſelbſt war hinter den Maſchinenräumen nahe an ſeiner Bruchſtelle teilbar eingerichtet. Hartmut konnte ihn jedoch nicht abmontieren, da er den Stützſchwimmer am Schwanzende zum Transport durch das Waſſer brauchte.
Bevor er den ſo vorbereiteten „Transozean“ nach der Wohnbucht abſchleppte, baute er ſich dort eine regelrechte „Laufkatze“ zu ſeiner Abmontierung. Die ſtarken Stahltroſſen, die zum Vertäuen des „Transozean“ an Bord waren, ſpannte er über der Höhle nach dem ſchmalen Teil der Bucht zwiſchen zwei ſtärkeren Palmbäumen aus. Die ſtarke Rolle, die in der Mitte des Rumpfes des „Transozean“ eingebaut war und zum Anheben des ganzen Flugzeuges am Kran diente, montierte er ab und befeſtigte an der unteren Montageplatte den Flaſchenzug des Ankers. Die Rolle ließ er auf dem Stahlkabel zwiſchen den Palmbäumen an Tauen laufen. Auf dieſe Weiſe konnte er mühelos die einzelnen Teile des „Transozean“ abmontieren und in der Höhle in Sicherheit bringen.
Nachdem er alle dieſe Vorbereitungen getroffen hatte, ſchleppte er mit Hilfe ſeines Bootes in mühſeliger Arbeit den „Transozean“ ab und brachte ihn in den Eingang der „Wohnbucht“. Erſt nach hartnäckigen Bemühungen gelang es ihm, das Flugzeug in der Brandung durch den ſchmalen Eingang hindurchzubugſieren und den Rumpf ſo feſtzulegen, daß er an die Demontage gehen konnte.
Die erſte Arbeit, die er in ſeinem neuen Heim vornahm, war die Herſtellung einer Strickleiter, die er zwiſchen dem Eingang der Höhle und einem Steinblock auf dem Strand ausſpannte. Dann begann er, alle Inſtrumente, Werkzeuge und die geſamte Inneneinrichtung des „Transozean“ auszubauen und in die Höhle hinaufzuſchaffen.
Die ſchwerſte Arbeit hatte er mit den Akkumulatorenbatterien für die Radioſtation. Er verzichtete darauf, den ſchweren Kaſten voll Säure in die Höhle ſelbſt zu ſchaffen, und barg ihn deshalb in einer Aushöhlung der Felſen in Mannshöhe über dem Waſſerſpiegel, von wo aus er ſpäter die Leitungen leicht zur Höhle ziehen konnte. Der Eingang zu dieſer Höhle ließ ſich durch einige Bretter der „Triftbucht“ wetter- und waſſerdicht verſchließen.
Die Arbeit nahm ihn ſo vollſtändig in Anſpruch, daß er ohne jede Überlegung mit ſeinen Nahrungsmitteln hauſte. Erſt als er bemerkte, daß ſeine Vorräte endgültig zur Neige gingen, wurde ihm das Unſinnige ſeines Tuns klar. Vor allem anderen mußte er jetzt ſein Leben ſo einteilen, daß ein beſtimmter Teil ſeiner Zeit für die Herbeiſchaffung von Nahrungsmitteln frei blieb.
Eine Fahrt zu den Möwenklippen verſorgte ihn auf Tage hinaus mit friſchen Eiern, die Kokosbäume warfen bei jedem ſtärkeren Windſtoß ihre Früchte vor ſeine Füße – er brauchte ſie nur aufzuheben. Ein kurzer Ausflug in den Wald oberhalb der Wohnbucht brachte ihm einen ganzen Vorrat der lange haltbaren Früchte ein. Mit den Bananen ging es ihm wie dem Fuchs mit den ſauren Trauben. Er wollte ſeine ſparſam bemeſſene Munition nicht verſchwenden, um die Früchte herabzuſchießen. Aber auf die Früchte zu verzichten – das konnte er ſich nicht leiſten; jedes Nahrungsmittel, das er auf dieſer Inſel fand, half ihm, ſeine Lage weſentlich zu erleichtern.
Da fielen ihm die Steigeiſen ein, mit denen die Telegraphenarbeiter in der Heimat die glatten Stangen emporkletterten. Aus Teilen des Flugzeuges machte er ſich eine ähnliche Vorrichtung zurecht, die nicht nur ebenſo brauchbar war wie die in der Heimat, ſondern auch den großen Vorteil hatte, daß ſie aus Leichtmetall hergeſtellt war und nur geringes Gewicht beſaß. Hartmut lernte es bald, auf die höchſten Bäume mit derſelben Selbſtverſtändlichkeit hinaufzuklettern, wie er etwa einen ſteilen Hang hinaufgehen konnte.
Seine Exkurſionen in das Wäldchen mußten ſich auf einen ſehr kleinen Umkreis beſchränken, da die dichte Vegetation des Innern ein Vordringen ohne Axt unmöglich machte. Vom Gipfel eines hohen Palmbaumes aus hatte Hartmut ziemlich weiten Ausblick über den Wald in das Innere der Inſel hinein und konnte die Richtung feſtſtellen, in der der ſteppenartige kahle Teil am weiteſten in den Wald hineinragte. Zwei Stunden täglich bahnte nun Hartmut mit der Axt einen breiten Pfad durch den Wald und nahm ſich ſogar die Mühe, die Lianenranken ſo zu ſpannen, daß ſie die wild wuchernden Pflanzen rechts und links vom Wege zurückhielten.
Nach faſt zehn Tagen war er durch. Das Strauchwerk bildete eine weite Lichtung, deren ganzer Untergrund mit dichten, moosartigen Gewächſen bedeckt war, aus denen zahlloſe, giftig-blaurote Beeren hervorſchauten. Das Moos lag unmittelbar über der Geſteinsſchicht in einer flachen Mulde der geſchloſſenen Felſendecke, die von Waſſer erfüllt war, ſo daß ſie ein Mittelding von flachem Teich und Sumpf gebildet hatte. Dieſes Reſervoir ſchien die Quelle zu ſpeiſen, die über die Felſen der Wohnbucht ſtürzte.
Der Weg nach dem Innern der Inſel war nun frei und Hartmut beſchloß, eine Expedition zu unternehmen kreuz und quer und durch die Mitte des Inſelinnern und jeden Winkel auszukundſchaften. Ganz in der Frühe des nächſten Morgens, noch bei Dunkelheit, zog er los. Mit Sonnenaufgang erreichte er die Sumpflichtung. Er war wie ein Jäger geräuſchlos pirſchend vorangeſchritten, und bevor er auf die Lichtung trat, ſuchte er ſie mit ſeinem Glas ab. Etwa zweihundert Meter vor ihm ſtand eine Herde von acht bis zehn Tieren. Im Glas erkannte Hartmut, daß es eine Art kleiner Schweine war von grauſchwarzer Färbung mit außerordentlich großen und gebogenen Eckzähnen oder Gewehren, wie der deutſche Waidmann ſagt.
Im Schutz des Geſtrüpps und der faſt mannshohen Gräſer, die den Rand des Sumpfbeckens einfaßten, ſchlich er ſich näher und beobachtete die Tiere lange Zeit. Sie fraßen mit großem Appetit die Beeren, die in dem Sumpfe wuchſen, und zogen langſam in das Dickicht hinein; durch eine Lücke des Geäſtes konnte ſie Hartmut in nächſter Nähe beobachten, und er ſah, wie ſie mit ihrem Rüſſel die Erde aufwühlten und mit den Zähnen lange, ſaftige Wurzeln ausriſſen, die ſie mit ſchmatzendem Behagen verſpeiſten.
Allmählich verlor ſich die Herde im Dickicht, und Hartmut ſchritt zu der Stelle, wo ſie den Boden aufgewühlt hatten. Er grub eine der Wurzeln mit der Hand aus und verſuchte ſie. Sie ſchmeckte ähnlich wie unſere heimiſche gelbe Rübe, war nur viel ſüßer und viel ſaftiger. Hartmut kam gar nicht auf die Idee, daß die Wurzel giftig ſein könnte. Erſt als er ein großes Stück davon verſpeiſt hatte, fiel es ihm heiß ein, daß es doch beſſer wäre, die Wirkung dieſer Speiſe abzuwarten, bevor er ſeinem Verlangen, mehr davon zu eſſen, nachgab.
Er ging zurück an den Saum der Lichtung und watete durch den mooſigen Sumpf der Randkuppe des Kraterberges zu.
Am weſtlichen Ende des immer niedriger werdenden, dſchungelartigen Dickichts war unvermittelt ein kleines Waldſtück, das dicht mit kräftigen und hohen Kokospalmen bewachſen war. Hartmut bahnte ſich einen Weg zu den Bäumen und fand, daß das Unterholz durch die Wühlarbeit ſeiner vierfüßigen Mitbewohner auf dieſer Inſel regelrecht ausgerodet war. Eine dicke Schicht von feuchtem, aber in keiner Weiſe moraſtigem Humus lag über einer Geröllſchicht, die an verſchiedenen Stellen von den Schweinen freigelegt war.
Hartmut fand keine Erklärung, warum die Tiere hier mit beſonderem Eifer gewühlt hatten. Es schoß ihm aber ſofort der Gedanke durch den Kopf, daß er hier eine Stelle gefunden hatte, auf der er in einem ſeine Bedürfniſſe weit überſteigendem Umfang Ackerbau treiben konnte.
In der eiſernen Ration, den letzten Reſten ſeines Vorrats an Nahrungsmitteln, waren noch genügend große Mengen von heimiſchen Hülſenfrüchten, insbeſondere von Erbſen, Bohnen und Linſen, die als Saatgut dienen konnten. Ob ſie allerdings in dieſem Klima gedeihen würden, war eine offene Frage. Der Verſuch mußte jedenfalls gemacht werden. Zu dieſem Zwecke mußte Hartmut vor allem die wilden Schweine von der Saat abhalten, er mußte alſo einen regelrechten Pflanzgarten anlegen mit einem Zaun darum, der auch ſtarken Angriffen der emſigen Wühler ſtandhalten konnte.
Doch all das waren Zukunftspläne. Noch hatte Hartmut in keiner Weiſe die natürlichen Nahrungsquellen kennengelernt, die die Inſel ihm bot. Vielleicht gab ihm die über alle Maßen üppige, natürliche Vegetation einen Überſchuß an Nahrungsmitteln, ohne daß er eine Hand zu regen brauchte. Bis auf wenige Ausnahmen wußte er gar nichts von der Flora und Fauna, die hier beheimatet war. Pflanzen, die er vielleicht heute noch wie Feinde behandelte und beim Wegebahnen mit ſeiner Axt niedermähte, waren vielleicht morgen ſeine Freunde geworden und wurden von ihm in ihrem Wachstum unterſtützt, weil ihre Früchte, Stengel oder Wurzeln ſeine Küche freigebig verſorgten. Beeren, die er jetzt noch für giftig hielt, galten ihm vielleicht ſpäter als Leckerbiſſen. Überall rings um ihn lag Neuland, das er im rechten Sinne erwerben mußte, um es zu beſitzen.
Während er dieſen Gedanken nachging, war Hartmut weiter vorangeſchritten und erreichte nach einem Marſch im glühenden Sonnenbrand den Rand des Kraters. Entenartige Vögel ſtrichen mit plärrenden Rufen aus dem Waſſertümpel, der das Innere der Krateröffnung füllte, und ehe Hartmut recht wußte, was geſchehen war, hatte er ſein Gewehr hochgeriſſen, geſchoſſen, und einer der Vögel war zur Erde gefallen. Hartmut ſtand vor einem wahren Wunder von Farbenpracht des Gefieders. Der breite, ſtahlblau, gelb und rot getönte Schnabel des Vogels kennzeichnete ihn tatſächlich als zur Familie der Enten gehörig. Er wog das Tier in den Händen und fand, daß es feiſt und wohlgenährt war und einen ſchmackhaften Braten abzugeben verſprach.
Nun hielt Hartmut Umſchau mit ſeinem Glas. Der Horizont des Meeres war leer wie beim erſten Male, als er hier oben geſtanden hatte. Es wollte Hartmut ſcheinen, als hätte von Anbeginn der Welt bis heute dieſe Unendlichkeit von Luft und Waſſer noch nie ein Schiff durchfahren, und als könne niemals ein von Menſchen gelenktes Fahrzeug in der Ungewißheit der blauen Ferne vor ihm auftauchen.
Glühender Sonnenbrand vertrieb ihn von ſeinem Plaz. Er ſuchte den Schatten des weſtlichen Vegetationsrandes auf und ging kreuz und quer durch das Gelände, immer in der Richtung des nördlichen Inſelendes. Mehrere Male unternahm er den Verſuch, das Geſtrüpp zu durchdringen, um an den Strand zu gelangen, ohne Erfolg. Erſt am nördlichſten Ende der ins Meer abfallenden Steppe fand er einen Pfad, den die Wildſchweine getreten hatten. Er mußte ſich ſchon ziemlich dem Strand genähert haben, – das Rauſchen der Brandung ſchwoll immer ſtärker an, – als er an eine Stelle des Waldes kam, an der große Geſteinsblöcke völlig von der Vegetation eingeſponnen waren. Als er einen der Blöcke überkletterte, wurde unmittelbar unter ihm eine ganze Herde der Wildſchweine flüchtig, die dort in einem kleinen Waſſertümpel geſuhlt hatte.
Von ſeinem hohen Sitz aus ſah er vor ſich das Meer durch die Bäume ſchimmern. Er bahnte ſich einen Weg durch den ſchmalen Streifen des Dickichts, der ihn noch vom Strande trennte, und ſtand nun unmittelbar vor dem engen Durchlaß zwiſchen der unterſeeiſchen Klippe im Norden der Inſel und dem Feſtland.
Gurgelnd ſchoß der Ausgleichſtrom zwiſchen den glatt geſchliffenen Wänden des Abbruches hin. Trotz der Klarheit des Waſſers konnte Hartmut keinen Grund ſehen. Der Durchlaß ſchien von einem Spalt zwiſchen den Felsmaſſen der Inſel und dem unterſeeiſchen Höhenzug herzurühren. Vielleicht war der unterſeeiſche Felsrücken im Norden der Inſel im Unterſinken begriffen und hatte ſich durch dieſen Riß von dem noch feſtſtehenden Teil der Inſel gelöſt. Der vulkaniſche Urſprung der Inſel ſtand ohne Zweifel feſt. Dann war die Annahme berechtigt, daß die Erdbewegung, die die Inſel aus dem Meer herausgehoben hatte, noch lange nicht beendet, war und ſie ebenſo raſch, wie ſie aus den Fluten aufgetaucht war, wieder in ihnen verſinken konnte.
Nach der ſehr genauen Ortsbeſtimmung, die Hartmut in einer der Nächte vorgenommen hatte, lag die Inſel auf 238 Grad 24 Minuten öſtlicher Länge von Greenwich und 6 Grad 11 Minuten ſüdlicher Breite. Die Karte, die Hartmut an Bord des „Transozean“ mit ſich führte, zeigte an dieſer Stelle eine Meerestiefe von vierhundert Meter, während die benachbarten Teile des Meeres ganz weſentlich größere Tiefen zeigten. Von 1914 an waren größere Forſchungsreiſen in der Südſee nicht unternommen worden. Die Meſſungen mit dem Echolot erſtreckten ſich auf das Gebiet des Nördlichen Wendekreiſes bis nahe zum Äquator. Die Fahrten dieſer internationalen Expedition waren noch im Gange – vielleicht wurde auf dieſe Weiſe die unbekannte Inſel, auf der Hartmut lebte, entdeckt.
Den Rückmarſch beſchloß Hartmut, wenn irgend möglich, längs der Felſenküſte auszuführen. Er kundſchaftete auch wirklich einen Weg aus, bei dem es nur geringer Arbeit mit der Axt bedurfte, um eine direkte Verbindung von der Wohnbucht nah dem Ausgleichſtrom zu ſchaffen.
Während der nächſten Wochen wiederholte Hartmut ſeine Wanderungen kreuz und quer durch das Inſelinnere, bis er jeden Winkel kennengelernt hatte. Überall hatte er Markierungen angebracht, die ihm das Aufſuchen gewiſſer Ziele erleichtern mußten.
Außer den wilden Schweinen fanden ſich größere Säugetiere auf der Inſel nicht vor. Nur eine Rattenart hatte Hartmut an gewiſſen Plätzen beobachtet, ſowie zwei verſchiedene Arten von Fledermäuſen, die abends und in der Nacht unermüdlich über die Inſel huſchten und von weit her herangeflogen kamen, wenn Hartmut ein Licht anzündete.
Außer den zahlloſen Möwen an den Klippen am Südkap und zwei verſchiedenen Papageienarten gab es noch eine kleine Anzahl von droſſelähnlichen Vögeln, deren an und für ſich melodiſcher Geſang jedoch nur in einer einzigen, wehmütigen Strophe beſtand.
Durch ſeine Erkundungswanderungen glaubte Hartmut alle Möglichkeiten kennengelernt zu haben, die die Inſel ihm bot, und dieſe Möglichkeiten erſchienen Hartmut ebenſo klein und eng beieinanderliegend, wie die Inſel ſelbſt war. Er konnte auf ihr vegetieren, mehr nicht. Sie barg keine Gefahren für ſein Leben, das Klima erſchien durchaus erträglich trotz der Nähe des Äquators. Hunger und Durſt brauchte er nicht zu fürchten.
Hartmut konnte alſo völlig in Ruhe warten, bis irgend ein Schiff durch einen Zufall die Inſel fand und ihn zurückführte, ihn aus einem Stadium des Vegetierens ins Leben zurückführte.
Die Einſamkeit, die ihn umgab, ſchreckte ihn nicht. Er hatte von Jugend auf gelernt, einſam zu ſein, und oft die größte Befriedigung darin gefunden, allein und mit ſich ſelbſt fertig zu werden. Was er bisher kennengelernt hatte, war freiwillige Einſamkeit geweſen, aus der er heraus konnte, wann er wollte und wann er es brauchte. Aber ſeine jetzige Einſamkeit – auf ihr lag der ſchwere Druck des Abwartens, des Wartens auf fremde Hilfe, ohne daß es eine Möglichkeit gab, aus eigener Kraft dieſe Hilfe aufzuſuchen oder ſich ſelbſt zu befreien.
Hartmut litt ſchwer unter dieſen Gedanken. Sein Tagewerk hatte er nach einem ganz beſtimmten Stundenplan geregelt. Aber immer mehr wurde es nur noch verbiſſene Verdroſſenheit, mit der er ſein Penſum erledigte.
Das wilde Durcheinander in der Höhle war Hartmut ſo unleidlich, daß er ſich oft vor dem Schlafengehen fürchtete und ſtundenlang in der Nacht auf den Felſen am Eingang zur Wohnbucht ſaß und ſeinen Gedanken nachhing. So kam es, daß ihn das Heimweh erfaßte und in ſein Inneres eine Wunde riß, deren Schmerz ſein ganzes Fühlen und Denken beherrſchte und für die es kein Heilmittel zu geben ſchien als die Heimkehr.
Nur ſelten gelang es ihm, ſich von dieſen Stimmungen loszureißen. Dann packte ihn ein blindwütiger Schaffensdrang, der ſeine Körperkräfte verdoppelte und alle Widerſtände, die ſich ihm entgegenſtellten, mit einem ſie gewiſſermaßen überliſtenden Scharfſinn überwand.
Ans der „Triftbucht“ hatte er ein ganzes Floß von Balken und Brettern mit ſeinem Boot herbeigeſchafft. Aus den Stahlbändern, die die Betriebsſtofftanks des „Transozean“ feſthielten, hatte er eine Säge hergeſtellt, mit der er das Holz zuſchnitt und ſeine Wohnbucht mit Regalen für die Vorräte, einem Fußboden und einem geräumigen Tiſch verſah. Werkzeug war in großer Menge vorhanden, und da Hartmut bei ſeinem Lehrgang auch in der Modelltiſchlerei gearbeitet hatte, ging dieſe Arbeit nicht nur raſch vonſtatten, ſondern lieferte ihm Gegenſtände, die in Ausführung und Brauchbarkeit ſich überall ſehen laſſen konnten. Aber Hartmut empfand keine Freude über dieſe Erfolge ſeiner Arbeit.
Als er eines Tages die Akkumulatorenbatterien, die in einer kleinen Höhle unterhalb der Wohnhöhle untergebracht waren, durch einen Deckel vor dem Höhleneingang ſchützte, unterſuchte er die Akkumulatoren näher und ſtellte mit dem Voltmeſſer feſt, daß ſich die Batterien in der Ruhezeit ſchwach regeneriert hatten.
Von dieſem Augenblick an war Hartmut wie umgewandelt. Er vergaß ſeinen Stundenplan, er vergaß Eſſen und Trinken und Schlafen – unermüdlich arbeitete er daran, die Radioanlage betriebsfertig zu machen. Ohne Bedenken wütete er in ſeinen Vorräten und verbrauchte den Leitungsdraht bis zum letzten Endchen. Zwiſchen den höchſten Palmbäumen auf dem ſteilen Ufer vor der Bucht ſpannte er in mühevollſter Arbeit eine Hochantenne von faſt zweihundert Meter Länge.
Die Empfangsanlage arbeitete beim erſten Verſuch einwandfrei. Sofort legte Hartmut dieſen Teil der Anlage ſtill, um den ſchwachen Reſt von elektriſcher Energie, der ihm in den Akkumulatoren noch zur Verfügung ſtand, aufzuſparen. Wenn es ihm nur gelang, einmal das SOS-Zeichen, ſeinen Namen und den Inſelort hinauszufunken, irgend eine Station würde ihn hören, und dann war er gerettet.
Miit dem letzten Vorrat von Taſchenbatterien unterſuchte Hartmut die nun zuſammengeſtellte Senderanlage. Immer von neuem prüfte er die Anſchlüſſe, kontrollierte an Hand des Schaltſchemas, und erſt als allerletzte Arbeit ſollten die Akkumulatoren an dem kleinen Umformeraggregat, das den Strom für die Senderanlage lieferte, angeſchloſſen werden.
Die Arbeiten nahmen viele Tage in Anſpruch, in denen Hartmut hungerte, ohne ein Schwächegefühl zu empfinden. Immer häufiger aber begannen vor ſeinen Augen blaue Kreiſe zu tanzen, und er mußte ſeine Arbeit unterbrechen, um auszuruhen. Endlich war es ſo weit, daß er den großen Verſuch unternehmen konnte. Er beſchloß, ſeinen Ruf zum erſten Male um Mitternacht hinauszuſchicken und dann, falls die Akkumulatoren noch Strom hergaben, am folgenden Morgen und am Spätnachmittag.
Hartmut ging ſehr frühzeitig ſchlafen, um bei Nacht friſch zu ſein. Seinen Wecker ſtellte er auf zwölf Uhr. Bevor er ſich niederlegte, hielt er noch einmal Umſchau vom Steilrand des Ufers aus. Die Luft war unwahrſcheinlich klar. Zum erſten Male, ſeit er in dieſen Gegenden weilte, ſah Hartmut die Trennungslinie zwiſchen Himmel und Waſſer fern am Horizont ſcharf vor ſich ſtehen. Die Sonne brannte barbariſch trotz ihres abendlich tiefen Standes. Aber keine Wolke war am Himmel zu ſehen, die auf kommenden Regen oder Gewitter hätte ſchließen laſſen.
Hartmut ging zurück zur Höhle, ſchaltete die Antenne an die Senderanlage an und verband die Pole des Akkumulators mit dem Anlaßſchalter, ſo daß er in der Nacht mit einem Griff die Anlage ſendebereit hatte. Dann legte er ſich nieder und fiel erſchöpft in Schlummer.
Was ihn aufweckte, wußte er nicht zu ſagen: in das Raſſeln ſeines Weckers miſchte ſich das wilde Brauſen der Brandung, das Pfeifen des Sturmes. Gleichzeitig zuckte es im fahlen Lichte auf, mehrere Male nacheinander, und der Donner brüllte alle anderen Geräuſche nieder.
Hartmut wollte aufſpringen, aber ſeine Glieder waren ſchwer wie Blei. Er kämpfte mit aller Energie gegen ſeinen verſagenden Körper an. Nur ein Wille war in ihm: aufſpringen und das Verbindungskabel der Antenne von ſeinem Kontakt losreißen.
Die Leitung von den Akkumulatoren zu dem Anlaßſchalter war in Griffweite von ſeinem Lager an der Wand befeſtigt. Auf ſie fiel ſein Blick, als ſich ſeine Starrheit löſte. Mit einem Ruck hatte er die beiden Drähte durchgeriſſen und ſaß aufrecht auf ſeinem Bett. Im Augenblick, in dem er ſich auf die Senderanlage ſtürzen und den im fahlen Lichte der Blitze immer wieder deutlich ſichtbar werdenden Verbindungsdraht mit der Antenne mit einem Sprunge abreißen wollte, in dieſem Augenblick erfüllte den ganzen Raum eine einzige, ſprühende und kniſternde Lichtgarbe. Der Luftdruck des Blitzes warf Hartmut mit ſolcher Gewalt an die Wand der Höhle und auf ſein Lager, daß ihm die Sinne ſchwanden.
Während er das Bewußtſein verlor, ſah er eine Rauchwolke aus der Senderanlage hervorquellen, und das Praſſeln des Donners verlor ſich in das Nichts und die Dunkelheit der Bewußtloſigkeit.
Natur und Technik
Graue Dämmerung, in der ſchemenhaft tiefgraue Schatten ſchweben und fallen, ſteigen und ſinken und ſich in Nichts auflöſen. Tiefe Stille in der grauen Dämmerung, die lichter und lichter wird, je dünner das Spiel der Schatten vorüberweht.
Nun beginnt die Dämmerung zu tönen – graue Töne, die durch den Raum rieſeln und rauſchen. Immer heller wird das graue Licht, immer lauter das einförmig graue Rieſeln und Brauſen.
Hartmut ſchlägt die Augen auf, unendlich langſam und ſchwer. Es iſt kein Erwachen – es iſt ein Hinüberdämmern aus der Nacht des grauen Traums in den grauen Tag. Alles iſt undeutlich, nichts nimmt Geſtalt an außer dem Rauſchen draußen, das die Höhle erfüllt, und doch ſo weit her zu kommen ſcheint wie das Tönen einer Muſchel vor dem Ohr.
Ein Beben geht durch Hartmuts regungsloſen Körper – Froſt ſchüttelt ihn.
Die Luft iſt ſchwül und träg, von Feuchtigkeit geſättigt. Schweißperlen ſtehen auf Hartmuts Stirn, ſein Blick irrt unſtet umher. Wie fernes Wetterleuchten blitzen Gedanken in dem vom ſchmerzenden Druck der Leere gepreßten Hirn auf. Meeresbrandung und rauſchender Regenfall. Rieſelnde Tropfen, Waſſerbäche, die ſich herabſchütten und gurgelnd in die Tiefe verrinnen.
Müde Erinnerungsbilder taumeln vorüber, greifbar ſteht vor ihm ein vom Tau der Kühle überzogenes Glas, ſäuerlicher Duft von Obſtwein und Früchten und eine unendliche Begierde, die trockenen Lippen in das kühle Naß zu tauchen. Und dann wieder graue Nacht, dämmerndes Erwachen, Gaukelſpiel der Wunſchbilder, lange Stunden, lange Tage und endloſe Nächte hindurch.
Wilde Gier ſteigert ſich bis zur Qual, die die Panzer der Bewußtloſigkeit durchbricht und die Gelenke vom Druck der Bewegungsloſigkeit befreit.
Hartmut iſt erwacht. In der fiebernden Klarheit ſeines Denkens weiß er, daß er hilflos und einſam von ſchwerer Krankheit und wildem Fieber gepackt und geſchüttelt wird. Lippen und Gaumen ſind trocken und liegen wie rauhe Steine bewegungslos. Der Griff nach der Schale mit dem Waſſer auf dem Stuhl neben dem Lager iſt ſchwer wie ein Kampf auf Leben und Tod. Die laue Flüſſigkeit ſtrömt über ſein Geſicht, füllt die Höhle ſeines Mundes, ohne daß Hartmut zu ſchlucken vermag. In Tropfen ſickert das Naß ihm durch die Kehle und das Brennen des Durſtes wird ſchwächer.
Hartmut dreht den Kopf auf dem Kiſſen zur Seite. Sein Blick irrt durch die Höhle und bleibt an dem Regal auf dem kleinen Kaſten hängen, der die Arzneien enthält. Dort iſt das weiße bittere Salz, das ihn retten kann – Chinin.
Weiter als der Weg über den Ozean iſt der Weg dort hinüber. Hartmut rutſcht von ſeinem Lager, fällt zu Boden und kriecht hinüber. Er vermag die Hand nicht zu heben und ruht lange. Dann, von jähem Aufflammen des Willens getrieben, ein Griff nach dem Kaſten. Er fällt auf ſeine Bruſt und rollt zu Boden. Hartmut öffnet den Deckel, faßt mit bebenden Händen die Flaſche. Er vermag den Verſchluß nicht zu öffnen. Die Flaſche entfällt ſeinen kraftloſen Fingern und zerſchellt am Boden. Hartmut ſchiebt ſeinen Mund an die Stelle, wo das weiße Salz zerſtreut iſt. Gierig ſaugt er das bittere Chinin in ſeinen Mund.
Dann ſinkt er zurück, fällt in tiefen Schlaf.
Er erwacht. Sein Denken iſt lahm, fern ſpürt er neue Kräfte in ſeinem Körper. Wieder taucht er den Mund in das bittere Salz, kriecht zu ſeinem Lager und ſpült es von ſeinen trockenen Lippen mit dem Reſt des Waſſers aus der Schale. Dann liegt er lange wach, bis wiederum tiefe Mattigkeit ihn mit Schlaf umfängt.
Als er wieder erwachte, ſpürte er Hunger und wußte, daß er geneſen war. Dieſe Erkenntnis machte das Unmögliche möglich: Hartmut erhob ſich, füllte die Schale mit dem in Strömen über den Höhleneingang herunterrieſelnden Regenwaſſer und trank ſie mehrmals leer. Dann öffnete er die Blechkiſte mit ſeiner eiſernen Ration, rührte aus Zucker, Haferflocken und Waſſer einen Brei, den er eine Weile kalt quellen ließ und wovon er einen Teil aß.
Nach drei Tagen und drei langen Nächten, die er meiſtens ſchlaflos verbrachte, war ſein Vorrat an Haferflocken aufgebraucht. Noch immer fühlte er ſich völlig zerſchlagen an Geiſt und Körper, aber er mußte eſſen. Er fand einen letzten Reſt von Schokolade und eine kleine Flaſche voll Kaffee-Extrakt. Er aß und trank und fühlte ſich ſo geſtärkt und von der Wirkung des Kaffees aufgepeitſcht, daß er die Strickleiter hinabſteigen und eine Kokosnuß aus dem Waſſer, in dem ſie trieb, herausfiſchen, zerſchlagen und eſſen konnte. Noch am gleichen Tag gelang es ihm, auf der Strickleiter bis in den Wald über der Höhle zu gelangen. Der Sturm hatte Kokosnüſſe und Bananen auf die Erde geſtreut, ſo daß die ſchwerſte Sorge von Hartmut genommen war.
Hartmut genas nun raſcher, als er nach der Schwere ſeiner Krankheit erwarten konnte. Eine Fahrt nach den Möwenklippen brachte die bei ſeinem Zuſtand notwendige Abwechſlung in ſeiner Ernährung, und ohne daß er es recht merkte, war er wiederum völlig in den engen Kreis ſeines Inſellebens zurückgekehrt.
Wie lange hatte er wohl in der Bewußtloſigkeit des Fiebers gelegen? Sicher viele Tage, denn das Dreißig-Tage-Werk des Chronometers, das er etwa zehn Tage vor ſeiner Krankheit aufgezogen hatte, war faſt völlig abgelaufen.
Die Regenzeit hatte auf der Inſel eingeſetzt. Ununterbrochen ſtrömten die Waſſermaſſen vom Himmel, und jeder Schritt ins Freie war gleichbedeutend mit einem Bad.
Wie lange war er nun auf der Inſel? Wochen lagen hinter ihm, die ihm Jahre ſchienen. Warum darüber nachdenken? Was galt ihm Zeit? In der Welt draußen, dort regierte der Tag, die Stunde, vielleicht die Minute. Dort ſchnitt ſich die Zeit mit dem ſcharfen Meſſer des Verſtandes und der Zweckmäßigkeit in den Ablauf des Lebens ſchmerzhaft und oft tötend ein.
Hier in ſeiner Einſamkeit regierten die Jahreszeiten. Sie kamen und gingen, brachten ihren Segen und ihren Fluch und reihten ſich zu Jahren aneinander wie ein Spiel. Was ging es ihn an, wie lange er dieſem Spiel zuſchauen mußte in abgeſchloſſener Weltenferne? Die Vergangenheit bedeutete ihm nichts, und die Zukunft lag ohne Wünſche und Hoffnungen vor ihm, ſolange er hier gefangen ſaß. Wie lange er gefangen ſaß, das zu erfahren lohnte ſich erſt, wenn ihm die Rückkehr gelingen ſollte, wenn das vor ihm liegende Leben äußeren Zweck und Inhalt hatte und zur Frage berechtigte, wie lange es noch dauern könne. Und ſelbſt dieſe Frage blieb ohne Antwort, wie ſehr man ſich auch bemühte, dieſes Leben dort draußen in Zeitabſchnitte einzuteilen.
Was war Sinn – was war der Zweck des Lebens?
Die erſte größere Arbeit, die Hartmut vornahm, war das Wegräumen der Radioanlage. Ohne ſich um ihren Zuſtand zu kümmern, verſtaute Hartmut alle ihre Teile in das hinterſte Fach ſeines Regales. Gleichzeitig begann er mit zäher Ausdauer an der vollſtändigen Fertigſtellung der Einrichtung ſeiner Wohnbucht zu arbeiten. Er teilte den Raum durch eine Bretterwand in zwei Teile, den vorderen als Wohnraum mit Küche und den hinteren als Vorratsraum.
Einen Teil des Waldes über der Höhle legte er nieder und flocht aus zähen Lianenranken und Palmblättern ein Dach zwiſchen die Kokospalmen, unter dem er ſeine Werkſtatt einrichtete. Tage hindurch tönte der Lärm der Arbeit durch den ſtillen Wald und hallte in der Bucht wider: Hartmut ſägte, hämmerte und klopfte, daß es eine Freude geweſen wäre, ihm zuzuſchauen. Seine Arbeit nahm ihn nicht nur gefangen – ſie befriedigte ihn auch. In regelmäßigen Abſtänden unterbrach er ſie zu neuen Erkundungsfahrten auf und um die Inſel, zum Sammeln von Früchten und Eiern und zum Fiſchfang. Im Fiſchen war er Meiſter geworden; er hatte die ſchmackhafteſten Arten kennengelernt und wußte genau, auf welchen Köder ſie biſſen.
Aber trotdem ſein Tiſch reich beſtellt war, begann ſich ſein ſchwäbiſcher Magen gegen die Eintönigkeit der tropiſchen Nahrung aufzulehnen. Hartmut wollte den Verſuch mit der Kultivierung der heimiſchen Hülſenfrüchte unter allen Umſtänden unternehmen und ging ſofort an die Arbeit. An jener Stelle, wo die Wildſchweine das Unterholz der Kokospalmen ausgerodet hatten, legte er in einem Geviert von etwa zwanzig Meter Seitenlänge die Palmbäume nieder. Das Dickicht lieferte ihm Pfähle eines ſehr harten Holzes, die er zuſpitzte und in den Kiesgrund des Bodens mit einem mächtigen Steinhammer, den er ſich kunſtvoll hergeſtellt hatte, hineintrieb. Zwiſchen die Pfähle ſpannte er Lianenranken, in die er Aſtwerke einflocht, ſo daß nach einigen Tagen ein feſter, widerſtandsfähiger und dichter Zaun um ſeinen zukünftigen Pflanzgarten gelegt war.
Aus Knotenblechen des „Transozean“ hämmerte und bog er ſich einen Spaten zurecht, den er an einem Leichtmetallrohr befeſtigte, und begann nun das Erdreich im Pflanzgarten umzugraben und mit von außen herbeigeſchaffter Humuserde aufzufüllen. Eine Fahrt nach den Möwenklippen lieferte Guano als willkommene Düngung. Seine Abendſtunden füllte er mit der Herſtellung eines Rechens aus Holz aus, mit dem er ſchließlich den Pflanzgarten jätete, von Wurzeln befreite und in Beete einteilte.
Die Regenzeit hatte inzwiſchen aufgehört, ſo daß er mit der Ausſaat der Reſtbeſtände von Linſen, Bohnen und Erbſen ſeiner eiſernen Ration beginnen konnte. Die Linſen ſäte er an dem ſonnigſten Teil, die Bohnen an eine ſchattigere Stelle und die Erbſen ganz in den Schatten einer Zaunecke und der Palmbäume.
Raſch begann die Saat zu treiben, und wie zu Hauſe in ſeiner ſchwäbiſchen Heimat ſteckte Hartmut in das Erdreich zwiſchen den Erbſen dürre Äſte und zwiſchen den Bohnen Stangen, an denen ſich die Pflanzen hinaufranken konnten. Sein Verſuch gelang. Die Bohnen und Linſen gediehen prächtig, nur die Erbſen degenerierten raſch. Sie brachten Früchte, die jedoch in jeder neuen Ausſaat kleiner wurden und nur im grünen Zuſtande genießbar waren, da ſowohl die Schoten wie die Erbſen ſelbſt ſehr raſch verholzten.
Die Cereiſenſteine in ſeinen Feuerzeugen waren eines Tages aufgebraucht. Ohne ſich zu beſinnen, baute Hartmut einen der Zündmagnete des „Transozean“ aus, montierte ihn auf ein Brett, verſah ihn mit einer Holzkurbel und verband ſeine Pole mit einer Zündkerze, die er auf einem kleinen Holzſockel ſo anbrachte, daß ihre Funkenſtrecke vor dem Docht einer Benzinlampe lag, die er aus einer Ölkanne hergeſtellt hatte. Eine Drehung der Kurbel genügte, um Funken in der Kerze zu erzeugen, die das Benzin des Dochtes entflammten. Da ſeine Benzinvorräte mehrere tauſend Liter betrugen, war er wohl für die Dauer ſeines Lebens bei dieſem ſparſamen Verbrauch mit Feuer verſorgt.
Als er bei der Demontage des Zündmagnetes in dem Rumpf des „Transozean“ herumgekrochen war, fiel ihm der Zweig des Kaffeeſtrauches in die Hände, der ihm ſeinerzeit in Pernambuco als Gruß Braſiliens von den Herren der deutſchen Kolonie überreicht worden war. Eine der Fruchtkapſeln war voll von reifen Früchten, die er an ſich nahm und in ſeinem Pflanzgarten zur Ausſaat brachte. Die ausſchlagenden Pflanzen wuchſen üppig, und für die ganzen nächſten Jahre würde Hartmut wohl immer mit friſchem Kaffee verſorgt ſein, der ſein liebſtes Genußmittel war.
Seine Vorräte an Kochſalz waren natürlich ſchon lange verbraucht. Er hatte ſich auf primitive Weiſe mit Salz verſorgt, indem er Meerwaſſer in eine flache Mulde der Felswand der Bucht einfüllte und verdunſten ließ. Wenn das Kochſalz ſich auszukriſtalliſieren begann, ſchöpfte er die Lauge ab und kratzte das Salz von den Felſen. Mühſam hatte er ſich auf ſolche Weiſe einen Vorrat geſchaffen, der groß genug war, um das Einpökeln von Schweinefleiſch zu erlauben.
Schon lange hatte Hartmut vorgehabt, einen Jagdzug gegen die Wildſchweine zu unternehmen. Er wollte aber eins der für ihn ſo wertvollen Tiere erſt dann töten, wenn er den Fleiſchvorrat konſervieren konnte und nicht gezwungen war, den größten Teil zwecklos verderben zu laſſen. Eine kleine Pökeltonne hatte er aus Brettern kunſtgerecht hergeſtellt und mit Salzlauge verſehen; nun konnte er losziehen.
Hartmut wußte genau, wo ſich die Wildſchweine aufhielten. Er pirſchte an einer der Stellen bis nahe an die Herde heran, nahm eines der Jungtiere aufs Korn und ſchoß es. Die Herde ſtob davon und Hartmut zog mit ſeinem Feſtbraten nach Hauſe. Nun kam es ihm zuſtatten, daß er als Junge mit heimlichem Schauder dem blutigen Handwerk der im Herbſt von Haus zu Haus ziehenden Metzger mit Intereſſe zugeſchaut hatte. Er zerwirkte das Tier kunſtgerecht, legte die friſchen Fleiſchteile in die Salzlauge, und nur einen Teil des Rückens dämpfte er als Braten. Vielerlei Zutaten fehlten ihm zwar, aber dennoch ſchwelgte er in dem lang entbehrten Genuß des friſchen Fleiſches, das nur geringen Wildgeſchmack aufwies.
Seine Tätigkeit auf der Inſel hatte ſich vervielfacht. Er empfand die einzelnen Arbeitsgänge als Pflichten, bei denen die Sorgen um ſeinen Pflanzgarten, das Jäten von Unkraut, Ausbeſſerung des Zaunes, Ernte und neue Ausſaat den breiteſten Raum einnahmen. Trotzdem fand er genügend Zeit zu ſtets neuen Entdeckungsfahrten zu Lande und zu Waſſer, über und um die Inſel.
Bei einer dieſer Fahrten ging er auch den Schildkröten zu Leibe. Er tötete eines der jüngeren, kleineren Exemplare, indem er ihm mit einem Schlag der Axt den Kopf abhieb. Wie groß war ſein Schrecken, als die Geköpfte mit größter Behendigkeit auf und davonlaufen wollte. Nun fielen ihm die Berichte über die Zählebigkeit dieſer Tiere wieder ein, deren Gehirnfunktionen zum größten Teil im oberen Teil des Rückenmarkes liegen, und die daher auch ohne Kopf lange Zeit weiterleben. Erſt nach vielen Stunden fand er das Tier verendet, das er nach ſeinem „kopfloſen Fluchtverſuch“ auf den Rücken gewälzt hatte. Er ſchwelgte nun in „real turtle soup“ und Ragout des gallertartigen Fleiſches. Die in zwei Hälften geſprengte Schale der Schildkröte ordnete er in ſeine Vorräte ein, um ſie vielleicht ſpäter einem Verwendungszweck zuzuführen, den er jetzt noch nicht kannte.
So vergingen die Tage auf der Inſel bis zum Einſetzen einer neuen Regenzeit, ohne daß Hartmut recht zum Nachdenken kam. Sein Leben und ſeine Arbeit waren in eins verſchmolzen, das eine ergänzte das andere und machte die Frage nach Sinn und Zweck hinfällig.
Eine faſt vergeſſene Arbeit mußte durchgeführt werden und nahm Hartmut viele Tage hindurch völlig in Anſpruch: die Demontage des „Transozean“ war dringend notwendig geworden, wenn er die in dem Wrack enthaltenen Maſchinen und Geräte erhalten wollte. Der ganze innere Teil des rechten Flügels war völlig unverletzt und ſollte das Regendach für die andern Teile bilden. Hartmut verlegte die Laufbahn ſeines Flaſchenzuges, indem er das Hauptkabel von ſeinen Befeſtigungen über der Höhle löſte und oberhalb der Felskante an drei nahe zuſammenſtehenden Palmbäumen befeſtigte. Mitten in dieſer Arbeit ſtellte ſich heraus, daß er viel zu wenig Taue und Kabel in ſeinen Vorräten zur Verfügung hatte.
Nach vielen vergeblichen Verſuchen gelang es ihm, aus den baſtartigen Faſern der Kokosbäume Stricke zu flechten, die ſich nach verſchiedenen Prüfungen als ſehr haltbar erwieſen. Durch dieſe Stricke ſtellte er die Transportanlage fertig. Als erſtes Teil zog er das Tragdeck auf den von ihm ausgeholzten Teil des Waldes über der Höhle und legte die große gewölbte Fläche auf vier gekappte Palmbäume, ſo daß ein wetterfeſtes Dach entſtand.
Mit unſäglichen Schwierigkeiten unter Aufbietung aller ſeiner Kräfte gelang es ihm auch, die Motore hinaufzuſchaffen, obwohl die Haltetaue ſich tief durchbogen und in allen Verbindungen ächzten.
Nun galt es die Benzintanks mit ihrem wertvollen Inhalt hinaufzuſchaffen. Bei dem erſten Flächentank war es eine leichte Aufgabe: er ließ den Reſt von deſſen Inhalt durch die Verbindungsleitung in den zweiten Flächentank hinüberfließen, was durch die Schräglage des „Transozean“ ohne weiteres durchführbar war. Den leeren Tank ſchaffte er hinauf und verſuchte nun, eine Leitung herzuſtellen, durch die er das Benzin aus dem anderen Flächentank hinaufpumpen konnte. Aus vielen kleinen Rohrſtückchen ſteckte er die Leitung zuſammen und dichtete ſie mit dem Reſt ſeiner Seife ab, die in Benzin unlöslich iſt. Mit der kleinen Benzinförderpumpe pumpte er das Benzin hinauf und konnte bald den geleerten zweiten Tank hinaufſchaffen. Nun kam der Haupttank, die beiden Flächentanks konnten nur noch Dreiviertel der Füllung des Haupttanks aufnehmen. Er mußte ſich alſo wohl oder übel entſchließen, den ſchweren Tank mit ſeinem Inhalt in die Höhe zu winden.
Wahrend er das zerſtörte Schwanzende des Rumpfes abmontierte und in den Wald ſchaffte, änderte er ſeinen Arbeitsplan und beſchloß, den Rumpfmittelteil mit dem darin enthaltenen Hauptbenzintank nicht an Land zu ſchaffen, ſondern als zweiten Vorratsraum in der Wohnbucht an den Felswänden zu verankern. Aus den aus der „Triftbucht“ herbeigeflößten Balken zimmerte er ein Gerüſt und brachte es ſo an, daß der „Transozean“ mit Hilfe ſeiner Schwimmer und des Flaſchenzuges mit dem Rumpf über die Stützen des Gerüſtes gelegt werden konnte. Nun ging er an die Abmontierung der Schwimmerſtreben und des linken inneren Tragdeckanſatzes.
Die oft äußerſte Kraftanſtrengung erfordernde Arbeit gelang, und nach einigen Tagen war der Mittelteil des Rumpfes des „Transozean“ wohlgeborgen und durch eine Strickleiter mit dem Strandgürtel der Bucht verbunden, feſt in den Felſen gelagert. Die Teile des Tragdecks und die Stützſchwimmer wurden in der Waldhütte untergebracht. Dann machte ſich Hartmut daran, aus Palmbäumen, die er an Ort und Stelle fällte, die Hütte durch Seitenwände zu vervollſtändigen, um Werkſtatt und Materialvorräte zu vereinigen. Sogar eine kleine Schmiede legte er an, deren Blaſebalg er in primitiver, aber zweckerfüllender Weiſe aus dem waſſerdichten Stoffe der Kapokſchwimmkiſſen herſtellte.
Während er mit der Bergung und der Sortierung des überaus reichhaltigen Materials beſchäftigt war – ſelbſt das ihm heute noch nutzlos erſcheinende Stückchen Blech konnte ſpäter für ihn von größtem Wert ſein – ſetzte ſich ein Plan immer hartnäckiger in ſeinem Kopfe feſt. Sollte es ihm nicht möglich ſein, eine Kraftanlage zu bauen, die ihm einen großen Teil ſeiner mühſam zu leiſtenden Handarbeiten abnahm?
Der Ausgleichſtrom im Norden der Inſel barg in ſich ſicher das Hundertfache der Kräfte, deren er bedurfte. Ein Waſſerrad mußte ſich bauen laſſen. Die Lichtmaſchine des einen Motors war für Dauerbetrieb eingerichtet und hatte ausreichende Leiſtung. Leitungsmaterial mußte ſich beſchaffen laſſen – wäre es aber nicht doch Wahnſinn, wenn er ſich auf dieſer weltverlaſſenen Inſel an den Bau eines regelrechten Kraftwerkes wagen würde?
Gewiſſermaßen als Vorſtudie zur Löſung dieſer problematiſchen Aufgabe beſchloß er, die Salzgewinnung im techniſchen Sinne zu „rationaliſieren“, zu „mechaniſieren“. Eine ſogenannte Kapſelpumpe mit Handantrieb zum Ein- und Umfüllen von Benzin war unter den Vorräten des „Transozean“. Hartmut ſuchte ſie heraus und ſaß lange in Gedanken verſunken vor ihr. Dann ging er raſch an die Arbeit. Er montierte die Pumpe nahe dem Eingang zur Bucht an ein in den Felſen verankertes Geſtell ſo, daß ein Saugrohr in das Meer eintauchte. Den Betätigungshebel verlängerte er und brachte einen Kurbelzapfen an ſeinem äußeren Ende an. An einem der kleinen Öltanks, den er entleert hatte, befeſtigte er eine der Röhren aus der inneren Flügelverſtrebung. Die Röhre wurde an einem Balken mit zwei Schellen ſo gelagert, daß ſich das Rohr mit dem Tank nach oben und unten ſchieben ließ. Der Balken mit der Lagerung für die Röhre wurde neben der Pumpe am Eingang zur Bucht ſo angebracht, daß jede einflutende Welle den ſchwimmenden Öltank anhob, die Röhre alſo in ihrer Lagerung von den Wellen auf und ab geſchoben wurde. An dem oberen Teil der Röhre brachte er ein doppeltes Gelenk an, deſſen eine Seite er mit dem Kurbelzapfen der Pumpe verband.
Als er die Verbindung hergeſtellt hatte und die Vorrichtung freigab, begann die Pumpe ſofort zu arbeiten und ſtieß mit jedem Stoßhub des ſchwimmenden Tanks eine geringe Menge von Meerwaſſer aus ihrem Ausfluß.
Von dem Ausfluß legte Hartmut eine Leitung an eine Stelle der Felswand, auf die die Sonne den ganzen Tag über niederbrannte. In den unteren Teil des Felſens ſchlug er eine Mulde und brachte an der Felswand über der Mulde eine Holzrinne an, in der ſich das gepumpte Meerwaſſer ſammelte und überlaufend ſich verteilte und über die Felswand rieſelte.
Die Anlage funktionierte zur größten Zufriedenheit von Hartmut. Er ließ ſie ab und zu einen Tag lang laufen und hatte dann abends in der Felsmulde etwa dreißig Liter Sole, aus der ſich das reine Kochſalz herauskriſtalliſierte. Nach einigen Tagen ließ er die Sole, die alle ſchädlichen Salzbeimiſchungen noch gelöſt enthielt, ablaufen, und konnte jedesmal faſt ein Kilogramm Steinſalz aus der Felsſchale herausbrechen und zu ſeinen Vorräten ſchaffen.
Warum er Kochſalz in ſolchen überſchüſſigen Mengen produzierte, war ihm ſelbſt nicht klar. Er legte zwar eine Salzlecke für die Wildſchweine an, die ſofort benützt wurde, ſein Vorrat verminderte ſich jedoch nur unbedeutend. In Wirklichkeit machte ihm die tägliche Spielerei ſo viel kindlichen Spaß, daß er, ohne viel nach Zweck und Sinn zu fragen, das Pumpwerk laufen ließ. Er konnte dann ſtundenlang in der Nähe ſitzen und zuſchauen, wie der gewaltige Rieſe Ozean, der ihn gefangen hielt, den kleinen Bedürfniſſen ſeines Inſellebens als Sklave dienen mußte. Oder war es die Freude an der Bewegung, an dem lebendigen Werk, das er ſich geſchaffen und als Freund in der Einſamkeit zugeſellt hatte?
Das Motorboot
Das letzte Stück der „Transozean“, das in der Bucht übrig blieb, was der rechte Hauptſchwimmer. Er war völlig aus Leichtmetall hergeſtellt und so auſgebildet, daß er bei größter Feſtigkeit geringstes Gewicht und geringſten Luft- und Wasserwiderstand beſaß. Er war mehr als fünf Meter lang, und war als Stufenſchwimmer ausgebildet, das heißt ſein Boden verlief nicht glatt ſtromlinienförmig, sondern trug eine Stufe, die man sich durch Einkerbung ſeines Bodens entstanden denken konnte. Der Schwimmer lag völlig ſtabil auf dem Waſſer. Sein Inneres war durch waſſerdichte Wände in viele Schotten geteilt, deren vordere und im Rückteil gelegene mit Kapokkiſſen gefüllt waren, während die mittleren und vor allem die, in denen die Verstrebungen der Schwimmerſtützen eingelaſſen waren, durch aufſchraubbare Deckel, ſogenannte Mannlöcher, im Inneren zugänglich waren.
Hartmut unterſuchte den Schwimmer genau. Er wies nicht das kleinſte Leck auf und mußte ſich mit relativ wenig Arbeit in ein Boot oder gar ein Motorboot umwandeln laſſen.
Der Gedanke an die Herſtellung eines Motorbootes nahm von Hartmut Besitz. Unabläſſig überdachte er die Möglichkeiten, und ſein Plan nahm immer greifbarere Formen an. Hartmut hütete ſich jedoch diesmal davor, eine ſo ſchwierige Arbeit Hals über Kopf zu beginnen, um nach einer kurzen Weile in den Schlingen der vielfältigen Schwierigkeiten gefangen zu werden, die ſich ihm entgegenſtellen mußten, und deren Überwindung er dann mit Einſatz seiner ganzen Energie durchſetzen mußte, ſo daß er ſeine Umwelt völlig vergaß und die Dinge, die ſein Leben auf der Inſel erhielten, laufen ließ, wie ſie gehen wollten.
Immer von neuen machte er ſich klar, daß keinerlei Grund vorlag, eine Aufgabe innerhalb einer beſtimmten Zeit zu löſen. Alles, was er auf dieſer Inſel unternahm, was außerhalb des Bereiches der Herbeiſchaffung ſeines primitivſten Lebensunterhaltes lag, war im Grunde genommen nicht mehr als ein Zeitvertreib, der nur die „Freiſtunden“ ausfüllen durfte. Jeden Tag vier Stunden wollte er dem Bau des Motorbootes widmen. Nachdem er alle Werkzeuge für den Umbau vorbereitet hatte, begann er damit, die mittlere Schottenwand zwiſchen den Wänden, an denen die Schwimmerſtreben eingelaſſen waren, herauszumontieren, indem er den ganzen Oberteil des Schwimmers bis zu dieſen Hauptſpanten entfernte. Er erhielt dadurch einen Raum, der, mit Sitz und Fußboden verſehen, für ihn mehr als ausreichend Platz bot.
In der Schotte unmittelbar hinter dem hinteren Hauptſpant sollte der Kompreſſormotor des „Transozean“ eingebaut werden. Die Montage des Motors machte ihm wenig Schwierigkeiten. Jedoch faſt unlösbar erſchien die Aufgabe der Anbringung der Propellerwelle und des Propellers ſelber.
Die Kupplung des Motors für den Kompreſſor konnte ohne weiteres als Kupplung für das Motorboot verwendet werden. Die Propellerwelle ließ ſich aus einer der Hauptſchwimmerſtützen aus Stahlrohr ebenfalls ohne Schwierigkeit herſtellen. Hartmut mußte zunächſt nach einer Lagerung für dieſe Welle im hinteren Teil des Schwimmers ſuchen.
Er begann, einen der Hauptmotore des „Transozean“ vollkommen in ſeine Einzelteile zu zerlegen. Das große Zwiſchenzahnrad, das den Antrieb der Nockenwelle dieſes Motors bildete, war aus Bronze hergeſtellt und in einem am Innenteil des Gehäuſes verſchraubten, vom ihm lösbaren Lagerblock mit einem Rollenlager gelagert. Die Welle dieſes Zahnrades paßte nach geringer Nachbearbeitung genau in das Rohr, das Hartmut als Propellerwelle vorbereitet hatte, und ließ sich darin mit durchgehenden Nieten einwandfrei befeſtigen. Hartmut führte dieſe Arbeit durch und befeſtigte den Lagerblock in der letzten Schotte des Schwimmers derart, daß das Zahnrad durch eine Öffnung im Boden des Schwimmkörpers herausragte, ſo daß es unter Waſſer lag. Die Durchbohrungstelle mußte durch einen Stoffbüchſe waſſerdicht mit dem Schwimmerboden verbunden werden. Wenn es ihm nun noch gelang, das Zahnrad in einen zwei- oder dreiflügeligen Propeller umzuarbeiten, ſo war das Ziel ſeiner Wünſche erreicht.
Die Verwandlung des Zahnrades in den Propeller war eine Arbeit, die Hartmut völlig gefühlsmäßig vornehmen mußte, da er keinerlei techniſchen und rechneriſchen Unterlagen für die Herſtellung eines Propellers beſaß. Sein kleiner Vorrat an Metallſägeblättern wurde bei dieſer Arbeit verbraucht, und erſt nach wochenlangem Hämmern und Baſteln, Schmieden und Feilen hielt Hartmut den fertigen Propeller in Händen und glaubte feſtſtellen zu können, daß er wirklich wie ein „richtiger“ Propeller ausſah.
So kam der Tag heran, an dem das Boot betriebsfertig in der Bucht lag. Hartmut hatte den Motor noch nicht in Gang geſetzt ſeit ſeinem Abſturz. Die erſte Inbetriebnahme gelang wider Erwarten raſch, und nachdem die Maſchine einige Minuten gelaufen war, verſuchte Hartmut in der Bucht zu manövrieren. Anfangs blieb beim Einſchalten der Kuppelung regelmäßig der Motor ſtehen. Bald hatte er jedoch den richtigen Griff, und mit einem ſanften Ruck ſchoß das Boot voran. Auf Einbau eines Rückwärtsganges hatte Hartmut natürlich verzichten müſſen. So kam es, daß der erſte Fahrverſuch mit einem ſo heftigen Auflaufen auf den Strand endete, daß Hartmut durch den Ruck aus ſeinem Sitz herausgeſchleudert wurde und kopfüber in die Bucht fiel. Außer einigen kleinen Dellen am Bug war jedoch nichts paſſiert, ſo daß Hartmut ſofort klar zum Auslaufen machte, raſcher als er wollte durch die enge Einfahrt der Bucht hinausſchoß und nach kurzem Kampf mit der Brandung in der ſchwachen Dünung des Meeres kreuzte.
Das von Hartmut eingebaute Steuer erwies ſich als zu klein. Das Boot war durch die ſtarke Kielung außerordentlich feſt im Waſſer geführt, und es bedurfte einer kräftigen Wirkung des Steuers, wenn es ſeine Richtung mit der nötigen Behendigkeit ändern ſollte.
Hartmut fuhr in weiten Bogen durch die See, ſich immer in der Nähe des Ufers haltend, und probierte ſchließlich, mit voller Leiſtung des Motors zu fahren. Aber anſtatt daß nun, wie er erwartet hatte, das Boot auf ſeine Stufe gehoben wurde, um mit verdoppelter Geſchwindigkeit über das Waſſer hinzugleiten, verminderte ſich ſeine Geſchwindigkeit, während ſich gleichzeitig der Propeller im Waſſer wie beſeſſen drehte und quirlte.
Erſt nach verſchiedenen Verſuchen lernte Hartmut die Methode kennen, durch die bei langſamer Steigerung der Tourenzahl der Maſchine das Boot den Punkt erreichte, in dem es ſich auf die Stufe hob. In dieſem Augenblick mußte er Vollgas geben und erreichte dann über dem Waſſer gleitend eine Geſchwindigkeit, die er auf ſechzig Kilometer pro Stunde ſchätzte.
Die Rückfahrt in die Bucht endete wieder mit unſanftem Auflaufen, ſo daß Hartmut den Bau einer Fangvorrichtung beſchloß, bei der ſein Boot gegen elaſtiſch befeſtige Stricke anlaufen und abgefangen werden ſollte.
Nachdem Hartmut das Steuerruder des Motorbootes umgebaut und vergrößert hatte und die Fangvorrichtung fertiggeſtellt war, unternahm er neue Probefahrten, zum Schluß auch bei ziemlich ſtark bewegtem Meer. Er konnte feſtſtellen, daß die Manövrierfähigkeit des Bootes mit dem neuen Ruder einwandfrei gut war. Gleichzeitig aber wurde ihm klar, daß die Stufe des Schwimmers entfernt werden mußte, wenn er ein wirklich einigermaßen ſeetüchtiges Fahrzeug beſitzen wollte.
Die Entfernung der Stufe am Schwimmerboden erwies ſich viel ſchwieriger, als er zuerſt angenommen hatte. Es fehlten ihm viele Werkzeuge, und oft bedurfte es ſeines ganzen Scharfſinnes, um mit den primitiven Mitteln, die ihm zur Verfügung ſtanden, ſeine Aufgabe durchzuführen. Nur ſeiner ausgezeichneten Ausbildung als Handwerker, die er von Grund auf genoſſen hatte, verdankte er ſeinen Erfolg: ſein Motorboot hatte zwar nach der Änderung an Höchſtgeſchwindigkeit verloren, erreichte jedoch nur eine unweſentlich geringere mittlere Geſchwindigkeit bei halber Leiſtung und nur halbem Betriebsſtoffverbrauch des Motors.
An einem beſonders ruhigen Tag unternahm Hartmut ſeine erſte Forſchungsreiſe in die dem nördlichen Inſelkap vorgelagerte Region der Felsbank. Er hatte ſich ein Tiefenlot vorbereitet und ſtellte mit deſſen Hilfe feſt, daß der unterirdiſche Höhenzug mindeſtens zehn Kilometer weit wenige Meter unter dem Waſſerſpiegel dem Bogen der Inſel folgend verlief, um dann flach in die Tiefe abzufallen. Auf der Oſtſeite dieſer Felſenbank hatte ſich, wahrſcheinlich durch den Meeresſtrom, eine Untiefe von kaum zehn Meter Waſſertiefe gebildet, die aus ſchlickähnlicher Erde und eigentümlich blauer Färbung beſtand. Eine Probe, die Hartmut mit der Schlickerde ausführte, nahm, je mehr ſie austrocknete, tonerdigen Charakter an und trocknete ſchließlich ſteinhart zuſammen. Hartmut glühte ein Stück in ſeinem Schmiedefeuer, bis es hell rotglühend in den Kohlen lag, und konnte feſtſtellen, daß es tatſächlich durch das Brennen ähnlich wie Ton zuſammenſinterte und zu einem hartbrüchigen, ſteingutartigen Material wurde. Die Möglichkeit der Herſtellung von Gefäßen, Geſchirren und vielen anderen Dingen des täglichen Bedarfs war alſo gegeben.
Die erſten Anzeichen der Regenzeit machten ſich bemerkbar. Hartmut beschloß, in dieſer häufig ſtürmiſchen Periode ſein Motorboot in Ruhe zu ſetzen. Vorher wollte er aber noch eine große Fahrt unternehmen, die ihn rings um die Inſel führen ſollte.
Der erſte Teil dieſer Fahrt verlief, ohne daß Hartmut irgend etwas Beſonderes feſtgeſtellt hätte. Er erlegte eine der Schildkröten an der Weſtküſte zur Verbeſſerung ſeines Speiſezettels und umfuhr mit langſamſter Tourenzahl ſeines Motors vorſichtig das ſüdliche Kap mit den Möwenklippen. Das Meer lag in der Windſtille faſt ſpiegelglatt, ſo daß er bis tief auf den Grund ſehen konnte. Hunderte von Felsklippen ſchoſſen oft nadelſpitz aus dem Meeresgrund empor bis nahe an die Oberfläche, und in dieſem Gewirr von Schluchten und Felszacken zeigten ſich die Wunder der Flora und Fauna der Südſee. Wie arm war das Leben auf der Inſel gegen dieſes unterirdiſche Wirken und Weben der Kreatur, die ſich in tauſendfältiger Verſchiedenheit der Arten offenbarte. Wie arm war ſelbſt die Üppigkeit des Tropenwaldes mit ſeinen zahlloſen Pflanzenarten gegen dieſe Wildnis unter Waſſer von Pflanzen und Tieren und den Übergängen zwiſchen beiden. Die ſtarre Buntheit der Korallenbänke wechſelte mit Wäldern von Schwämmen und Tang, mit Wieſen von blumenartigen Seetieren, mit Schluchten, aus denen die Fangarme der Polypen in weichem Spiel hervorzuckten, mit ſchwarzen Unergründlichlichkeiten, über denen die hauchzarten Gebilde der Quallen das farbige Fließen ihrer Fangarme breiteten. Und in dieſer geheimnisvollen, märchenhaften und bizarren Pracht das Aufblitzen vorüberſchießender Fiſche, das ſchwebende Auf und Nieder in allen Farben ſchillernder Fiſchleiber und das rieſelnde Spiel mächtiger Fiſchſcharen, die ſich wie ein Strom aus einer Schlucht heraus ergoſſen und als eine funkelnde Wolke über die Berge und Täler der Tiefe zogen.
Dann ſah Hartmut ganz nahe den gewaltigen Körper eines Haifiſches auftauchen, er ſah die weiße Fläche ſeines Bauches aufleuchten, als er ſich im Waſſer in akrobatenhafter Kurve umdrehte, um das Boot, den Eindringling in die Verſchwiegenheit ſeines Märchenreiches, zu betrachten. Er ſah für einen Augenblick ganz nahe an der Oberfläche des Waſſers das dreieckige Maul mit dem fürchterlichen Gebiß voll nagelſcharfer Zähne, er ſpürte den Schlag der Schwanzfloſſe gegen das Boot, als der Räuber unter ihm in der Tiefe verſchwand. Der Wächter der Geheimniſſe der Tiefe war vor ihm aufgetaucht und hatte ihn gewarnt.
Im ſtaunenden Schauen in die Tiefe völlig verſunken, war Hartmut bis an die letzte hohe Möwenklippe nahe herangekommen. Die Schreie und Warnrufe der Vögel ſchreckten ihn auf. Greifbar vor ihm lag der Brutplatz der Albatroſſe, die in Scharen von den Felſen aufflogen, die Klippe und Hartmuts Boot umkreiſten. Mit einem raſchen Griff ſtellte Hartmut den Motor ab und ließ das Boot treiben. Er legte ſich rücklings auf ſeinen Sitz und ſah dem Spiel der Vögel in der Luft zu.
Was waren die Geheimniſſe des Meeres gegen dieſes ſich hier offenbarende Geheimnis des Fluges? Dort in der Tiefe träges, ſchweres Waſſer, mit ungeheurem Druck über die tiefſten Abgründe gelagert, in dem, einem primitiven phyſikaliſchen Geſetz gehorchend, die Dinge und Weſen ſchwammen, getragen vom Gewicht des Waſſers. Und hier oben in der blauen Unfaßbarkeit und in der kaum fühlbaren, nicht greifbaren Luft, im Meer des Himmels, da ſchwebten dieſe Vögel ohne Flügelſchlag, regungslos ſich dem geheimnisvollen Wirken des leichten Elements entgegenwerfend und hingebend, fliegend, getragen vom Nichts.
Fliegen! Als Hartmut dieſes Wort dachte beim Anblick der ſegelnden Albatrosſcharen, ward er wie von einem Jubelruf erfüllt, der wie ein Schauer ſein tiefſtes Empfinden durchdrang. Namenloſe Sehnſucht erfüllte ihn – nicht nach dem Fliegen im Donnern der Motore, im Ziſchen der von tobenden Kräften gepeitſchten Luft, nach dieſem Flug, dieſem ſeligen Gleiten und Schweben, dieſem Spiel in der Luft, dieſem Sichhingeben an ihre feinſten Regungen, dieſem In-die-Luft- und ihre blaue Ferne Hineinwachſen, tiefinnerſt Sich-Hineinleben.
Sein ſehnſuchtsvoll, ſchmerzlich beglückender Wachtraum fand eine unerwartete Unterbrechung: das Bild des Himmels und der darin ſegelnden Vögel begann ſich raſch zu drehen, und bevor Hartmut aufblicken konnte, gab es einen Ruck, und das Boot war auf den Strand der „Triftbucht“ aufgelaufen. Der Waſſermagnet der Inſel hatte ſeine Pflicht getan und den Ausreißer aus den fernen Gefilden der Phantaſie in die kleine Irdiſchkeit der Inſel und Einſamkeit zurückgeholt.
Noch ein Ankömmling war da, den Hartmut beinahe mit einem Jubelruf begrüßt hätte: neben ſeinem Boot lag ein völlig unverſehrtes und augenſcheinlich ganz neues Faß. Ohne ſich weiter um ſeinen Inhalt zu kümmern, nahm es Hartmut ins Schlepptau und zog die faſt im Waſſer eingetaucht ſchwimmende Tonne in langſamer Fahrt hinter ſich her bis in ſeine Bucht.
Die Regenzeit hatte begonnen. Hartmut führte ein „häusliches“ Leben. Er arbeitete viel in der Werkſtatt, vervollſtändigte ſeinen Hausrat, verbeſſerte dies und das und begann ſogar ernſthaft ſeine Kleiderfrage zu erörtern. Was er an Kleidung beſaß, war inzwiſchen zu Fetzen geworden, obwohl er ſeit langem die meiſte Zeit faſt nackt umherlief. Tadellos erhalten waren nur ſeine Schuhe. Er hatte als Bub auf der Rauhen Alb barfuß laufen gelernt und hatte, ſolange er auf der Inſel lebte, nur in den erſten Tagen ſeines Aufenthaltes Schuhe getragen.
Eines Anzuges bedurfte er nur zum Schutz gegen den Sonnenbrand. Zwar ſchützte der breitrandige Strohhut, in deſſen Verfertigung aus den binſenartigen Gräſern er es zu einer gewiſſen Meiſterſchaft gebracht hatte, Kopf und Oberkörper ausreichend. So verfiel er auf die Idee, aus beſonders weichen Binſen ein ſchlauchartiges Gebilde zu machen, das ähnlich wie ein kurzes Hemd getragen werden konnte.
Als er ſich zum erſten Male in dieſem neuen Anzug in ſeinem kleinen Spiegel betrachtete, brach er bei dem Gedanken, daß die Bekannten in der Heimat ihn plötzlich ſo ſehen würden, in ſchallendes Gelächter aus. Sein mit der kleinen Schere auf unvollkommene Weiſe kurzgeſchnittenes Haupthaar, der ſtruppige, kurze Bart, ſein tiefbraun von der Sonne lederig gebranntes Geſicht, das grüngraue, ſteif abſtehende Futteral, in dem ſein Körper ſteckte und aus dem lang und hager die ſonnengebräunten und zerſchundenen Beine herausragten – das Ganze gab ein Bild, wie es wohl kaum in einem anthropologiſchen Sammelwerk beſchrieben oder abgebildet war.
Wenn er ſich dazu ſeinen modernen Feldſtecher, den Gurt mit dem Revolver und dem Standhauer, ſeine Drillingsbüchſe und ſeine – Armbanduhr vorſtellte, alles gekrönt von dem mächtigen Gebäude ſeines Sonnenhutes – dann mußte er ein wahres Schauſtück für eine Maskerade abgeben. Wie nahe bitterer Ernſt und Komik beieinander liegen!
Hartmut fand in den langen Tagen, in denen der Regen unaufhörlich vom Himmel goß, auch viele Stunden Zeit, um halbvergeſſene Kenntniſſe wieder aufzufriſchen. Aus dem Handbuch der Ortsbeſtimmung, das er an Bord des „Transozean“ gefunden hatte, entwickelte er ſich eine Rechnungsmethode, nach der er eine kartographiſche Aufnahme zur Vermeſſung der Inſel durchführen konnte. Er hatte noch nie über die Beſitzrechte der Inſel nachgedacht, fühlte ſich aber vollkommen Herr auf ihr und wollte, wie jeder Grundbeſitzer, ſchwarz auf weiß beſitzen, was ihm an Grund und Boden gehörte.
Alle ſeine Überlegungen und Tätigkeiten führten zu einer gewiſſen Heiterkeit ſeines Gemütszuſtandes, in der er ſich oft aufs Plänemachen verlegte und die ſchönſten Luftſchlöſſer aufbaute, um ſie ebenſo heiter und zufrieden als Dunſt zu erkennen und zerfließen zu ſehen.
Erſt nach längerer Zeit wurde ihm ſelber klar, daß der tiefſte Grund dieſer Hoffnungsfreudigkeit ſehr dinglich und erdgeboren war: ſein Motorboot. Er beſaß ein Fahrzeug, in dem er tagelang Reiſen mit recht bedeutender Geſchwindigkeit unternehmen konnte, das faſt als hochſeetüchtig gelten durfte und eine zu langanhaltendem Dauerlauf befähigte Kraftquelle beſaß. So begann das Spiel ſeiner Gedanken um einen greifbaren Mittelpunkt zu kreiſen, und immer feſter wurde der Entſchluß in ihm, mit dem Motorboot die Fahrt in die Welt zurück, die Reiſe nach den Marqueſas-Inſeln, zu wagen. Es mußte möglich ſein, alles ſo vorzubereiten, daß von einem Wagnis kaum mehr die Rede ſein konnte.
Die Entfernung betrug nach ſorgfältigſtem Studium der Karte und Kontrolle der Ortsbeſtimmung knapp 2000 Kilometer. Sein Motorboot hatte eine Geſchwindigkeit bei halber Kraftleiſtung der Maſchine von 35 Kilometer pro Stunde, wie er mit der Stoppuhr genau feſtgeſtellt hatte. Wenn alles glatt ging, mußte er in etwa ſechzig Stunden, alſo nicht ganz drei Tagen und Nächten, ſein Ziel erreicht haben.
Die Navigation auf dieſer Fahrt konnte keine Schwierigkeiten bereiten, da ihm die präziſeſten Inſtrumente zur Verfügung ſtanden und er größte Übung mit deren Umgang hatte.
Auch die Betriebsſtoffrage war gelöſt. Nur einen Bruchteil ſeines Vorrates brauchte er für die Fahrſtrecke, und wenn es ihm gelang, einen der Flächentanks auf dem Boot ſo einzubauen, daß ſeine Schwimmfähigkeit und Stabilität nicht darunter litten, ſo gab es nichts, was ihn hindern konnte, den Verſuch zu unternehmen.
Nach eindringlichen Überlegungen montierte er den einen der Flächentanks an den vorderen Hauptſpant des Bootes ſo an, daß die Hauptverbindung in einem Gelenk beſtand, in dem ſich der Tank klappen ließ. Im niedergelegten Zuſtand bildete er einen Deckel über dem Sitzraum, von dem nur der rückwärtigſte Teil offen blieb, ſo daß Hartmut darin ſitzen konnte. Der Tank ragte dann rechts und links etwa einen Meter über den Bootsrand heraus und bildete hochgeklappt eine Fläche von faſt vier Quadratmeter, die quer zur Achſe des Bootes ſtand und unter Umſtänden als Segel benutzt werden konnte.
Gegen Ende der Regenzeit ſetzten normalerweiſe heftige Windſtrömungen ein, die jedoch ziemlich ſtetig verliefen und faſt niemals Sturmcharakter annahmen. Sie wechſelten periodiſch zwiſchen Oſt- und Weſtſtrömungen. Wenn Hartmut alſo in dieſer Zeit ſtartete, ſo hatte er die Gewißheit, mindeſtens auf einem Teil der Fahrſtrecke Rückenwind zu finden, der mit Hilfe des hochgeſtellten Tanks ſeine Fahrgeſchwindigkeit bedeutend ſteigern mußte.
Ehe ſich Hartmut recht verſah, hatte er ſein Boot völlig ſtartfertig gemacht. Er war mit allem ausgerüſtet, deſſen er auf der großen Reiſe bedurfte, und Nahrungsmittel und Waſſer für mehr als zehn Tage ausreichend waren darin verſtaut. Den Abſchluß dieſer Vorbereitungen bildete die Taufe des Bootes, auf deſſen Bug Hartmut mit einer Farbe, die er aus Pflanzenharz und einem kleinen Reſt Kognak aus ſeinem Vorrat bereitet hatte, den Namen „Flieger-Robinſon“ aufmalte.
Unvermittelt raſch ſchlug die Witterung um; ſtetige Aufklärung ſetzte ein; ein Weſtwind von großer Stärke blies die Wolken vom Himmel und ließ mit ſeiner friſchen Briſe nicht merken, daß er die Zeit der Hitze mit ſich brachte. Bevor es Hartmut erwartete, ſchlug der Oſtwind um, und alle Vorbedingungen für die große Fahrt waren damit gegeben.
Ein ſeltſames Gefühl der Geſpanntheit hatte Hartmut ergriffen. Es war nicht Unruhe, die ihn faſt zu haſtigem Lauf antrieb, als er zum letztenmal die Felskuppe des Kraters beſteigen und Abſchied von der Inſel nehmen wollte – es waren Entladungen der Überſpannung, die in ihm herrſchte, die ihn dazu trieben und kaum zum Nachdenken kommen ließen. In dieſem Gefühl der Benommenheit unternahm er den Start, durchquerte den Ausgleichsſtrom am Nordkap der Inſel, legte ſeinen Kurs feſt, und die Inſel war hinter ihm im Meer verſchwunden, bevor er noch einmal abſchiednehmend zurückgeſchaut hatte. Erſt als ihn das Gefühl ſeiner völligen Einſamkeit auf dem winzigen Boot in der Unendlichkeit des Meeres überkam, wurde er ſich bewußt, daß er ein Abenteuer begann, deſſen glücklicher Ausgang ihn für immer von der Inſel trennen mußte, auf der er mehr als zwei Jahre zugebracht hatte. Zum erſten Male empfand er, wie lieb ihm die Inſel in dieſer Zeit geworden, und daß er dasſelbe Heimweh nach ihr empfinden würde, wie er es auf ihr empfunden hatte nach dem Ziel, dem er entgegenſtrebte.
Die Nacht ſenkte ſich über das Meer. Hartmut durfte an Schlaf nicht denken, er mußte dauernd den Kurs des Bootes nach dem Kompaß korrigieren, da es ſonſt für ihn unmöglich war, ſein Ziel auf direktem Wege zu erreichen. Nur das Dröhnen des Motors in monotoner Gleichförmigkeit, das Rauſchen des Kielwaſſers und die tiefe Dunkelheit der Nacht waren um ihn. Der hochgeklappte, als Segel wirkende Tank verſperrte jede Ausſicht nach vorne. Das Steuer in der Rechten, ſtützte er den Kopf in die Linke und führte mechaniſch im Halbſchlaf, zwiſchen halbgeſchloſſenen Augenlidern den Kompaß beobachtend, die Kurskorrektionen aus.
Plötzlich fuhr er auf und horchte auf den Motor, ſeine Tourenzahl nahm ab, deutlich und immer deutlicher verlangſamte ſich ſein Lauf, und bevor Hartmut den Zündungshebel abſtellen konnte, knirſchte es metalliſch, zugleich gab es einen leichten Schlag, und der Motor ſtand.
Hartmut kuppelte aus und warf den Motor von neuem an. Er lief ſofort. Er ſtellte ihn wieder ab und verſuchte, mit der Hand die Propellerwelle zu drehen. Sie ſaß unverrückbar feſt. Ein Defekt des Lagers mußte die Urſache ſein, eine Störung, die er auf der Inſel leicht hätte beheben können, gegen die er aber hier auf dem Waſſer machtlos war.
Hartmut wußte nur das eine: er mußte Mittel und Wege finden, dieſen an und für ſich ſo kleinen Schaden auszubeſſern. So ſchwierig war nichts, daß nicht Wille, Beharrlichkeit und Überlegung doch darüber triumphieren mußten.
Hartmut kam kaum dazu, einen Schreck zu empfinden. Der Wille, den Schaden zu beheben, war der einzige Gedanke, der ihn bis zur Erſchöpfung beherrſchte. Er legte ſich auf den Boden des Bootes nieder und ſchlief nach kurzer Zeit tief und feſt ein.
Hartmut fuhr aus ſchwerem Schlaf hoch. Im erſten Augenblick wußte er nicht, ob er die Augen geöffnet hatte oder ob die Lähmung des Schlafes ſeine Lider noch geſchloſſen hielt, ſo ſchwarz und dunkel war die Nacht. Das Boot tanzte auf den Wellen, heftige Böen packten es in den Flanken. Immer ſtärker begann das Meer zu kochen und zu brodeln, Windſtöße ſchoſſen pfeifend in den Giſcht und praſſelten dann wie Hagelſchauer auf das Boot nieder.
Allmählich gewöhnten ſich Hartmuts Augen an die Dunkelheit. Das ſelbſtleuchtende Zeigerwerk ſeines Kompaſſes zeigte ihm, daß der Wind umgeſchlagen war und als Weſtſturm ihm entgegenbrauſte. Hartmut hielt das Boot gegen den Wind gerichtet und ſteuerte, ſo gut er es in der Dunkelheit vermochte, die ihm entgegenrauſchenden Wellenberge ſo an, daß er ſie durchſchnitt und ſo ihre Kraft brechend verhinderte, daß ſie ſein Boot zum Kentern brachten.
Es begann zu dämmern. Gleichzeitig klärte ſich der Himmel auf, und es hatte den Anſchein, als wollte die Gewalt des Sturmes nachlaſſen. Ohne ſich bewußt zu werden, was er damit bezweckte, begann Hartmut den Motor von ſeinem Fundament loszuſchrauben. Die Taſche mit dem Werkzeug hatte er ſich umgebunden, um keines der für ihn jetzt unerſetzlichen Stücke bei dem wilden Schaukeln des Bootes zu verlieren.
Nachdem er die Verſchraubung des Motors gelöſt hatte, demontierte er mit der gleichen Haſt das Gelenk des Flächentanks. Ein überkommender Brecher warf den Tank ins Meer, wo er nach einer Weile verſank. Das erleichterte Boot lag nun zwar ſtabiler im Waſſer, tanzte aber um ſo gefährlicher auf den Wellenbergen, die in ununterbrochener Folge heranrollten. Die Windgeſchwindigkeit ſteigerte ſich mit jedem Augenblick, ſo daß Hartmut ſeine ganze Kraft und Aufmerkſamkeit einſetzen mußte, um den Kurs des Bootes gegen die Wellen zu halten und das überkommende Spritzwaſſer aus ſeinem Sitzraum auszuſchöpfen. Unterſinken konnte er nicht, das verhinderten die luftdichten Schotten im Vorder- und Hinterteil des Bootes und vor allem die Kapokkiſſen, die überall im Boot verteilt waren.
Der Sturm fegte mit rhythmiſch ſich wiederholenden Böen über das Meer. Augenblicken von faſt vollkommener Windſtille folgten Stöße von ungeheurer Gewalt, die oft wirbelartigen Charakter annahmen, und die es Hartmut faſt unmöglich machten, das Boot in ſeinem Kurs zu halten. Einmal, als er gerade die Höhe eines mächtigen Waſſerberges erreicht hatte, wurde das Boot von einem ſolchen Wirbel gepackt und trotz heftigen Gegenſteuerns im rechten Winkel derartig abgedreht, daß es ſeitlich geſtellt in das folgende Wellental hinunterſchoß, von dem nächſten überkippenden Wogenberg gepackt und kieloben gedreht wurde. –
Der Vorgang ſpielte ſich ſo ſchnell ab, daß Hartmut keine Zeit fand, ſich feſtzuklammern und von der Werkzeugtaſche gezogen in den Fluten verſank. Er verſuchte zu ſchwimmen, ſpürte aber, wie ihn die Werkzeugtaſche immer tiefer hinunterzog. Mit einem verzweifelten Ruck riß er den Gürtel der Taſche von ſich los und ſchoß nun, von ſeiner Schwimmweſte getragen, an die Oberfläche zurück. Erſt nach langer Zeit gelang es ihm, ſich von dem Waſſer zu befreien, das er während ſeines Untertauchens geſchluckt und eingeatmet hatte, und das ihn noch zu erſticken drohte, während er ſchon an der Oberfläche ſchwamm. Wenn ihn die Wellenberge hochhoben, hielt er Umſchau nach dem Boot und ſah es endlich mehr als hundert Meter von ſich entfernt vor dem Winde treiben. Hartmut war ein guter Schwimmer. Jetzt galt es um ſein Leben zu ſchwimmen. Aber nur ganz unmerklich verringerte ſich die Entfernung zwiſchen ihm und dem treibenden Boot. Jedesmal, wenn das Boot quer zur Richtung des Sturmes und der Wellen trieb, kam er näher, jedesmal aber, wenn es ſich wieder längs gedreht hatte, ſegelte es raſcher von ihm ab, als er zu ſchwimmen vermochte.
Hartmut hatte das Gefühl für die Entfernung ſchon längſt verloren. Er ſchwamm unter Aufbietung ſeiner letzten Kräfte, blaue und rote Flammen tanzten vor ſeinen Augen. Als ſeine Glieder ihm den Dienſt verſagen wollten, hob er ſich mit einer letzten Anſtrengung noch einmal weit aus dem Waſſer und ſah das Boot unmittelbar vor ſich. Er ſtreckte die Arme darnach aus und wurde von der ihn tragenden Welle auf das Boot geworfen.
Doch nirgends fand er Halt: die nächſte Woge warf ihn wieder herunter. Als er auftauchte, konnte er die Propellerwelle am Ende des Bootes faſſen; an ſie angeklammert trieb er faſt eine Stunde im Waſſer. Nach dieſem willenloſen Sichtreibenlaſſen glaubte er genügend neue Kräfte geſammelt zu haben und verſuchte, außerhalb des Waſſers auf dem Boot feſten Halt zu finden.
Sein Binſenhemd hatte er mit einem ſtarken Kokostau als Gürtel verſehen – er löſte den Gurt und band ſich mit dem Oberkörper an die Propellerwelle feſt. Das rechte Bein fand Halt an dem Steuer, in deſſen Geſtänge er ſeinen Fuß einklemmte. Mit dem linken Bein rudernd, konnte er das Boot einigermaßen in Richtung halten, ſo daß er die überkommenden Sturzſeen parieren konnte. – Stundenlang trieb er ſo. Daß der Sturm immer mehr nachließ, kam ihm kaum zum Bewußtſein. Die Sonne brannte immer mörderiſcher und dörrte ſeinen Gaumen aus. Rings um ihn flutete und rauſchte das Waſſer, und er fühlte, wie jede Stunde ihn dem Verdurſten näher brachte.
Die Überanſtrengung lähmte ſeinen Körper immer mehr. Alles rings um ihn wurde ihm gleichgültig; nur das brennende Gefühl des Durſtes hielt ihn wach. Schließlich aber fühlte er, wie ein faſt wohliges Gefühl ſeine Glieder durchrieſelte, wie ſich alle Muskeln in ihm löſten, und ſein Bewußtſein unter die Schwelle des Schlafes und der körperlichen Erſchöpfung verſank.
Für ein paar Augenblicke kam er zu ſich – es war Nacht. Sterne funkelten über ihm, und das Meer atmete nach der Erregung des Sturmes in langer, träger Dünung. Hartmut brannten Gaumen und Zunge. Er begann an einem Stück ſeines Binſengewandes zu kauen, und ſeine trockene Mundhöhle füllte ſich langſam mit Speichel. Sein Durſtgefühl ſchwand, und er verſuchte über ſeine Lage nachzudenken. Doch er vermochte ſeine Gedanken nicht zu ordnen. Regellos durchzuckten ihn Erinnerungsbilder, die ſich mit ſeinen Sinneseindrücken zu einem Chaos verwirrten. Bald glaubte er vor Hunger und Durſt vergehen zu müſſen, bald fühlte er ſich träge und ſatt und unendlich müde. So ſchlief er wieder ein.
Er erwachte, als ſein Körper in dem Gurt, der ihn hielt, riß und zerrte: das Boot ſchaukelte in den Wellen. Mit größter Anſtrengung gelang es Hartmut, den Kopf zu heben: er trieb inmitten des Meeres in einem Brandungsſtreifen, ohne daß er Land ſehen konnte. Als das Boot ſich drehte, ſah er in der Ferne bewaldete Felſen aus dem Waſſer ragen. Sein Gehirn vermochte das Geſchaute nicht zu erfaſſen. Hartmut wußte nicht, ob Fieberdelirien ihn äfften, oder ob die Wirklichkeit vor ihm ſtand.
Dann ſah ſein träger Blick hart neben ſich im Waſſer die Rückenfloſſe eines Haifiſches vorüberziehen. Mit einem Ruck war Hartmut ganz wach. Er zog ſein linkes, im Waſſer liegendes Bein hoch und drehte ſeinen Körper ſo zur Seite, daß er auf den Kiel des Bootes zu liegen kam. Nun ſah er, daß drei oder vier der rieſigen Fiſche unabläſſig das Boot umkreiſten, und oft ſpürte er den Schlag ihrer Körper gegen die Bootwände.
Die Brandung entfernte ſich, das Meer wurde wieder ruhig, und wiederum verſank Hartmut in willenloſes Dämmern.
Dann wachte er auf und hörte nahe bei ſich das gleichmäßige Rauſchen der Brandung. Die unſäglich matten Bewegungen, die er mit ſeinem linken Bein ausführen konnte, genügten, um ſein Boot der Brandung entgegenzutreiben. Es wurde von den Wellen erfaßt und in Stößen gegen den Strand vorgetrieben. Mit einem Ruck ſaß es zwiſchen vorgelagerten Felsblöcken feſt.
Nach langen Bemühungen gelang es Hartmut, die Knoten des Strickes zu löſen, mit dem er an die Propellerwelle feſtgebunden war. Er ſchob ſich vom Kiel des Bootes herunter und ſank ins Waſſer. Schwache Schwimmbewegungen trieben ihn zum Strand. Seine Beine faßten Grund, und halb gehend, halb getragen von der Schwimmweſte, taſtete er ſich den ſchroff ins Meer abfallenden Felswänden entlang. Er war unfähig, ſeine Umgebung zu erkennen. Alles verſchwamm vor ſeinen Augen. Dann ſprang die Felswand, die wie ein Schatten vor ihm ſtand, plötzlich zurück, ein heller Spalt öffnete ſich in eine ſonnige Bucht. Hartmut trieb ſich durch das Waſſer an das jenſeitige Ufer, über die Felswand rieſelte es hell. Er tauchte ſeinen Mund in das Naß und trank in langen, durſtigen Zügen.
Die Flüſſigkeit drang in ſeinen Körper ein. Das träge Blut kam in Fluß und ſeine Sinne begannen wieder zu arbeiten. Er blickte mit ſchauenden Augen um ſich: ſeine Hand lag auf der Strickleiter zu ſeiner Höhle. – Hartmut war zurückgekehrt.
Wiſſen beſiegt die Einſamkeit
Eine Reihe von Tagen verging zwiſchen tiefem, beſinnungsloſem Schlaf und halbem Wachen. Der Zuſtand der Erſchöpfung wich allmählich dem wohligen Gefühl der Geneſung, der Wiederkehr der Kräfte.
Stundenlang lag Hartmut ſinnend auf ſeinem Lager. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber, und das vielfältige Geſchehen in ihm ſtellte ſich immer wieder in Beziehung zu ſeinem Inſeldaſein. Die Wirklichkeit lag im goldenen Lichte der Erinnerung. Und trotz allem wollte es Hartmut ſcheinen, als wären die Tage, die er in der Einſamkeit dieſer Inſel verbracht hatte, die glücklichſten ſeines Lebens geweſen. Welch irrer Trieb konnte ihn veranlaſſen, immer von neuem zu verſuchen, von der Inſel loszukommen? Ein glückliches Daſein zu vertauſchen mit der Ungewißheit des Lebens dort draußen, das ihn von früher Jugend an mit rauhen Händen angepackt hatte, das ein dienendes Leben voll Mühe und Arbeit geweſen war?
Hartmut ſtreichelte mit den Blicken die Dinge, die ihn umgaben. Seine Augen liebkoſten das Bild der Felswand mit den im Winde ſpielend bewegten Palmen darüber. Das Rauſchen der Brandung – würde er dieſe erhabene, in ſich ſelbſt ruhende Melodie je entbehren, je vergeſſen können?
Als er zum erſten Male wieder die Höhle verließ, führte ihn jeder Schritt auf ſeinen alten Pfaden neuen Wundern und neuen Orten entgegen, die er liebgewonnen hatte, von denen er jetzt erſt wußte, wie ſehr er mit ihnen verwachſen war: die engen Wege durch das Dickicht, die dufterfüllte Stille des tropiſchen Waldes, ſein Pflanzgarten, der Beerenſumpf, die Steppe und der Kraterberg mit dem weiten Blick in die blaue Unendlichkeit. Der klagende Ruf des unbekannten Vogels, der ſchrille Schrei der ſegelnden Albatroſſe am Strand, ſelbſt das Zetern der Papageie und das Blaſen der erſchreckten Wildſchweine – es waren ihm die Stimmen der Heimat geworden, einer neuen Heimat, die ihm aus dem Nichts erſtanden war, und die er für ſich allein erworben und geſchaffen hatte.
Was er früher als Pflicht empfunden hatte, das war ihm jetzt freudiger Dienſt an ſeiner Verbundenheit mit der Natur ringsumher. Hatte er nicht im tiefſten Sinn den Weg zurück zur Natur gefunden, den flammende Geiſter immer wieder der in ihren eigenen, zum bitteren Ernſt des Daſeins gewordenen Spielereien verirrten Menſchheit zugerufen hatten? Hatte er nicht als Erſter vielleicht den Gipfelpunkt erreicht, in dem die Technik Diener des Menſchen geworden iſt und nicht wie ein Moloch über ihm thront, ihn beherrſcht und ſeine beſten Kräfte ausſaugt?
Dort drüben in jener anderen Welt hatte er einſt ſein Leben dem Dienſt der Technik geweiht. Hier in ſeiner Einſamkeit durfte er ſich als Herr der Technik fühlen. Er wollte ſie als ſeinen Diener in das Spiel der Naturkräfte einordnen, die die Inſel ihm beſchert hatte, und ſie zwingen, ihm die Dienſte zu verrichten, die in täglicher Wiederkehr ihn ſelbſt in Pflichten einſpannten, ſeine Freiheit als Herr der Inſel beſchränkten.
Der unglückſelige „Flieger-Robinſon“ lag längſt verankert in der Wohnbucht. Die Brandung hatte ihn arg mitgenommen. Er bildete ein eindringliches memento mori für Hartmut. Sein altes, kleines Paddelboot kam wieder zu Ehren. Immer häufiger nahm Hartmut Fahrten an das Nordkap der Inſel vor, wo er den Ausgleichſtrom beobachtete, und wo ſich neue Pläne in ihm zu verdichten begannen.
Viele Stunden brachte er in der Höhle zu, wo er ſchonungslos mit ſeinen Papiervorräten umging und zeichnete und rechnete, Bogen um Bogen füllend.
Dann fuhr er nach der Triftbucht, hielt Umſchau unter den Gaben des Meeres und ſuchte die beſten und feſteſten Balken und Holzſtücke zuſammen, die er auffinden konnte. Ein ſchweres, großes Floß im Schlepptau mühte er ſich den langen Weg zurück und dachte mit Trauer an ſein Motorboot, das als Wrack in der Wohnbucht lag und deſſen Motor tief auf dem Meeresgrund ruhte, unwiederbringlich verloren, einer irren Laune geopfert.
Dann begann Hartmut auf ſeinem Arbeitsplatz über der Höhle, einem bis in alle Kleinigkeiten ausgearbeiteten Plane folgend, ſeine Arbeit. Er wollte ein Waſſerrad bauen, das der Ausgleichſtrom antreiben ſollte, und das ihm eine mechaniſche Kraftquelle bilden mußte, die ihm vielerlei Dienſte zu leiſten imſtande war.
Die Kurbelwelle des zerlegten Hauptmotors zerſägte er in zwei Teile und befeſtigte ſie an den Enden eines Balkens von etwa drei Meter Länge. Die Gehäuſehälften des Motors wurden von Hartmut ſo zerſägt, daß nur noch die Kurbelwellenlagerſchalen mit einem breiten Flanſch, einem Stück der eigentlichen Gehäuſewand, übrig blieben.
Nun kam das Wrack des „Flieger-Robinſon“ wieder zu Ehren. Hartmut belud es mit dieſer Welle ſamt ihren beiden Lagern und verankerte das Boot an der ſchmalſten Stelle des Ausgleichſtromes, wo die Felswände des Inſelufers und des unterſeeiſch verlaufenden Felſens ſich bis auf etwa drei Meter Abſtand näherten. Er meißelte die Felswände ſo zurecht, daß er die Welle zwiſchen ſie legen und die Flanſchen der Lager an jeder Felswand befeſtigen konnte, indem er Löcher in das Geſtein bohrte und meißelte, in die er Rohrſtücke aus dem „Transozean“ einfügte und durch Holzſtücke verkeilte. Auf dieſe Weiſe gelang es Hartmut, die Welle ſo feſt zu lagern, daß er den Bau des eigentlichen Waſſerrades beginnen konnte.
Das Rad ſelbſt ſtellte er aus zwei Hälften her, die durch Beſchläge aus Leichtmetallblech feſt miteinander verbunden, die Welle umfaßten und auf ihr durch Schrauben befeſtigt werden konnten. Die Schaufeln des Rades wurden in zweckentſprechender Form aus Blechen des „Transozean“ von Hartmut zurechtgetrieben und waren in einem Gelenk an dem Radkranz befeſtigt, derart, daß ſie mit Hilfe eines angelenkten Haupthebels durch ein alle dieſe Hebel radial verbindendes Kabel zum Betrieb hochgeſtellt und mit einem Griff umgelegt werden konnten, wodurch ſie ſich unter dem Zug einer Feder flach an das Rad anlegten, es außer Betrieb ſetzten und dem Drucke des Waſſers keinerlei Angriffsflächen boten.
Nach wochenlanger Arbeit war das ſchwere Werk vollendet. Hartmut ſchleppte die beiden Radhälften, ſie im Waſſer hinter ſich herziehend, bis zur Bauſtelle. Mit Hilfe des Flaſchenzuges und auf der Oberkante der Felſen geſpannter Kabel gelang die ſchwierige Montage. Nachdem er alle Teile ſorgfältig geprüft hatte, legte Hartmut den Hebel des die Schaufeln hochſtellenden Kabels um, und ſofort begann das Rad zu rotieren. Ein Schlag auf den mitrotierenden Umſtellhebel genügte, um das Kabel auszulöſen. Dem Federzug folgend klappten die Schaufeln in Ruheſtellung und das Rad ſtand ſtill.
Hartmut ſtellte nun mit Hilfe ſeiner Stoppuhr genau die Umdrehungszahlen pro Minute feſt und begann wiederum in ſeiner Höhle zu zeichnen, zu rechnen und aus ſeinem Material vielerlei Dinge auszuſortieren. Eine Rillenſcheibe für den Antrieb wurde fertiggeſtellt, auf die Welle eines Rades montiert, eine ſchilderhausähnliche Hütte wurde über dem Waſſerrad auf dem Felſen ſo feſt verankert, wie es nur irgend möglich war, und in dieſer kleinen Hütte fand die Dynamomaſchine, die zur Lichterzeugung des „Transozean“ gedient hatte, ihren Platz. Ein mit beſonderer Sorgfalt von Hartmut hergeſtelltes Kokosſeil diente als Antrieb zwiſchen der Rillenſcheibe und der Dynamomaſchine. Kurz bevor die Regenzeit einſetzte, war Hartmut mit dieſen Arbeiten fertig. Er kontrollierte mit Hilfe ſeiner Meßinſtrumente die Anlage im Lauf. Seine Berechnungen hatten geſtimmt – die Maſchine arbeitete mit der richtigen Tourenzahl und gab 24 Volt Spannung an den Klemmen. Hartmut legte die Anlage ſtill und arbeitete während der ganzen Regenzeit faſt ununterbrochen in ſeiner Höhle.
Die vom Blitz zerſtörte Senderanlage mußte ihm das notwendige Leitungsmaterial liefern. Er wickelte die Drähte von den Spulen und Maſchinen; ihre Iſolierung war an vielen Stellen durchgeſchmort, was jedoch für die Freileitung völlig ohne Bedeutung war. Die meiſten der Drähte wieſen einen ſehr geringen Querſchnitt auf, ſo daß er zwei oder drei von ihnen zu einer Leitung zuſammendrehen mußte.
Gleichzeitig begann Hartmut die Empfangsanlage in Ordnung zu bringen und aufzuſtellen und ſchaffte die beiden Akkumulatorenbatterien von je 24 Volt Spannung in ſein winziges „Maſchinenhäuschen“, wie er es getauft hatte.
Nach einem ausgeklügelten einfachen Schaltplan legte er eine kleine Schalttafel an, die er mit den Polen der Dynamomaſchine und den Akkumulatorenbatterien verband. Nachdem er die Akkumulatorenbatterien mit Waſſer aufgefüllt und ſparſam von dem geringen Vorrat an Säure beigemiſcht hatte, ſetzte er das Waſſerrad in Betrieb. Die Inſtrumente der Schalttafel zeigten ihm an, daß die Lichtmaſchine die Aufladung der Batterien bei 24 Volt Spannung mit 8 Ampère beſorgte.
Faſt ſechs Stunden lag Hartmut auf dem Felſen und ſchaute dem Arbeiten des Waſſerrades und der Maſchinen zu. War er nicht jetzt genau ſo glücklich, wie vor längſt vergeſſener Zeit als Bub daheim auf der Rauhen Alb, als er mit ſeinem Vater zusammen ein Waſſerrad gebaut und am Wieſenrad aufgeſtellt hatte? Nur wußte er, daß er diesmal nicht so unglücklich ſein wollte wie damals, wenn ihm das Hochwaſſer auch hier wieder das ganze Spielzeug fortſchwemmen würde, Was lag daran, ob er ein Spielzeug mehr oder weniger beſaß, das ihm im beſten Falle die Einſamkeit leichter machen würde?
Die Akkumulatoren hatten trotz ihrer langen Ruhezeit kaum gelitten. Hartmut konnte alſo daran gehen, die Freileitung herzuſtellen, die ſein Kraftwerk mit der Höhle verbinden und ihm Strom zum Betrieb der Empfangsanlage und zum Erzeugen von Licht liefern ſollte. Nach mühſeliger Kletterarbeit legte er von Palmbaum zu Palmbaum die beiden Leitungen. Sein Vorrat an Draht reichte bis auf wenige Meter, die er aus allen Winkeln zuſammenſuchte und ſorgfältig zuſammenlötete.
So kam der Abend, an dem zum erſten Male richtiges, helles Licht in der Höhle brannte, bei deſſen Schein Hartmut einen beſonders guten Kaffee bereitete und lange wach blieb, während ſeine Gedanken weit in die Ferne ſchweiften und immer wieder gern zu dem friedlichen Bild ſeines nächtlichen Heims zurückkehrten.
Während ſeiner Klettereien zum Legen der Freileitung hatte er auf einem Palmbaum einen jungen Papagei gefangen, dem er einen Käfig baute, um ihn darin aufzuziehen. Das Tierchen wurde raſch völlig zahm und begann zu ſprechen. Hartmut hörte zum erſten Male ſeit langer Zeit ſeine eigenen Worte wieder, wenn dem Vogel die Worte und kleinen Sätze vorsprach, die er ihn lehren wollte. Einmal, als von einem längeren Ausflug auf der Inſel in ſeine Höhle zurückkehrte, tönte ihm „Guten Tag, Hartmut!“ entgegen. Hartmut ſchoſſen die Tränen in die Augen, und er hätte den Papagei mit ſeinen Liebkoſungen faſt erdrückt.
Jetzt empfand er erſt, wie ſehr er ſich nach Stimmen, nah menſchlicher Sprache in ſeiner Einſamkeit geſehnt hatte. Mit doppeltem Eifer nahm er die Inſtandſetzung der Radioanlage vor. Aber als er ſie zum erſten Male in Betrieb ſetzte, blieb die Anlage ſtumm. Stundenlang ſuchte er nach dem Fehler, und erſt mitten in der Nacht ſtellte er feſt, daß einer der feinen Drähte unter ſeiner Iſolierung gebrochen war. Als er den Defekt behoben hatte, ſchaltete er ein. Das bekannte Brauſen und Rauſchen tönte ihm aus dem Hörer entgegen, und mit einigen Griffen hatte er die Wellenlänge des deutſchen Senders eingeſtellt. Leiſe ſprach eine Stimme zu ihm. Während er ihre Lautſtärke zu vergrößern ſuchte, brach die Stimme ab. Gleichmäßiges Ticken wurde hörbar, und nach einer kurzen Weile ſprach eine Stimme deutlich und klar: „Hallo! Hallo! Hier Berlin, Stettin und Königswuſterhauſen. Wir beginnen mit dem erſten Teil unſeres Nachmittagsprogramms, mit der Märchenſtunde für unſere Kinder!“ Die Stimme brach ab, und nun begann eine Frauenſtimme dunkeltönig und voller Wohlklang zu erzählen: „Das Märchen von Hans im Glück. – Eigentlich iſt es gar kein Märchen, was ich euch heute erzählen will, ſondern eine Geſchichte, wie ſie alle Tage vorkommen kann, und die ſich luſtig anhört, obwohl ſie eigentlich recht traurig iſt. – Es war einmal …“ Nun erzählte die Stimme der fernen Frau das alte, liebe Märchen, das Hartmut in ſeiner Kindheit ſo oft gehört und ganz vergeſſen hatte. Jetzt erſt fühlte er den tieferen Sinn dieſer kleinen tragiſchen Geſchichte vom Hans im Glück, und bezog alles, was zwiſchen ihren Zeilen ſtand, auf ſich ſelber.
So kam es, daß er in Sinnen verloren den anderen Märchen, die nun folgten, nur halb zuhörte, ohne ihren Sinn und Inhalt in ſich aufzunehmen.
Erſt als die Stimme ſprach: „Nun zum Schluß unſerer Märchenſtunde eine ganz neue Geſchichte, ein modernes Märchen, die Geſchichte vom Drachen“ – da horchte Hartmut wieder auf.
Als die letzten Worte verklungen waren, ſtellte Hartmut den Empfangsapparat ab und legte die Hörer beiſeite. Er legte ſich auf ſein Lager und überdachte, was er gehört hatte. War er nicht ſelbſt Hans im Glück? War es ihm nicht gegangen wie dem kleinen Kämpfer mit dem Drachen, den ſein techniſches Spielzeug mit ſich fortgetragen hatte in weite, weite Fernen, bis an einen verſchwiegenen Winkel der Welt, wo ſich ihm die heimlichſten Geheimnisse der Natur offenbarten? Wo Menſchenſtimmen ſchweigen und Blumen und Gräſer, das Rauſchen des Meeres und die raunenden Stimmen der Luft reden und zu dem Einſamen ſprechen?
Von dieſer Nachtſtunde an fühlte Hartmut ſein innerſtes Weſen verwandelt. Wie nüchtern und arm hatte er bisher inmitten einer Welt von lebloſen, kalten Naturgeſetzen gehorchenden Dingen gelebt. Wie ſtanden jetzt die Dinge belebt und beſeelt vor ihm, wie fühlte er ſich ſelbſt eng mit ihnen verbunden und tief in ihnen aufgehend, ſo wie ſie in ihm ſelbſt aufgingen.
Sein ganzes Daſein war erfüllt von lebendiger Heiterkeit. Stundenlangem Liegen im Schatten der Felſen und der Palmen, lauſchendem Hineinwachſen in das Weben der Natur folgten fröhliche Wanderungen und Bootfahrten, mit heiterem Eifer begonnene und durchgeführte Arbeiten und Spielereien.
Trotz dieſem ſorgloſen In-den-Tag-hineinleben vervielfältigten ſich die Tätigkeiten, die Hartmut gewiſſermaßen aus Pflichtgefühl als König dieſer Inſel unternahm. Er war der erſte und einzige Diener ſeines kleinen Staates und führte ſein Zepter mit heiterer Strenge gegen ſich ſelbſt und die Dinge, die ihm untertan waren.
Er nahm eine bis in alle Einzelheiten gehende Vermeſſung der Inſel vor, nachdem er aus dem Sextanten ein Nivellier- und Winkelmeßinſtrument gemacht hatte. Trigonometriſche Richtpunkte wurden von ihm errichtet und von einer genau abgemeſſenen Baſis aus führte er die Vermeſſungen durch.
Um wieviel leichter wäre dieſe Aufgabe für ihn geworden, wenn er die photographiſchen Apparate dazu hätte benützen können, die an Bord des „Transozean“ geweſen waren. In ſeinem Vorrat, faſt unbeachtet, lagen die zwei Kinoaufnahmeapparate und eine Bildkamera für ſenkrechte Aufnahmen. Zur Entwicklung von Probeaufnahmen waren geringe Mengen der notwendigen Chemikalien mitgeführt worden, die Hartmut aufbewahrt hatte. Jedoch die Kinoapparate waren durch die Feuchtigkeit ſtark angegriffen und faſt zerſtört, ebenſo hatte die Bildkamera ſtark gelitten. Trotzdem gelang es Hartmut, einen der Kinoapparate und die Bildkamera wieder in Ordnung zu bringen. Mit den in luftdichten Blechkäſten eingelöteten Filmen, die zweifellos noch gebrauchsfähig waren, machte er eine Reihe von Probeaufnahmen von der Kraterkuppe aus. Er erhielt zwar nicht einwandfreie, aber doch immerhin recht gute Aufnahmen des Geländes und konnte durch dieſe Aufnahme eine photogrammetriſche Kontrolle ſeiner trigonometriſchen Vermeſſungen vornehmen. – Den erſten Verſuch mit dem Kinematographen benützte er zur Aufnahme eines ſegelnden Albatroſſes von ſeinem Boot aus. Er hatte das Federwerk des Apparates auf höchſte Aufnahmegeſchwindigkeit eingeſtellt und erhielt einen Bildſtreifen, der die Bewegungen des Vogels in der Luft in vielfacher Unterteilung feſtgehalten hatte. Eine ganze Reihe von Aufnahmen des Albatrosfluges unter den verſchiedenſten Geländebedingungen wurde von Hartmut durchgeführt, bis er eines Tages die letzten Reſte ſeiner Chemikalien für die Entwicklung der Aufnahmen verbraucht hatte.
Die hergeſtellten Bildſtreifen übten eine unwiderſtehliche Anziehungskraft auf Hartmut aus. Immer wieder zog er ſie hervor und betrachtete ſie eindringlich, bis er ſchließlich auf die Idee kam, den nun für ihn doch unbrauchbaren Kinoaufnahmeapparat in einen Projektionsapparat umzuwandeln. Der Scheinwerfer des „Transozean“ bildete die Lichtquelle, die Linſen des Objektives des zweiten Apparates den Kondenſator, und auf dieſe Weiſe gelang es Hartmut, tadelloſe Bilder an eine kleine Bretterwand zu werfen, die er mit weißem Papier beklebt hatte.
Genau ſo wie er ſtundenlang der langſamen Darſtellung der Bewegungen des Albatrosfluges auf der Projektionswand folgte, genau ſo konnte er oftmals den ganzen Tag über im Schatten der Möwenklippen liegen und den Flugkunſtſtücken der Albatrosſcharen zuſchauen, die ununterbrochen die Felſen umſegelten. Hartmut nahm das Geſchaute in ſich auf, ſcheinbar ohne es zu verarbeiten. Aber von Tag zu Tag ſchälte ſich aus der Vielzahl ſeiner Beobachtungen und Erinnerungsbilder eine Anſchauungsform des Flugproblems heraus, die immer deutlichere Formen annahm.
Er betrieb ſeine Beobachtungen, die zuerſt mehr ein Zeitvertreib für ihn geweſen waren, mit immer eindringlicherem, wiſſenſchaftlichem Ernſt. Er machte ſchriftliche Aufzeichnungen darüber und entwickelte allmählich eine bis in die kleinſten Einzelheiten durch Zeichnungen und Erläuterungen belegte Theorie des Segelfluges.
Auf der einſamſten Inſel im Ozean glaubte er nun ſeine Lebensaufgabe gefunden zu haben. Zurückgewachſen in die Natur, wie kaum ein anderer dazu befähigt, ſich in ſie hineinzufühlen und hineinzudenken, zugleich aber ausgerüſtet mit der ſtrengen Logik des techniſchen und wiſſenſchaftlichen Denkens, mußte für ihn die Löſung dieſer Aufgabe nur eine Frage ernſter Arbeit und beſeelten Willens ſein.
Von der Entwicklung der Theorie bis zu ihrer Übertragung in die Praxis war für einen Menſchen wie Hartmut kaum ein Schritt – es war nur ein unmerklicher Übergang.
So fand ſich Hartmut eines Tages vor dem fertigen Plan zum Bau eines Segelflugzeuges, deſſen Formen er greifbar vor ſich ſah, bevor er ſich über die Möglichkeiten der Herſtellung auch nur einen Gedanken gemacht hatte.
Das Segelflugzeug
Hartmut ging an den Bau dieſes Segelflugzeuges, den er feſt beſchloſſen hatte, ſcheinbar ohne jede Vorbereitung heran. Die Hauptmaße ſtanden eingemeißelt in ſeinem Gehirn. Die Einzelheiten des Baues mußten ſich demn gegebenen Material unterordnen, ſich ſeinen primitiven Mitteln anpaſſen, ſo gut es eben gehen wollte.
Lange konnte Hartmut vor ſeinen Vorräten ſitzen. Dann packte er mit einem Griff irgend ein Teil und legte es beiſeite. Endlich errichtete er in der Werkſtatt ein Geſtell, das als Helling für ſein Bauwerk dienen ſollte. Eines der ovalen, ſechs Meter langen Sklerodur-Rohre aus dem Mittelfeld des Tragdeckes des „Transozean“ bildete das Rückgrat des Flügels. Von einem Holzfutter getragen, wurde in dieſes Rohr ein zweiteiliges, dünneres Rundrohr eingelegt, das etwa eineinhalb Meter über das äußere Hauptende des Ovalrohres ragte und darin drehbar gelagert war. Durch zwei Hebel, die an dem inneren Ende der beiden Rohre angebracht waren und aus einem Schlitz des Ovalrohres herausragten, konnten die Drehbewegungen um einen gewiſſen Winkel ausgeführt werden.
Das Hauptrohr wurde durch ein zu einem flachen Oval gebogenes, dünneres Rohr in der Mitte verſteift, ſo daß es gleichzeitig den Hauptſpant im dickſten Querſchnitt des Rumpfes an dieſer Stelle bildete. Die von Hartmut in minutiöſer Arbeit aus Blechen und Spanteilen des „Transozean“ hergeſtellten Flügelrippen wurden über das Ovalrohr aufgeſchoben und durch winzige Schrauben daran befeſtigt. Die vordere Flügelnaſe bildete wiederum ein dünneres, mit den Spierenſpitzen feſt verbundenes Rohr, das durch Streben im Mittelteil mit dem ovalen Rumpfſpant verbunden wurde. Das Rumpfgerippe paßte ſich in ſeiner Form ſo der Fläche an, daß es als ſchwache Verdickung vollkommen organiſch aus ihr herauswuchs und der Grundriß des Flugzeuges eine Form erhielt, die einem flachen, nach hinten gekrümmten Oval mit zugeſpitzten Enden ähnlich war.
Nach wochenlanger Arbeit stand das Gerippe fertig vor Hartmut. Er konnte es mit Leichtigkeit hochheben und ſchätzte ſein Gewicht auf etwa dreißig Kilogramm. Doch wie sollte er dieſes Gerippe fertigſtellen, mit was sollte er die Flächen und den Rumpf verkleiden? Die Vorderkante bis zum Hauptholm überzog er mit dünnem Blech der Flügelhinterkante des „Transozean“. Auch die Unterkante des Rumpfteiles mit der Öffnung für ſeine Beine wurde aus dem gleichen Material hergeſtellt.
Dann begann Hartmut lange Wanderungen auf der Insel, um nach einem organiſchen Produkt zu ſuchen, das die Tragverkleidung bilden konnte. Rings um den Beerensumpf stand vor dem Dickicht ein ſchilfartiges Gras mit faſt handbreiten Blättern oft von Mannshöhe, die ſehr hart und zäh waren. Wurden diese Blätter jedoch trocken, so ſchrumpften ſie ein und wurden gleichzeitig brüchig. Hartmut machte einen Verſuch und übergoß die friſchen Blätter mit kochendem Waſſer. Er spannte ſie in einen Rahmen ein und ließ ſie trocknen. Der Verſuch gelang, die Blattſtreifen wurden zwar hart, ſie behielten aber eine gewiſſe Biegſamkeit und erwieſen ſich in ihrer Längsrichtung als außerordentlich feſt. Hartmut hielt nun Ernte und ſtapelte einen großen Vorrat des auf ſeine Wieſe vorbereiteten Materials im trockenſten Teil der Höhle auf.
Das Material war gefunden – doch wie ſollte er es in ſich verbinden und auf dem Gerippe befeſtigen? Er mußte ein waſſer- und wetterfeſtes Klebemittel haben, dann war ihm geholfen. Aber ſo intenſiv er auch nachdachte, und ſo oft er auch die Inſel von einem Winkel zum anderen durchſtöberte – er konnte keinen Ausweg finden.
Eines Tages fiel ihm das Faß ein, das er ſeinerzeit aus der Triftbucht heimgeſchleift hatte. Es lag in einem Winkel der Wohnbucht am Strand. Wenn es „ausgepicht“, das heißt im Inneren mit Pech ausgegoſſen und gedichtet war, denn konnte er verſuchen, das Pech abzulöſen und als Klebemittel zu verwenden. Die große Spundöffnung des Faſſes ſchlug Hartmut mit einem Hammer auf und fand es gefüllt mit einer glasartigen Maſſe, die sich nur nach Zerlegen des Faſſes daraus entfernen ließ. Dieſe Maſſe, die er ſofort für ein Pflanzenharz, Schellack oder irgend eine künstliche Lackſubſtanz hielt, verſuchte er in Benzin aufzulöſen, ohne Erfolg. Ein Verſuch mit dem letzten Reſt ſeines Kognaks, von dem er noch wenige Tropfen in ſeiner Feldflaſche vorfand, führte sofortige Löſung des glasharten Materials herbei. Alkohol war das Löſungsmittel – Alkohol mußte er beſchaffen.
Ohne Aufenthalt ging Hartmut daran, zerlegte vorſichtig das Faß, brachte ſeinen Inhalt in Sicherheit und fügte es wieder zuſammen, ohne den einen Boden einzufügen. Dieſe Tonne füllte er bis zum Rand mit zerquetſchten Beeren vom Sumpfmoos, zerriebenen Bananen und zerquetſchten Wurzeln, die ihn die Wildſchweine hatten eſſen lehren. Das Ganze verrührte er mit Waſſer, ſo daß ein dünner Brei entſtand, den er ſtehen ließ.
Nach einigen Tagen begann es in dem Faß zu brodeln und zu kochen. Der ſüßliche aromatiſche Geruch verwandelte ſich in immer widerlicheren Geſtank, und nach einigen Wochen kam die Maſſe, die Hartmut öfters durchgerührt hatte, zur Ruhe. In der Zwiſchenzeit hatte Hartmut einen der Öltanks ſowie den Ölkühler des einen Motors ſorgfältig gereinigt und beides zu einer kleinen Deſtillieranlage zuſammengeſtellt. Der Tank ſtand auf einem Bock über einer Feuerſtelle am Strand der Wohnbuche, der Kühler war durch eine Leitung mit ihm verbunden und ſo an die Felswand angebaut, daß das Waſſer des Quells durch ſeine Maſchen hindurchrieſelte. Hartmut verſah eines der feinen Haarſiebe in dem Verſchluß des Benzintanks mit einem Trichter und füllte durch dieſe Vorrichtung den Öltank zu Dreiviertel mit dem Inhalt des Faſſes.
Das elektriſche Kühlwaſſerthermometer, ein kleines Thermoelement mit geeichtem Milliampèremeter, hatte er vorher eingebaut und beobachtete mit ihm das Steigen des Zeigers. Bei etwa achtzig Grad begann die Flüſſigkeit zu sieden, und aus dem Ausfluß des Kühlers tropfte eine ſcharf aromatiſch riechende, waſſerhelle Flüſſigkeit in das darunter geſtellte Gefäß. Hartmut tauchte den Finger ein und probierte: der ſcharfe Geſchmack des Alkohols brannte ihm auf der Zunge; zugleich aber fühlte Hartmut ſeine Geſchmacksnerven aufs angenehmſte von den aromatiſchen Beimengungen gekitzelt, daß er Luſt bekam, einen gründlichen Schluck zu probieren. Die Beimengung der giftroten Beeren ſchien ihm aber verdächtig, und lächelnd beſiegte er den Teufel Alkohol mit Hinblick auf dieſe beſondere Giftigkeit.
Der Inhalt des Faſſes löſte ſich leicht in dem gewonnenen Deſtillat, und Hartmut machte ſich eine Löſung zurecht, die ausgezeichnet klebte, und, wie ein Verſuch ergab, die getrockneten Streifen des Schilfgraſes unlösbar miteinander verband, ſo daß ſie eine harte und ſteife Fläche ergaben, in der Wölbungen „ſtehen blieben“.
Nun ging Hartmut an die Arbeit der Verkleidung ſeines Flugzeuges. Nach verſchiedenen Verſuchen entwickelte er eine Arbeitsmethode, die ihn raſch voranbrachte und ausgezeichnete Reſultate ergab. Nach knapp einem Monat ſtand der große Vogel fertig auf ſeinem Gerüſt. Hartmut prüfte ſein Gewicht – es war ihm gerade möglich, das Flugzeug mit den Schultern aufzuheben und auf kurze Entfernungen zu tragen. Die in zwei Lagen diagonal verklebten Schilfſtreifen mit dem Lack ergaben ein weit größeres Gewicht, als Hartmut urſprünglich angenommen hatte.
Die Flügelſpitzen, die auf dem Innenrohr des Hauptholmes befeſtigt waren, waren gegen die übrigen Flächen verdrehbar. Den Übergang zwiſchen dieſen drehbaren Teilen und der Fläche bildete ein Geflecht von den feinsten und dünnſten Binſen, das Hartmut mit beſonderer Sorgfalt hergeſtellt hatte. Ebenſo war die äußerſte Hinterkante des Flügels aus einem Streifen dieſes Geflechtes hergeſtellt, der an den elaſtiſchen Spitzen der Flügelſpieren befeſtigt war.
Der Wundervogel war fertig. „Transozean 2“ hatte ihn Hartmut genannt, ohne aber diesmal das Schickſal zu verſuchen und den Namen aufzumalen.
Faſt ebenſo ſchwierig wie der ganze Bau war der Transport des zwar leichten, aber ſehr viel Raum einnehmenden, überaus leicht verletzlichen Apparates.
Wieder trat der „Flieger-Robinſon“ in Tätigkeit. Mit der Laufkatze und dem Flaſchenzug ließ Hartmut das Segelflugzeug von der Höhe der Felskante in die Bucht nieder und verankerte es, die Flügel parallel zur Bootsbreite, auf dem Boot. Aus einem dünnen Balken machte er einen Ausleger, den er drehbar am Boot anbrachte und mit Schwimmern verſah, ſo daß er ihn nach dem Verlaſſen der Bucht ausklappen und quer zum Boot ſtellen konnte, um ein Kippen des Fahrzeuges zu verhindern.
Das Auslaufen aus der ſchmalen Ausfahrt der Bucht geſtaltete ſich außerordentlich aufregend und ſchwierig, und es bedurfte der ganzen Geſchicklichkeit von Hartmut, um ſein Fahrzeug durch die Brandung hindurchzubugſieren. Auf freiem Waſſer ging der Transport gut und raſch vonſtatten. Hartmut hatte einen windſtillen Tag abgewartet und ruderte bis an eine Stelle, an der eine Felszunge bis ins Meer hinunter flach abfiel und auf deren Rücken er, ohne das Strandgeſtrüpp durchdringen zu müſſen, bis in das Innere der Inſelſteppe gelangen konnte.
Nun begann eine unſäglich mühſelige und den Einſatz aller Kräfte Hartmuts beanſpruchende Arbeit. Er hob den „Transozean 2“ auf den Schultern an Land, nachdem er durch die untere Öffnung in ihn hineingekrochen war, und taumelnd unter der ſchweren Laſt ſchleppte er ihn ſchrittweiſe voran. Faſt zwei Tage nahm dieſe Arbeit in Anſpruch. In der Nacht verankerte er das Flugzeug flach an dem Boden mit Stricken und schlief unter den Flächen. Am Abend des zweiten Tages erreichte er auf einem Umweg unter Umgehung der ſteilſten Steigung die Kraterkuppe und barg das Flugzeug an der Innenſeite des Kraterberges, wo er wiederum die Nacht verbrachte.
Die Tage waren faſt windſtill. Nur in den frühen Morgen- und Abendſtunden kam eine friſche Briſe auf, die aber bald wieder abflaute. Noch in der Dunkelheit machte ſich Hartmut bereit. Als die Sonne im Oſten auftauchte, ſtrich ein Wind von mehr als acht Meterſekunden ſcharf über den Kraterrand. Im Windſchatten hob Hartmut das Flugzeug auf ſeine Schultern, ſchob es gebückt bis zum Rand und wollte es dann voranlaufend mit einem Sprung in den Wind werfen. Doch kaum hatte der Windſtrom die Flächen des Flugzeuges gepackt, als Hartmut hochgeriſſen wurde und mit einer ſcharfen Kehrtwendung, im Flugzeug hängend, rückwärts den Kraterrand hinunterſchoß. Im nächſten Augenblick mußte er an der gegenüberliegenden Kraterwand zerſchellen. Hartmut ſah die Gefahr deutlich vor ſich, ohne aber einen Schreck zu empfinden. Er riß an den Hebeln und überſteuerte das Flugzeug, ſo daß er in ſchwankendem Flug immer näher dem anderen Hange entgegenjagte, bis es ihm im letzten Augenblick gelang, die Maſchine ſo ſteil zu ſtellen, daß er parallel dem Hange in die Höhe ſchoß und heftig mit den Beinen auf dem Boden aufſtieß. Er kam ins Stolpern und „Transozean 2“ ſtieß mit ſeiner Naſe hart auf.
Hartmut kroch ſofort heraus, um den Schaden zu beſehen, den ſeine Unüberlegtheit angerichtet hatte. Wie konnte er verſuchen, aus dem Sogwirbel des Kraterrandes heraus zu ſtarten?
Das Rumpfvorderteil war eingedrückt und der linke Flügel an der Vorderkante außen verbogen. So gut es gehen wollte, beulte Hartmut mit den Händen die eingedrückten Stellen wieder aus und bog die Streben in ihre alte Form zurück. Dann wartete er geduldig die Windſtille ab, die heute ſpäter als an anderen Tagen einſetzte. Gegen Abend hatte er das Flugzeug ſeitlich von der Kraterkuppe auf der Höhe des Felsrückens bereitgeſtellt und wartete den einſetzenden Abendwind ab.
Von Oſten her kam die Briſe auf. Hartmut wartete, bis ſie eine gewiſſe Stärke erreicht hatte und hob dann das Flugzeug an. Der Wind drückte von oben auf die Fläche, ſo daß er kaum vermochte, die Maſchine anzuheben. Als er aber mit ſeinen beiden Steuerhebeln den Ausſchlag „Höhenſteuer“ gab, indem er ſie beide gleichmäßig nach hinten zog, fühlte er, wie ſeine Schultern mit einem Ruck entlaſtet wurden, wie gleichzeitig der Sitzgurt um ſeine Oberſchenkel ſich ſpannte und wie er den Boden unter den Füßen verlor. Bevor er recht wußte, was geſchehen war, ſchwebte er über der Steppe dem Meere zu.
Vorſichtig bediente er die Steuer. Er ſpürte, wie einzelne Böen das Flugzeug emporwarfen und hinunterdrückten, und inſtinktmäßig paßte er ſeine Steuerbewegungen dieſen Pulſationen der Luft an. Sein Flug verlangſamte ſich: er ſtieg im Aufwind. Während er ſich völlig mit der Wirkſamkeit ſeiner Steuer vertraut machte, kam der Strand, faſt hundert Meter unter ihm liegend, immer näher. In dieſer Höhe konnte er die erſte Kurve mit dem Flugzeug ruhig wagen, und vorſichtig taſtend legte er die Hebel ſeiner Steuer gegenläufig um. Gehorſam nahm „Transozean 2“ linke Schräglage ein. Jedoch kaum merklich änderte er ſeine Flugrichtung. Erſt als Hartmut in der Schräglage beide Hebel an ſich zog, führte das Flugzeug eine ſehr ſteile und ſcharfe Kurve aus. Es drehte ſich ſo raſch, daß Hartmut eine Dreivierteldrehung machte und mit ziemlichem Höhenverluſt parallel zum Ufer nach Süden abtrieb. Eine flache Rechtskurve trug ihn dem Lande zu – der Höhenzug vor ihm kam bedrohlich näher. Nochmals machte er eine Viertelkurve nach rechts und flach über dem Boden hinſchießend ſtellte er das Flugzeug gegen den Wind, gab dann Höhenſteuer, bis er faſt völlig über dem Boden ſtillzuſtehen ſchien, und wellenförmig auf und ab faſt auf der Stelle ſich hebend und ſenkend, gelang es ihm, das Flugzeug ohne Gefahr ſo nahe an den Boden zu bringen, daß er ſeinen Aufprall mit den Beinen abfangen konnte.
Sein erſter Segelflug war gelungen. Hartmut verankerte den „Transozean 2“ und ſchritt ſeiner Höhle zu, wo ihn ſein Papagei mit den groben Worten begrüßte: „Wo haſt du ſo lange geſteckt, du Schlingel?“ Hartmut begrüßte den Vogel wie einen lieben Freund und ſetzte ſich vor ſein Tagebuch, mit dem er auf ein paar Seiten in enger und kleiner Schrift Zwieſprache hielt.
Bevor Hartmut einen zweiten Segelflugverſuch unternahm, beſchloß er den Bau eines regelrechten kleinen Hangars auf einer Stelle, von der er ſtarten, und auf der er zugleich landen konnte. Der Transport des „Transozean 2“ auf die Höhe der Kraterkuppe war ein Hilfsmittel für den erſten Flug, als er noch ohne jede Übung war und reichlich Höhe brauchte, um einen Flug von ſolcher Dauer auszuführen, daß er die Wirkungen der Steuerung und die Schwebefähigkeit des Flugzeuges abſchätzen konnte.
Sein erſter Plan, eine niedere Erdhütte am Hange unmittelbar vor dem Kraterrand zu bauen, erwies ſich bei näheren Überlegungen als undurchführbar, da dieſe Stelle der Inſel den Stürmen am heftigſten ausgeſetzt war. Hartmut entſchloß ſich daher, ſeinen Hangar auf dem kleinen Plateau am Rande des Kokoswaldes zu bauen, in dem ſein Pflanzgarten lag. Bei dem Bau hielt er ſich an das Vorbild ſeiner Werkſtatt und hatte in wenigen Tagen eine Hütte zurechtgezimmert, deren Wände aus Balken und Kokospalmſtämmen beſtanden, und deren Dach aus einem Geflecht von Lianenranken und darüber in Bündeln feſtgebundenen Palmblättern und Schilfſtauden hergeſtellt war. Er hatte dem Dach eine gegen die niedere Rückwand der Hütte ſtark abfallende Form gegeben, ſo daß er annehmen konnte, daß ſelbſt der Dauerregen der Regenzeit raſch abfließen und daher nicht durchdringen konnte.
Dorthin ſchaffte er in mühevoller Arbeit ſein Flugzeug und nahm ſeine erneuten Segelflugverſuche erſt wieder auf, nachdem er in dem Hangar eine kleine Werkſtatt eingerichtet hatte, die es ihm möglich machen ſollte, notwendige Änderungen und Reparaturen ohne Zeitverluſt an Ort und Stelle auszuführen.
Seinen zweiten Start führte Hartmut wiederum vom Kraterrand aus, auf den er in mühſeliger Arbeit das Flugzeug hinaufgeſchafft hatte. Es gelang ihm, auf dem kleinen Steppenplateau nahe am Hangar nach einem längeren Fluge über der Inſel zu landen. Um den Transport zu erleichtern, baute er ein ſchlittenartiges Geſtell mit breit auseinanderſtehenden Kufen, auf dem er den „Transozean 2“ verhältnismäßig leicht über das von der Sonnenglut ausgedörrte Steppengras ziehen konnte. Trotz dieſes Hilfsmittels, das ihm das Hinaufſchaffen des Flugzeuges auf die inſelhöhe ſehr erleichterte, verſuchte er jeden neuen Start von einer tiefer gelegenen Stelle, bis es ihm ſchließlich gelang, vom Rande des Plateaus aus zu ſtarten, auf dem ſein Hangar lag.
Mit jedem Fluge fühlte ſich Hartmut mehr und mehr Herr der Maſchine. Die Dauer der Zeit, während der er den „Transozean 2“ in der Luft halten konnte, vergrößerte ſich ſtetig, ebenſo gelang es ihm, immer größere Höhen aufzuſuchen. Jeder Flug war für ihn eine Fortſetzung ſeiner Studien, eine Vermehrung ſeiner Kenntniſſe, die er dazu benützte, um durch Änderungen an dem „Transozean 2“ deſſen Leiſtungsfähigkeit fortlaufend zu ſteigern.
Als Hartmut die Gewißheit gewonnen hatte, daß weitere Steigerungen der Leiſtungsfähigkeit des Flugzeuges durch Geſchicklichkeit bei ſeiner Handhabung nicht mehr zu erzielen waren, entſchloß er ſich zu einem ziemlich weitgehenden Umbau. Er demontierte die ganze Flügelhinterkante und erſetzte die elaſtiſchen, aus Metall hergeſtellten Spierenden durch kurze Stücke eines bambusähnlichen Gewächſes, das er im Wald öſtlich vom Kraterberg entdeckt hatte. Die ganze Hinterkante wurde dadurch weſentlich elaſtiſcher und paßte ſich automatiſch den jeweiligen Flugbedingungen an.
Naturgemäß hatte Hartmut dieſe recht ſchwierige und lange Zeit in Anſpruch nehmende Arbeit nur durchgeführt, weil er ſich eine weſentliche Leiſtungsſteigerung davon verſprach. Der erſte Start mit der geänderten Maſchine ergab aber ein alle ſeine Erwartungen bei weitem übertreffendes Ergebnis. Die Betätigungsarbeit der Steuer ſank auf einen Bruchteil des bisher Notwendigen, die Maſchine flog faſt völlig ſelbſtändig, und Hartmut hatte das Gefühl, er hätte ſeinen Flug noch beliebig lange ausdehnen können, als er nach vier Stunden, von Hunger und Durſt getrieben, zur Landung ſchritt. Ein zweiter, noch am gleichen Tag unternommener Start trug ihn auf faſt tauſend Meter Höhe. Hartmut hatte es gelernt, die Aufwinde des Gebirgszuges der Inſel und die von den Sonnenſtrahlen herrührenden vertikalen Luftbewegungen als Hubkraft für ſein Flugzeug meiſterhaft auszunützen. Für den Laien mochte es jetzt ausſehen, als ſegelte ein gewaltiger Albatros über der Inſel – ſo ſelbſtverſtändlich und ſpieleriſch leicht ſchwebte „Transozean 2“ in weiten Kurven über ſie hin. Aber Hartmut ſelbſt wußte, wie weit er noch mit all ſeinen Künſten hinter der Meiſterſchaft des Vogels Albatros zurückſtand.
Immer weiter verſuchte Hartmut ſeine Flüge über das Meer auszudehnen. Sobald er aber außerhalb des Wirbelbereiches kam, den die Inſel im ſtetigen Strom der Windbewegung über dem Meer erzeugte, um ſo ſtärker nahm das Flugvermögen des „Transozean 2“ ab, ſo daß er im flachen Gleitfluge nach der Inſel zurückkehren mußte, wenn er keine Notlandung auf dem Waſſer riskieren wollte.
Hartmut begann von neuem ſein Studium des Albatrosfluges, und fuhr in ſeinem Paddelboot dem Winde entgegen, oft weit von der Inſel fort, um das Segeln der Albatroſſe in dieſen Regionen ſtetiger Windbewegung oder gar Windſtille zu beobachten. Was er ſchon wußte, beſtätigte ſich aufs Neue: je ſchwächer die Windgeſchwindigkeit war, um ſo niedriger flog der Albatros, um ſo intenſiver mußte er die Wellenbewegung der Luft ausnützen, die von der Dünung des Meeres hervorgerufen wurde. Er mußte mit dem „Transozean 2“ die Probe auf dieſes Exempel machen, wenn er wirklich weiterkommen wollte, ſelbſt unter Einſatz des ganzen Flugzeuges, das bei einer Waſſerlandung verloren war.
An einem faſt ſtürmiſchen Tag zu Beginn der Regenzeit unternahm Hartmut den Start. Im geſtreckten Gleitflug ſchwebte er über die Steppe und den Vegetationsſtreifen dem Strande zu. In wenigen Meter Höhe über dem Waſſerſpiegel, genau dem Wind und den Wellen entgegengerichtet, begann er den Flug. Deutlich ſpürte er in der Maſchine die pulſierenden Stöße des Windes, der dem Rhythmus der Wellen folgend zuerſt tragend und hebend unter die Flügel griff, um in der nächſten Periode als Fallböe das Flugzeug hinabzuziehen. Jeder Wellenberg hob den „Transozean 2“, und raſch hatte Hartmut das Gefühl für den Rhythmus und wußte, bis zu welchem Grade er die Hubkraft ausnützen durfte, um mit einem gewiſſen Geſchwindigkeitsüberſchuß über das folgende Wellental, das „Luftloch“, hinwegzugleiten, ohne erheblich an der zuvor gewonnenen Höhe zu verlieren.
Der Verſuch gelang über Erwarten gut. Stetig ſtieg der „Transozean 2“ vom Brandungsgürtel aus, dem Meere zu, an. Je höher Hartmut ſich über das Waſſer erhob, um ſo ſchwächer wurden die ihn tragenden Pulſationen, und bald reichten ſie nur noch zur ſtetigen Voranbewegung ohne Höhengewinn beim Fluge gegen den Wind. Die Beobachtung dieſer Vorgänge und das Studium ſeiner faſt inſtinktmäßig erfolgenden Steuerbewegungen nahm Hartmut ſo gefangen, daß er auf die Entfernung von der Inſel gar nicht achtete. Erſt nachdem er faſt eine Stunde geſegelt war, drehte er ſich um und ſah die Inſel weit hinter ſich im Ozean ſchwimmen.
Was auf dem Herweg möglich war, mußte für den Hinweg auch gelten. Hartmut drehte ab, verlor aber in ſeiner Kurve derart an Höhe, daß er den Rückflug knapp zehn Meter über dem Waſſerſpiegel antrat. Vom Wind getrieben ſchoß er mit großer Fahrt der Inſel zu. Gleichzeitig aber bemerkte er, daß ſich ſeine Höhe trotz geſpannteſter Aufmerkſamkeit und gewandteſter Ausnützung jeden Hubſtoßes ſtetig verringerte. Zwar kam die Inſel raſch näher, aber Hartmut ſah deutlich, daß er den Waſſerſpiegel berühren mußte, bevor er am Strande angelangt war. Etwa zweihundert Meter vor dem Strand traf den „Transozean 2“ zum erſten Male ein Wellenberg. Noch einmal gelang es Hartmut, die Maſchine zu halten, aber nach wenigen Meter Fahrt ſetzte der „Transozean 2“ auf dem Meere auf, verlor ſofort ſeine Fahrt völlig und lag flach auf der Dünung im Waſſer.
Gurgelnd füllte das Waſſer den Rumpf. Hartmut kroch aus ihm heraus und ſetzte ſich auf den Rand des oberen Einſtieges. Eine ganze Weile blieb «Transozean 2“ ruhig auf dem Waſſer liegen, getragen und geſchaukelt von der Dünung, ſchwach vorangetrieben vom Winde, und deutlich von dem Sog des Meeresſtromes nach Süden, der Triftbucht zu, abgetrieben. Dann aber begann ſich das Tragdeck mit Waſſer zu füllen, und ganz langſam ſackte das Flugzeug unter Hartmut in die Tiefe. Dieſer verſuchte, ſich die Stelle, an der es verſunken war, nach Richtpunkten auf der Inſel zu merken. Dann ſchwamm er in langen Stößen dem Ufer zu, das er ohne beſondere Mühe erreichte. Im Laufſchritt rannte er zur Wohnbucht, ſuchte ſein Lot hervor und paddelte mit dem kleinen Boot bis zu der Stelle, wo „Transozean 2“ verſunken war. Seine Lotſchnur war faſt hundert Meter lang. Sie verſank im Waſſer, ohne daß das Lotgewicht Grund fand. „Transozean 2“ war endgültig verloren, unerreichbar auf dem Grund des Ozeans.
Erfüllte Träume
Hartmut nahm den Verluſt des „Transozean 2“ völlig gelaſſen hin. Irgend ein Fehler war in ſeiner Rechnung, ſonſt hätte das Mißgeſchick nicht eintreten können. Und ſolange ſeine Rechnung nicht reſtlos ſtimmte, ſolange blieb alles, was er unternahm, Spielerei. Nur Kinder ſchmerzt der Verluſt eines Spielzeugs.
Die Regenzeit ſetzte ein. Hartmut ſaß wieder viele Stunden am Empfangsapparat und horchte in die Welt hinaus. Nicht aus Neugier, geſchweige denn aus Sehnſucht hörte er die vielerlei Stimmen von da draußen. Er mußte ſeine Gedanken ablenken, die ruhelos um das Problem „Segelflug“ kreiſten und ſich in Bahnen einliefen, aus denen ſie nicht herauskommen konnten und die vielleicht von Irrtümern umſtellt und gebildet waren.
Doch auf den weiten Wanderungen, die er immer von neuem unternahm, kehrten ſeine Gedanken ſtets zu dem alten Problem zurück, das von allen Seiten beleuchtet bald in einem neuen Lichte vor ihm erſchien.
Wie zwecklos auch immer dieſe Wanderungen erſchienen, die ihn kreuz und quer über die Inſel führten, Hartmut beobachtete mit ſcharfem Auge jede Kleinigkeit ſeiner Umgebung. Bald hielt er vor den Stengeln einer beſonders zähen Grasart inne, die er genau unterſuchte. Bald ſchnitt er mit dem Meſſer Rillen in die Stämme gewiſſer ſtrauchartiger Bäume, beobachtete das Ausfließen des Saftes und prüfte ſeine Beſchaffenheit. Und dieſes regelloſe und ſcheinbar zweckloſe Prüfen, Unterſuchen und Beobachten lief auf ein neues Ziel los, das er ſich geſtellt hatte: die Statik der Pflanze, die Lehre von der Feſtigkeit des Pflanzenaufbaus, die wunderbare Aufbautechnik der Natur wollte er ſtudieren, die mit den einfachſten Mitteln und mit einem Mindeſtmaß von Aufwand an Material größte Leiſtungsfähigkeit erzielte.
Wie plump erſchienen ihm die ausgetüftelten Konſtruktionen des Eiſenhochbaus, des zünftigen Flugzeug- und Luftſchiffbaues gegen die konſtruktiven Wunderwerke, die die Natur in jedem Grashalm geſchaffen hatte. Die Wege, die logiſches Denken und planmäßige Weiterentwicklung den Techniker und Statiker geführt hatten, die hatte die Natur vor tauſend und abertauſend Jahren bereits beſchritten und im organiſchen Wachstum unter Anpaſſung an die innerſten Bedingungen bis zur letzten Vollkommenheit entwickelt. Hier war letzte Notwendigkeit und letzte Bedingtheit zu völliger Harmonie und Zweckmäßigkeit des Aufbaues untrennbar vereinigt.
Sein kleines Kraftwerk war Monate hindurch ohne jede Störung gelaufen. Die bei der Regenzeit aufkommenden Stürme hatte es ohne weſentliche Beſchädigungen überſtanden. Hartmut beſchloß jedoch, die kleinen Schäden ſofort auszubeſſern, um ihre Vergrößerung zu verhüten und die Anlage in keiner Weiſe zu gefährden.
Während dieſer Arbeiten ſchoß Hartmut eine neue Idee durch den Kopf, die er ſofort verwirklichte. Er litt unter dem Mangel an Seife außerordentlich. Sein kleiner Vorrat war natürlich längſt aufgebraucht, und er beſchloß, ſich ſelbſt eine ausreichende Menge herzuſtellen. Dazu mußte er ſich Fett und Ätznatron (oder Natriumhydroxid) herſtellen. Seine Kokospalmen lieferten ihm das notwendige Fett, Palmitin, in beliebiger Menge. Er trocknete von dem Fleiſch der Nüſſe ein größeres Quantum, zerſtampfte es und preßte es in einer Vorrichtung aus, die er aus einem Zylinder und dem dazu gehörigen Kolben des einen zerlegten Hauptmotors vom „Transozean“ herſtellte. Die Ventilöffnungen des Zylinders waren mit durchlöcherten Blechen abgedeckt. Das Fleiſch der Kokosnüſſe wurde eingefüllt und der Kolben mittels einer langen Hebelſtange heruntergedrückt, ſo daß das ölige Fett aus dem Zellgewebe des Kokosfleiſches ausgepreßt wurde.
Die Herſtellung des Natrons war eine viel ſchwierigere Aufgabe, zu deren Löſung aber alle Hilfsmittel vorhanden waren. Hartmut zerſchlug die Röhren der Senderanlage und entnahm ihnen die Platinzylinder, die ec als Anode und Kathode in ein Holzgefäß einbaute. Das Gefäß hatte er mit einem Pflanzenharz innen ausgegoſſen und abgedichtet und füllte es mit einer geſättigten Löſung von Kochſalz in Waſſer. In ſeinem Maſchinenhäuschen nahm er die Elektrolyſe vor, indem er die Pole ſeiner Dynamomaſchine mit den Platinelektroden verband. Sofort begannen von den Elektroden Gasbläschen aufzuſteigen. Die an der einen Elektrode aufſteigenden Bläschen waren farblos und brannten, wenn ſie an der Oberfläche angeſteckt wurden. Hier wurde der Waſſerſtoff ausgeſchieden. An der anderen Elektrode bildete ſich das grünlich-gelbe, durchdringend riechende Chlorgas.
Mehrere Tage hindurch ließ Hartmut die Anlage laufen und hatte nun in ſeinem Bottich eine Löſung von Natriumhydroxid im Waſſer. Dieſe Löſung brachte er zum Kochen und fügte ſo lange Palmitin zu, bis eine Löſung des Fettes eintrat. Er ließ die Maſſe kochen, bis ſie ſchleimig und zäh wurde, und in dieſen Seifenſchleim rührte er während des Erkaltens ſo viel Kochſalz ein, bis die Seife ſich in Flocken aus der Löſung ausſchied und durch Kneten von dem bei der Verſeifung mitentſtandenen und beigemengten Glyzerin befreit werden konnte. Sein Produkt roch zwar nicht ſehr ſchön, es erfüllte aber ſeinen Zweck vollkommen. Der Erfolg bereitete Hartmut beſondere Freude, da er Kenntniſſe zur praktiſchen Anwendung gebracht hatte, die er ſchon längſt vergeſſen glaubte. Unter dem Quell ſtehend, ſeifte er ſich vom Kopf bis zu den Füßen ab und feierte ſo eine Rückkehr zur Kultur, die er mit größtem Wohlbehagen empfand.
Bei dieſer Gelegenheit ſtellte Hartmut feſt, daß ſein Vorrat an Gefäßen bedenklich auf die Neige ging. Ihm fiel der blaue Ton im Wattenſumpf hinter der unterſeeiſchen Felsbank wieder ein. Er beſchloß einen Brennverſuch zu machen und fuhr mit ſeinem Boot hinüber, um von dem Ton auszugraben. Am Ausfluß des Ausgleichſtromes hatte ſich eine bei Ebbe frei liegende Bank dieſes blauen Lehms gebildet, die Hartmut aufſuchte und mit dem Spaten eine ausreichende Menge herausgrub. Als er das Material zu Hauſe zu Formen vorbereitete, fand er eine ganze Anzahl größere und kleinere Steine darin eingebettet, die teilweiſe kieſelartig ausſahen, zum Teil durchſcheinende Kriſtalle von anſcheinend oktaedriſcher Form bildeten.
Hartmut legte ſeinem Fund zuerſt keine Bedeutung bei. Eines Abends unterſuchte er einen der Kriſtalle und ſtellte feſt, daß er ſeine ſcharfen Stahlwerkzeuge ritzte. Bei einem Verſuch an ſeinem Spiegel ſchnitt der Kriſtall knirſchend eine tiefe Furche in das Glas. Nun wurde Hartmut aufmerkſam. Er zertrümmerte einen der Kriſtalle mit dem Hammer und ließ das feine Pulver in die Flamme ſeiner kleinen Benzinlötlampe rieſeln. Die kleineren Stückchen flammten auf und verbrannten. Er hatte Diamanten gefunden. Diamanten von einer Größe, die jedes einzelne Stück zu einem Handelsobjekt von hohem Wert machten.
Hartmut wog ſeinen Fund in der Hand. Das würde eine hübſche Aufregung an der Diamantenbörſe in Amſterdam geben, wenn er als „Outſider“ des Welt-Diamantentruſtes eines ſchönen Tages mit ein paar Taſchen voll von ſeinen Kieſeln dort erſcheinen würde!
Doch was nützte ihn ſein Fund hier? Ein Schluck Waſſer, eine Banane, eine Kokosnuß konnte ihm mehr wert ſein als ganze Berge dieſer hellen, harten Steine. Wert – was hieß Wert? Was beſtimmte Wert? Dort draußen in der Welt jagten die Menſchen dem „Wert“ nach, den Werten, die ſie ſelbſt geſchaffen, die ſie ſelbſt mit dem Begriff Werte gekennzeichnet hatten. Wahn, überall Wahn dort draußen!
Doch trotz ſeiner Überlegungen fuhr Hartmut mehrmals wieder hinaus an den Ausfluß des Ausgleichſtromes und ſah in dem klaren Waſſer auf dem Grunde eine ganze Geröllhalde voll dieſer kieſelartigen Steine liegen. Mit einer Schöpfvorrichtung griff er hinunter, bis er ſein Boot faſt gefüllt hatte. Zwei Steine von faſt Fauſtgröße waren darunter, und ein ganz klares, glasartiges Stück von der Größe einer Kokosnuß. Der größte Diamant, den die Welt kannte, war in ſeinem Beſitz. Der König im kleinſten Inſelreich der Welt konnte, wenn er wollte, eine Krone tragen, die mit dem größten Schatz unter allen Edelſteinen der Welt geſchmückt war.
Sein Verſuch, aus dem Ton Gefäße herzuſtellen, mißlang. Das Formen der Schüſſeln und Teller auf einer mit einfachſten Mitteln gebauten Drehbank verſetzte Hartmut in helle Freude. Er ſtellte eine ganze Reihe von Gefäßen her, denen er bewußt künſtleriſche Form gab. Aber all ſeine Mühe war umſonſt. Beim Brennen traten tiefe Riſſe ein, die die Gefäße unbrauchbar machten.
Als die Regenzeit vorüber war, erfaßte Hartmut innere Unruhe. Sehnſüchtig ſah er den Albatroſſen nach, die vorüberſchwebten, und hatte nur den einen Wunſch, ſelbſt wieder dort oben ſeine Kreiſe zu ziehen. Er mußte ein neues Flugzeug bauen, bei dem er alle Fehler des erſten Baues vermeiden konnte, und in dem alle Erkenntniſſe verwirklicht waren, die er gewonnen hatte.
Den Bau ſeines erſten Segelflugzeuges hatte er von Grund auf mit den groben und plumpen Mitteln begonnen, die ihm der Zufall in den Teilen vom Wrack des „Transozean“ beſchert hatten. Der ganze Bau mußte ein Kompromiß ſein zwiſchen dem Notwendigen und dem Gegebenen. Das Ergebnis dieſes Baues mußte alſo weit entfernt von dem Ideal ſein, das er forderte, und das allein ſich zu ſchaffen lohnte.
Sein Weg aus der Technik zurück in die Natur war ihm Vorbild auch zur Löſung dieſer Aufgabe. Nur die Mittel, die ihm die Inſel bot, die ſie in tauſendfältiger Form für ihn bereit hielt, durften dem Bau des neuen Flugzeugs dienen.
Nichts, was der Zufall ihm von den Produkten der Welt draußen beſchert hatte, nichts, was nur in begrenzter Menge ihm zur Verfügung ſtand, durfte an einem weſentlichen Teil des Neubaues benützt werden. Hartmut glaubte nun wirklich jeden kleinſten Winkel der Inſel und jede Pflanzenart, jedes Geſtein und jedes Tier auf ihr zu kennen. Ebenſo wie er ſeinerzeit aus dem Wrack des „Transozean“ die Fundquelle für ſeine Vorratskammer gemacht hatte, ſo wurde ihm jetzt die Inſel Fundquelle für eine Unzahl der verſchiedenartigſten Materialien, die er in irgend einer Form für den Bau des neuen Apparates verwerten konnte. Die von den aerodynamiſchen Bedingungen verlangte Außenform des neuen Flugzeuges ſtand deutlich und in allen Einzelheiten klar vor ſeinen Augen. Wie das innere Gerippe, das Tragwerk der Flächen und des Rumpfes auszubilden war, das hatte ihm ſein Studium des Aufbaues der Pflanzen ahnen gelernt.
Immer häufiger wurden ſeine Wanderungen in den kleinen Hain der bambusartigen Gräſer und Sträucher am Weſthange des Kraterberges. Hartmut ſchnitt große Mengen gleich langer und gleich dicker Stücke zurecht und trug ſie zu ſeinem Vorrat. Andere, beſonders gut und ſtark gewachſene Schäfte befreite er von Lianen und Überwucherungen durch Triebe des eigenen Wurzelſtockes. Andere wieder ſpannte er in Kokosſchnüre und zwang ihr Wachstum in beſtimmte Kurven und Bögen.
In einer gewiſſen Strauchart, die überall in den Vegetationsſtreifen der Inſel zu finden war, hielt er unbarmherzig Ernte und ſchnitt aus den abgehauenen Äſten zwei- und mehrteilige Aſtgabeln beſtimmter Formen ab, die er von Rinde befreite, im Waſſer auslaugte und vorſichtig trocknete. Wochen und Wochen hindurch arbeitete er auf dieſe Weiſe. Gleichzeitig verbeſſerte er den Bau des Hangars und verlegte ſeine Werkſtatt faſt völlig in ihn.
Als die Regenzeit wieder einſetzte, war er mit ſeinen Vorbereitungen fertig und begann den Bau.
Das ganze Traggerippe des neuen Segelflugzeuges wurde aus dem bambusartigen Schilf hergeſtellt. Die Verbindungsſtellen der dünnen Rohre des Schilfes waren ſo hergeſtellt, daß die Aſtgabelſtücke, die Hartmut geſammelt hatte, genau in das Rohr eingepaßt und mit Lack durch Einſchmelzen unlösbar feſt verbunden wurden. Wertvolle Dienſte leiſtete ihm das Schildpatt der Schildkrötenſchalen als Baumaterial. Beſonders komplizierte Teile, vor allem die Lager der beweglichen Teile, ließen ſich daraus verhältnismäßig leicht herausſchnitzen, ſägen und feilen. Je weiter der Bau voranſchritt, um ſo deutlicher wurde ſeine Ähnlichkeit mit einem Knochengerüſt, das durch organiſches Wachstum entſtanden war.
Die geltenden Prinzipien des Flugzeugbaues hatte Hartmut völlig verlaſſen. Er arbeitete ohne jede Zeichnung und überließ die Ausgeſtaltung und Anfertigung jedes einzelnen Teiles den Notwendigkeiten, die ſich beim Bau herausſtellten. Häufig nahm er Belaſtungsproben des Gerippes vor, beobachtete die Durchbiegung einzelner Teile, die er wieder ausbaute und verſtärkte, oder augenſcheinlich zu plump ausgefallene in ſchwächerer Ausführung wieder einbaute, bis ſeine Belaſtungsproben eine völlig gleichmäßige Durchbiegung des ganzen Gerippes und aller ſeiner Einzelteile zeigte.
Das fertige Gerippe hatte einen Bruchteil des Gewichts des Rohbaues vom verlorenen „Transozean 2“. Mit einer Hand konnte es Hartmut ſpielend leicht hochheben. Die nun deutlich werdende Außenform des Flugzeuges wich nur wenig von dem erſten Bau ab. Trotzdem waren die Änderungen, die Hartmut vorgenommen hatte, ſehr weſentlich, insbeſondere war die Konſtruktion als „Nur-Flügel“ viel ſtärker betont. Den Rumpf bildete eine nur ſehr ſchwache Auswölbung der Flächen, derart, daß er mit ſeinem rückwärtigen Teil völlig organiſch in die Hinterkante der an dieſer Stelle am breiteſten Flügel verlief.
Beſondere Sorgfalt hatte Hartmut auf die Anordnung des Sitzes verwandt. Er hatte ihn ſo ausgebildet, daß er nach dem Start die Beine hochziehen und ſie in bequemer Lage im Vorderteil des Rumpfes unterbringen konnte, während gleichzeitig die Öffnung für die Beine, die das Fahr- oder beſſer Laufgeſtell des Flugzeuges bildeten, durch einen Deckel verſchloſſen werden konnte. Auf freie Sicht des aus dem Flügelrücken knapp herausragenden Kopfes hatte Hartmut ebenfalls beſonders ſorgfältig geachtet. Bevor er an den Einbau der beweglichen Steuerteile und an die Beſpannung ging, ſtellte er noch eine ganze Reihe von Verſuchen mit dem Gerippe an. Er trug es hinaus ins Freie, unterſtützte es rechts und links unter den Flächen, ſo daß er das Hochziehen der Beine und Einnahme der günſtigſten Sitzlage üben und ausprobieren konnte.
Der Einbau der Steuerorgane nahm Hartmuts ganze konſtruktive Intelligenz und handwerkliche Kunſt in Anſpruch. Er vollbrachte wahre Meiſterwerke an Geſchicklichkeit, und mit den einfachſten Mitteln ſchaffte er eine Konſtruktion, die ſich unbedingt ſelbſtverſtändlich und organiſch in das Gerippe des Tragwerks einfügte. Erſt nachdem er die Steuer nach allen Richtungen geprüft, belaſtet und ausprobiert hatte, begann er die Beſpannung des Flugzeuges vorzubereiten.
Durch zahlreiche Verſuche hatte er in der Zwiſchenzeit eine Reihe von neuen Grasſorten und Blattarten ermittelt, die er im vorbereiteten Zuſtande zu einem Gewebe verflocht, das völlig dicht und in allen Zugrichtungen gleichmäßig feſt war. Auf einem beſonderen Rahmen ſtellte er lange Streifen dieſes Gewebes her, die er zum Schluß auf der Innenſeite mit einem Netz von diagonal weitmaſchig geflochtenen, langen und zähen Binſen bedeckte und mit Lacklöſung beſtrich, ſo daß die Binſen und das Blattgewebe feſt miteinander verklebten. Auf dieſe Weiſe entſtand ein ſperrholzähnliches Material in Platten von großer Feſtigkeit bei unglaublich geringem Gewicht, die in ſich ſo ſteif waren, daß ſie über die Wölbung des Gerippes gebogen werden mußten und ohne Verſteifung mit Spieren als tragende Außenhaut wirkten.
Dieſe einzelnen Platten nähte Hartmut mit dünnen Baſtfaſern an dem Gerippe feſt und beſtrich die Hauptverbindungsſtellen mit geſchmolzenem Harz, das er auf der Inſel aus einer gewiſſen Baumſorte durch Einſchnitte in die Rinde ausſchied. Die einzelnen Platten untereinander wurden ebenfalls durch derartige Nähte zuſammengefügt und mit dem Harz homogen verklebt.
Die Hinterkante des Flügels war aus beſonders vorbereiteten, in der Mitte durch einen Einſchnitt geſpaltenen Stäbchen des Bambusſchilfes hergeſtellt und wurde von Hartmut mit einem Gewebe aus den feinſten Gräſern bekleidet, die er auf der Inſel auftreiben konnte. Trotzdem er mit großer Fingerfertigkeit das Geflecht herzuſtellen gelernt hatte, nahm dieſe Arbeit Wochen und Monate in Anſpruch.
Während der ganzen Zeit hatte Hartmut ſeine üblichen Pflichten auf der Inſel nie vergeſſen. Genau nach der Uhr teilte er ſein Leben ein, arbeitete meiſtens acht Stunden lang am Tag, ſchlief ebenfalls genau acht Stunden, ſo daß er vier Stunden Zeit zur Erledigung ſeiner häuslichen Pflichten hatte und vier Stunden zur Muße, die oft dem Radio gewidmet waren.
Mit viel größerem Intereſſe verfolgte er wieder die Ereigniſſe in der Welt da draußen, die ihm, ohne daß er ſich deſſen bewußt war, weniger fremd und näher gerückt erſchien.
Die Arbeit floß ihm gleichſam unter den Händen weiter, und der Bau des Flugzeuges näherte ſich mit jedem Tage ſichtbar der Vollendung. Hartmut arbeitete gleichmäßig, ohne Haſt, ohne Unruhe und ohne jede Übereilung. Was ihm nicht ſo gelang, daß er nicht den kleinſten Fehler daran auszuſetzen fand, entfernte er rückſichtslos und erſetzte es durch ein fehlerfreies Stück. Erſt als das Flugzeug bis in alle Einzelheiten ſeines Baues fertig war, nahm Hartmut die Lackierung vor. Um ſie durchführen zu können, hatte er ein nenes Quantum Alkohol hergeſtellt, mit dem er eine dünne Löſung ſeines Lackharzes herſtellte, die er auf die Oberfläche des Flugzeuges in mehr als zehn Lagen gleichmäßig auftrug. Auf dieſe Weiſe erhielt er eine hauchdünne und leichte, aber außerordentlich harte und widerſtandsfähige Lackſchicht, die dem Flugzeug größte Haltbarkeit und Wetterbeſtändigkeit ſicherte.
Am äußerſten Ende des ſtarren Flügelteils hatte Hartmut Kapokſäcke eingebaut, die ein Unterſinken in dem Waſſer verhindern mußten. An Stelle von Haltegurten hatte er ſeine Schwimmweſte am Sitz befeſtigt, ſo daß er keinen Flug ohne dieſe unternehmen konnte.
Faſt vierzehn Tage lang ließ Hartmut den Lack nach dem letzten Anſtrich austrocknen, bevor er das Flugzeug ins Freie hinaustrug. Er ſtellte es mehrere Stunden in die pralle Sonne, ſo daß es ſich in allen Teilen durchwärmte und ſeine Oberfläche ſo heiß wurde, daß es faſt ſchmerzhaft war, ſie anzufaſſen. Nirgends zog der Lack Blaſen. Er verlor zwar ſeine ſpröde Glashärte, ohne aber zu ſchmelzen oder nur merklich weich zu werden. Dieſen letzten Trocknungsvorgang wiederholte er an mehreren Tagen.
Als er das Flugzeug einmal zurückzutragen beabſichtigte, wehte ein ſchwacher Wind. Hartmut führte, mehr um auszuprobieren, wie ſich das fertige Flugzeug im Winde tragen ließ, einige Laufſchritte gegen den Wind aus. Er war noch weit von dem Abhang des Plateaus entfernt, als eine ſchwache Böe ihn vom Boden abhob. Inſtinktmäßig zog er die Füße an, ſchwebte, ließ die Steuer ſpielen und ſtieg gegen den Wind mit großer Geſchwindigkeit an, ſo daß er nach wenigen Minuten den Kraterberg mehr als hundert Meter unter ſich liegen ſah.
Das neue Flugzeug gehorchte dem kleinſten Steuerdruck. In jede feinſte Regung des Luftſtromes fügte es ſich ein, wie von eigenem Willen beſeelt nützte es jeden Luftſtoß zum Steigen und Weitergleiten aus. Hartmut vollführte ſteile Kurven und Sturzflüge, um ſofort wieder geräuſchlos und weich umfloſſen von der Luft dahinzugleiten und ſich hochtragen zu laſſen. In ihm war ein einziges Jauchzen. Er hörte ſich plötzlich ſchreien mit einem Laut, der ähnlich wie der ſchrille Schrei des Albatroſſes klang.
Zum erſten Male fühlte Hartmut, daß er flog, wirklich ſo flog, daß ſein Gleiten und Schweben durch die ihn willig tragende Luft Fliegen genannt werden konnte. Der Übermut trieb ihn. Dreihundert Meter über der Inſelkuppe ließ er das Flugzeug wie einen Raubvogel faſt ſenkrecht hinabſtürzen, fing es weich ab, zog Höhenſteuer, und geräuſchlos drehte es ſich im Looping über ſeinen Rücken, um in zierlicher Kurve in Normallage zurückzukehren und weiterzugleiten.
Waren früher die Albatroſſe ſeine Lehrmeiſter geweſen – jetzt konnte er ihnen Vorbild ſein und zeigen, was ſie ihm nicht zeigen konnten!
Seit dieſem erſten Fluge mit dem neuen Flugzeug lebte Hartmut im Rauſch des Erfolges. Er gab ſeinem Rieſenvogel den Namen „Albatros“, da er wußte, daß er ſich dieſes Namens nicht zu ſchämen brauchte.
Hatte er zuerſt die Morgen- und Abendſtunden zu ſeinen Flugübungen benützt, die ſchwachen Winde aufſuchend, die dann auch an Tagen völliger Windſtille über die Inſel ſtrichen – jetzt genügte ihm der hauchſchwache Luftzug einer Sonnenböe, eines aufſteigenden Stromes warmer Luft vom Boden der Steppe aus, um den „Albatros“ in die blaue Höhe hinaufzuſteuern. Hartmut lernte. Mit dem ganzen Eigenſinn ſeines ſchwäbiſchen Dickkopfes ſtrebte er nach einer Meiſterſchaft im Segelfluge, die ihn zum Meiſter der Launen des unberechenbaren Elementes machen ſollte, das ihn trug.
Oft ſtand er ſtundenlang anſcheinend unbeweglich im Gipfelpunkt eines aufſteigenden Stromes warmer Luft über der Inſel. Oft wieder ſegelte er kreiſend in flacher Steigung aufwärts, um dann aus der Höhe herabzuſchießen und ſich von dem Luftwirbel nahe über der Brandung tragen zu laſſen. Er lernte es, auf dem kleinſten Geländefleck zu landen und zu ſtarten, ſo daß er ſeinen „Albatros“ an manchen Tagen als Transportmittel gebrauchte. Die Beherrſchung der Maſchine war ihm eine Selbſtverſtändlichkeit geworden. Ebenſo wie er ſein kleines Boot durch das Waſſer einem gewiſſen Punkte des Ufers ſeiner Inſel entgegentreiben konnte, wie ihn das Waſſer trug und das Boot dem Ruder gehorchte, ebenſo ſicher ſteuerte er ſeinen „Albatros“ durch das Luftmeer einem beſtimmten Ziele zu. Seine Flüge hatten ſich im Anfang immer im unmittelbaren Bereich der Inſel gehalten. Er hatte ſich nie weiter von ihr entfernt, als ihn ſicherer Gleitflug zur Inſel zurücktragen mußte. Allmählich aber verließ er den Stützpunkt der Inſel immer mehr und wagte ſich zu weiten Flügen über das Meer hinaus.
Bei kräftigem Wind ſuchte er mit Vorliebe die Möwenklippen auf. Anfangs verſcheuchte er die Scharen der Möwen und Albatroſſe, bis ſich die Tiere allmählich an den neuen Rieſenvogel gewöhnt hatten, der geräuſchlos herangeſchlichen kam und trotz ſeiner furchterregenden Größe keinem von ihnen je ein Leid getan hatte. So kam es, daß er oft ein Geſchwader von Albatroſſen begleitete und ihrem Fluge ſo weit hinaus folgte, daß das Bild der Inſel hinter ihm faſt in Dunſt verſchwamm. Gegen den Wind ſteigend erreichte er oft Höhen von über tauſend Meter, und bald gelang es ihm, bis über zweitauſend Meter hinaufzuſteigen. Ohne merklichen Übergang tauchte er dabei faſt augenblicklich in einen Strom ſehr kalter Luft ein, wie er fröſtelnd feſtſtellte. Er hatte eine Inverſion, die Grenze zwiſchen dem Gleichgewicht zweier Luftſchichten, erreicht und war aus der unteren warmen Schicht in die darüberliegende kalte Zone eingedrungen.
An einer ſolchen Schichtgrenze beſtehen in den meiſten Fällen gleichzeitig verſchiedene Windgeſchwindigkeiten zwiſchen den beiden Luftſchichten, ſo daß die Grenzſchicht ſelber eine Zone Wirbelböen einſchließt. Der „Albatros“ fügte ſich gleichſam ſelbſtändig in dieſes Spiel der Böen ein. Er wiegte ſich über die Berge der Luftwellen, ſchaukelte die Täler hinunter, um mit vermehrter Geſchwindigkeit über den nächſten Wellenberg hinauf- und hinwegzugleiten. Es war der müheloſeſte Segelflug, den Hartmut bisher kennengelernt hatte. Aber jedem Verſuch, aus dieſer Wirbelſchicht herauszukommen und größere Höhen aufzuſuchen, widerſetzte ſich das Flugzeug. Wie durch einen Magneten wurde es von der Böenzone feſtgehalten.
Hartmut kreuzte über der Inſel hin und her, Gegenwind und Rückenwind trugen ihn gleich gut. Der Unterſchied in ſeiner Fluggeſchwindigkeit war jedoch ſehr auffällig, und Hartmut konnte beobachten, daß er mit Rückenwind mehr als die fünffache Horizontalgeſchwindigkeit relativ zur Inſel entwickelte als bei Gegenwind. Die periodiſchen Schwankungen in der Zahl der die Ufer der Inſel bevölkernden Albatroſſe fanden damit eine einfache Erklärung: die Scharen zogen aus und ließen ſich, ihrem Ortsſinn folgend, vom Rückenwind einem beſtimmten Ziel entgegentragen. Dort angelangt verweilten ſie ſo lange, bis andere Winde ſie anderen Zielen entgegentrugen, oder aufkommende Gegenwinde ſie zur Inſel zurückbrachten.
In Hartmuts Inſelleben war, ſeit der „Albatros“ flog, kaum eine Ânderung eingetreten. Die Stunden, die früher dem Bau des Flugzeuges gewidmet waren, füllten nun die Ausführung der Flüge und die Vornahme vieler kleiner Arbeiten an dem Flugzeug aus, die entweder der Inſtandhaltung oder ſeiner Verbeſſerung dienten. Viele der aeronautiſchen Inſtrumente aus dem „Transozean“ hatte Hartmut nach und nach eingebaut und für ſeine Zwecke hergerichtet. Kompaß, Höhenmeſſer und ein zu beſonderer Empfindlichkeit umgebauter Staudruckmeſſer zur Feſtſtellung der Schwebegeſchwindigkeit relativ zur Luft, dienten der Sicherung und Ausdehnung ſeiner Flugexperimente. Später baute er noch den Sextanten ein und übte die Ortsbeſtimmung nach dem Stand der Sonne.
Eines Nachts verlockte ihn zauberhafter Vollmondſchein zu einem Nachtflug. Er kreuzte mehr als ſieben Stunden im Bereich der Inſel und berauſchte ſich an dem Wunder des Sonnenaufgangs bis zur Selbſtvergeſſenheit. So gebannt war er von dem Schauſpiel, daß er die Steuer des „Albatros“ losließ und erſt wieder zugriff, als er mit ſeinem Flugzeug wie ein welkes Blatt zur Erde taumelte. Eine kaum merkliche Korrektion des Steuerausſchlages genügte, um den „Albatros“ in ſeine ſtabile Lage zurückkehren zu laſſen. Dieſes willenloſe Sichſtürzenlaſſen wurde für Hartmut zu einem Spiel, das er nun oft wiederholte, und das ihn zur Ausführung anderer Kunſtſtücke antrieb. Er brachte Haltegurte an ſeinem Sitz an, in denen er ſich feſtſchnallen konnte, und verſuchte Rückenflüge ſo lange, bis er faſt ebenſo ſicher auf dem Rücken zu ſegeln verſtand wie in normaler Lage des Apparates. Faſt jeder Landung aus großer Höhe ging eine Anzahl von Loopings voraus, deren Technik Hartmut allmählich ſo beherrſchte, daß die Geſchwindigkeit, mit der er ſie ausführte, nahe an der Grenze des Möglichen lag. Oft ließ er auch die Maſchine rückwärts abgleiten, dabei ihre Steuer völlig loslaſſend, um ſich daran zu freuen, wie die Maſchine nach einigen taumelnden Fallbewegungen „die Naſe nach unten nahm“ und ohne jedes Zutun in Gleitflugſtellung zurückkehrte.
Je mehr Hartmut ſein Fliegen als Selbſtverſtändlichkeit und ſeinen „Albatros“ als Gebrauchsgegenſtand täglichen Bedarfes empfand, um ſo häufiger unternahm er Zweckflüge. Bei dieſen Flügen kam es ihm darauf an, gewiſſe beſondere Bedingungen der Luftſtrömung zu ſtudieren, mit ausgeklügelter Landungstechnik beſtimmte Punkte der Inſel zu erreichen, oder exakte Meſſungen irgendwelcher Art vorzunehmen. Auf dieſe Weiſe kam er auf den Gedanken, die Luftbildkamera einzubauen und eine photographiſche Vermeſſung der Inſel durchzuführen. In einer Inverſionsſchicht fliegend, führte er in wenigen Stunden die Aufgabe durch. Die belichteten Platten verklebte er kunſtgerecht mit Lack in ihren urſprünglich verlöteten Behältern, wo ſie ſich lange, ohne zu verderben, halten mußten, um ſpäter entwickelt zu werden.
Bei dem Gedanken an dieſes „Später“ hielt Hartmut inne. Und dann ſtand mit einem Schlage ſein Plan zur Rückkehr in die Welt bis in alle Einzelheiten fertig vor ſeinem Auge. Alles, was ſich in den vergangenen Wochen in ſeinem Unterbewußtſein geregt hatte, kam zum Durchbruch und wurde Gedanke und Vorſtellung. Der Vogel Albatros war ſein Vorbild beim Bau des Flugzeuges geweſen. Er war ſein Lehrmeiſter im Fliegen geworden – warum ſollte er nicht ſein Führer weit über das Meer ſein?
Von dieſem Tage an ſtand Hartmut oft ſtundenlang in ſeiner Höhle und hielt Umſchau unter ſeinen Vorräten, aus denen er ſorgfältig Auswahl traf. In eine Anzahl von Taſchen und Käſten, die er in Greifweite von ſeinem Sitz im „Albatros“ einbaute, verteilte er die ausgewählten Dinge und führte mit dieſer zuſätzlichen Belaſtung zahlreiche Probeflüge aus. Gleichzeitig begann ein gewiſſenhaftes Training für Dauerflüge, bis er vermochte, ohne merkliche Ermüdung mehr als vierundzwanzig Stunden in der Luft zu bleiben.
So kam die Regenzeit heran, in der Hartmut den „Albatros“ nur in den kurzen Perioden ſchönen Wetters zwiſchen den langen Regentagen in Benutzung nahm, um ſeine Flügel durch eindringende Feuchtigkeit nicht zu gefährden. Im Innern der Flächen auftretende Schimmelbildungen bekämpfte er durch Einblaſen trockenen Rauches, der die Deſtillationsprodukte des Holzes als feine Schicht über die gefährdeten Stellen legte und die Schimmelpilze zum Abſterben brachte.
Als die Regenzeit vorüber war, nahm Hartmut ſein Training im Dauerflug von neuem auf und ſtellte einen Weltrekord auf der einſamen Inſel fern von der Welt im Ozean auf, indem er einmal achtundvierzig Stunden ununterbrochen in der Luft blieb.
Im Flug zurück zur Menſchheit
Als Hartmut an einem Abend in ſeiner Höhle das Datum in ſein Tagebuch eintrug, wurde er gewahr, daß ſich in zehn Tagen ſeine Landung auf dieſer Inſel zum ſiebenten Male jährte.
Hartmut legte die Feder aus der Hand, ſchaltete das Licht aus und ſetzte ſich auf die Schwelle ſeiner Höhle, in die ſternklare Nacht hinausblickend. Sieben Jahre Einſamkeit lagen nun hinter ihm. Morgen früh wurden es ſieben Jahre, daß er den „Transozean“ aus den Waſſern des Bodenſees herausgehoben hatte. Wie damals glaubte er, die Heimat hinter ſich im Dunſt der Ferne verſchwinden zu ſehen. Wie damals glaubte er, das Erlebnis der weiten Welt vor ſich liegen zu ſehen im blauen Licht freudiger Erwartung, im lockenden Schein der Tat und des Abenteuers. Und wie damals baute ſich über all dem zugleich wieder das Bild der Heimat auf, die hinter dem allem lag, ruhend in ſich ſelber, und wartete wie eine Mutter auf ihr Kind.
Sieben Jahre waren eine lange Zeit. Sie hatten genügt, um dieſe kleine Inſel zu ſeiner neuen Heimat werden zu laſſen, und hatten doch nicht genügt, ihn das Bild der alten Heimat vergeſſen zu laſſen.
In dieſer Nachtſtunde wußte Hartmut, daß er bald Abſchied nehmen mußte von der Inſel, und daß er in wenigen Tagen den großen Flug unternehmen würde, der ihn zur Menſchheit und zur Welt zurückführen ſollte.
Die letzten Vorbereitungen zu ſeinem Flug traf Hartmut mit abwägender Sorgfalt. Nahrungsmittel und Waſſer für vier Tage wurden als Letztes in den Behältniſſen des „Albatros“ verſtaut.
Am Morgen des ſiebten Jahrestages ſeiner Rettung auf dieſer Inſel ſtand Hartmut auf den Felſen über der Höhle und beobachtete das Wetter. Frühlingshelle Cumuli trieben in heiteren Scharen im raſchen Fluge von Oſten nach Weſten, zogen hinüber nach dem Märchenland Polyneſien. Alle Bedingungen, die er für ſeinen Flug an Wind und Wetter ſtellen konnte, waren erfüllt.
Hartmut trat zurück in die Höhle und ſtreichelte zart mit der Hand über das Lager, auf dem er durch ſieben Jahre hindurch geruht hatte, auf dem er durch Krankheit und aus tiefer Müdigkeit neuer Kraft entgegengeſchlafen war. Mit der gleichen leichten Gebärde ſtreichelte er mit den Augen die Dinge, die durch ſieben Jahre hindurch ſeine ſtummen Diener und Gefährten geweſen waren. Dann nahm er ſein Tagebuch an ſich und ging mit zögernden Schritten zu einem Winkel der Höhle, dem er ein Bündel Banknoten, Dollarſcheine, entnahm, die er damals bei ſeinem Start in Friedrichshafen auf den großen Flug mitgenommen hatte.
Und zuletzt blieb ſein Blick an einer Kiſte hängen, in der die Kieſel des Ausgleichſtromes lagen. Hartmut zögerte einen Augenblick, dann barg er lächelnd die größten und eine Handvoll der klarſten Stücke in der Taſche aus Binſengeflecht, die die letzten Gegenſtände aufnehmen ſollte, die er auf ſeinem Flug mitnahm. Dann ſchritt er raſch dem Ausgang der Höhle zu, und als er zum Uferrand emporſteigen wollte, flog ihm ſein Papagei auf die Schulter und ſagte ihm zärtlich ins Ohr: „Biſt du ſchon munter, Hartmut?“ Er ſtreichelte den Vogel. Plötzlichem Entſchluß folgend, nahm er ihn mit ſich hinauf, wo der „Albatros“ ſtartbereit ſtand.
Ohne ſich aufzuhalten, verſtaute er die Taſche in dem Flugzeug, ſetzte den Papagei in die Höhlung des Flügels, aus der er ſchimpfend Auslaß begehrte. Dann ſchnallte er ſich im Flugzeug feſt, trug es bis zu einer geeigneten Stelle, ſchwang ſich mit einem Schwung dem kräftigen Wind entgegen, der über die Inſel ſtrich.
Raſch trug ihn die Luft empor. Abſchiednehmend ſchwebte er niedrig über die Inſel hin, umrundete ihre Ufer und ſaugte ſich mit den Blicken an allen Einzelheiten feſt. Ein wehes und trauriges Gefühl überkam ihn, als er die Klippen im Süden umkreiſte, die Wohnbucht mit den Wrackteilen des „Transozean“ unter ihm vorbeizog, und er den letzten Blick auf das ſtillſtehende Waſſerrad und das „Maſchinenhäuschen“ warf.
Der Papagei ſollte auch Abſchied nehmen: Hartmut öffnete die Innenklappe des Flügels. Der Vogel ſetzte ſich auf ſeine Hand. Er nahm ihn vorſichtig heraus und hielt ihn ſo, daß das Tierchen auf die Inſel hinabſchauen konnte. Doch kaum hatte der Luftzug des Fluges den Vogel getroffen, als er wütend mit ſeinen Flügeln zu ſchlagen begann, ſich loszureißen verſuchte, und als Hartmut ihn krampfhaft feſthielt, ihn wütend und tief in den Finger biß. Unwillkürlich ließ Hartmut vor Schmerz den Vogel frei. Mit ängſtlichem Schreien ließ ſich das Tier hinabgleiten und verſchwand als winziger Punkt im Grün der Inſel.
Der kleine Papagei wollte nicht fort von der Inſel, die ſeine Heimat war. War es Inſtinkt, war es Vernunft, was ihn getrieben hatte, ſich mit Gewalt von der Hand ſeines Herren zu befreien, an dem er mit der ganzen Liebe ſeiner Tierſeele hing? War es nicht ein Omen, daß dieſer Abſchied von ſeiner wirklichen Heimat auch für ihn, für Hartmut, Unſinn war wie alles in der Welt da draußen, der er entgegenſtrebte? Hartmut drehte in ſteiler Kurve den „Albatros“ zur Inſel zurück. Wie eine Lockung lag das weltvergeſſene, liebliche und friedliche Eiland vor ihm, bereit, ihn aufzunehmen und ihm zu dienen.
Dann aber blickte Hartmut hinauf zum Himmel und folgte mit den Blicken den ſegelnden Wolken, die ſo fröhlich der Ferne entgegentrieben. Wiederum drehte er ab und winkte mit der Hand der Inſel einen Gruß zu und rief, ſo laut er rufen konnte: „Auf Wiederſehen, du Stillſte Inſel!“ War es ein Echo, war es die Antwort des ſtillen Landes: er glaubte leiſe aus der Tiefe die Antwort zu hören: „Auf Wiederſehen!“
Vom Rückenwind getragen, nahm Hartmut ſeinen Kurs und ſtieg in raſchen Kehren im Wirbelſtrom der Inſel aufwärts. In knapp einer Stunde hatte er die erwartete Inverſionsſchicht in 1800 Meter Höhe erreicht, und mit den ziehenden Wolken ſegelte und ſchwebte er dem Weſten zu.
Die Inſel verſchwand im Dunſt. Hartmut verſuchte ſeine Geſchwindigkeit zu ſchätzen und glaubte in dieſer Höhe mit mehr als ſiebzig Kilometer Fluggeſchwindigkeit voranzueilen. Im günſtigſten Falle konnte er in zweitauſend Kilometer Entfernung eine bewohnte Inſelgruppe treffen – er mußte ſich auf einen Flug von faſt dreißig Stunden vorbereiten. Seinen Kurs richtete er, ſo gut es gehen mochte, auf die nächſtgelegenen Marqueſas-Inſeln, die faſt genau weſtlich lagen, mit einem Schlag nach Süden.
Der „Albatros“ ſpielte in der Luft, kaum daß Hartmut die Steuerhebel zu betätigen brauchte. Endloſe Stunden regelmäßigen Fluges reihten ſich aneinander, ohne daß Hartmut auf dem Meere das geringſte Zeichen von Leben entdeckt hätte. Die Eintönigkeit lullte ihn in einen leichten Halbſchlaf. Zwiſchen halb geſchloſſenen Augenlidern ſah er das matte Bild des Kompaſſes, und mechaniſch führten ſeine Arme ſeine Steuerbewegungen aus, die genügten, um den „Albatros“ im Fluge und auf Kurs zu halten.
In regelmäßigen Abſtänden nahm Hartmut Nahrung und Waſſer zu ſich. Er reckte und dehnte ſich in ſeinem Sitz, um ſeine Glieder gelenkig zu erhalten, wie es ihn ſein Training gelehrt hatte. Dann wieder ſuchte er mit dem Glas den Horizont vor ſich in allen Einzelheiten ab, ohne ein Anzeichen von Leben oder ein Schiff zu erblicken.
Nach zwölf Stunden Flugzeit kam die Nacht. Mit Beginn der Dämmerung waren die kleinen Cumulus-Wolken zarter und dünner geworden und bald ganz verſchwunden. Nur eine Dunſtſchicht kennzeichnete die Inverſion, und die den „Albatros“ tragenden Böen wurden ſchwächer und ſchwächer. Mit der Dunkelheit hörte die Böentätigkeit faſt völlig auf, und Hartmut mußte ſeine ganze Geſchicklichkeit aufwenden, um die geringen Geſchwindigkeitsunterſchiede der beiden Strömungen zum Fluge auszunützen.
Gleichzeitig wurde es empfindlich kalt, ſo daß Hartmut für die erzwungene Tätigkeit ſeiner Muskeln dankbar war, die ihn einigermaßen warm erhielt. Gegen Mitternacht trank er den erſten Schluck heißen Kaffees, der ihn außerordentlich erfriſchte und ihm das Durchhalten als leichte Aufgabe erſcheinen ließ.
Doch bald mußte er wieder gegen den Dämmerſchlaf ankämpfen, in den ihn die Monotonie des Fluges unter dem matten Licht der Sterne einlullen wollte. Nur um ſich wach zu halten, griff er nach ſeinem Fernglas und ſuchte das Meer vor ſich ab. In dem trüben, verſchwommenen Bild, das er erkennen konnte, zeigte ſich nichts. Plötzlich aber glaubte Hartmut einen Lichtſchimmer bemerkt zu haben, und als er die Gegend, über die ſein Glas hinweggeeilt war, nochmals genau abſuchte, traf er wieder auf die Lichtpunkte; als er das Glas ſcharf einſtellte, entſtand das Bild eines fahrenden Schiffes mit Lichtern an Bord und der vom Feuerſchein der Keſſel ſchwach erleuchteten Rauchwolke des Schornſteins.
Hartmut heftete ſeine Blicke auf das winzige Bild in ſeinem Glas, bis ihm die Augen zu tränen begannen. Eine Täuſchung war ausgeſchloſſen. Er kreuzte den Kurs eines Dampfers, der ohne Zweifel in der Nähe einer der bewohnten Inſelgruppen vorbeiführte. Hartmut hörte ſein Herz ſchlagen. Das Blut pochte ihm in den Schläfen und ſeine Hand zitterte ſo ſtark, daß er das Glas nicht mehr zu halten vermochte. Mit bloßem Auge ſuchte er die Dunkelheit zu durchdringen. Immer wieder glaubte er das Bild der kleinen Lichtpunkte gefaßt zu haben, ohne daß es ihm gelang, den ſchwachen Schimmer feſtzuhalten. Seine ganze Aufmerkſamkeit, die Kraft aller ſeiner Sinne war auf dieſes ſpähende Schauen vereinigt. Erſt nach langer Zeit war er in der Lage, klare Gedanken zu faſſen, und er bemerkte mit Schrecken, daß der „Albatros“ längſt aus der Zone der Inverſionsſchicht herausgekommen war und ſich im flachen Gleitflug nach unten ſenkte.
An eine Landung auf oder in der Nähe des Dampfers war in der Dunkelheit nicht zu denken. Niemand auf dem Schiff würde ihn bemerken, wenn er geräuſchlos auf dem Waſſer niederging; mochte es auch in allernächſter Nähe des Schiffes ſein, ſeine Rufe würden ungehört verhallen.
Hartmut verſuchte nun, den „Albatros“ zu halten. Doch in dem ſtetigen Strom des nächtlichen Windes war keine Kraft enthalten, die ihn zu tragen vermochte. Die lebendige Kraft, die er in ſeiner Höhe aufgeſpeichert hatte, die Schwerkraft, die ihn nach unten zog, war die einzige Energie, die ihn bewegte, die ihn trug. Wie ſchwach auch immer die Neigung ſeines Gleitfluges war, er ſenkte ſich dem Meere zu und mußte den Waſſerſpiegel erreichen, bevor der Morgen die Sonne brachte, die Luftwirbel durch Veränderung der Temperaturen erzeugte und ſeinen bewegungsloſen Schwingen damit neue Energie zuführte. Hartmut hatte nur noch ein Beſtreben: ſeinen Gleitflug ſo flach als möglich zu geſtalten, um die Zeit, in der ſein „Albatros“ ſich in der Luft hielt und voranbewegte, ſo lange wie möglich auszudehnen.
In 800 Meter Höhe traf er eine zweite Dunſtſchicht an, in der hauchſchwache Wirbeltätigkeit herrſchte. Doch ſeine Hoffnung, hierin den „Albatros“ halten zu können, erwies ſich nur zu raſch als trügeriſch. Sein Gleitflug wurde zwar flacher, näherte ſich aber ſtetig und unaufhaltſam dem Waſſerſpiegel und damit dem Ende.
Die Trübung der Atmoſphäre nahm zu. Er mußte die Kurslinie des Dampfers längſt hinter ſich haben. Das ſchwache Licht der Sterne wurde von dem Dunſt der Atmoſphäre faſt völlig verſchluckt, ſo daß er nun in grauer Dunkelheit dahinglitt, in der nur ſeine ſelbſtleuchtenden Inſtrumente dem Auge einen Feſtpunkt boten.
Plötzlich horchte Hartmut auf: hatte ſich nicht das dumpfe, weiche Brauſen der an ſeinem Kopf vorüberſtreichenden Luft, dem Flugwind des „Albatros“, mit einem anderen Geräuſch vermiſcht? Und dann unterſchied Hartmut deutlich das Rauſchen von Wellen tief unter ſich. Es war nicht der Rhythmus der Brandung – es war das brauſende und brodelnde Rauſchen des vom Wind aufgewühlten Meeres, das ſeine geſpannten Sinne in fünfhundert Meter Höhe vernahmen. Einmal glaubte Hartmut dieſes Rauſchen verſtärkt zu hören, doch ſein angeſtrengtes Lauſchen begann in ſeinen Ohren zu dröhnen, ſo daß er nicht mehr unterſcheiden konnte, ob das Brauſen ſeines Blutes ihn narrte oder ob die Geräuſche von außen her zu ſeinen Sinnen drangen. Zitternde Erregtheit erfaßte ihn, ſein Herz klopfte bis zum Zerſpringen, und die Überanſtrengung ſeiner Sinne ſteigerte ſich bis zum Schmerzgefühl: ſeine Augen tränten, ſeine Ohren ſchmerzten und ſeine Muskeln zitterten wie im Fieberfroſt.
Unmittelbar tauchte aus der grauen Dunkelheit, die wirklich vor ihm war oder mit der ihn ſeine brennenden Augen äfften, zum Greifen nahe eine ſchwarze Wand auf, die ſich ſteil und drohend vor ihm aufrichtete. Hartmut hielt die Steuer des „Albatros“ krampfhaft feſt. Dann wiſchte er mit der Hand über ſeine Augen, als wollte er das Phantom, das nachtſchwarz vor ihm ſtand, fortwiſchen. Gleichzeitig aber durchdrang das Brauſen des Blutes in ſeinen Ohren ein ſcharfes Pfeifen wie von Sturm in Äſten und Zweigen. Im nächſten Augenblick rüttelten ſchwere Böen in den Schwingen des „Albatros“, und bevor Hartmut wußte, was geſchehen war, krachte und praſſelte es rings um ihn. Er fühlte, wie der Rumpf des „Albatros“ in der Mitte zerbarſt, wie er ſelbſt herausgeſchleudert wurde und, durch die Luft fallend, ein Gewirr von Blattwerk und Äſten durchſchlug und weich von den tauſendfachen Armen dichten Geſtrüpps aufgefangen wurde.
War es Bewußtloſigkeit, war es der Schlaf der Erſchöpfung, war es das Gefühl des Gerettet- und Geborgenſeins, in dem er willenlos eingeſchlummert war, und aus dem er jetzt erwachte – Hartmut wußte es nicht. Ob er überhaupt geſchlafen hatte, und wie lange er geſchlafen haben mochte – er hatte keine Vorſtellung von alledem. Er fand ſich in einer vom Fall ſeines Körpers gebildeten Mulde des eng verwachſenen Strauchwerks gebettet, wie ſeine taſtenden Hände in der tiefen Dunkelheit, die ihn umgab, feſtſtellten. Jetzt erſt fühlte er, wie die Erſchöpfung, in der er ſich befand, ſeine krampfhaft geſpannten Sinne und Glieder zu löſen begann. Er merkte, wie warme Tropfen über ſein Geſicht rollten, er ſchmeckte den ſüßlichen Geſchmack des Blutes und ſpürte mit der Hand, daß ſein Geſicht von Äſten und Dornen geritzt und zerſchunden war. Dann verſuchte er ſeinem Körper eine Lage zu geben, in der er nicht von harten Äſten getroffen wurde. Endlich gelang es ihm, mit ſeinen klar werdenden Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Über ſich gewahrte er am Himmel den erſten hellen Schimmer des nahenden Morgens.
Langſam verrann Minute auf Minute, ohne daß Hartmut ſich regte. Er ſah, wie die erſten Strahlen der Sonne den Himmel in fahlem Gelb aufleuchten ließen. Er ſah die Silhouetten der Bäume, an denen ſein „Albatros“ zerſchellt war, hart vor der ſich aufhellenden Luft ſtehen. Er ſah die Schatten ſich in fahle Farben auflöſen, die ſich im erſten Sonnenſtrahl in leuchtendes Grün verwandelten.
Aber erſt nachdem der Wald, in dem er gebettet lag, vom hellen Sonnenlicht durchflutet wurde, hob Hartmut den Kopf und blickte um ſich. So ſah die Welt aus, in die er den Weg zurückgefunden hatte: ſchlanke Kokospalmen mit dem leichten Gefieder ihrer Blätter, hohe Bananenſtämme in der ſtrengen ornamentalen Geſchloſſenheit ihres Blattſtandes, und darunter das Gewirr von Bäumen und Sträuchern vielfältigſter Art. Mancher Winkel ſeiner „Stillſten Inſel“ mochte von dieſer Ecke der Welt, in der er gelandet war, uicht zu unterſcheiden ſein.
Rings um ihn dichteſter Urwald. Kein Pfad, kein Steg, nur Ranken- und Blattwirrnis, aus der es keinen Ausweg gab. Wie ſehnſüchtig dachte Hartmut an ſeine Steigeiſen daheim auf der „Stillſten Inſel“, mit denen er ſo leicht eine der hohen und ſchlanken Kokospalmen hätte erſteigen können, um Umſchau zu halten. Mühſam ließ er ſich durch das Geſträuch, das ſeinen Sturz aufgefangen hatte, zur Erde gleiten. Seine Glieder ſchmerzten, er war am ganzen Körper zerſchunden und zerkratzt, und Kruſten geronnenen Blutes bedeckten ſein Geſicht und ſeine Glieder.
Hartmut war an einer Bergwand geſtrandet. Das Gelände ſtieg ſteil an. In den Wipfeln nahe zuſammenſtehender Palmbäume entdeckte Hartmut die Bruchſtücke des linken Flügels ſeines „Albatros“. Fetzen des äußeren Teiles des rechten Flügels hingen weiter unterhalb in den Kronen einer niederen Baumgruppe, und Bruchſtücke des völlig zerborſtenen Rumpfes waren über das Strauchwerk rings um ihn zerſtreut. Sein armer, treuer „Albatros“ hatte ſich zu ſeiner Rettung geopfert. Er war, wie man in der Fliegerſprache ſagte, „reſtlos zu Bruch gegangen“. Und während Hartmut wehmütig die Trümmer betrachtete, fiel ihm ein alter Vers aus der Fliegerſprache ein, den er lächelnd und mit deklamatoriſcher Betonung vor ſich hinſprach: „Haſt du dich in den Wald geſetzt, daß ſich der Weiterflug nicht lohnt – ſo ſinge wie der Vogel ſingt, der in den Zweigen wohnt.“
Auf welcher Inſel Ozeaniens war er wohl gelandet? Dieſe Frage beſchäftigte Hartmut nicht lange. Er war gelandet – und das genügte ihm. Er war auf einer der zahlloſen Inſeln der Südſee angekommen, die nicht vergeſſen im Ozean lag wie ſeine „Stillſte Inſel“. Er würde Menſchen treffen, heute oder morgen oder irgendwann. Er mußte handeln.
Sorgſam ſuchte er die Stelle ſeines Abſturzes ab: hier fand er ſeine Taſche mit Aufzeichnungen von der Inſel, da halb im Laube vergraben die Blechkaſſette mit den Platten, die das Ergebnis ſeiner photogrammetriſchen Arbeiten enthielt, dort fand er die Kiſte mit den Nahrungsmitteln und die Käſten mit ſeinen Schriftſtücken. Aus dem betauten Moos des Untergrundes blinkte ihm ſein Revolver entgegen, den er beſonders freudig an ſich nahm; ſein Fernglas fand ſich, der Kompaß hing mit den Fetzen des Einbaues in niederen Äſten, und gleich daneben ſchaukelte die Taſche mit ſeinen Papieren, ſeinem Tagebuch und dem Geld. Und als er glaubte, alles zuſammen zu haben, was ihm nützlich und dienlich war, und was ſich lohnte, mitgenommen zu werden, machte er mit ſeinem Kokosgürtel und aus den Binſentaſchen eine Art Ruckſack, in dem er die Laſt einigermaßen bequem mit ſich tragen konnte.
Dann begann er bergab einen Weg durch das Dickicht zu ſuchen. Er war kaum einige Meter in das dichte Unterholz unter der engſtehenden Gruppe der Kokospalmen eingedrungen, an die der „Albatros“ angerannt war, als er eine Binſentaſche fand, die er vergeſſen hatte. Sie enthielt die Diamanten der „Stillſten Inſel“, das einzige Wertſtück, das er von allen Schätzen, die ſie barg, von allen Gaben, die ſie an ihn verſchwendete, mit ſich genommen hatte. Hartmut zögerte, die ſchwere Taſche ſeinem reichlich ſchweren Gepäck hinzuzufügen. Durfte er ſich mit dieſen Steinen beladen, die ihn hier nichts nützen konnten und ſeine endgültige Rettung nur erſchwerten? Er beſchloß, ſie zu tragen, ſolange ſeine Kräfte ausreichten. Doch die erſte Laſt, von der er ſich befreien wollte, wenn die Notwendigkeit dazu eintreten ſollte, würde dieſe Taſche ſein.
Hartmut glaubte ſich in die erſten Tage ſeines Daſeins auf der „Stillſten Inſel“ zurückverſetzt, als er unter unſäglicher Mühe durch das Dickicht talabwärts vordrang.
In langen Stunden legte er nur wenige hundert Meter zurück; immer neue Wälle und faſt undurchdringliche Mauern und Zäune von Dickicht, mit Lianen durchflochten und in üppigem Wachstum zäh ineinander verfilzt, bauten ſich vor ihm auf.
Hartmuts Körper dampfte vor Anſtrengung in der heißen Schwüle des Tropenwaldes. Tönte es nicht wie Waſſerrauſchen in ſeiner Nähe? Dem Geräuſch folgend, bog er von ſeinem Wege ab und zwängte ſich durch dichter und dichter werdendes feuchtes Buſchwerk, die Augen vor zurückſchnellenden Äſten geſchloſſen haltend. Plötzlich griff er in die Luft und wäre um ein Haar in einen tief in den Felſen eingeſchnittenen Abgrund hineingeſtürzt, auf deſſen Grund ein Bach in Kaskaden den Berg hinunterſtrömte. Lianenranken, Luftwurzeln der Bäume und tief herabhängende Äſte tauchten faſt bis in das Waſſer hinunter, die ſteilen Felswände überſpinnend. Hartmut ließ ſich an dem Wurzelwerk hinuntergleiten bis zu einer Stelle, wo eine Stauung des Waſſers eingetreten war. Er legte ſeinen „Ruckſack“ auf einen Felsblock nieder, ſtreifte ſein Binſenhemd ab und tauchte in die Flut. Das Waſſer war kühl und erfriſchend. Er trank es in vollen Zügen und wuſch ſich das Blut und den Schweiß vom Körper. Auch ſein Binſenhemd reinigte er in der Strömung, ſtreifte es wieder über, aß die unterwegs geſammelten Bananen und verſuchte nun, längs des Baches weiter hinabzuſteigen.
Der Abſtieg war gefährlicher als der Weg durch den Wald, aber bei weitem nicht ſo mühevoll. Gegen Abend erreichte er eine natürliche Stauſtelle des Baches, der auf einem Felsplateau einen kleinen See bildete, von dem er, der über der Tiefe ſchwebenden Waſſerſtaubwolke nach zu urteilen, als Waſſerfall über die Felſen ſteil hinabſtürzte. Bevor Hartmut den Rand des Plateaus erreicht hatte, von wo aus er Ausblick über die Inſel haben mußte, kam die Nacht, und er ſuchte ſich ſeinen Lagerplatz. Um ſich vor Schlangen und Tieren zu ſchützen, befreite er einen der Felsblöcke, die am Rande des Felsplateaus zerſtreut lagen, von dem Buſchwerk, das ihn bedeckte, brach dicht belaubte Zweige ab, die er zu einem Lager zuſammenſchichtete, auf dem er bald traumlos in Schlaf ſank.
Die Kühle des nahenden Morgens und das dumpfe Brauſen des Waſſerfalles weckten ihn früh. Aus ſeinem „Gepäck“ ſuchte er ein frugales Mahl zuſammen und wartete, eng in ſich zuſammengekauert, um ſich zu erwärmen, auf den Beginn des Tages.
Tierſtimmen wurden laut. Ein Zug entenähnlicher Vögel fiel rufend und quarrend in den Stauſee vor ihm. Langſchnabelige Schnepfen rannten am Ufer hin und her, Fiſche ſchnellten aus der Flut, Schmetterlinge begannen im fahlen Morgenlicht ihren taumelnden Flug, ein reiherartiger Vogel ſenkte ſich majeſtätiſch und geräuſchlos zum Waſſer nieder, ſtelzte am Ufer auf und ab und begrüßte die Sonne mit einem getragenen, vollklingenden Trompetenton. Der Dunſt des Morgens ſchwand in der Sonne, wie ein Vorhang teilte er ſich in der Luft jenſeits des Felsſturzes, und vor Hartmut öffnete fich der Blick auf die Landſchaft.
Tief unter ihm lag das Tal, in das der Waſſerfall brauſend hinunterſtürzte; durch eine ſchmale, dicht mit Wald bewachſene Ebene floß das ſilberne Band des wieder geſammelten Waſſers des Baches weiter bis zu ſeiner Mündung ins Meer, deſſen Strand greifbar nahe in der Morgenklarheit vor Hartmut lag. Knapp fünf Kilometer mochte die Entfernung bis zum Ufer betragen. Doch bevor Hartmut über den Weg dort hinunter nachdachte, begann er mit ſeinem Glas die Ebene und den Strand ſyſtematiſch abzuſuchen. Üppiger Tropenwald füllte das Tal und bedeckte lückenlos die Ebene; doch fand Hartmut, durch das Glas nahegerückt, dicht beim Strand eine Lichtung im Unterholz, und deutlich erkannte er auf Pfählen ſtehende Hütten, zwiſchen denen ſich aufrechtgehende Geſtalten bewegten. Hartmut legte ſich flach auf den Stein, das Fernglas am Felſen anſtützend, ſo daß das Bild ohne Zittern klar und deutlich vor ihm ſtand: Menſchen! Menſchen!
Hartmut trank das Bild mit den Blicken. Dann ſank ſein Kopf auf den Felſen, gegen den er die Stirn preßte, bis es ihn ſchmerzte. Tränen brannten ihm in den Augen, denen er aufſchluchzend freien Lauf ließ. Was er fühlte, wußte er nicht. Es war nicht Freunde, und es war nicht Schmerz – es kam über ihn wie eine Befreiung und wie eine unſagbare Sehnſucht zugleich. Der Strom ſeiner Tränen zerſprengte in ihm eine Kette, löſte in ihm die Gebundenheit ſieben langer Jahre, langer Jahre der Einſamkeit.
Er lag ohne aufzuſchauen, bis das Schluchzen in ihm verſtummte, ſeine Tränen verſiegten. Dann ſprang er auf, ſtieß einen Jubelſchrei aus, daß das Echo vielfach von den Felswänden widerhallte, der Kranich und die Enten erſchreckt von dannen ſtoben, und lief zum Waſſer, ſo ſchnell ihn die Füße tragen konnten. Mitten im Lauf warf er ſich mit ausgebreiteten Armen der Flut entgegen.
So empfing ihn die Welt, in die er zurückgefunden hatte, mit dem morgenfriſchen Kuß des jungfräulichen Bergquells.
Nach langem Suchen und Spähen und verſchiedenen Verſuchen, durch den die Schlucht einrahmenden Wald in die Ebene hinunter zu gelangen, entſchloß ſich Hartmut zum Abſtieg durch die Felswand auf der rechten Seite des Waſſerfalles. Der rauhe und riſſige Abbruch des Berges war mit Schlingpflanzen dicht bewachſen, und auf Felsbändern, die unregelmäßig die Wand durchzogen, hatte ſich Buſchwerk angeſiedelt.
Den größten Teil ſeines Gepäckes beſchloß Hartmut zurückzulaſſen. Nur ſeinen Revolver, ſeine Papiere, Geld und Fernglas band er ſich in einer der Binſentaſchen auf dem Rücken feſt. Alles andere verbarg er in dem Zwiſchenraum zwiſchen zwei Felsblöcken am Rande des Plateaus auf ſo geſchickte Weiſe, daß ſelbſt ein ſuchendes Auge das Verſteck nur durch Zufall auffinden konnte. Dann begann er den Abſtieg in die Wand.
Es ging beſſer, als er geglaubt hatte. Die zähen Schlinggewächſe gaben ſeinen Händen feſten Halt, und mit den Füßen taſtend fand er immer Vorſprünge und Riſſe im Fels, die ihm Stand boten. In das Netz der Schlingpflanzen eingeflochten hingen Steinbrocken von erheblicher Größe, die von der Widerſtandskraft der Pflanzenranken zeugten. Ein ſchräg abwärts führendes, mit dünnem Buſchwerk beſtandenes Felsband bot ihm müheloſen Weg an der ſteilſten Stelle der Felswand, ſo daß er am Ende dieſes Bandes nur noch einen Abſtieg von einigen zwanzig Meter durchführen mußte, um in die Ebene auf eine neben dem Waſſerfall entſtandene ſteile Geröllhalde zu gelangen.
Mit jedem Meter, den ſich Hartmut tiefer hinabließ, wurde der Wuchs der Schlingpflanzen ſpärlicher, und nackter, vom Waſſer glattgeſchliffener Fels trat zutage. Wenige Meter über der Geröllhalde war der einzige Halt, den Hartmut fand, eine letzte, efeuartige Ranke, an der er ſich vorſichtig herunterließ. Doch bevor ſeine Füße den Saum der Geröllhalde erreichten, riß die Ranke ab. Hartmut ſtürzte ein kurzes Stück, verſuchte den Aufprall auf der Geröllhalde mit den Beinen abzufangen, fiel aber nach hinten über und ſtürzte rücklings in die ſteile Steinhalde hinein.
Sein Sturz löſte eine Steinlawine, mit der er die Halde hinunterrutſchte; unten blieb er, von Steinen und Felsblöcken halb begraben, bewußtlos liegen.
Das einzige, was Hartmut von ſeinem Sturz verſpürt hatte, war ein wuchtiger Schlag gegen ſeinen Hinterkopf. Der Schmerz des Schlages tanzte mit Feuergarben in ſeinen Augen und wurde im nächſten Augenblick von tiefer Dunkelheit erſtickt, die ſich über ihn deckte.
Dann fuhr er ans tiefſter Dunkelheit in weiches Dämmern hoch und ſah über ſich gebeugt das dunkle Antlitz eines Menſchen mit tiefbraunen Tieraugen.
Eine Hand ſtreichelte ſeine Stirn. Kühler, bitterer Pflanzenſaft netzte ſeine Lippen. Er wollte ſich bewegen, dem Menſchenantlitz, das über ihn gebeugt ſtand, zulächeln wie einem holden Traum. Zugleich aber durchzuckte ihn glühender Schmerz, der ihm den Schädel zu zerſprengen drohte. Stöhnend ſchloß er die Augen und lag regungslos, wehrlos den Schmerzen ausgeliefert, die ihn durchbohrten.
Mit fremden Lauten ſprachen Menſchenſtimmen um ihn. Menſchen kamen und gingen. Unaufhörlich bohrte der Schmerz in ihm, der ihm die Augen geſchloſſen hielt.
Dann vernahm Hartmut deutlich eine Stimme, die engliſche Worte ſprach. Er antwortete mit einem Stöhnen und fühlte, wie ſein Arm gehoben wurde, wie eine kalte Nadel in ihn eindrang, und der feine Stich leichten, befreienden Schmerz auslöſte.
Dann war er mit einem Male völlig wach. Die Schmerzen waren verſchwunden. Durſt brannte auf ſeinen Lippen. Er lag auf einem einfachen Lager in einer Hütte mit aus Äſten geflochtenen Wänden. Hartmut rief nach Waſſer. Der bunte Vorhang an der Hüttenwand verſchob ſich, eine braune nackte Frau mit einem Blütenkranz im Haar trat herein, ſprach freudige Worte in einer fremden Sprache und rief dann hinter ſich ins Freie. Stimmen antworteten und gaben den Ruf weiter. Dann ſchwankte die Hütte von den Tritten eines Mannes, der ſchwarz in dem hellen Rahmen der Türe auftauchte und vor Hartmuts Lager trat. Der Mann trug einen weißen Leinenanzug und einen breiten Strohhut. Er beugte ſich zu Hartmut nieder und fragte ihn auf Engliſch: „Hallo, old chap, how are you?“ Mühſam überſetzte Hartmut die Worte und ſuchte nach dem engliſchen Wort für Waſſer. Er fand es und flüſterte: „Water! Durſtig!“ In gebrochenem Deutſch antwortete der Mann: „Durſtig? Sind Sie Deutſch?“ Hartmut nickte.
Der Mann ſprach raſche Worte in der ſeltſamen Sprache zu der braunen Frau an der Tür, die ihm ein Gefäß reichte, das er Hartmut an die Lippen ſetzte. „Da, trink!“, ſagte der Mann.
Hartmut trank in durſtigen Zügen. Der Mann ſah ihm lächelnd zu, nahm dann das Gefäß von ſeinen Lippen und ſagte in ſeinem wunderlichen Deutſch: „Nicht viel auf einmal, iſt ſchlecht für den Bauch.“
Hartmut lächelte und fragte: „Wo bin ich?“
„Wo Sie ſind? Das wiſſen Sie nicht? Auf Fatu-Hiwa. Im Hauſe des Fürſten Huaga vom Stamme der Huatati.“
Hartmut wußte ſo viel viel wie zuvor und fragte: „Marqueſas?“
„So ſagen die Narren da draußen. Wir hier nennen die Inſel Fatu-Hiwa. Doch genug für heute. Sie müſſen ſchlafen.“
„Warum ſchlafen? Was fehlt mir?“
„Das könnten Sie eigentlich ſpüren. Schätzungsweiſe zwei Rippen und die Schulter gebrochen. Vielleicht auch noch ein Schädelbruch. Da gibt’s nur ein Mittel: Ruhe halten, ſchlafen und nochmals ſchlafen. Oati wird Sie pflegen.“ Der Fremde ſprach zu der braunen Frau, die näher kam, Hartmut zulächelte, die Hand mit dem Rücken auf ihre und dann mit der Fläche auf ſeine Stirn legte und ſich verneigte.
„Das will ſagen“, ſagte der Fremde, „daß ſie Ihnen dienen wird, ſo lange Sie es ihr befehlen.“
„Und wer ſind Sie?“, fragte Hartmut.
„Das tut nichts zur Sache. Ich bin Arzt, wenn Ihnen das genügt, aber nicht ſo verrückt, daß ich es in dem großen Narrenhaus da draußen aushalten könnte. Schlafen Sie nun. Oati wird Ihnen den Wundertrunk ihres Volkes reichen. Sie werden davon ſchlafen und geſund aufwachen – bis auf die Knochen natürlich. Die brauchen Zeit.“
Lächelnd flüſterte Hartmut: „Ich habe warten gelernt.“
Der Fremde ging und verſprach, morgen wiederzukommen.
Oati, mit ſanften Kehllauten in ihrer ſeltſamen Sprache wie ein kleiner Vogel ſprechend, bereitete hin und her gehend einen Trunk, den ſie Hartmut geſchickt einflößte. Fruchtſaft verrührte ſie dann mit einer Art grauem Mehl zu einem Brei, den ſie Hartmut zu eſſen gab. An ihren flinken Armen klirrten Ketten von Glasperlen und Muſcheln. Um ihren Hals wand ſich eine Kette von Knochen, Menſchenknochen, wie Hartmut mit leichtem Schauder feſtſtellte. Dann fühlte er, wie eine wohlige Gelöſtheit ſeine Glieder durchſtrömte und Schlaf ſeinen Körper von Schmerzen befreite.
Ozeanien
Hartmut war geneſen. Drei Wochen aufopfernder Pflege der kleinen Oati hatten ihn völlig geſund gemacht. Den Fremden hatte er nur zwei- oder dreimal geſehen. Er wußte nicht mehr von ihm, als daß er ein engliſcher Arzt war, der unter den Eingeborenen auf dieſer Inſel, der ſüdöſtlichſten der Marqueſas-Gruppe, lebte, auf die Welt draußen ſchimpfte, ſo oft die Sprache darauf kam, und von den Eingeborenen wie eine Art Gottheit verehrt wurde.
Hartmut hatte von Oati die erſten Begriffe der Inſelſprache gelernt. Er erfuhr, daß ihn nur ein Zufall gerettet hatte. Die Prieſter des Dorfes hatten den Geiſtern des Baches ein Opfer gebracht und waren bis zum Fuße des Waſſerfalles, wo der Bach „redete“, vorgedrungen. Dort fanden ſie Hartmut und brachten die Kunde in das Dorf, in dem der engliſche Arzt gerade „Sprechſtunde“ hatte. Er hatte Hartmuts Rettung und den Transport ins Dorf geleitet.
Als Hartmut das erſtemal ausging, empfing ihn das ganze Dorf vor der Hütte. Er wurde in eine Art Thronſtuhl geſetzt und mußte eine lange, feierliche Zeremonie über ſich ergehen laſſen. Der Häuptling ſchmückte ihn mit einem Kranz einer beſtimmten, kleinen, blauen Blütenart, die nur er allein trug. Die Gemeinde verfolgte dieſe Krönung mit größter Aufmerkſamkeit und brach in langgezogene Oah!-Rufe aus, wobei ſie die Innenfläche der rechten Hand auf die Erde legten und die Außenfläche an die Stirne emporhoben. Das ſollte bedeuten, daß man ihn als Fürſt oder Häuptling verehren wolle.
Schließlich wurden vor ſeinem Sitz Waffenſpiele der Männer und Tänze der über und über mit Blumen geſchmückten Frauen aufgeführt. Hartmut wurde von der langen Dauer dieſer feierlichen Zeremonie ſo müde, daß er faſt auf ſeinem Thron eingeſchlafen wäre. Geſtützt auf Oati und eine zweite ihm vom Häuptling zugeteilte Frau, ging er in ſeine Hütte zurück. Durch Zeichen und Worte verſtändigte er ſich mit Oati, die ihn nach langen, ergebnisloſen Bemühungen verſtand und ihm die Taſche mit ſeinen Papieren brachte.
Auf eine herausgelöſte Seite ſeines Tagebuches ſchrieb er eine kurze Mitteilung an den engliſchen Doktor. Oati verſtand ſofort, was er wolle, und brachte den Brief zum Häuptling, der ihn weiter beförderte.
Zwei Tage danach kam der Fremde im Dorfe an. Er begrüßte Hartmut, ohne ſonderliche Freude zu zeigen, unterſuchte ihn und ſtellte feſt, daß alles in beſter Ordnung ſei. Die Knochenbrüche ſeien geheilt, er könne nun tun und laſſen, was er wolle.
Erſt nach vielen Verſuchen gelang es Hartmut, den Doktor zum Reden zu bringen. Er lebte ſeit zwanzig Jahren auf den Inſeln, auf die er ſich aus Widerwillen gegen die Menſchheit und die Welt geflüchtet hatte. Sein Leben hatte er genau ſo geſtaltet, wie es die Eingeborenen führten. Er lebte unter ihnen wie ihresgleichen und unterſchied ſich von ihnen nur durch ſeinen weißleinenen Tropenanzug und den Strohhut, den er trug. Ohne die abergläubiſchen Sitten und Gebräuche zu bekämpfen, die mit Geiſterbeſchwörungen an jedem Krankenlager einſetzten, führte er die Behandlung der Kranken durch, indem er die altbekannten Heilmittel der Naturvölker in hygieniſcher und abwägender Form und Doſierung zur Anwendung brachte.
„Sie könnten alle lernen, meine Kollegen da draußen, von den Wilden hier“, ſagte er grimmig.
Hartmut wunderte ſich, daß der Doktor keine einzige Frage an ihn ſtellte, wie er hierhergekommen ſei. Er erzählte ihm ſeine Geſchichte in knappen Worten. Der Doktor hörte ihm zu. Als Hartmut geendet hatte, fragte er ganz trocken: „Und das alles ſoll ich Ihnen glauben? Ich habe Sie ja gar nicht gefragt, wer Sie ſind und woher Sie kommen. Wenn Sie mich ſchon nicht wiſſen laſſen wollen, wer Sie ſind und woher Sie kommen, wie alle, die das Schickſal hierher verſchlägt, brauchen Sie doch nur den Schnabel zu halten.“
Auf Hartmut wirkte die Antwort wie ein kalter Waſſerguß. Wenn das der erſte Empfang war, den ihm die Welt zuteil werden ließ, dann mochten ihm die ſonderbarſten Dinge bevorſtehen.
„Übrigens, wenn Sie von hier fort wollen, in drei Wochen iſt der Dampfer ‚Harvey‘ fällig. Haben Sie Geld?“
„Genügend, wenn die Dollarnoten noch in Kurs ſind, die ich habe“, antwortete Hartmut, „nur fehlen mir Anzüge.“
„Ich werde Ihnen einen ſchicken“, ſagte der Doktor. „Im übrigen, wenn Ihre Papiere nicht in Ordnung ſind – in ſechs Monaten kommt das Motorſchiff ‚Singapore‘ hierher. Der Beſitzer und Kapitän iſt ein alter Chineſe, der größte Gauner, den die Welt je geſehen hat. Er treibt dunkle Geſchäfte mit den Eingeborenen, tauſcht gegen Glasperlen allerhand Ware ein, die ihn nichts koſtet, Vielleicht treibt er auch Sklavenhandel und ein bißchen Seeräuberei. Für Geld iſt bei dem alles zu haben, ſicher auch Päſſe, die in Ordnung ſind. Sie können alſo getroſt mit ihm die Rückkehr wagen.“
Das Mißtrauen, das ihm der Sonderling entgegenbrachte, verſchloß Hartmut den Mund. Er machte gar keinen Verſuch, den Doktor von der Wahrheit ſeiner Erzählung zu überzeugen, und ließ ihn reden. Zum letzten Male ſah er ihn, als einige Wochen ſpäter ein Krankheitsfall im Dorf vorkam, den er behandelte.
Hartmut empfand nach dieſem Vorgeſchmack nur geringe Sehnſucht nach einer raſchen Rückkehr. Er lebte mit den Eingeborenen, deren primitive Sprache er bald notdürftig beherrſchte, machte ihre Jagdzüge mit, lernte die Inſel kennen und lebte genau wie dieſe Kinder der Natur, denen die Inſel mühelos und ohne Arbeit alles bot, deſſen ſie bedurften. Wie viel leichter wäre ihm ſein Leben auf der „Stillſten Inſel“ geworden, wenn er dieſe Schule früher durchgemacht hätte! Manche Beere und Frucht, die er für giftig gehalten hatte, lernte er als beſonderen Leckerbiſſen ſchätzen. Viele der Wurzeln und Pflanzenſtauden, die er achtlos zertreten und mit der Axt entfernt hatte, wo ſie ihm den Weg ſperrten, lernte er als ſchmackhafte Nahrung kennen.
Oati liebte ihn mit der ganzen Hingabe ihrer Blumenſeele. Sie war unglücklich und konnte in Tränen ausbrechen, wenn er ihr irgend eine Dienſtleiſtung abnehmen wollte.
Mehrere Male hatte Hartmut verſucht, zu dem Felsplateau oberhalb des Waſſerfalles durchzudringen, um ſeine dort verſteckten Habſeligkeiten in Sicherheit zu bringen. Als er die Sprache genügend beherrſchte, um den Häuptling um ſeine Hilfe zu bitten, lehnte dieſer mit allen Zeichen des Entſetzens ab. Der Ort war tabu, keiner durfte es wagen, in die Bannregion der böſen Geiſter vorzudringen, die oft genug ihren blinden Zorn an den Menſchen austoben ließen und Waſſermaſſen herniederſandten, die alles in ihrem Bereich mit ſich riſſen und zerſtörten.
Hartmut mußte ſich entſchließen, allein zu handeln, und bahnte ſich mit der Axt einen Weg in die Höhe. Es dauerte viele Tage, bis er das Felsplateau nach einem halsbrecheriſchen Abſtieg über den Rand der Schlucht, in dem es lag, erreicht hatte. Unverſehrt, im Schutz der böſen Geiſter wohlgeborgen, fand er in ſeinem kleinen Verſteck alles vor, wie er es niedergelegt hatte, und trug ſeine Laſt zurück zu ſeiner Hütte. Als er Oati über ſeinen Ausflug berichtete, nahm ſie ſonderbare Beſchwörungen vor, entzündete in der Hütte Räucherflammen und wollte mit allen ihr zu Gebote ſtehenden Kenntniſſen Hartmut von den Einwirkungen und Nachwirkungen der böſen Geiſter dort drüben befreien. Sie bat ihn inſtändig, nichts darüber den anderen Bewohnern des Ortes zu erzählen, da ſie nicht wiſſe, was dann die Zauberer des Dorfes gegen ihn unternehmen würden.
Die Inſel war franzöſiſcher Beſitz. Während der ſechs Monate ſeines Aufenthaltes hatte jedoch Hartmut niemals franzöſiſche Schiffe vorüberfahren ſehen, noch franzöſiſche Kolonialbeamte auf der Inſel angetroffen. Nur äußerſt ſelten führte überhaupt der Kurs eines Schiffes an der Inſel vorüber. Sie lag faſt ebenſo vergeſſen im Meer wie ſeine „Stillſte Inſel“, an die er oft mit Wehmut zurückdachte.
Eines Morgens kam große Bewegung in das Dorf. Alles lief zum Strand, wo in einer Bucht ein kleines Motorſchiff Anker geworfen hatte. Eine Schaluppe ruderte an Land, bemannt mit ſechs Chineſen, die äußerſt erſtaunt waren, Hartmut anzutreffen, und ſich ihm mißtrauiſch näherten. In einem ſchauderhaften Engliſch begann der dicke Kapitän Hartmut auszufragen. Der Name des Schiffes war „Singapore“. Er hatte alſo das von dem engliſchen Doktor angekündigte Fahrzeug und ſeinen Beſitzer, den „größten aller Gauner“, vor ſich.
Der dicke Chineſe, der ſich als Ho-Ling vorſtellte, kam in Hartmuts Hütte, und nach einer ſehr ſchwierigen Unterhaltung hatten ſie ſich ſo weit verſtändigt, daß ſich Ho-Ling bereit erklärte, Hartmut gegen fünfzig amerikaniſche Dollar mit ſich nach Hongkong zu nehmen. Hartmut war ſo vorſichtig, ſeine geſamte Habe an Geld mit hundert Dollar zu beziffern, während er in Wirklichkeit faſt dreitauſend Dollar in Banknoten mit ſich führte. Oati hatte ihm das Geld kunſtgerecht in den Tropenanzug eingenäht, den ihm der Doktor geſchickt hatte. Sie glaubte damit ihren Gebieter in den Schutz eines beſonders wirkſamen Amulettes geſtellt zu haben.
Als Hartmut ſeine Habſeligkeiten, vermehrt um viele Erinnerungen an ſeinen Aufenthalt auf dieſer Inſel, an Bord ſchaffen ließ, ſah Oati voller Angſt und Schrecken zu. Als er dann dem Häuptling Mitteilung davon machte, daß er mit dem Schiff fort in ſeine Heimat führe, brach das ganze Dorf in lautes Wehklagen aus. Oati war vor Schrecken gelähmt. Sie ſaß regungslos in eine Ecke gekauert und ſchaute mit ihren großen, traurigen Tieraugen ſtarr vor ſich hin.
Dem Häuptling ſchien Hartmuts Abreiſe nicht ungelegen zu kommen. Er ließ große Mengen von Geſchenken am Strand niederlegen, aus denen Hartmut alles ausſuchen ſolle, was er gebrauche. Daß Hartmut Oati mit ſich nehme, ſetzte der Häuptling als ſelbſtverſtändlich voraus. Jetzt erſt wurde ſich Hartmut klar darüber, daß er Oatis Leben durch ſein Fortgehen zerſtörte. Ließ er ſie zurück, ſo galt ſie als von ihm ausgeſtoßen und wurde von ihrem Stamm und vor allem von ihren Eltern und Verwandten ſchlimmer als ein Tier behandelt. Nahm er ſie mit ſich, ſo mußte ſie dem Klima und dem rauhen Zugriff der Welt dort draußen jämmerlich erliegen.
Ho-Ling wußte Rat. Er verſicherte dem Häuptling, daß Hartmut auf der nächſten Fahrt zurückkäme, und wenn er nicht bei ſeiner nächſten Fahrt käme, ſicher auf einer ſpäteren, und daß Oati alle Rechte einer Fürſtin nach wie vor zuſtänden. Der Häuptling beſchwor und verſicherte alles, was man von ihm verlangte. Auch Oati wurde ſichtlich von der Ausſicht auf eine Wiederkehr getröſtet und nahm rührenden Abſchied von Hartmut, der unter ſchallendem Wehklagen der ganzen Einwohnerſchaft die Schaluppe beſtieg und ſich auf der „Singapore“ einſchiffte.
Hartmut wurde auf der „Singapore“ eine winzige Kabine an Oberdeck angewieſen, die knappen Raum bot für ſeine wenigen Habſeligkeiten und die Hängematte, die ihm als Lager diente. Die Hitze in dem einer Gefängniszelle in fataler Weiſe ähnlichen Raum war unerträglich. Überdies war der ganze Schiffsraum erfüllt von beißendem Qualm, der aus allen Fugen des Motorraumes hervordrang, und die Koſt – rein chineſiſche Küche – war bis auf den Reis ungenießbar.
Hartmut befeſtigte ſeine Hängematte deshalb in einem Winkel des Vorſchiffes, was von dem dicken Kapitän mit lächelnder Höflichkeit geduldet wurde. Im übrigen kümmerte ſich die Schiffsbeſatzung auffallend wenig um ihren Paſſagier, für den ſie nichts weiter als ein ewig gleich bleibendes Grinſen übrig hatte, das die gelben Geſichter in faltige Fragen verwandelte.
Die Fahrt ging längs des öſtlichen Bereiches des Marqueſas-Archipels und berührte faſt alle ſeine Inſeln. In Hiwaoa, Uapu und Nuku-Hiwa wurde längerer Aufenthalt gemacht, bei dem ein lebhafter Tauſchhandel mit den Eingeborenen betrieben wurde. In erſter Linie hatte es der Kapitän auf die primitiven kunſtgewerblichen Arbeiten der Einwohner abgeſehen, die er für den Export nach Europa und nach Amerika ſammelte.
„Whithe ladies lake it ferry mooch“, kauderwelſchte der Kapitän und warf habgierige Blicke auf die zahlreichen, beſonders ſchön gearbeiteten Stücke ſolcher Arbeiten, die Hartmut als Geſchenke von der Inſel mit ſich genommen hatte. Raſch entſchloſſen ſchenkte er dem Kapitän den größeren Teil dieſer Dinge. Ho-Ling ſprudelte vor Dankesbezeigungen faſt über und verſuchte tatſächlich im ſpäteren Verlauf der Reiſe Hartmut dauernd kleine Aufmerkſamkeiten zu erweiſen.
Zu Beginn der Reiſe hatte ſich Hartmut redliche Mühe gegeben, durch ſeine Sprachkenntniſſe das Tauſchgeſchäft zu beleben. Als er aber ſah, mit welch wertloſem Tand der Kauf geſchloſſen wurde, und wie gierig vor allem die Inſelbewohner die kleinſten Mengen des ſchauderhaften Reisbranntweins, einen Fuſel ſchlimmſter Sorte, in Empfang nahmen und bedingungslos ihre zierlichen, bei aller Primitivität mit feinſtem Kunſtgefühl hergeſtellten Arbeiten dafür hingaben, hielt er ſich von dieſem unlauteren und betrügeriſchen Geſchäft fern. Er wollte nicht zu den „Boten der Kultur“ gehören, die das glückliche, weltabgeſchiedene Daſein der harmloſen und heiteren Naturkinder mit Lug und Trug und ſchädlichen Genußmitteln vergiften.
Von Nuku-Hiwa nahm die „Singapore“ Kurs nach Weſten nach den Manahiki-Inſeln. Während der Überfahrt kam ein ſchweres Gewitter auf, das orkanartigen Sturm mit ſich brachte, ſo daß die „Singapore“ in allen Fugen unter dem Anſturm der Wellen krachte. Hartmut lernte die Seetüchtigkeit des kleinen Fahrzeuges ebenſo bewundern wie die Geſchicklichkeit, mit welcher der, einem von ledriger, gelber Haut überzogenen Gerippe verteufelt ähnliche Steuermann Kurs hielt und die höchſten Wellenberge durchſchnitt, ohne daß Brecher auftreten konnten, die alles von Bord gefegt hätten. Er ſah nach dieſer Leiſtungsprobe dem weiteren Verlauf der Reiſe mit viel größerer Zuverſicht entgegen.
Wochen hindurch dauerte die Fahrt, die in weſtnordweſtlicher Richtung quer durch ganz Ozeanien hindurch führte. Hartmut konnte feſtſtellen, daß der Kurs, den die „Singapore“ nahm, die bei günſtigem Wind oft tagelang ohne Motor unter Segel fuhr, die Kurslinien des Weltſchiffsverkehrs ſcheinbar abſichtlich völlig mied. Da die Fahrt innerhalb des Bereiches des Kartenſtreifens verlief, den Hartmut für ſeinen großen Flug an Bord des „Transozean“ mitgenommen hatte, und deſſen ozeaniſcher Teil ſich unter ſeinen Papieren vorfand, konnte Hartmut jedesmal, wenn eine Schiffsroute angeſteuert wurde, erhöhte Auslugtätigkeit der Beſatzung feſtſtellen. Von dem Mißtrauen, das er für dieſes rätſelhafte Verhalten der Beſatzung empfand, ließ er ſich äußerlich nichts merken. Im Gegenteil, er ſchenkte ſein zwar arg zerſchundenes, aber in ſeiner Optik ein Meiſterwerk bildendes und tadellos erhaltenes Fernglas dem Kapitän, der von dieſer Freigebigkeit ſo entzückt war, daß er täglich mit Hartmut lange Unterhaltungen führte. Aber ſeine Mitteilſamkeit verſtummte ſofort, ſobald Hartmut Fragen ſtellte, die den Zweck der Reiſe, die Herkunft der „Singapore“ und die Verhältniſſe des Kapitäns angingen. Der joviale, gemütlich plaudernde dicke Herr bekam dann noch kleinere Augen und wurde in jeder Bewegung und in jeder Redewendung ſo aalglatt, daß er auch den geſchickten Fragen entſchlüpft war, ohne daß Hartmut wußte, wie und warum.
Inzwiſchen hatte man Mikroneſien erreicht, an deſſen oft nur aus winzigen Korallenriffen beſtehenden Inſeln nur angelegt wurde, um Waſſer aufzunehmen und friſche Nahrungsmittel einzutauſchen. Hartmut war ſein eigener Koch. Er lebte zwar hauptſächlich von friſchen Früchten, freute ſich aber auf die Abwechſlung, wenn friſch geſchlachtete Tiere an Bord kamen, deren Fleiſch er ſich ſelbſt in gewohnter Weiſe zubereitete. Den Bereich der Karolinen verließ die „Singapore“ mit Kurs auf die Gruppe der Philippinen, die zwiſchen den beiden Inſeln Samar und Leyte durchfahren wurden. Während man oft von eingeborenen Lotſen begleitet durch das Gewirr von Klippen und Inſeln hindurchſegelte, arbeitete die ganze Beſatzung beſonders eifrig in den Schiffsräumen und an Deck. Eines Morgens fand Hartmut einen kaſtenförmigen Aufbau auf dem Vorſchiff, der peinliche Ähnlichkeit mit einer verdeckten Geſchützſtellung hatte. Hartmut ſtieß durch Zufall am gleichen Tage auf einen der chineſiſchen Matroſen, der eine moderne 7,5-Zentimeter-Granate ſchleppte und ſichtlich erſchrak, als er ſich ertappt ſah. Hartmut wußte nun, daß er an Bord eines chineſiſchen Piraten gekommen war, der von Zeit zu Zeit in Ozeanien verſchwand, um dann wieder in den chineſiſchen Gewäſſern aufzutauchen, wo er ſein gefährliches Handwerk trieb.
Ohne zu zögern, beſchloß er, reinen Tiſch zu machen. Mitgefangen – mitgehangen war hier die Parole, wenn er ſeinen Kopf aus der Schlinge heil herausziehen wollte, in die er ihn, ohne es zu wiſſen, geſteckt hatte. Nach kurzer Überlegung nahm er Ho-Ling beiſeite und erklärte ihm rundheraus, daß er genau wiſſe, um was es ſich handle. Er habe weder die Abſicht noch die Macht, irgend etwas gegen Ho-Ling zu unternehmen und bäte ihn, um jedes Mißtrauen ſeinerſeits zu zerſtreuen, um die Beſchaffung eines falſchen Paſſes, damit er ungeſchoren aus all den Wirrniſſen und Dingen, die ihn nichts angingen, herauskäme. Er habe nur den einen Wunſch, ſo raſch als möglich nach Europa zurückzukehren, wo ihn nichts veranlaſſen könnte, ſich in irgend einer Form um Ho-Lings Geſchäfte zu kümmern.
Ho-Ling hörte den Eröffnungen, die Hartmut ihm machte, zu, ohne daß eine Miene ſeines Geſichtes ſich verzogen und das grinſende Lächeln höflicher Anteilnahme verändert hätte.
Der feiſte Chineſe beſtritt nichts. Im Gegenteil, ohne von ſeinen Abſichten etwas zu verraten, teilte er Hartmut mit, daß er ſehr erfreut über dieſe Wendung der Unterhaltung ſei, da er Hartmut ohnedies hätte bitten müſſen, in den nächſten Tagen die ihm zugewieſene Kabine keinen Augenblick zu verlaſſen. Im übrigen hoffe er in wenigen Tagen Kanton anzulaufen, wo Hartmut gegen Zahlung weiterer fünfzig Dollar einen tadellos echten Paß auf einen beliebigen Namen und eine beliebige Nation erhalten könne.
Als Hartmut am Abend ſeine Zelle aufſuchte, war das Bullauge, das runde Fenſter an der Bordwand, von außen durch ein Eiſenblech verſchloſſen, in das ein fingerdickes Loch gebohrt war, als einzige Lichtquelle. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloß, er hörte das metalliſche Kreiſchen eines Riegels. Damit war er nun der Gefangene chineſiſcher Piraten.
Fünf Tage brachte Hartmut in ſeinem Verließ zu. Ho-Ling ſelber beſuchte ihn jeden Morgen, fragte nach ſeinen Wünſchen und brachte ihm Nahrung. Ununterbrochen lief der Motor, und das gleichmäßige Rauſchen der Bugwellen zeigte Hartmut an, daß die „Singapore“ ſtetig einem beſtimmten Ziele zuſtrebte.
Einmal in der Nacht wachte Hartmut aus ſeinem in der ſtickigen Hitze ſeines Gefängniſſes unruhigen Schlaf auf: das Dröhnen des Motors war verſtummt. Unabläſſig liefen Menſchen auf dem Deck hin und her, Stimmen wurden laut und vom Waſſer her kam Antwort. Hartmut preßte ſeine Augen an die Scheibe des Bullauges und verſuchte durch die kleine Öffnung des Eiſenbleches hindurchzuſchauen. Im gleichen Augenblick gab es einen Ruck durch das ganze Schiff, der Hartmut faſt zu Boden geworfen hätte. Die „Singapore“ war mit einem anderen Fahrzeug zuſammengeſtoßen. Die Wände der beiden Schiffe rieben ſich aneinander. Hartmut konnte durch ſeinen winzigen Ausblick feſtſtellen, daß beim ſchwachen Schein von Lampions die Fracht der „Singapore“ in eine große chineſiſche Barke gelöſcht wurde. Das Rollen von Blechfäſſern auf dem Hinterdeck zeigte zugleich an, daß die „Singapore“ neuen Betriebsſtoff für den Motor aufnahm.
Hartmut lag die ganze Nacht hindurch wach. Bei Morgengrauen verſtummten die Geräuſche. Die „Singapore“ nahm ihre Fahrt wieder auf. Nach zwei weiteren Tagen troſtloſer Gefangenſchaft, in der ſich niemand um ihn kümmerte, lief plötzlich der Motor auf vollen Touren. Das Getrampel auf dem Deck vervielfachte ſich. Die Beſatzung mußte ganz weſentlich verſtärkt ſein. Die Unruhe ſtieg von Minute zu Minute, und plötzlich durchzitterte ein Kanonenſchuß das Schiff bis in den Kiel. Ein zweiter und dritter Schuß folgten, dann bellten ein, zwei Maſchinengewehre kurz auf, und die vielerlei Schreie und Rufe übertönten die laute Stimme eines Megaphons, ohne daß Hartmut die Worte verſtehen konnte. Dann erfolgte ein ſchwerer Stoß, der vom Vorſchiff ausging, und ein Gewirr von Stimmen und ängſtlichem Schreien ſchwoll an, verebbte und verſtummte allmählich.
Durch ſeinen Ausguck ſah Hartmut nichts als die Schiffswand des geenterten Fahrzeuges. Nach knapp einer halben Stunde verſtärkte ſich die Bewegung auf dem Schiff von neuem. Die graue Schiffswand verſchwand, und die „Singapore“ nahm ihre Fahrt auf, als wäre nichts geſchehen.
Aſiens Rätſel – Europas Wunder
Etwa ſechs Stunden ſpäter kam Ho-Ling ſtrahlend vor freundlicher Höflichkeit zu Hartmut und teilte ihm mit, daß er an Bord kommen könne. Er hoffe in drei Tagen Hongkong anzulaufen. Am Morgen des nächſten Tages ſtoppte die „Singapore“ bei einer chineſiſchen Dſchunke, die einige Mann der Beſatzung zuſammen mit Hartmut und Ho-Ling aufnahm. Sämtliche Habſeligkeiten, die Hartmut mit ſich führte, wurden vollzählig und in tadelloſem Zuſtand an ihn abgeliefert. Dem Stand der Sonne nach ſegelte die Barke in genau nördlichem Kurs, und nach einigen Stunden tauchte Land vor ihr auf.
Ho-Ling kam zu Hartmut auf das Vorderſchiff und deutete zum Land gegenüber und ſagte mit glückſeligem Grinſen: „China! Wenn Wind gut, übermorgen abend Hongkong.“
Jetzt erſt fühlte ſich Hartmut wieder in die Welt zurückverſetzt, in die er zurückkehren wollte. Fahrzeuge jeder Art und Gattung, vom winzigen Ruderboot bis zum Ozeanrieſen zogen vorüber. Niemand kümmerte ſich um die Dſchunke, die immer näher zwiſchen den zahlloſen Inſeln hindurchfuhr, die dem Ufer Aſiens vorgelagert ſind. Hunderte von gleichen und ähnlichen Dſchunken breiteten ihre phantaſtiſchen Segel in die Luft, nachts erhellt von bunten Lampions, auf deren Papier Schriftzeichen und Drachen in vielfältigen Farben gemalt waren. Gegen Abend war Hongkong erreicht. – Im Hafen der China-Town, der von den Warnungsrufen der Beſatzung der kreuz und quer durcheinander fahrenden zahlloſen Schiffe und Boote erfüllt war, legte das Boot an. Ho-Ling und Hartmut, begleitet von zwei Kulis, gingen an Land, Ho-Ling anſcheinend von einer Anzahl zweifelhaft ausſehender Geſtalten erwartet, mit denen er im Vorübergehen unauffällige kurze Worte tauſchte.
Ein Automobil, das ausſah, als wolle es im nächſten Augenblick in ſeine ſämtlichen Beſtandteile auseinanderfallen, ſtand bereit und wurde von dem gelben Chauffeur mit halsbrecheriſcher Geſchicklichkeit in das Gewinkel der Straßen von China-Town geſteuert.
An Hartmut zogen die Bilder vorüber wie ein Traum. Er ſchalt ſich, daß er willenlos alles mit ſich geſchehen ließ, was Ho-Ling beſtimmte. Es wäre ihm doch ein Leichtes geweſen, ſich am Hafen von Ho-Lings Geſellſchaft zu trennen, um ſich in das Europäerviertel hinüberzuretten, von wo er ohne Gefahr weiterkommen mußte.
Inzwiſchen hatte das Auto eine beſonders ſchmutzige, enge und düſtere Gaſſe erreicht, in der es vor einem halb zerfallenen Haus anhielt. Ho-Ling komplimentierte Hartmut aus dem Auto, führte ihn durch die Haustüre in einen ſchmalen Gang, von dort über einen engen Hof zu einem dahinter gelegenen niederen Gebäude. An der Türe dieſes Gebäudes war ein Türklopfer von wundervoller altchineſiſcher Bronzearbeit in Form eines Drachens angebracht, den Ho-Ling mehrmals in einem beſtimmten Rhythmus niederfallen ließ, ſo daß ein dumpfes Echo vom Hofe und aus dem Hauſe widertönte. Nach einer kurzen Weile öffnete ſich geräuſchlos die Türe, und ein chineſiſcher Diener im blütenweißen Gewand des „Boy“ verneigte ſich ehrerbietig vor Ho-Ling und ſeinem Gaſt.
Der hallenartige Raum, in den Hartmut eintrat, war mit den koſtbarſten Einrichtungsgegenſtänden ausgeſtattet. Alte, herrliche Chinavaſen mit blühenden Zweigen darin ſtanden umher, in zarten Farben leuchteten dicht gelegte Teppiche. Dünner, blauer Rauch von Räucherwerk kräuſelte aus einer ſchweren Bronzeſchale mit Emailleornamenten, und aus Pergamentpapier und Bambusſtäbchen auf zierliche Weiſe hergeſtellte Lampions verſtreuten mildes Licht.
Mit halb boshaftem, halb zufriedenem Lächeln ſtudierte Ho-Ling die Wirkung des Anblicks auf dem Geſicht ſeines Gaſtes. Er wechſelte ein paar raſche Worte mit dem „Boy“, der eine der auf dieſen Mittelraum führenden Türen öffnete, aus der gleich darauf eine hagere Geſtalt in europäiſcher Kleidung trat. Der Eintretende begrüßte, ohne von Hartmut Notiz zu nehmen, Ho-Ling mit ehrerbietiger Freundſchaftlichkeit. Nach einer kurzen, in chineſiſcher Sprache geführten Unterhaltung begrüßte er Hartmut in fließendem Engliſch und ſchüttelte ihm die Hand.
„Was für ein Landsmann ſind Sie?“, fragte er.
„Deutſcher“, antwortete Hartmut ebenfalls auf Engliſch.
Sofort antwortete der Fremde in hartem, aber fließendem Deutſch: „Es freut mich, Sie in Ihrer Mutterſprache begrüßen zu können. Ich bin der Sekretär des Herrn Ho-Ling und würde mich glücklich ſchätzen, Ihnen behilflich ſein zu können.“
Ho-Ling ſprach eifrig und ſichtlich erfreut einige Sätze zu dem Sekretär, der ſich zu Hartmut wandte und ihm ſagte: „Herr Ho-Ling wünſcht, daß ich Ihnen mitteile, daß er außerordentlich erfreut iſt, Sie als Gaſt in ſeinem Haus aufnehmen zu dürfen, wenn Sie mit ſeiner armſeligen Behauſung vorlieb nehmen wollen, und verſichert Sie ſeiner aufrichtigen Freundſchaft und Ehrerbietung. Ich darf hinzufügen“, fuhr der Sekretär fort, „daß eine derartige Verſicherung bei einem Manne wie Ho-Ling trotz allem, was Sie geſehen haben mögen, und welche Gedanken Sie ſich auch darüber gemacht haben, keine leeren Worte ſind.“
Der Sekretär forderte Hartmut dann auf, ihm zu folgen und führte ihn in ein europäiſch eingerichtetes Schlafzimmer.
Hartmut fand darin alle ſeine Habſeligkeiten bereits ſorgfältig ausgepackt vor und dankte dem Sekretär für die erwieſene Aufmerkſamkeit.
„Sie wenden ſich an die falſche Adreſſe“, ſagte der Sekretär, „Ho-Ling hat das alles angeordnet. Im übrigen habe ich Ihnen ein Bad vorbereiten laſſen. Auch erwartet Sie der Friſeur“, fuhr er mit einem leiſen Lächeln fort. „Ich werde mir erlauben, Ihnen mit Wäſche auszuhelfen und hoffe, daß Ihnen ein Anzug von mir paßt, bis Sie Gelegenheit haben, ſich mit dem Notwendigſten zu verſorgen. Ich werde Sie bald wiederſehen.“
Der Sekretär verließ Hartmut, der völlig benommen zurückblieb und in deſſen Hirn das wüſteſte Durcheinander des Erſchauten und Erlebten jedes vernünftige Nachdenken ausſchloß.
Im Verlauf von zwei Tagen dokumentierte Hartmut auch äußerlich ſeine Rückkehr zur Kultur und ſeine Wiederzugehörigkeit zur Welt. In ſeinem Zimmer im rätſelhaften Heim des Herrn Ho-Ling ſtand eine ganze Batterie von Reiſekoffern, denen auf direkt künſtleriſche Weiſe der Eindruck von Alter und Weitgereiſtheit verliehen war: ſie waren beklebt mit den Reklamezetteln von Gaſtſtätten aus aller Herren Länder, mit den Klebezetteln von Schifffahrtsgeſellſchaften, die alle den gleichen Namen des Paſſagiers „Mr. Tumrath“ trugen. Stapel von Wäſche in feinſter chineſiſcher Handarbeit, eine ganze Reihe von Anzügen, Hüten und Toilettengegenſtänden lagen zum Einpacken bereit. Und auf dem kleinen Tiſch lag ein vom Gebrauch etwas mitgenommener und mit zahlreichen Eintragungen und Stempeln verſehener Schweizer Paß, der auf den Namen des Herrn Richard Tumrath, aus Aarau gebürtig, lautete.
Der Sekretär, deſſen Namen Hartmut noch immer nicht wußte, hatte mit an Hexerei gemahnender Geſchwindigkeit alle dieſe Dinge herbeigezaubert. Das dicke Bündel Dollarnoten, das Hartmut mit wehmütiger Erinnerung an Oati aus ſeinem alten Tropenanzug herausgetrennt hatte, war zwar erheblich zuſammengeſchmolzen, betrug aber immer noch ein Vielfaches deſſen, was er für die Seereiſe benötigte, die er in einigen Tagen antreten, und die ihn nach faſt acht Jahren in die Heimat zurückführen ſollte.
Hartmut war nicht zum Nachdenken gekommen. Aus den knappen Mitteilungen, die ihm der Sekretär machte, hatte er entnommen, daß Ho-Ling einer der Führer der panaſiatiſchen Bewegung unter dem Motto „Aſien den Aſiaten“ war und einer Organiſation diente, die in wenigen Jahrzehnten eine Weltmacht bilden ſollte. Ho-Lings Dienſt beſtand in der Herbeiſchaffung von Mitteln, in der Finanzierung dieſer Aktion und ihrer Ausbreitung in die fernſten Bereiche des Chineſiſchen Meeres, wo in zäher, unterirdiſcher Arbeit der Handel ebenſo wie ihre Herrſchaft den Europäern abgerungen werden ſollte. Der Zweck mußte hier die Mittel heiligen, mit deren Wahl man in keiner Weiſe vorſichtig war. Verdächtige Aſiaten verſchwanden ebenſo prompt und unauffällig von der Bildfläche wie mißliebige Europäer, Schiffe wurden am hellen Tage auf offener See gekapert, ihr wertvoller Inhalt weggenommen und prominente Paſſagiere fortgeführt, und nur gegen ſchweres Löſegeld konnten ſie befreit werden.
Alle aus dieſen Unternehmungen gewonnenen Mittel floſſen Ho-Ling zu, deſſen Sekretär die Anlegung der ſich ſammelnden, erheblichen Kapitalien im Ausland banktechniſch bearbeitete. „Sie ſind der erſte Europäer außer mir, dem Ho-Ling Vertrauen entgegenbringt“, ſagte er zu Hartmut, „weiß der Teufel, wie Sie das fertiggebracht haben.“
Am Abend des dritten Tages ſeiner Anweſenheit in Ho-Lings Hauſe forderte der Sekretär Hartmut auf, mit ihm in einem der erſten Hotels der Europäerſtadt zu Abend zu ſpeiſen, nachdem vorher alle Formalitäten für die Löſung der Schiffskarte erledigt werden ſollten. Als Hartmut die Europäerſtadt betrat, geriet er in einen wahren Taumel der Gefühle. Willenlos ging er in dem Getriebe und Gewoge der durcheinanderquirlenden Menſchen körperlich und geiſtig völlig unter. Eine Art Rauſchzuſtand erfaßte ihn, in dem er mit verdoppelter Intenſität ſah und hörte. Ihn blendete der Glanz der Lichter im Speiſeſaal; die nach der Sitte des Lebens in den Tropen ſcharf gewürzten Speiſen brannten ihm auf der Zunge und dem Gaumen, der Geruch des Weines, des Parfüms der Frauen und des Tabaks nahm ihm faſt den Atem; das Geräuſch der Stimmen, das Klappern der Teller und Schüſſeln und die Muſik dröhnten ihm in den Ohren.
Hartmut drängte den Sekretär zum Aufbruch und kam erſt wieder zur Beſinnung, als ſie durch die Anlagen vor dem Villenviertel in der linden Tropennacht dahinſchritten. Würde er ſich je wieder an die Welt gewöhnen, die ſich ſo wütend auf ſeine Sinne ſtürzte und an ſeinen Nerven riß und zerrte bis zur Unerträglichkeit? Halb im Einſchlafen halb im Traum dachte er zurück und wußte, daß die müde Sehnſucht, die ihn einzulullen begann, viel mehr der „Stillſten Inſel“ als der Welt galt, der er entgegenfuhr.
Am Morgen des nächſten Tages ging Hartmut an Bord des Motorſchiffes „Rheinland“, einem Rieſen von achtzigtauſend Tonnen des Norddeutſchen Lloyd, der ſich auf ſeiner erſten Fahrt, einer Reiſe rund um die Welt, befand.
Der Abſchied von Ho-Ling war herzlich und wärmer, als es in der Art des verſchloſſenen und ſchlauen Chineſen lag. Er wiederholte immer und immer wieder, daß Hartmut ſtets auf ihn rechnen könne und ſtets bei ihm willkommen ſei, wenn er je wieder nach Hongkong zurückkomme. Ho-Ling übergab Hartmut einen Ring, der ihm ſtets helfen würde, wo immer er in Aſien der Hilfe bedürfe. Der Sekretär begleitete Hartmut an Bord. Er hatte ihm eine am Sonnendeck abſeits vom Trubel der Paſſagiere gelegene Kabine beſorgt, in der Hartmut, wenn er es wollte, ſich völlig von dem „Betrieb“ auf dem Schiffe abſchließen konnte.
Mit aufrichtigen Dankesbezeigungen verabſchiedete ſich Hartmut von dem Sekretär, der ihm kühl und gelaſſen die Hand ſchüttelte und das Fallreep hinunterſtieg und davonſchritt, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
Gegen Mittag lichtete die „Rheinland“ die Anker, wurde von Schleppern aus dem Hafen bugſiert, ſteuerte aus dem Bereich der Inſeln der hohen See zu und nahm dann Kurs nach Süden, um durch das Südchineſiſche Meer zwiſchen Sumatra und der Malaiiſchen Halbinſel durch die Straße von Malacca in den Golf von Bengalen zu gelangen.
Während der Seefahrt längs der Oſtküſte Hinterindiens richtete ſich Hartmut in ſeiner geräumigen und bequem ausgeſtatteten Kabine auf ſeine Art häuslich ein. Das Tragen von Kleidern bereitete ihm großes Unbehagen. Seine Füße reagierten auf das Schuhwerk durch heftige Schmerzen und Entzündungen, und ſein Hals widerſetzte ſich ſehr energiſch jedem Verſuch, ihn auf längere Zeit in einen Kragen zu zwängen. Hartmut verließ deshalb ſeine Kabine überhaupt nicht, obwohl es ihn ſehr gereizt hätte, den völlig modernen Neubau des Dampfers in allen Winkeln zu durchforſchen. Vor allem die Maſchinen intereſſierten Hartmut aufs lebhafteſte. Nicht das geringſte Geräuſch war von ihnen zu hören, und nur in der Nacht, bei vollkommener Stille an Bord, fühlte Hartmut feines Vibrieren der Schiffswände als einziges Anzeichen, daß hunderttauſend Pferdekräfte arbeiteten, um den Schiffsrieſen in ſtetiger Fahrt gegen den Anſturm des Meeres voranzutreiben. Seine freiwillige Gefangenſchaft wurde ihm durch ſeine Furcht vor den Menſchen ſehr erleichtert: Hartmut war im wahren Sinne des Wortes menſchenſcheu. Lautes Lachen und Rufen ließ ihn zuſammenſchrecken, und wenn das morgendliche Promenadekonzert vom Mittelſchiff herübertönte, war er immer in Verſuchung, ſich die Ohren zuzuhalten, oder ſich in die Kiſſen ſeines Bettes zu vergraben.
Am dritten Tag der Reiſe meldete der Steward den Beſuch des Kapitäns an. Hartmut konnte nicht ablehnen, den ehrenvollen Beſuch zu empfangen. Die halbe Stunde Wartezeit verging unendlich langſam und bereitete ihm wahre Höllenqualen.
Kapitän Dietrichſen war das Gegenteil von dem, was man ſich unter einem Seebären vorſtellte. Der ſcharfkantig gemeißelte Kopf eines Gelehrten ſtand in einem gewiſſen Widerſpruch zu dem ſchlanken, ſportlich trainierten Körper in der eleganten, peinlich gepflegten, weißen Tropen-Schiffsuniform. Er erkundigte ſich eindringlich nach Hartmuts beſonderen Wünſchen und ließ ſein Erſtaunen über die Abgeſchloſſenheit, in der er an Bord lebte, nur andeutungsweiſe durchklingen. Hartmut gab ohne weiteres zu, menſchenſcheu zu ſein, da er mehr als ſieben Jahre auf einer weit abgelegenen Inſel der Südſee zugebracht habe und ſich nur ſehr ſchwer an die veränderten Verhältniſſe gewöhnen könne. Dietrichſen ſtellte keine weiteren Fragen und empfahl Hartmut, den einen der Schiffsärzte zu Rate zu zichen, der ſicher in der Lage ſei, ihn bei der Überwindung dieſer ſeeliſchen Hemmungen zu unterſtützen. Der betreffende Arzt, Doktor Schmid, ſei überdies ein halber Landsmann von ihm, da er in einer der deutſchen Enklaven in der Schweiz beheimatet ſei.
Hartmut wollte zuerſt heftig ablehnen, beſann ſich aber dann und bat den Kapitän, einen Beſuch des Doktor Schmid zu veranlaſſen. Der das Mittageſſen ſervierende Steward teilte Hartmut mit, daß Doktor Schmid ſich erlauben würde, gleich nach Tiſch bei ihm eine Taſſe Kaffee zu trinken. Hartmut kam diesmal bedeutend beſſer über die Wartezeit hinweg. Er hatte ſogar das Gefühl, als freue er ſich auf den Doktor, und empfand das Bedürfnis, mit irgend jemand ſprechen zu können.
Doktor Schmid war auffallend jung. Er führte ſich in wohltuend ſelbſtverſtändlicher Art bei Hartmut ein und begann, ohne den Zweck ſeines Beſuches irgendwie zu erwähnen, vorſichtig eine Unterhaltung, die bald von beiden Seiten mit großer Lebhaftigkeit und Intereſſe geführt wurde. Als Doktor Schmid faſt nach drei Stunden Hartmut verließ, mußte er ihm zuſichern, ſo oft er freie Zeit an Bord fände, zu ihm zu kommen, um mit ihm zu plaudern. Doktor Schmid hielt ſein Wort, und in wenigen Tagen hatte ſich zwiſchen den beiden ein herzliches und freundſchaftliches Verhältnis entwickelt.
Hartmut lernte die Welt mit den friſchen und völlig unvoreingenommenen Augen des jungen Arztes ſehen. Seine auffallende Intelligenz, Beleſenheit und vielſeitige Bildung kamen auf dieſer erſten großen Reiſe, die er machte, zur vollen Entfaltung und vermittelten Hartmut viele Eindrücke, die manche Voreingenommenheit ſeiner Meditationen in den Jahren der Einſamkeit auf der „Stillſten Inſel“ verdrängten. So gelang es Doktor Schmid, Hartmut zu einem Ausflug an Land zu überreden, als die „Rheinland“ in Singapur Station machte,
Unter der Führung des Zweiten Offiziers, der jeden Winkel der Welt zu kennen ſchien, trennte man ſich ſo raſch man konnte von dem Schwarm der Paſſagiere, der ſich von der „Rheinland“ in die Stadt ergoß. Kreuz und quer durch das europäiſche und die Eingeborenenviertel ging die „Bierreiſe“, wie Doktor Schmid lachend feſtſtellte. In einem malaiiſchen Reſtaurant wurde das Abendeſſen eingenommen, bei dem Hartmut die beiden anderen durch ſeine Sprachkenntniſſe verblüffte. Einer der Boys war von den Marqueſas nach hier verſchlagen und brach faſt in Freudentränen aus, als Hartmut ihn in der Sprache ſeiner Heimat anredete.
In einem chineſiſchen Teehaus, das im geheimnisvollen Ruf ſtand, eine Opiumhöhle zu ſein, beſchloß man den Abend. Der Zweite Offizier hatte ziemlich kräftig dem Alkohol zugeſprochen und geriet in Streit mit einem Rikſchaführer, dem er die Geiſter ſeiner ſämtlichen Vorfahren auf den Hals wünſchte. Seine kommandogewöhnte Stimme war nicht mißzuverſtehen noch zu überhören, und in einem Nu hatte ſich eine dichte Gruppe von Paſſanten um die drei Europäer zuſammengeſchloſſen und nahm eine drohende Haltung an. Ein rieſiger Chineſe mit bösartigem Raubvogelgeſicht machte ſich zum Sprecher und rückte dem Zweiten Offizier auf den Leib. Im nächſten Augenblick mußte der ſich anſammelnde Sprengſtoff hochgehen.
Da fiel Hartmut der Ring ein, den ihm Ho-Ling zum Abſchied gegeben hatte. Er ſtreifte ihn raſch auf ſeinen Finger und zündete ſich eine Zigarette an, ſein Feuerzeug ſo haltend, daß der Ring beleuchtet wurde. Der große Chineſe ſah nach dem Lichte hin, warf einen ſcharfen Blick nach dem Ring und rief dann einige Worte in die Menge, die ſofort zurückwich und ſich zerſtreute, als wäre nicht das Mindeſte geſchehen. Der große Chineſe ſprach einige bedauernde Sätze zu Hartmut, trat dem Rikſchaführer in den Bauch, daß er wehklagend über den Boden rollte, und war im nächſten Augenblick von der Dunkelheit einer Nebenſtraße verſchluckt. Hartmut war über die Wirkung ſeines Ringes erſtaunt; noch erſtaunter aber waren ſeine beiden Begleiter, die für das merkwürdige Verhalten der Menge überhaupt keine Erklärung fanden. Nur der Zweite Offizier fand raſch die Sprache wieder und zog ſchimpfend mit ihnen ab. Als Hartmut einmal umblickte, glaubte er den Schatten des chineſiſchen Hünen zu erkennen, der ihnen in einem gewiſſen Abſtand folgte. –
Doktor Schmid wurde in den folgenden Tagen nicht müde, über dieſes Erlebnis mit Hartmut zu ſprechen. Es hatte Hartmut ſchon lange widerſtrebt, dem Manne gegenüber, für den er eine herzliche Freundſchaft empfand, ſeine Rolle als Mr. Tumrath weiterhin zu ſpielen. Als die beiden einmal abends auf dem verandaartig ausgebauten Vorplatz von Hartmuts Kabine im Freien ſaßen, erzählte er ſeine ganze Geſchichte ausführlich von Anfang bis zu Ende. Die Epiſode mit Ho-Ling deutete er dabei nur an.
Doktor Schmid hatte ihm ſchweigend zugehört. Hartmut konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, welchen Eindruck ſeine Erzählung auf ihn gemacht hatte. Lange, nachdem Hartmut geendet hatte, ſagte Doktor Schmid: „Dann ſind Sie alſo jener Hartmut, der die Zeitungen der ganzen Welt einmal in Atem hielt, und den wir deutſche Buben wie einen Heros verehrten.“
„Ja“, ſagte Hartmut, „eine von den vielen Eintagsfliegen des Ruhms, die in der Flamme der Vergeſſenheit ſo raſch und ſpurlos verbrennen. Sehen Sie, Doktor, drum bin ich ja Mr. Tumrath geworden, weil ich aus dieſer Vergeſſenheit nicht mehr auftauchen möchte. Weil ich den Eintagsruhm fürchte.“
„Ich verſtehe Sie vollkommen“, antwortete Doktor Schmid. „Ich glaube aber nicht, daß Sie der natürlichen Entwicklung der Dinge vorgreifen ſollten. Sie ſind vielleicht gar nicht bis zu dem Grade vergeſſen, wie Sie es annehmen, und es wird vielleicht ſchwer ſein für Sie, den Bruch mit ihrem früheren Leben aufrechtzuerhalten, in eine völlig neue Exiſtenz hineinzuwachſen.“
Hartmut lächelte: „Ich habe immer nach dem Grundſatz gehandelt: Was der Menſch will, kann er auch. Man muß nur richtig wollen.“
„Gewiß“, antwortete der Doktor, „das iſt männlich und ſtolz gedacht. Wäre auch ein richtiger Grundſatz, wenn wir ſelbſt das Ziel, das Ende unſeres Wollens, immer abſehen könnten, wenn wir nicht gar zu häufig mitten drin …“
„Schiffbruch auf einer ‚Stillſten Inſel‘ erlitten“ – unterbrach ihn Hartmut. „Wäre das denn wirklich das Schlimmſte?“
„Wenn ich Sie erzählen höre, könnte ich denken: nein“, antwortete der Doktor verſonnen. „Wenn ich mich aber in Ihre Lage verſetze und mir alles genau ausmale – dann komme ich doch zu dem Schluß, daß es viele andere, erſtrebenswertere Ziele gibt.“
Hartmut ſchwieg. Nach einer Weile fuhr der Doktor fort: „Ich glaube, Sie haben zu mir als Freund geſprochen. Es war nicht zu vermeiden, daß auch der Arzt zugehört hat. Er hat ſeine Diagnoſe geſtellt und glaubt zugleich die richtige Behandlung gefunden zu haben. Es iſt gar keine ſchwere Krankheit, an der Sie leiden, und ich verſpreche Ihnen, wenn Sie mir folgen, als Arzt und als Freund – ich werde Sie vollkommen geſund in der Heimat abliefern.“
Die nächſte Station der „Rheinland“ war Colombo auf Ceylon, wo mehrere Tage Aufenthalt genommen wurden. Hartmut und Doktor Schmid fuhren mit der Bahn und im Kraftwagen bis in die Märchenregionen des tropiſchen Hochgebirges hinauf, wo die Natur im ewigen Frühling und in ewiger Jugend ein Paradies geſchaffen hat. Ein Paradies, in dem die Menſchen wie die Vandalen hauſten und Hartmut neue Sehnſucht nach der unberührten Einſamkeit ſeiner „Stillſten Inſel“ empfand. –
Die Weiterfahrt ging über Kalkutta, Bombay, Aden durch das Rote Meer nach Suez.
Längſt hatte Doktor Schmid erreicht, daß Hartmut ſein Einſiedlerleben aufgab. Mit dem Zweiten Offizier zuſammen, der an Bord wie umgewandelt erſchien, und dem man ſeine Rauhbeinigkeit, die er an Land gezeigt hatte, nie zugetraut hätte, machte Hartmut oft ſtundenlange Exkurſionen durch alle Räume der ſchwimmenden Stadt. Auf die Maſchinenanlagen konzentrierte ſich Hartmuts beſonderes Intereſſe. Zwanzig Rohölmotore von je fünftauſend Pferdeſtärken trieben in Gruppen von je fünf die vier Propellerwellen des Schiffes an. Eine völlig neuartige Kraftübertragung durch elektromagnetiſches Getriebe arbeitete abſolut weich und geräuſchlos. Die Motore ſelbſt waren in allen Teilen peinlich genau ausgewuchtet. Sie ſtanden in dem hellen, luftigen Maſchinenſaal in der ſtrengen Geſchloſſenheit ihrer zur äußerſten Zweckmäßigkeit entwickelten Bauart. Kein drehendes, kein bewegtes Teil war ſichtbar. Ihre Fundamente ruhten auf mächtigen Gummiklötzen, die die letzten unvermeidlichen Reſte der Vibrationen ihres geräuſchloſen und ſchwingungsfreien Laufes abſorbierten, ohne ſie in das Gerippe des Schiffes zu übertragen. Nur ein dumpfes Murmeln erfüllte den Raum als einziges Geräuſch, das von der raſtloſen Folge gewaltiger Exploſionen im Inneren der Zylinder nach außen drang.
Den Schiffskörper durchzogen überall mächtige Syſteme von Rohrleitungen, die ſich in zahlloſe, immer kleiner werdende Äſte verzweigten und gabelten, ſo daß es faſt unvorſtellbar war, wie ein Menſchenhirn ſich darin zurechtfinden ſollte. Ob auf Deck die Sonne des Indiſchen oder des Roten Meeres niederſengte, oder ob das Schiff Polarregionen durchfuhr, die ſeine Bordwände in Eis erſtarren ließen – in allen ſeinen Räumen herrſchte ſtets gleichbleibende Temperatur. Ob das Meer wie ein Spiegel lag oder gegen die Schiffswände tobte – der Körper der „Rheinland“ lag faſt regungslos auf ſeinem Kurs im Waſſer. Schlingertanks und Kreiſelſtabiliſatoren neueſter Bauart vollbrachten das Wunder.
Auch in der fernſten Stelle im Weltmeer lebten die Paſſagiere mitten in der Welt. Die Zentrale der Drahtloſen war ein Gebäude für ſich. Sie vermittelte Telephongeſpräche nach aller Herren Länder, ſammelte die Nachrichten und lieferte das Material für die umfangreiche „Rheinland-Expreß“, eine Bordzeitung, die in Morgen- und Abendausgabe täglich erſchien. Für beſondere Fälle war überdies an Bord ein Flugzeugdienſt eingerichtet, der eilige Briefe und Warenſendungen von und an Bord beförderte und den Paſſagieren den Zugang zu den Weltlinien des Luftverkehrs von jedem Punkte der Fahrt aus ermöglichte.
Hartmut erfuhr, daß er das Opfer ſeiner acht Jahre Gefangenſchaft nicht umſonſt gebracht hatte. Die transatlantiſchen Welthöhenlinien verkehrten regelmäßig. Der Schnelligkeitsrekord dieſer Luftverbindungen näherte ſich der Grenze der tauſend Kilometer pro Stunde. Deutſcher Ingenieur- und Erfindergeiſt hatte die Entwicklung dieſer Flugzeuge und dieſer Verkehrslinien mit zäher Energie vorbereitet und durchgeführt.
Gelegentlich eines Beſuches beim Kapitän legte dieſer die Schiffszeichnungen vor. Hartmut geriet in helle Begeiſterung, als er ſah, daß die Form des Schiffsrumpfes von der vor acht Jahren üblichen Bauweiſe ſtark abwich. Die neue Form entſprach vollkommen den Theorien über Strömungsverlauf, die Hartmut auf ſeiner „Stillſten Inſel“ autodidaktiſch entwickelt hatte. Sein Wiſſenseifer und Wiſſensdrang war neu erwacht. Er brannte darauf, mit den Konſtrukteuren der Werft in Friedrichshafen zu diskutieren und alle aerodynamiſchen Forſchungsergebniſſe der für ihn verlorenen Jahre bis in alle Einzelheiten kennenzulernen.
Suez mit dem üblichen Beſuch Kairos, der Muſeen und der Pyramiden lag hinter der „Rheinland“, die auf Umwegen durch das Mittelmeer fuhr, Griechenland und Palermo anlief und in Genua zwei Tage Aufenthalt nahm.
Hartmut war verſucht, in Genua ſeine Fahrt auf der „Rheinland“ abzubrechen und in direktem Zug nach Deutſchland zurückzukehren. Doktor Schmid mußte ſeine ganze Überredungskunſt aufwenden, um Hartmut von ſeinem Vorhaben abzubringen; es gelang ihm, ohne daß er je den wahren Grund erfuhr, weshalb Hartmut ſich überreden ließ. Die „Rheinland“ lief als letzte Station vor Hamburg Southampton an, von wo Hartmut mit einem Kursdampfer direkt nach Amſterdam weiterfahren wollte.
Für die zahlreichen Menſchen, die Hartmut während der Fahrt bis nach England kennengelernt hatte, war und blieb er Mr. Tumrath. Doktor Schmid, mit dem ihn nun herzliche und aufrichtige Freundſchaft verband, war der einzige, der die Wahrheit über Hartmut wußte.
Hartmut verließ die „Rheinland“ in Southampton. Nur der Abſchied von Doktor Schmid fiel ihm ſchwer. Baldiges Zuſammentreffen zwiſchen den beiden wurde vereinbart, möglichſt ſchon vierzehn Tage ſpäter in Friedrichshafen am Bodenſee.
Hartmut fuhr faſt ohne Aufenthalt mit einem Kursdampfer über Dover, Oſtende nach Rotterdam und traf drei Tage ſpäter im Haag ein. Aus dem Adreßbuch erfuhr er den Wohnort eines Diamantenmaklers, der ihm als beſonders zuverläſſig und an der Diamantenbörſe gut eingeführt empfohlen war. Er ſuchte Mynher van Geeſt in deſſen winzigem Büro auf und wurde ſehr kühl und reſerviert empfangen und nach ſeinem Anliegen gefragt.
Hartmut hatte den größeren Teil ſeiner Diamanten bis auf die großen Brocken in einer Taſche bei ſich, legte dem Händler aber nur wenige der kleineren Steine vor, von deren Herkunft er eine abenteuerliche Geſchichte erzählte. Er habe in Südafrika gejagt und eine neue Fundſtelle entdeckt, zu deren Ausbeutung ihm der Verkauf dieſer Proben das nötige Geld ſchaffen müßte.
Seine genauen Kenntniſſe der Orte und der Verhältniſſe in Südafrika verdankte er einem in Aden an Bord der „Rheinland“ gekommenen Deutſchen, der Mineningenieur war und den Bau einiger Diamantengruben dort unten geleitet hatte. Mynher van Geeſt examinierte Hartmut gründlich. Von ſeinen lückenloſen Kenntniſſen war er ſichtlich befriedigt und beruhigt, und wo der fremde Mr. Tumrath ausweichende Antworten gab, vermutete er, daß dies geſchehe, um den Fundort zu verbergen.
Geeſt prüfte die Steine mit größter Sorgfalt, wobei ihm ein ſpindeldürres, vertrocknetes, altes kleines Männchen augenſcheinlich mit größter Sachkenntnis aſſiſtierte. Bevor er ſich über die Qualität und den Wert der Steine äußerte, ging er auf Umwegen auf eine Bedingung los, die er an die Verwertung der Steine knüpfte, und an deren Erfüllung ihm außerordentlich viel gelegen ſchien. Er war ſichtlich erfreut, als Hartmut ihm ohne weiteres zuſicherte, daß er bereit ſei, alle Verkäufe aus Steinen ſeines Fundortes durch Mynher van Geeſt zu tätigen zu den üblichen Maklerbedingungen.
Geeſt wurde nun außerordentlich liebenswürdig und behandelte Hartmut mit einer freundſchaftlich jovialen Vertraulichkeit. Er betonte immer und immer wieder, daß die von Hartmut vorgelegte Ware „prima-prima“ ſei, nahm Hartmut mit in ein Reſtaurant, wo es ebenſo reichlich wie gut zu eſſen gab, vertilgte ungeheure Mengen und proſtete Hartmut fortgeſetzt mit allen guten Wünſchen auf beſte Geſchäftsverbindungen zu.
Am Nachmittag wurden die Gewichte und Qualitäten der Steine nochmals genau geprüft, in Liſten eingetragen, die in doppelter Ausfertigung gegenſeitig beſtätigt wurden. Als alles fertig ſchien, leerte Hartmut plötzlich, einem raſchen Entſchluß folgend, den ganzen Inhalt ſeiner Taſche auf den Tiſch. Dem dicken Mynher quollen die Augen förmlich aus dem Kopf und er ſchnaufte wie ein Walroß. Sein ausgemergelter Aſſiſtent bekam eine Art Veitstanz. Seine Hände fuhren wie Krallen in die Steine und ſein leichenblaſſes Geſicht glühte auf wie ein Karfunkel.
Erſt um zwei Uhr in der Nacht war die ganze Prozedur der Aufnahme und Regiſtrierung der Steine vorgenommen. Mynher van Geeſt geſtand erſchöpft, daß er niemals eine ſolche Menge von großen und erſtklaſſigen Steinen in ſeinem Treſor verſchloſſen habe. Hartmut bat ihn um einen Vorſchuß auf den Verkaufserlös, und ohne ſich einen Augenblick zu beſinnen, ſtellte ihm Mynher van Geeſt einen Scheck über zehntauſend Pfund aus als „kleine Anzahlung“, wie er ſagte.
Heimat
Hartmut fuhr mit dem Frühzug nach Stuttgart, wo er abends eintraf und am nächſten Morgen unter ehrfürchtigem Schweigen des Kaſſiers und unter Aſſiſtenz des Herrn Bankdirektors höchſtſelbſt ſeinen Scheck zwecks Einrichtung eines Kontos in Zahlung gab. Mr. Tumraths weitgereiſter Paß erregte im gleichen Maße die Bewunderung des Bankiers wie die gewichtige Summe auf dem Scheck. Er ſchien den Himmel zu preiſen, der ihm über Nacht einen ſo beſcheidenen und doch ſo maſſiven Kunden beſchert hatte.
Das zwar dünn gewordene, doch immer noch eine recht anſehnliche Summe ausmachende Bündel von Dollarnoten zahlte Hartmut ebenfalls ein und ließ ſich einen Betrag von mehreren tauſend Mark in bar aushändigen. Dann fuhr er mit einem Mietsauto zu dem Verkaufslokal der Daimler-Benz-Werke, wo er kurz entſchloſſen einen Reiſewagen erſtand, mit dem er am Morgen des nächſten Tages über Eßlingen–Göppingen die ſteile Straße von Geislingen zur Höhe der Rauhen Alb emporklomm.
Welch weiter, weiter Umweg hatte bis zur Erfüllung dieſes Jugendtraumes, ſeinen eigenen Wagen zu beſitzen, geführt!
Strahlender Frühlingstag ruhte über der Rauhen Alb. Die Obſtbäume blühten, ſäumten die Wege und hüllten die Dörfer in ihren weißen Schimmer. Hartmut fuhr durch die Landſchaft wie im Traum. Was waren die Wunder des Tropenwaldes, was war die Farbenpracht des Südens gegen die zarte Harmonie dieſer beſcheidenen, in ſich ſelbſt ruhenden Landſchaft?
Gegen Mittag kam er nach Urach. Er hielt auf dem Marktplatz vor dem Gaſthaus „Zu den drei Roſſen“. Der Wirt ſelber nahm den fremdländiſch ausſehenden Herrn mit den ſeltſamen Koffern in Empfang und war ſichtlich erſtaunt, wie Hartmut im unverfälſchten Oberſchwäbiſch mit allen Feinheiten des Dialektes der näheren Umgebung Rede und Antwort ſtand. Hartmut fühlte ſelber, wie er zum erſten Male ſeit acht Jahren ſeine eigenſte Sprache wiederfand, und verwickelte den Wirt in eine ſo angeregte Unterhaltung, daß ſchließlich die pralle Kellnerin, die Frau Wirtin und alle Gäſte daran teilnahmen und Hartmut gar nicht recht zum Genuß der „geſchmälzten Spätzle“ kam, auf die er ſich ſo herzlich gefreut hatte.
Am nächſten Morgen fuhr er nach Friedrichshafen weiter; auf Kreuz- und Querfahrten kam er über Sigmaringen nach Ludwigshafen am Bodenſee und traf ſpät abends in Friedrichshafen ein.
Hartmut wohnte in Friedrichshafen in demſelben Hotel, in dem er die Nacht vor ſeinem Start zugebracht hatte. Der verſchlafene Hausdiener führte den ſpäten Gaſt in ein Eckzimmer, das Hartmut ſofort als dasjenige erkannte, in dem er damals gewohnt hatte. Damals – das war die Nacht vom zwölften zum dreizehnten April.
Und heute war wieder die Nacht vom zwölften zum dreizehnten April, acht Jahre ſpäter. Hartmut trat auf den Balkon. Der See lag im Vollmondſchein, der Säntis reckte auf dem anderen Ufer ſeine im ungewiſſen Licht ins Rieſenhafte vergrößerte Gnomengeſtalt empor, die mächtigen Uferbäume rauſchten im Nachtwind, und der klagende Ruf eines Vogels klang weit her über das Waſſer. Alles war wie einſt. Was waren acht Jahre für das Geſchehen und das Beſtehen der Welt?
Lange fand Hartmut keinen Schlaf. Unbeſtimmte Gefühle wechſelten in ihm. Glücklichſtes Geborgenſein durchfloß ihn warm, und im gleichen Augenblick zerriß ihn der Schmerz heimatloſer Verlaſſenheit.
Spät am Morgen wachte Hartmut auf. Fiebernde Unruhe trieb ihn. Er nahm ein haſtiges Frühſtück und blieb bei dem alten Portier am Ausgang einen Augenblick ſtehen, um gleichgültige Fragen zu ſtellen. Ob ihn der Alte, mit dem er einſt ſo oft geplaudert hatte, wieder erkannte?
Mit gleichgültiger Höflichkeit wurden ſeine Fragen beantwortet. Er erfuhr, daß zwei Direktoren der Werft geſtorben waren und der Chefkonſtrukteur, dem er ſich während ſeines kurzen Aufenthaltes vor dem großen Start am ſtärkſten angeſchloſſen hatte, ſich zur Ruhe geſetzt hatte. Er wohnte in einem kleinen Haus am See zwiſchen der Flugzeugwerft und Friedrichshafen. Hartmut verſuchte den Weg dorthin im Schlenderſchritt zurückzulegen. Doch immer wieder ertappte er ſich dabei, daß ſein Schlendern eher ein Laufen zu nennen war.
Nach einigem Suchen fand er das Haus. Die Gartenpforte war angelehnt. Er ging hinein und trat faſt zögernd auf den blanken Kies der Wege, deren gepflegte Ebenheit ſeine Tritte in Unordnung brachten und das friedliche Bild dieſes mit peinlichſter Sorgfalt angelegten Gärtchens ſtörten. Hartmut lächelte – war es nicht die gleiche pedantiſche Schulmeiſterei, mit der der alte Junggeſelle die Natur ſeines Gartens mißhandelte, mit der er einſt in ſeinem Zeichenſaal die Menſchen und Dinge zurechtgeſtutzt und eingeordnet hatte, ſo daß die Mechanik des Konſtruktionsbetriebes der Werft wie ein präziſes Uhrwerk funktionierte und auf die Minute lieferte, was von ihr verlangt wurde?
Ein kleiner Hund ſtand von einer Matte auf, die in ihrer Größe genau für ihn berechnet ſchien, und begrüßte den Ankömmling mit einem aſthmatiſchen Bellen und matten Wedeln des Schwanzes. Um die Hausecke rief eine Stimme, die große Ähnlichkeit mit dem Bellen des Hundes hatte: „Was iſcht los da vorne?“
Der weltbekannte Konſtrukteur hatte den gleichen weißen Zeichenkittel an, ohne den er nicht die kleinſte Arbeit verrichtete. Er war unverändert. Sein hartes Bauerngeſicht war vielleicht noch um ein weniges ſchärfer geworden, und ſein ſchwarzes Haar hatte ſich an den Schläfen ſtärker bereift. Seine harten, grauen Augen muſterten Hartmut mit dem gleichen ablehnenden Mißtrauen wie damals, als er von dem Direktor der Werft dem Chefkonſtrukteur als der Flieger des Rekordflugzeuges vorgeſtellt wurde.
„Grüß Gott, Herr Fürſt“, ſagte Hartmut.
„Grüß Gott! Zu wem wollen Sie?“, war die unfreundliche Antwort.
„Zu Ihnen, Herr Fürſt. Kennen Sie mich nicht mehr?“
„Nicht, daß ich wüßte“, knurrte der Alte und muſterte Hartmut noch ſchärfer.
„Wirklich nicht, Herr Fürſt?“, ſagte Hartmut lächelnd. „Es iſt zwar ſchon lange her, heute vor acht Jahren, um ſieben Uhr früh, haben Sie mir zum letzten Male die Hand gegeben.“
Mit einem Male fiel Fürſt der Unterkiefer ſozuſagen aus dem Geſicht. Der Mund ſtand ihm weit offen, ſein friſches, rotes Geſicht wurde gelb, er ließ ſeine Gartenſchere fallen, trat einen raſchen Schritt zurück und flüſterte tonlos: „Hartmut? Sind Sie’s wirklich?“
„Ja, ich bin’s. Johannes Reinhold Hartmut, der mit dem ‚Transozean‘ in der Südſee verſchollen iſt.“
Im nächſten Augenblick hatte Fürſt Hartmut an ſich geriſſen und nach der Umarmung ſtieß er ihn zugleich von ſich, daß Hartmut faſt taumelte. Fürſt ſagte kein Wort, nur zwei, drei dicke, große Tränen rollten ihm aus den Augen und verſchönten dieſes grobe, ſtrenge Geſicht auf wunderbare Weiſe.
Fürſt hatte nie viel Worte gemacht. Aber jetzt ſchien er wie ausgewechſelt. Er fragte ununterbrochen, wollte Hartmut reden hören und ſchnitt ihm gleichzeitig jeden Satz im Munde ab. Er wußte nicht, wo er anfangen und wo er aufhören ſollte, um Hartmut ſeine Freude und ſeine Bereitwilligkeit, ihm zu helfen, wo er irgend konnte, zu zeigen.
Dann fiel er unvermittelt in ſeine alte Schweigſamkeit zurück und hörte Hartmuts Erzählung von Anfang bis zu Ende an. Hartmut hatte längſt geendet, bis die grauen Augen Fürſts aus der Ferne zurückgekehrt waren, in die ſie Hartmuts Erzählungen gefolgt ſchienen. Dann griff er ganz langſam nach ſeiner Hand, drückte ſie und ſtrich ein paarmal ſehr zart mit der anderen Hand über ſie hin. Das war die einzige Äußerung, die er tat.
Am Mittag half er ſelber Hartmuts Gepäck aus dem Hotel in die beiden Zimmer ſchaffen, die ſeit Jahren in ſeinem Haus unbewohnt waren, und die Hartmut beziehen mußte, ob er wollte oder nicht.
Vor dem Abendeſſen tat er ſehr geheimnisvoll. Er hatte heimlich den neuen Direktor der Werftbetriebe zu ſich eingeladen, einen Mann, den er eigentlich als Streber verachtete, und der zu Hartmuts Zeiten noch in kleiner Stellung bei den Flugzeugwerken tätig geweſen war.
Für den war Hartmuts Rückkehr weiter nichts als eine unerhörte Senſation. Er konnte es kaum erwarten, bis er das kleine Haus am See wieder verlaſſen konnte, um an das nächſte Telephon zu ſtürzen und die Neuigkeit in aller Welt zu verbreiten. Eine beſſere Reklame konnte es für das von ihm geleitete Unternehmen gar nicht geben. In allen Großſtädten Deutſchlands erſchienen noch in der Nacht die Extrablätter mit dem von ihm redigierten Text, am nächſten Morgen waren ſämtliche Telephon- und Telegraphenleitungen nach Friedrichshafen ununterbrochen tätig und der Sender der Werft arbeitete ohne Pauſe. Der Mittagszug war bereits überfüllt von Reportern, Filmphotographen, Verlagsagenten und Neugierigen, die die Hotels ſtürmten, und als ſie Hartmuts Wohnort erfahren hatten, das Haus am See zu belagern anfingen.
Dieſen Erfolg hatte der alte Fürſt nicht beabſichtigt, Er wünſchte ſich fluchend vier Maſchinengewehre auf den vier Ecken ſeines Grundſtückes, um die Horde abzuſchießen, die ſeine Beete zertrampelte und den Zaun faſt eindrückte.
Hartmut ſelber war dem Anſturm überhaupt nicht gewachſen. Er flüchtete ſich durch die Nachbargärten aufs freie Feld und kam unerkannt zur Werft, wo er den Direktor reichlich grob anfuhr.
Doch lachend fragte ihn dieſer, was für einen Grund er habe, über ſeinen jungen Ruhm ſo ungehalten zu ſein. Er könne in wenigen Tagen Millionär ſein, zumal wenn er die Methode der Zurückhaltung, die er jetzt ausübte, beibehalte.
Hartmut ſah ein, daß er machtlos war.
Auf den Rat des Direktors empfing er drei Reporter der größten deutſchen Tageszeitungen, die ſeinen kurzen und ſehr knappen Bericht Wort für Wort mitſtenographierten, um ihn aufs Zehnfache ſeines Volumens aufgebläht und ausgeſchmückt an ihre Blätter zu telegraphieren. Drei Filmoperateure ſtürzten ſich danach auf ihn, die ihre Kurbeln nicht raſch genug drehen konnten, um möglichſt viel Meter zu ergattern, und ein Revuedirektor mußte regelrecht vom Portier die Treppe hinuntergeworfen werden, bevor er ſeine Bemühungen aufgab, Hartmut zu einem Gaſtſpiel zu verpflichten.
Als Hartmut ſchließlich völlig erſchöpft im Zimmer des Direktors ſaß, übergab ihm dieſer ein Bündel Schecks, deren Geſamtſumme die Hunderttauſend überſchritt.
„Wenn das kein lohnendes Geſchäft iſt, Herr Hartmut, dann weiß ich nicht, was Sie unter Geſchäft verſtehen. Außerdem liegt hier ein Vertrag mit einer erſten Verlagsfirma, den Sie nur zu unterſchreiben brauchen, um Millionär zu ſein.“
Hartmut packte den Vertrag und zerriß ihn in kleine Fetzen, die er dem Direktor vor die Füße warf. Wütend verließ er die Werft, kam ungeſehen in Fürſts Haus zurück, wo er ſeine Reiſekoffer fertig machte und von Fürſt Abſchied nahm. Noch in der gleichen Nacht fuhr er mit ſeinem Reiſewagen fort, ohne ſein Ziel ſelbſt zu kennen.
Er glaubte unerkannt entkommen zu ſein, hatte aber ſeine Rechnung ohne das Kino und den drahtloſen Bildferndienſt gemacht. In jedem Käſeblättchen waren Bilder von ihm in allen Stellungen längſt erſchienen, in jedem Kino bewegte er ſich auf der Leinwand mit der täppiſchen und linkiſchen Ungewandtheit und unfreiwilligen Komik des Filmneulings.
Das Inkognito ſeines Namens nützte ihm längſt nichts mehr. Reporter hefteten ſich wie Spürhunde an ſeine Ferſen. Es gelang ihm, nach Oberbayern zu entkommen, nachdem er im Allgäu ſein Auto, eine Panne vorschützend, in einer Scheune eines einſamen Bauernhofes untergebracht hatte. Ein winziges Gebirgsdorf verbarg ihn. Dort blieb er, bis ihm ein Schnurrbart gewachſen war und ſeine Haare ſich einer anderen Friſur gefügt hatten. Dann unternahm er eine Reiſe von über einem Jahre Dauer, die ihn durch halb Europa führte, und bei der er ſeine Beziehungen zu Mynher van Geeſt wiederaufnahm.
Die einzigen Menſchen, mit denen er während der ganzen Zeit brieflich in Verbindung geſtanden hatte, waren Fürſt und Doktor Schmid von der „Rheinland“. Das Zuſammentreffen mit dem letzteren in Friedrichshafen war von der Woge ſeiner Berühmtheit hinweggeſchwemmt worden. Er traf Schmid im Sommer in Hamburg und machte an Bord des Schiffes, auf dem Schmid jetzt angeſtellt war, eine Nordlandreiſe. Es war an Bord nicht zu vermeiden, daß Hartmut als der „Flieger-Robinſon“ erkannt wurde und einige Tage peinlich in den Mittelpunkt des allgemeinen Intereſſes gerückt war. Doktor Schmid hatte eine boshafte Freude daran, Hartmut in ſeiner neuen Rolle als Abgott der Damen und Held der Jugend zu beobachten, und brachte ihn mit ſeinem freundlichen Spott ganz allmählich dazu, die Dinge ſo zu nehmen, wie ſie eben lagen, gute Miene zum böſen Spiel zu machen und ſchließlich ſogar ein bißchen ſtolz auf die Berühmtheit zu ſein, die ihn in den Augen der anderen auszeichnete.
Unter der Einwirkung von Doktor Schmid faßte Hartmut beſtimmte Pläne für die Weiterentwicklung ſeines Daſeins und ſchrieb einen langen Brief an Herrn Fürſt, in dem er ihn bat, an einer genau beſchriebenen und in der Karte eingezeichneten Stelle der ſüdlichen Rauhen Alb ein ſehr großes Gelände aufzukaufen, zum mindeſten aber zu verſuchen, das inmitten dieſes Geländes liegende, geräumige alte Schloß mit allen Wirtſchaftsbauten in ſeinen Beſitz zu bringen.
Erntezeit des Lebens und letzte Fahrt
Den Anfang des Winters verbrachte Hartmut in einem Hochtal der Schweiz, wo er mit Doktor Schmid und deſſen junger Frau zuſammentraf. Doktor Schmid beobachtete Hartmut mit den Augen des Arztes und empfahl ihm, den Reſt des Winters und den Beginn des Frühjahrs im ſüdlichen Italien zuzubringen, um ſeinem durch den jahrelangen Aufenthalt in dem zwar nicht ungeſunden, aber heißen und feuchten Klima der Südſee verweichlichten Körper, mit dem Hartmut im letzten Jahre rückſichtslos umgegangen war, die nötige Ruhe zu gewähren.
Schweren Herzens willigte Hartmut ein, Er hatte vielerlei Beziehungen in Deutſchland wieder angeknüpft, korreſpondierte eifrig mit den Aerodynamikern der ganzen Welt und hatte ein Projekt ausgearbeitet, deſſen Verwirklichung ſeine Lebensaufgabe bilden ſollte.
Auf einer winzigen Inſel, an dem vom Strom der Fremden faſt unberührten ſüdlichſten Teil Italiens, führte er ein Leben ſo tiefer Einſamkeit, daß er ſich oft wie auf die „Stillſte Inſel“ zurückverſetzt vorkam. An Hand ſeines Tagebuches ſchrieb er die Geſchichte ſeiner Robinſonade, die manche wehmütige Erinnerung an glückliche Stunden in der Südſee in ihm wach werden ließ.
Von Mynher van Geeſt hatte er mittlerweile Nachricht erhalten, daß alle ſeine Steine abgeſetzt waren. Vor der Höhe der abgerechneten Endſumme erſchrak Hartmut förmlich. Die Launen des Glückes überſchütteten ihn mit Geld. Hatte doch kurz vorher der Direktor der Werft in Friedrichshafen ihm einen ſehr namhaften Betrag überwieſen aus den Erlöſen der Vortragsreihe, die er ſelber in vielen Städten über das Thema: „Hartmut, der Flieger-Robinſon und Pionier des Welthöhenflugverkehrs“ gehalten hatte.
Kurz entſchloſſen kaufte Hartmut die kleine Inſel, auf der er wohnte, für einen relativ ſehr geringen Betrag und traf Anordnung, daß ihm ein winziges Landhaus in der Mulde einer beſonders ſchönen Bucht des Meeres gebaut wurde, deren Wohnraum in allen Teilen der Höhle auf der „Stillſten Inſel“ nachgebildet war.
Im Juni erhielt Hartmut ein Telegramm von Fürſt, daß die von ihm eingeleiteten Verhandlungen bis zum Abſchluß gediehen ſeien, den Hartmut nun ſelbſt vornehmen müſſe. Auf kürzeſtem Wege begab ſich Hartmut nach Friedrichshafen und fuhr mit Fürſt in jenen Teil der ſüdlichen Rauhen Alb, in der ein kahler Höhenzug des Juragebirges aus der Hochebene aufſteigt, und in deſſen ſüdlichem Teil in einem alten Park das verwahrloſte Schloß lag, das Fürſt für Hartmut erworben hatte.
Die Verhandlungen kamen raſch zum Abſchluß, und nach wenigen Tagen war Hartmut Beſitzer eines Geländes von mehreren tauſend Hektar, das den ganzen Höhenzug mit Vorgelände umfaßte.
In der Schweiz hatte Hartmut einen jungen Architekten kennengelernt, der in dürftigen Verhältniſſen lebte und nur unter größten Entbehrungen die Mittel für den Aufenthalt in einer Lungenheilſtätte aufbringen konnte. Er ließ ihn kommen und ſtellte ihm die Aufgabe, das Schloß ſamt den zugehörigen Wirtſchaftsgebäuden innerlich ſo umzugeſtalten, daß der Komplex ſich für eine großzügig eingerichtete „Deutſche Hochſchule für Aerodynamik“ eignete.
Ein Baubüro wurde eingerichtet, Hilfskräfte eingeſtellt, und im Herbſt waren die Arbeiten im vollen Gange.
Als der junge Architekt im Frühjahr des nächſten Jahres von einem Winter-Kuraufenthalt in der Schweiz, den Hartmut trotz ſeines Sträubens durchgeſetzt hatte, zurückkehrte, war der Umbau faſt beendet, ſo daß er nur die letzten Anweiſungen zu ſeinem Werk geben mußte. Das Schloß erhielt einen großen und eine Reihe von kleineren Hörſälen, Sammlungen uſw., die Wirtſchaftsräume waren in Wohnungen für Studierende umgebaut, für die Lehrkräfte lag im Park zerſtreut eine Reihe von kleinen Häuſern. Oberhalb des Schloſſes, am Südhang des Höhenzuges, lagen die Laboratorien und Werkſtätten ſowie die mächtige Anlage des Prüffeldes und des Windkanals, und auf beiden Seiten des Höhenzuges waren Hangars flach in das Gelände eingebaut, die durch verdeckte Gleisanlagen mit der Zufahrtsſtraße und durch Aufzüge mit dem Kamm des Höhenzuges in Verbindung ſtanden.
Alle Gebäude wurden von einer Zentralſtelle aus mit Kraft, Wärme und Waſſer verſorgt, ebenſo wie die Wirtſchaftsverwaltung von einer Zentralſtelle ausging, ſo daß die Bewohner der kleinen Stadt von allen Sorgen und Mühen des täglichen Lebens befreit waren und unbehindert ihrer Lehr- und Forſchertätigkeit leben konnten.
Hartmut war ſtolz auf ſein Werk. Wie groß war ſeine Enttäuſchung, als die geſamte deutſche Fachwelt ſeine Beſtrebungen nicht nur in keiner Weiſe unterſtützte, ſondern ſogar offen dagegen Stellung nahm. Man ſchalt ihn einen größenwahnſinnigen Autodidakten, der mit ſeiner Gründung nur Reklame für ſich treiben wolle, in noch höherem Maße, als dies bisher bereits geſchehen ſei, Bauernfang mit Leichtgläubigen treibe, die den wirren Erzählungen Glauben ſchenkten, die er ſelbſt in fatal unklarer Weiſe in Umlauf geſetzt habe.
Hartmut empfand dies alles wie einen Schlag vor die Stirn, der ihn unvermittelt traf. Es bedurfte der ganzen Überredungskunſt von Doktor Schmid, um ihn von einer neuen Flucht in die Einſamkeit zurückzuhalten. Mehr aber noch erreichte die rückſichtsloſe Energie, mit der ſich Fürſt für Hartmut einſetzte und eine Schar junger Studenten um ſich ſammelte, die mit den Vorbereitungen begannen und unter Hartmuts Anweiſung die erſten Verſuchsreihen in dem neuen Windkanal durchführten.
Das Ergebnis dieſer Arbeiten war ein umfangreiches Werk, für das Fürſt die Autorität ſeines Namens einſetzte, und in dem die neue Theorie des Segelfluges, die das Geſamtgebiet der Aerodynamik in völlig neuem Lichte erſcheinen ließ, niedergelegt war. Das Werk, das alle Ergebniſſe der Beobachtungen und Forſchungen von Hartmut während ſeines Inſellebens enthielt, vermehrt um die Ergebniſſe exakter forſchender Meſſungen, rief einen neuen Sturm im Waſſerglas der Fachwelt hervor. Erſt nach den Ergebniſſen und den verblüffenden Erfolgen der nach den Grundſätzen der neuen Theorie gebauten Segel- und Gleitflugzeuge erſtickte dieſer Sturm in peinlicher Verlegenheit. Schüler aus allen Gauen Deutſchlands ſtrömten herbei. Alle Weltrekorde des Segelfluges waren nach wenigen Wochen von den „Dehad“-Flugzeugen, den Typen der „Deutſchen Hochſchule für Aerodynamik“, erobert, und aus allen Teilen der Welt liefen Anfragen und Beſtellungen auf dieſe neuen Typen ein.
Fürſt, der eine zweite Jugend erlebte und mit vervielfachter Tatkraft handelte, gründete eine mit modernſten Hilfsmitteln ausgerüſtete Fabrik, deren Betriebskapital als Stiftung der Hochſchule übertragen wurde, und baute die neuen Typen ſerienweiſe. Sportflug wurde die neue Mode unter dem Motto: „Jedem ſein eigenes Sonntagsflugzeug.“ Der neue Betrieb rentierte überraſchend gut, ſo daß er nach wenigen Monaten die geſamten Unkoſten der Hochſchule deckte.
Doktor Schmid war längſt mit ſeiner Familie der Chefarzt der Anſtalt geworden und war der spiritus rector des Freundeskreiſes, den Hartmut um ſich verſammelte. Er ſorgte auch dafür, daß Hartmut rechtzeitig und regelmäßig ſein Inſeldaſein auf der kleinen Inſel im Mittelmeer wiederaufleben ließ und an ſeine Geſundheit dachte, was Hartmut im Drange ſeiner leidenſchaftlichen Arbeitsleiſtung nur zu leicht vergeſſen hätte.
War Hartmut der bewunderte Mittelpunkt des Freundeskreiſes und der zahlreichen Männer und Perſönlichkeiten der Wiſſenſchaft, die nun mit dieſem Kreis in enge Verbindung traten, für die jungen Studenten, die Buben Schwabens und die Jugend ganz Deutſchlands war er zum Heros und Idol geworden. Nichts machte ihn glücklicher, als wenn er mit einer Schar von einigen Hundert Schulbuben und Mädels, die eine Wanderung zu ihm geführt hatte, an die kahlen Hänge hinauswandern konnte, um ihnen die Wunder des Segelfluges mit bildhaften Worten zu erklären und von den jungen Piloten in Praxis vorführen zu laſſen. Manches Mal beſtieg er dann ſelbſt einen der Vögel, der ſeinem alten „Albatros“ getreulich nachgebaut war, und ließ ſich vom Spiel der Luft über die Berge und Täler, Wälder und Felder fragen, die ſeine Heimat waren.
Er war im tiefſten Innern glücklich. Nur manchmal, wenn die unvermeidlichen Disharmonien des Zuſammenlebens vieler Menſchen bis in den Bannkreis ſeiner Perſönlichkeit vordrangen, packte ihn eine wehe Sehnſucht nach dem Frieden der „Stillſten Inſel“, die noch immer vergeſſen und unentdeckt von der Welt im Stillen Ozean ihre Tage verträumte.
Hartmut hatte niemand Mitteilung gemacht, wo die Inſel in Wirklichkeit lag. In ſeinen Berichten über ſeine Reiſe und Rettung hatte er ihren Ort in eine der Inſelgruppen verlegt, in der zahlreiche, von der Welt gemiedene Landflächen im Meere verſtreut waren, Nur einmal hatte er mit einem Fremden länger über die Inſel geſprochen und mehr davon erzählt, als er eigentlich wollte. Es war ein berühmter Geologe einer deutſchen Univerſität geweſen, der Hartmut beſuchte und mit dem er über die geologiſchen Bedingungen der „Stillſten Inſel“ geſprochen hatte. Er hatte auch über ſeine Diamantenfunde berichtet, worauf ihm der Profeſſor die ganze Theorie der Diamantenentſtehung und ‑Vorkommen entwickelt hatte.
Das Vorkommen der Diamanten mitten in der Südſee war durchaus wahrſcheinlich und ähnelte dem Vorkommen in Afrika, Borneo und Auſtralien, wo ſich der Diamant in einem bläulichen, vulkaniſchen Tuff findet. Die Theorien der Entſtehung der Diamanten ſind zahlreich und laſſen vielerlei Deutung der verſchiedenen Vorkommen zu. Der Profeſſor vertrat leidenſchaftlich die Anſicht, daß alle irdiſchen Diamanten kosmiſchen Urſprungs ſeien: kohlenſtoffreiches Meteoreiſen ſtürzt auf die Erde; unter dem ungeheuren Druck und den auftretenden unvorſtellbar hohen Temperaturen kriſtalliſiert der Kohlenſtoff in der im Sturz ſich tief in die Erde hineinbohrenden Meteormaſſe aus. Die Meteormaſſe ſelbſt verwittert oder wird durch vulkaniſche Ausbrüche aus der vom Sturze des Meteors zerborſtenen Erde in vulkaniſche Geſteine übergeführt.
Es war nun ſehr wohl denkbar, daß die „Stillſte Inſel“ ihr ganzes Entſtehen einem ſolchen, durch einen Meteorſturz verurſachten vulkaniſchen Ausbruch verdankte und daß unter vielleicht beſonders günſtigen Bedingungen raſcher Abkühlung durch das Meerwaſſer die Bildung von Diamanten ſtattfand, wie ſie in ſolcher Größe und Menge von keinem anderen Fundort der Welt erreicht wurden.
Der Profeſſor verſprach, Hartmuts Mitteilungen unbedingt vertraulich zu behandeln, ſo ſehr es ihm auch auf den Fingern brannte, die Fachwelt durch dieſe Entdeckung mit einer neuen Theorie zu beglücken.
Achtzehn Jahre nach dem Gründungstag der „Deutſchen Hochſchule für Aerodynamik“ ſtarb Hartmuts treueſter Mitarbeiter, der längſt mit vielerlei akademiſchen Würden ausgezeichnete Fürſt. Er war bis zum letzten Tage ſeines Lebens unermüdlich tätig geweſen und trotz ſeiner manchmal faſt unerträglichen Schrullenhaftigkeit und Pedanterie mußten ihn alle lieben und ſchätzen, die mit ihm in Berührung gekommen waren.
Hartmut empfand den Verluſt dieſes beſten Freundes außerordentlich tief. Er zog ſich mehrere Monate auf ſeine Inſel im Mittelmeer zurück, wo der Entſchluß in ihm reifte, in aller Verſchwiegenheit eine Reiſe nach der „Stillſten Inſel“ zu unternehmen.
Doktor Schmid wurde von ihm brieflich eingeweiht und war Feuer und Flamme. Er bat Hartmut, ihm alles zu überlaſſen, charterte eine engliſche Privatjacht, rüſtete ſie expeditionsmäßig aus und fuhr Hartmut ins Mittelmeer entgegen. In Palermo ſollte Hartmut an Bord kommen. Schmid traf Hartmut in Palermo nicht an. Nach zwei Tagen ergebnisloſer Verſuche, mit Hartmut in Verbindung zu treten, fuhr er mit der Jacht bis nahe an die Inſel, auf der Hartmut wohnte, und ließ ſich ausbooten. Er erfuhr, daß Hartmut zwei Tage vorher die Inſel verlaſſen hatte und nicht zurückgekehrt war. Am Abend des gleichen Tages traf die Nachricht ein, daß Hartmut in einem Gaſthaus der kleinen Küſtenſtadt am italieniſchen Feſtland krank geworden und innerhalb weniger Stunden geſtorben ſei.
Doktor Schmid fand ihn in der kahlen Leichenhalle des kleinen Ortes aufgebahrt. Er ordnete die Überführung an Bord der Jacht an, die Kurs nach Gibraltar nahm, um nach Deutſchland zurückzukehren. Während der Mittelmeerreiſe nahm Doktor Schmid Einſicht in die von Hartmut hinterlaſſenen Papiere und fand ſich zum Teſtamentsvollſtrecker eingeſetzt.
Ein gewichtiges, verſiegeltes Schriftſtück trug die Aufſchrift: „Nach meinem Tod zu öffnen und zu veröffentlichen.“ Es war die Beſchreibung ſeiner Robinſonade mit allen Einzelheiten. Doktor Schmid las das Buch von Anfang bis zu Ende ohne Unterbrechung. Als er geendet hatte, gab er dem Kapitän die Anweiſung, in Gibraltar Betriebsſtoffe zur Fahrt nach dem Panamakanal aufzunehmen. Doktor Schmid war entſchloſſen, Hartmuts ſterbliche Überreſte auf der „Stillſten Inſel“ beizuſetzen. Er glaubte ſo im Sinne des Verſtorbenen zu handeln.
In ununterbrochener Fahrt wurde die Reiſe zurückgelegt, der Panamakanal durchfahren, die Galapagos-Inſeln angeſteuert, und fünf Wochen ſpäter näherte man ſich dem Ort der „Stillſten Inſel“, den Hartmut in ſeinem Tagebuch genau angegeben hatte.
Die Jacht verlangſamte ihre Fahrt, je näher ſie an den Ort der Inſel herankam, und im Morgengrauen tauchte ein einzelner Felskegel aus dem Meere auf. Die Ortsbeſtimmung ergab einwandfrei die von Hartmut angegebene Lage der „Stillſten Inſel“. Lotungen wurden vorgenommen, die Jacht warf Anker, und eine ausgeſetzte Barkaſſe brachte Doktor Schmid in die Nähe des einſamen Felsriffs.
Auf der ſteilen Wand des nun zur Hälfte vom Meer erfüllten Inselkraters, an ihrer höchſten Stelle, fand er einen vermorſchten, mit rohen, dicken Kokosſchnüren an den Fels gebundenen und verankerten Holzſtoß, über dem vom Sturm geknickt ein Leichtmetallrohr lag, das Fetzen von drei flaggenförmigen Metallſtücken trug, die ſich als das Signal SOS, den internationalen Hilferuf auf See, entziffern ließen.
Doktor Schmid ſtand auf dem Gipfel der „Stillſten Inſel“, die bis auf dieſen kahlen Fels wieder ins Meer hinabgetaucht war, aus dem die vulkaniſchen Kräfte ſie einſt emporgehoben hatten.
Doktor Schmid ließ die Flaggenſtange entfernen und nahm ſie mit an Bord. Der Sarg mit den ſterblichen Überreſten von Hartmut wurde auf Deck gebracht und im Angeſicht des letzten vom Meere übriggelaſſenen Reſtes der „Stillſten Inſel“ der Flaggenmaſt auf ihn niedergelegt. Der Kapitän hielt einen kurzen Trauergottesdienſt, während dem die Barkaſſe zu dem Felsriff hinüberruderte und die deutſche Flagge auf ihm hißte. In dieſem Augenblick tauchte am Horizont ein in großer Fahrt mit Kurs auf die „Stillſte Inſel“ laufender engliſcher Kreuzer auf, der in Rufweite kam und ſtoppte, gerade als Hartmuts Sarg in das Schiffsinnere zurückgebracht wurde. Man ſignaliſierte, und der Kapitän des engliſchen Schiffes bootete ſich aus und machte einen Beſuch an Bord.
Doktor Schmid erfuhr, daß er von der engliſchen Regierung ausgeſandt war, um von der „Stillſten Inſel“ Beſitz zu ergreifen, aber augenſcheinlich zu ſpät gekommen ſei. In beiderlei Sinn, denn erſtens habe Deutſchland bereits offiziell Beſitz von der fabelhaften Inſel ergriffen, und zweitens ſei die fabelhafte Inſel überhaupt nicht mehr vorhanden, wie er boshaft grinſend feſtſtellte. Alſo wäre das Märchen von den fabelhaften Diamanten ebenfalls ausgeträumt.
Doktor Schmid verſuchte in Erfahrung zu bringen, wie die engliſche Regierung Kenntnis vom Ort der Inſel und den Diamantenfunden erhalten habe. Nun ſtellte ſich heraus, daß ein in Deutſchland Geologie ſtudierender Engländer unter den hinterlaſſenen Aufzeichnungen jenes Geologieprofeſſors, mit dem Hartmut ſeinerzeit über die Inſel geſprochen hatte, einen ausführlichen Bericht entdeckt und ſchleunigſt ſeiner Regierung mitgeteilt hatte. „Right or wrong – my country!“, ſchloß der Engländer und empfahl ſich.
Doktor Schmid beſchloß, die Fahrt als völlige Weltumſeglung fortzuſetzen und lief als erſten Aufenthalt Fatu-Hiwa an, wo er nach der Beſchreibung von Hartmut den Volksſtamm, in dem dieſer faſt ein Jahr gelebt hatte, auffand. Der abſonderliche engliſche Arzt war ſchon lange geſtorben. Die Verſtändigung mit dem Häuptling war anfangs ſehr ſchwierig, bis Oati herbeigerufen werden konnte, die ihre deutſchen Sprachkenntniſſe nicht vergeſſen hatte. Hartmut hatte ſein Verſprechen gehalten, er war zurückgekehrt, und das ganze Dorf brach in Trauer und Wehklagen aus, als es ſeinen Tod erfuhr.
Einer raſchen Eingebung folgend, ließ Doktor Schmid den Sarg ausbooten und nach dem Ritus der Eingeborenen feierlich verbrennen. Oati war damit die Witwe eines Fürſten geworden, die ihre Tage geehrt und geachtet in Ruhe und Zufriedenheit verbringen konnte. Hartmuts Aſche wurde in einem beſonders kunſtvollen Urnengefäß der Eingeborenen geſammelt und, begraben unter der märchenhaften Blumenpracht, die von der ganzen Dorfgemeinde herbeigebracht worden war, an Bord zurückgetragen.
Dann lichtete die Jacht die Anker und kehrte über Singapur, Kalkutta, Suez nach Genua zurück, wo Schmid das Schiff entließ und Hartmuts ſterbliche Überreſte über die Alpen in die Heimat zurückführte.
Auf dem ſüdlichſten Gipfel des Höhenzuges im Gelände der „Deutſchen Hochſchule für Aerodynamik“ wurde die Urne beigeſetzt, im Sockel eines mächtigen Granitblockes, auf deſſen Gipfel die ruhende Geſtalt eines rieſigen Albatros nach Südweſten blickte. Die alte Signalflaggenſtange von der „Stillſten Inſel“, ſorgfältig wetterfeſt hergerichtet, ſtand Wache neben dem Monument.
Ausklang
Eine Beſtimmung des Teſtaments von Hartmut verurſachte den Teſtamentsvollſtreckern ſchweres Kopfzerbrechen. Sie hieß wörtlich:
„Mein geſamter Beſitz und die geſamte Hochſchule für Aerodynamik geht mit allen Liegenſchaften, Gebäuden und ſämtlichem Inventar, mit allen Rechten und Pflichten in den Beſitz des Deutſchen Reiches über uſw. uſw. – Als Johannes-Reinhold-Hartmut-Stiftung hat der Zinsertrag des Erlöſes aus dem Verkauf des Briefbeſchwerers auf meinem Schreibtiſch in meinem Arbeitszimmer der Erhaltung und dem weiteren Ausbau der Deutſchen Hochſchule für Aerodynamik zuzufließen.“
Man ſuchte lange nach dieſem Briefbeſchwerer, bis man ihn als den kokosnußgroßen Brocken eines bläulich hellen Glaſes erkannte. Bei näherer Unterſuchung ſtellte ſich dieſer Glasbrocken als ein einziger Diamant von höchſter Reinheit und Klarheit heraus, der einen unſchätzbaren, und damit auch nichtrealiſierbaren Wert beſaß.
Nach langen Verhandlungen erwarb ihn ein indiſcher Maharadſchah, der ſich zur jährlichen Zahlung einer Summe verpflichtete, die den Zuſchußbedarf der Hochſchule bei weitem deckte.
So oft Doktor Schmid an dieſe Epiſode zurückdachte, ſah er Hartmut vor ſich ſtehen und glaubte das feine Lächeln um ſeine Lippen ſpielen zu ſehen, das ſeine intimen Freunde kannten; aus ſeinen nachdenklichen ernſten Augen blickte dann auch der freundlich boshafte Schalk, der ſich in Hartmut über die Welt und ihre Torheiten ſo oft luſtig gemacht hatte.
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