Mancher iſt arm bei großem Gut,
Und mancher iſt reich bei ſeiner Armut.
Sprüche Salomos 13, 7.
Erſtes Kapitel
führt den Leſer in das Schloß zu Angerbeck ein, bietet ihm aber keinen Stuhl darin an.
Unſere Schuld iſt es nicht, wenn dieſe Geſchichte recht ärmlich und erbärmlich, aber auch recht närriſch anhebt. Wir haben unſer Möglichſtes getan, die Sache, die wir zunächſt erzählen wollen und müſſen, in einem einigermaßen erträglichen Lichte darzuſtellen.
Zu dieſem Zwecke haben wir uns unſere allabendliche Tiſchlampe und – mit gütiger Erlaubnis unſerer freundlichen Leſerin – auch unſere allabendliche lange Pfeife angezündet, und die bläulichen Wölkchen des holländiſchen fein und grob gemiſchten Tabaks lagern ſich traulich um die helle Flamme. Und dann der grüne Lampenſchirm! Er hat uns ja eigentlich erſt auf die Geſchichte gebracht, und ſo gebührt ihm von Rechts wegen ſein Platz. Eine kunſtgeübte Hand hat mit feinen Nadelſtichen ein Sprüchlein an ihm transparent gemacht: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat ſich geneigt. Dieſe mild leuchtenden Worte mögen ihren ſanften Schimmer jetzt auch auf unſere Arbeit werfen, wie ſie ſo manchen Abend die Frau bei der ihrigen geſtärkt und getröſtet haben, die uns dieſen Schirm vermachte, als ihr Tag ſich geneigt.
Sie iſt nun auch ſchon lange dahingegangen, dahin, wo ihr altes gutes Auge ungeblendet ins Helle ſchauen darf, wo die dunklen Tiefen und Schründe dieſes Jammertals ihr in eitel Licht zerfließen; ihr iſt eine neue Sonne, ein neuer Tag aufgegangen.
Auf unſerem Schreibtiſche behauptet auch die grüne Taſſe des braſilianiſchen Kaiſers Dom Pedro ihre Stellung und wartet nur auf das Erzeugnis der behaglich ſummenden Teemaſchine. Ja, dieſe grüne Taſſe mit den dicken Goldarabesken! – Doch wir werden ihr im Verlaufe unſerer Erzählung auch an geeigneter Stelle ihren Platz anweiſen.
Aber auch unſer Tag neigt ſich und mahnt uns, zu wirken vor ſeinem Ende. Mit großem Schmuck und Beiwerk unſere Feder aufzuhalten, wäre ein töricht Beginnen, und wir gehen darum dem geraden Wege des Chroniſten nach. Das ſchafft uns zugleich eine gute Rückendeckung gegen alle möglichen Nachreden, und wir können getroſt die oben erwähnte Schuld und Verantwortung den geſchäftigen und doch unverantwortlichen Parzen in die Schuhe ſchieben, oder, falls die ewig jungen Schickſalsgöttinnen ſich noch immer ſträuben ſollten, mit den Anforderungen der Neuzeit fortzuſchreiten und ihren Füßchen durch den tyranniſchen Schuſter Krähenaugen aufdrücken zu laſſen, ihnen in die Dieße ihres Rockens ſtopfen.
Klotho und Atropos! Wie oft, wie oft verſchwört ihr euch, eure dritte Schweſter nicht zu Worte kommen zu laſſen, ſie wohl gar ganz aus eurer Mitte zu verdrängen!
So auch im Schloſſe zu Angerbeck.
Doch halt! Hier wird man uns vorwerfen wollen: Was hat ein Schloß, und wenn auch bloß das Angerbecks, mit der angekündigten Ärmlichkeit zu tun? Erbärmlichkeit könnte man unter gewiſſen Umſtänden zugeben, aber Armut? Gemach! Auch hier geben wir wie immer der Wahrheit die Ehre. Wohl ſelten hat der Spott höhniſcher und biſſiger geſpielt als zu Angerbeck, da er das Häuschen, vor dem wir jetzo in unſerer Erinnerung ſtehen bleiben, das „Schloß“ nannte.
Lange bevor die breite, mit weißlichem Kalkſtein beſchotterte und glatt gewalzte fürſtliche Heerſtraße durch das Städtchen geführt worden, lag das Schloß, wie alle anderen Häuſer, mit dieſen in ehrbarer Wohlanſtändigkeit in Reih und Glied am Wege. Der letztere aber war noch nicht ſo prätentiös, hatte ſich noch nicht ſo breit gemacht, wie die weiße Chauſſee, vor der die neuen Häuſer Spalier bilden müſſen, war der Häuſer wegen dageweſen, war jedem einzelnen über Höhen und durch Tiefen nachgegangen bis vor die Haustür, ja bei dieſem und jenem gar bis über die niedrige hölzerne Schwelle. Doch wie ſtehet geſchrieben im Propheten? Alle Tale ſollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel ſollen geniedrigt werden, und was ungleich iſt, ſoll eben, und was höckericht iſt, ſoll ſchlecht werden.
Auch Hohe fürſtliche Baudirektion hatte ſich zur Dienerin am Worte gemacht, wenn auch nur recht äußerlich und oberflächlich, was man heutzutage auch wohl bureaukratiſch nennt. Sie war daher geſtampft „mit Mann und Roß und Wagen“, mit Hammer und Schlägel und Walze, das Ungleiche eben zu machen. Aber ſie hatte dabei deſpotiſch verfahren wie ein ſchlechter Schulmeiſter, hatte über dem Nivellieren das Individualiſieren vergeſſen, hatte alle Eigenart zertreten.
Sie hatte auch das „Schloß“ ſoweit in den Grund verſenkt, daß der Firſt des Häuschens kaum mit der neuen Straße in gleicher Ebene lag. Ein Stückchen des alten, ausgedienten Weges hatte ſie wie einen maroden Mann notgedrungener Weiſe neben dem Straßengraben liegen laſſen müſſen, und dieſes bildete nun, von der Hauptſtraße abzweigend und zum finſteren Hohlwege geworden, den Zugang zum Schloſſe.
Wie finſter es daliegt trotz der hellen Septemberſonne! Auch der grauweiße Straßenſtaub, der bei jedem Lüftchen über die ſattgrüne Böſchung wirbelt und ſich auf dem altersmorſchen, ſtellenweiſe bemooſten Dache verfängt, trägt wahrlich nicht dazu bei, den Anblick lieblicher zu machen, zumal er auch die grünlichen, in Blei gefaßten Fenſterſcheiben wie ein Spinngewebe überzieht.
Eine hoffnungsvolle, Zukunft tragende Jugend Angerbecks entſendet ſoeben eine Abordnung, beſtehend in Buben und Mädchen oder, wie ſie ſich ſelbſt in der Ausdrucksweiſe der Angerbeckſchen Autochthonen nennen, Bengels und Mäkens, um der Schützenwieſe, dem „Schüttenhoff“, auf dem am heutigen Sonntage das berühmte Freiſchießen nach alter ſtädtiſcher Sitte ſtattfinden ſoll, einer vorläufigen Beſichtigung zu unterziehen, ob Chriſtian Göhmann rechtzeitig mit dem Aufbau ſeines Karuſſells und Karl Sanders, der Kellerwirt, mit ſeinem grünen Schank- und Tanzzelte fertig geworden.
Auf dem „Anger“ an der „Beke“, der das Städtchen ſeinen Namen verdankt, iſt ſeit wenigen Tagen eine neue luftige und luſtige Stadt erſtanden, die das alte Angerbeck an Lebensfriſche übertrumpfen möchte. Aber abwarten! Wenige Tage auch werden genügen, den hochfahrenden Übermut in ſein Nichts zurückzuſchleudern. Kriſchan Göhmanns vollbepackte Wagen, auf denen die ſtolzen Roſſe alle Viere in die Luft ſtrecken, werden wieder abziehen bis übers Jahr, und Karl Sanders wird wieder hinter ſeinem Schenktiſche in der finſteren, gewölbten Gaſtſtube des Kellers ſtecken müſſen und ſeinen Nordhäuſer in größeren Gläſern, aber mit kleinerem Profit als da draußen verkaufen müſſen. Über den Muſentempel des Herrn Theaterdirektors Theophil Xylander wird ſich nur zu bald die Götterdämmerung lagern.
Die alterſgeſchwärzten ſchiefen eichenen Balken und Ständer Alt-Angerbecks ſind doch zäher und dauerhafter als die luftige Stadt, die Eintagsfliege da draußen auf dem Anger bei den Flachsrotten der Beke, wie ſeine ſeßhafte Bevölkerung gegenüber dem fahrenden fremden Volke.
Die weißbeſtrumpften Beinchen der Kinder, die ſich nur zu einem ſcheuen Seitenblicke nach dem Schloſſe Zeit nehmen, trippeln gar eilig in glänzend ſchwarz gewichſten Knöpf- und Schnürſchuhen dahin, nehmen auf ſich ſelbſt keine Rückſicht, viel weniger aber noch auf ihre Umgebung, und wirbeln größere Staubwolken auf als der Wind, und das Schloß im Grunde kriegt wieder ſein Teil.
Auch uns, die wir bislang am Meilenſteine der fürſtlichen Bauverwaltung lehnten, legt ſich der tückiſche Staub vor Augen, Mund und Naſe, und wir haſten die Böſchung hinab und ſuchen Schutz hinter der niedrigen Haustür des Schloſſes, ſo wenig einladend das Häuschen auch erſcheinen mag. Da letzteres nun aber doch einmal der Hintergrund ſein muß, auf dem die Geſtalten, mit denen wir uns vorläufig zu beſchäftigen haben, ſich abheben, ſo müſſen wir wohl oder übel uns auch mit ſeinem Inneren bekannt machen, allen Bedenken zum Trotz, die die äußere Topographie dagegen aufſteigen laſſen mag.
Die verwitterte Tür möge offen bleiben. Es hat keine Gefahr, ein Dieb ſchleicht ſich nicht ins Schloß von Angerbeck ein, und heute erſt gar nicht. Wir gewinnen aber dadurch den Vorteil, daß ſich unſere Augen leichter an das auf dem Hausflur herrſchende Dunkel gewöhnen können. Wir würden ſonſt lange Zeit gebrauchen, es zu durchſpähen.
Freilich viel iſt hier nicht zu ſehen. Ärmlichkeit! Außer ein paar Türen und einer Treppe von rohem Holze fällt uns auf den erſten Blick nichts auf, als an der Hinterwand der gemauerte Herd mit der großen Eiſenplatte, die für die Feuerſtelle in der Mitte ein viereckiges Loch freiläßt. Das Feuer iſt erloſchen. Neben der Aſche und den halbverkohlten Holzſplittern ſteht ein einſamer Strinnen, ein Dreifuß, und über dem Wuſt hängt ein rußgeſchwärzter Keſſel aus dem bauchigen Rauchfange herab. Neben dem Herde ſteht als einziges Ausſtattungsſtück eine niedrige Bank auf der ungepflaſterten ſchwarzen feuchten Erde.
Aber was lehnt dort zur Rechten neben der wenig geöffneten Stubentür! Unheimlich und ſchwarz reckt es ſich in die Höhe, bauchig und anmaßend nimmt es faſt die Hälfte der ſchmalen Wandfläche ein. Es ſcheint uns, als ob es immer ſo dageſtanden habe, als ſei es ein uralter Hausrat aus der Urväter Zeit, ſo paßt es hinein in dieſe dämmrige Armſeligkeit. Und doch wird ihm, ſo prächtig und prunkvoll es auch anderswo oder ſo einfach und nackt es ſich hier ausnehmen mag, immer nur auf wenige Stunden Quartier gegönnt in Hütte oder Schloß, auf wenige Stunden Quartier auch nur im Schloſſe zu Angerbeck.
O Atropos, Unabwendbare! Du haſt wieder einmal die Schere gebraucht! Ein Sargdeckel iſt’s, der neben der angelehnten Tür Wache ſteht, geduldig, aber ſeiner Beute gewiß. Mit aufdringlichem Geruche nach Terpentinfarbe und Lack erfüllt er das Haus nicht gerade, das iſt noch das beſte an ihm. Ein bißchen Kienruß und Leim kleiden ihn matt ſchwarz, wie in ein Wollengewand. Glitzernde Seide trauert ja nicht.
Laß uns vorbei, du ſchwarzer Geſell, gönne uns noch einen Blick auf das, was du eiferſüchtig unter deine alleinige lange Hut zu nehmen gedenkſt. Die Tür gibt unſerm leiſen Drucke nach, und da ſtehen wir nun angeſichts der Erbärmlichkeit dieſes Jammertals!
Nicht einmal einen Stuhl bietet ſie uns an, uns zu ſetzen und zu faſſen und zu wappnen gegen ſie, in die wir doch ſo jäh aus dem hellen Sonnenſcheine da draußen hinabgeraten ſind.
Sie ſelbſt hat ſich breit gemacht auf allen vier Stühlen, und ein Kanapee iſt nicht zu ſehen. Ein Stuhl zu Häupten und einer zu Füßen tragen den Sarg. Nahe heran können wir nicht treten, denn vor ihm ſteht eine Wiege, die von einem etwa achtjährigen Mädchen, das den dritten Stuhl inne hat, geſchaukelt wird.
Während das zierliche nackte Füßchen unter dem Beiderwandkittel ſich im Schwunge auf und ab bewegt, feiern auch die Hände nicht. Sie bemühen ſich, aus beſcheidenem Grün und Feldblumen, die im Schoße des Kindes zuſammengerafft liegen, einen Kranz zu winden. Dichtes, dunkelbraunes Haargelock verdeckt uns das Geſicht der kleinen Blumenwinderin. Dafür aber ſehen wir die blaue, mit roten und gelben Blumen bemalte Wiege genau.
Kein Bettchen, kein Kiſſen macht ſie behaglich und warm, nur Strohhalme ſperren ſich ſtarr und ſteif, die leichte Laſt, ein Geſichtchen wachsgelb und runzlig, zwei ineinander gekniffene Fäuſtchen, einen kleinen Körper mit einem weißen Leichenhemdchen bedeckt zu tragen. Klotho und Atropos!
Jetzt ſetzt das Mädchen die Wiege in Ruhe und hält den fertigen Kranz prüfend mit beiden Händen vor ſich. Es nickt zufrieden ſeinem Werke zu und beugt ſich über die kleine Leiche.
„Nun lieg du einmal ein kleines Weilchen ganz ſtill, Friedchen! Ich muß nun der Mutter den Kranz aufprobieren. Siehe, es ſind noch genug Blümchen übrig geblieben, ich mache dir auch noch einen ganz, ganz feinen. Mußt aber auch ganz, ganz artig ſein.“
Die zurückgeſchüttelten Haare laſſen uns, die wir ob ſolch rührenden Kinderſpiels betroffen hinter der Tür ſtehen geblieben ſind, ein feines blaſſes und ſchmales Geſicht mit großen dunkeln Augen erkennen, nur für einen kurzen Blick. Denn die Kleine kehrt uns den Rücken, in der einen Hand den Kranz haltend, mit der andern die blaue Schürze, die den Reſt des Gras- und Blumenwerkes faßt, zuſammennehmend.
Sie geht an den Tiſch zwiſchen den beiden grämlich ausſehenden Fenſtern, entleert ihre Schürze auf denſelben und tritt an den Sarg heran. Wir laſſen ſie ſchaffen, denn ſie hat unſern Blick freigegeben auf eine neue Perſon, die die eingangs angekündigte Narrheit vertritt.
Die Blumen haben ſich auf dem Tiſche über den Zipfel einer roten Schellenkappe mit einem in den Farben der Stadt Angerbeck gehaltenen blaugelben Rande gelegt, und am Tiſche ſitzt auf dem vierten verfügbaren Stuhle ihr Träger, ein in ein buntſcheckiges Gewand gehüllter Mann, – ein Narr. Und närriſch genug nimmt er ſich wahrlich aus in ſeinem Flitterkrame inmitten dieſer armſeligen Wände, in die der Tod zwiefach Einzug gehalten. Närriſch genug auch für einen Narren, den Kopf zu bergen in den auf dem Tiſche verſchränkten Armen und ſtoßweiſe zu ſchluchzen, wobei die kleinen Glöckchen ſeiner ſpitzen Mütze gar luſtig klingen und klirren. Ein närriſches Totengeläute für die da im Sarge und in der Wiege.
Der Mann ſcheint das Ungehörige ſelbſt trotz ſeiner Erregung zu fühlen, denn plötzlich ſpringt er auf, reißt die Narrenkappe mit einem wilden Griffe vom Haupte und ſchleudert ſie in den Winkel an die Wand hinter den rotbraun geſtrichenen Schrank. Sie hat eine alte Geige, die dort aufgehängt iſt und der die Quinte fehlt, getroffen, daß die Saiten und die Glöckchen wie erſchrocken aufſchrillen und einen häßlichen, mißtönigen Klang geben. Mit beiden Händen fährt ſich der Mann in die wirren, ſchwarzen Haarſträhnen, als wolle er ſie ausraufen in ohnmächtiger Verzweiflung.
Seine Züge, die durch ihre dunkle Färbung und den glänzend ſchwarzen Schnurrbart und den ſpitzen Kinnbart etwas zigeunerhaft Phantaſtiſches haben, ſind in Schmerz entſtellt, und doch müſſen wir ihm ſofort mit dem Zugeſtändnis Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß er ein ſchöner, nein ein ſehr ſchöner Mann iſt. Wie hat ſich dieſer ſchwarzen Augen Gefunkel in das norddeutſche Städtchen Angerbeck verirrt, wo ſeit Odins Zeiten eine hochlöbliche Burgemeiſterei es für nichtsnutzige Chicane und ſinnloſen alten Buchſtabenzopf hielt, in jedem auszuſtellenden Reiſepaſſe eigens die Farbe der Augen angeben zu müſſen, da das Signalement nun doch einmal nicht anders lauten konnte als: Blau.
Wir wären hier ja in der glücklichen Lage geweſen, weiſem Magiſtrat und hoher Polizei lindernden Balſam auf dieſen wunden Punkt unnötiger Beamtenplackerei mit dem tröſtlichen Hinweis träufeln zu können, daß ja in Angerbeck ſeit Menſchengedenken das Verlangen nach einem Paſſe nicht geſtellt worden. Doch die Sache hatte ſich durch die Einwanderung unſeres Fremdlings im Angerbeckſchen Schloſſe von ſelbſt erledigt. Der nunmehrige Schloßherr hatte mit ſeinen Augen auch hoher Behörde die ihrigen geöffnet über die ſonderbaren Launen der Mutter Natur und über die Berechtigung des vorgeſchriebenen Paßrubrums, wofür hohe Behörde in beſonderer Erkenntlichkeit auch wieder eins zudrückte, als die Papiere des neuen Einwanderers ſich ſonſt in nicht ganz muſterhafter, vorgeſchriebener Ordnung befanden. War man doch auch froh, die Einwohnerzahl einmal ohne die Hilfeleiſtung der hinzugezogenen Wehemutter, der Kronbergen, ſich um eins vermehren zu ſehen, aber auch aus einem zweiten Grunde, wie wir ſpäter berichten werden.
Die Kleine war noch beſchäftigt, ihrem Kranze über der weißen Stirn der ſchlafenden Mutter die rechte Lage zu geben, als ſie unſanft von dem Manne zur Seite geſchoben wurde.
„Marie, Marie! O du Gute, Liebe! Was für ein Los haſt du gezogen aus meiner Hand! Wie hoch ſtandeſt du bei deinen Lebzeiten ſchon über mir, biſt nun ganz und gar von mir gegangen, haſt dich ganz und gar von mir gewendet!“
Seine Arme in der bunten Narrenjacke umklammerten den Sarg, ſeine Haare deckten das Angeſicht der Toten.
„Muß ich’s denn glauben? Iſt es zu glauben? S Bohem, da liegſt du nun, ſtill und ſtarr! Und ich muß den Narren weiter ſpielen, wie ich immer, immer getan! Já bídný člověk! Wär ich doch geblieben im Böhmerland und hätte nimmer dich geſehen! – Nein, nein! Zu den Bergen und Wäldern um Oſſek, in den Kellern des Haſſenſteins war auch nicht meines Bleibens. Die kaiſerlich-königlichen Landjäger trieben die Jagd auf den armen Benedikt Zrovnal zu eifrig. Seinen Stutzen mußte er ihnen dahinten laſſen; flüchtig wie das Wild, das er vordem verfolgte, ward er ſelbſt und ſchlich ſich über die Grenze, durch Sachſen, Thüringen und den Harz! Hätte er da noch ſeinen Stutzen gehabt, der chud’as! Aber aus war’s, rein aus! Als dareba, als Halunke iſt er da draußen am Wiemelsberge unter den Wachholderſträuchern liegen geblieben auf ſeinem Wege nach Weſtfalenland, wo er in der Kohlengrube wieder ein ehrlicher Menſch werden wollte, und in den Brombeerranken hat er ſich verwickelt gehabt!“
Die Kleine hatte nach dem ungeſtümen Auffahren des Mannes anfangs mit weinerlichem Geſichte abſeits geſtanden, dem Schmerzausbruch hatte ſie mit großen verwunderten Augen, aber verſtändnislos gelauſcht. Die letzten Worte aber fanden ihr kindliches Faſſungsvermögen gerüſtet. „Ei wohl! Die vielen, vielen Brombeeren am Wiemelsberge, Vater! Sie werden bald wieder reif ſein, ich war heute morgen draußen beim Blumenpflücken. Weißt du noch, Vater, wie ich voriges Jahr mit der Mutter den großen Henkeltopf ganz voll Beeren brachte für den Herrn Kruſius? Wie du dachteſt, ich wäre auf die Naſe gefallen? Das ganze Geſicht rot, ſo hatte ich gegeſſen!“ Und dabei lachte ſie, daß ihre kleinen weißen Zähnchen blitzten mitten in dem Jammer, dem Elend des Schloſſes zu Angerbeck.
Dem Vater mochte ſolche Luſt wohl ins Herz ſchneiden. Er riß die Kleine ebenſo haſtig an ſich, wie er ſie vorher fortgeſtoßen hatte, ſank auf ſeinen Stuhl zurück und behielt das Mädchen mit beiden Armen umſchlungen auf ſeinen Knien.
„Nebohé ditě! Unglückſeliges Kind! Der Vater ein Narr und die Mutter tot! –
Milá Františko, was weißt du von dem, was das Leben iſt. Was redet miláček, mein Herzblatt, von den Brombeeren. Ja, mich haben ſie feſtgehalten am Wiemelsberge vor zehn Jahren um dieſe Zeit. Müde und matt ſchwankte ich über die Heide, bis ich zu ſchwach ward, mich dem Geſchlinge zu entziehen. Ich mochte wohl lange gelegen ſein, denn als ich zu mir kam, war die Sonne, die den ganzen Tag heiß geſchienen, dem Untergang nahe, und die Schatten des Wiemelsberges legten ſich kühlend über meine heiße Stirn. Aber noch ein anderer Schatten überkam mich, ich fühlte es, obwohl mir die Augen zugefallen waren. Und da ich ſie öffnete, blickte ich in ein Engelsgeſicht. Fränzchen, ich armer Landflüchtiger, ſah den Himmel offen am Wiemelsberge, wie einſt Jakob zu Bethel. Weißt du, Mütterchen hat dir’s vorgeleſen aus dem Bibelbuche da im Schranke. Ein Mädchen, ſchön, ſage ich dir, o ſo ſchön, ſo ſchön, wie ich noch keins geſehen, beugte ſich über mich und ſah mich mit ihren blauen Augen ſo erſchrocken und doch ſo voller Grundgütigkeit und Mitleiden an, daß ich wirklich die ganze Welt und all ihre Verfolgung und Herzenshärtigkeit vergeſſen hatte. ‚Swatý strážce!‘ rief ich in meiner Sprache, die mir von meinem Böhmerland jetzt immer noch einmal über die Lippen kommt, um dem holden Mädchen zu ſagen, daß ich ſie für meinen heiligen Schutzengel hielt. Und hatte ich nicht recht damit! Sie mußte mich doch wohl verſtanden haben, denn bei den ihr fremden Lauten lächelte ſie freundlich und griff in ein Körbchen und reichte mir halb Verhungertem ein Stück Brot, und als ich das gierig verſchlungen hatte, hielt ſie mir ihre kleine Hand vor den Mund, die mit großen ſaftigen Brombeeren gefüllt war. To bylo rozmilé, allerliebſt war das! Und ich ſchluckte und ſchluckte und mochte bald um den Mund herum ſo ausgeſehen haben wie du, Františko, denn ſie lachte hell auf. Ich half mir dann in neuem Lebensmute bald auf die Füße und jagte ihr nach, denn ſie ſprang, ſobald ſie gewahr wurde, daß ich mir wieder ſelbſt helfen konnte, wie ein Reh davon. Aber nach atemloſem Laufe verließen mich doch meine Kräfte wieder, ich blieb ein groß Stück hinter ihr zurück und ſchlich ihr nur noch von weitem nach. Als ſie das merkte, blieb auch ſie wieder ſtehen. Da unten war’s, an dem Angerbache, der aus dem Wiemelsgrunde kommt. Sie deutete auf das klare Waſſer und gab mir durch Zeichen zu verſtehen, daß ich mir das Geſicht darin waſchen ſolle. Dann ſprang ſie mit einem zierlichen Satze hinüber, ließ ſich am nächſten Feldraine nieder und wartete, bis ich wieder ein menſchlich Anſehen gewonnen. Das kühle klare Waſſer hatte meine Lebensgeiſter von neuem geſtärkt. Ich fühlte mich wieder als Menſch und ward kühn. ‚Krásná slečinko, dej mně hubičku!‘, rief ich ihr zu, nun auch über den Bach ſpringend. Diesmal aber wollte ſie mich nicht verſtehen, daß ich Verlangen trug, meinem ſchönen Engel einen Kuß zu geben! Sie raffte ihr Körbchen auf, und fort war ſie. Sieh, ſo hat ſie mich bis hinein nach Angerbeck gelockt, ich mußte ihr folgen. Ihr zuliebe blieb der Landſtreicher im Städtchen und vergaß der Kohlengruben im Weſtfalenlande, ihr zuliebe ließ er ſich ſchurigeln und zähmen, ihr zulieb iſt er zum Narren geworden! Bohu žel, Gott ſei’s geklagt, da liegt ſie nun, und alles iſt hin!“
Er hatte längſt nicht mehr zu ſeinem Kinde, ſondern nur mit ſich ſelbſt geſprochen. Die Kleine hatte ſich unbemerkt aus ſeinen Armen losgemacht, und als der Vater nun ſein Haupt wieder in Verzweiflung auf den Tiſch ſinken ließ, rutſchte ſie von ſeinem Schoße herab, trat an die Wiege, ſetzte ſie mit den nackten Füßchen in Schwung und ſummte dazu ein Liedchen, eine ſchwermütig eintönige alte böhmiſche Weiſe, die ſie von ihrem Vater erlernt hatte.
„O života jaro, jak krásné jsi bylo,
jak daleko ležíš, o rodiště mé.
Mi nekvetou radosti žádné v cizině,
lidé jsou studení, mé srdce prázdné.
O Frühling des Lebens, wie wareſt du ſchön!
Wie weit liegſt du, Heimat, auf ſonnigen Höhn.
Mir lacht in der Fremde die Freude nicht mehr,
die Menſchen ſind kalt, und mein Herz iſt leer.“
Noch einen mütterlich beſorgten Blick warf das Mädchen auf ihr ſtilles Brüderchen, dann ſchlich es leiſe hinaus, ſchon wieder ein anderes Lied, und diesmal ein plattdeutſches, trällernd, das die Kinder auf der Gaſſe Angerbecks ſangen, wenn der blaue Poſtillon auf der gelben Poſtkutſche abends durch das Städtchen fuhr und die Melodie dazu blies.
„Schaper, wo heſt du din Mäken, trara trara trara?
Ek hew et in’n Buſche verſtäken, trara trara trara.
O Schaper, wo heſt du din Botterknuſt?
Ek hew en in miner linken Fuſt.
Schaper, wo heſt du din Hund?
Hei liggt in’n Wiemelsgrund.“
Zweites Kapitel.
Was der Herr Wachmeiſter Drückeferken im Schloſſe zu Angerbeck zu tun hat. Benedikt Zrovnal wird rabiat und geht ſeinem Berufe nach.
Das Kind hatte wohl ganz über des Vaters närriſchem Gebaren ſeines Verſprechens vergeſſen, das es dem toten Brüderchen gegeben, denn es ließ die Blumen unbeachtet liegen und ging ſummend und in ſeinen eigenen Gedanken auf den Hausflur, pochte und ſtrich prüfend an dem großen ſchwarzen Kaſten herum und trat dann in die offene Haustür, um ſich die Welt draußen anzuſehen. Auf der Schwelle aber ſtieß es gegen einen in unſerer Tragikomödie neu auftretenden Aktor.
Mit feſtem Griffe legte ſich eine Hand um die feine Schulter des Mädchens und zerrte es in die Stube zurück.
„Krrreuz Krrriminel! Das lütje Jöſſel ſingt wohl gar ein luſtiges Stückſchen, und da liegt ſeine Mutter! Uhje! Nu, naturellemang fällt der Apfel nicht weit vom Stamme. Da ſitzt ja wohl auch der Schlowake als Hanswurſt und Peijaz ausſtaffiert! Bombenelement! Sollte man das Megatherium nicht mit ſeiner eigenen Pritſche durchwalken!“
Benedikt Zrovnal hob das Haupt vom Tiſche und ſtarrte den Sprecher wie geiſtesabweſend an. Wir aber, die wir uns vor der Hand nicht den Blick trüben zu laſſen brauchen durch den Jammer des uns noch ziemlich fremden Narren, wir faſſen die neu auftretende Perſon ſchärfer ins Auge und ſehen in ihr einen Mann, der wohl geeignet iſt, unſere Aufmerkſamkeit zu feſſeln. Nein, mehr noch. Wenn je ein eisgrauer buſchiger Schnauzbart und widerhaarige borſtige Augenbrauen, unter denen ein Paar hellblauer ſcharfer Augen hervorblitzt, in einem durchfurchten Geſichte mit kühn hervortretender Naſe Reſpekt einzuflößen vermögen, ſo haben wir hier eine mit ſolch charakteriſtiſchen Merkmalen reich ausgeſtattete Reſpektsperſon vor uns. Und dazu kommt noch – last not least – eine Uniform! Ein dunkelblauer Waffenrock mit hellblauen breiten Aufſchlägen und blanken Knöpfen panzert ſeinen Träger gegen jede unbefugte Vertraulichkeit. Eine breite gewaltige dunkelblaue Mütze mit wiederum breitem hellblauen Rande und drohend vorſpringendem Lederſchirme, der ſogar oben beſagte Naſe überdacht, läßt nicht im entfernteſten die Annahme auſkommen, daß dieſe Baſtion je im Guten oder Böſen zu nehmen ſein könnte. Ein breites weißes, ſchräg von der rechten Schulter über die Bruſt hängendes Bandelier trägt in ſchwarzer Lederſcheide das von der Obrigkeit nicht umſonſt verliehene Schwert, deſſen Griff von der linken, knöchernen Hand umſpannt wird.
Dieſe letztere aber weiß ſicherlich nicht, was die rechte tut, die ſorgſam und fürſichtig in gemeſſener Entfernung von der rechten blauen Hoſenbieſe – einen irdenen Henkeltopf hält, dem ein angenehmer Duft von Hammelfleiſch und Zwiebelbrühe entſteigt.
„Drückeferken!“, ruft erſtaunt der Böhme dem Manne der Ordnung entgegen.
„Zum Deubel mit Seinem Drückeferken, Herr! Für Ihn bin ich nicht Drückeferken! Verſtanden? Für Ihn bin ich nach wie vor der Herr Wachmeiſter, vom hohen ſtädtiſchen Magiſtrat beſtellt und in Pflicht genommen! Ich will’s Ihm nicht nachtragen von wegen der ja hier ſehr ſichtbaren Kalamität, und auch Seinem lütjen Küken zu liebe nicht, das ja, weiß der Himmel, man ganz döſig geworden ſein muß bei Ihm und – denen da.
Aber nun, allong! Avancieren zur großen Attacke!“
Mit zwei Paradeſchritten ſtand der Alte am Tiſche, auf den er den Henkeltopf ſänftiglich niederſetzte, deſſen Deckel nun die freigewordene Rechte – immer, ohne die dräuende Linke etwas wiſſen zu laſſen – einladend lüftete.
„Hammelfleiſch mit Zipollen und Kartoffeln! Riecht Er nichts? Kerrrl, iſt Er’s denn wert, daß ſie, was die Madam Kruſiuſſen iſt, Ihm ſolch Ergetzen mit ſeinem Nationalgericht ſchafft! Aber ein gepfeffertes Kompelment habe ich Ihm auch von ihr zu beſtellen, und ein weiteres Gewürz hat Er woll zu Seiner Mahlzeit nicht nötig!“
„Paní Kruſius, ja ſie iſt ein Engel, ein wahrer Engel!“
„So, iſt ſie das? Und Er in Seiner ſchlowakiſchen Dickköpfigkeit will ihr doch nicht parieren, will doch partuh den Narren ſpielen?“
„Ano, ano! Jawohl will ich das, weil ich’s muß!“, ſeufzte kläglich Benedikt Zrovnal. „O Herr Wachmeiſter Drückeferken, auf das Hammelfleiſch verſteht ſich die Gnädige, aber auf meine große Not und Bedürftigkeit doch nicht ſo ganz.“
„So! Zeigt Ihm das dieſer Pott immer noch nicht, daß ſie, was die Madam iſt, ganz genau weiß, wo der Haſe im Pfeffer liegt? Aber Krrreuz Kriminel! Zum Donnerwetter noch einmal! Greife Er doch zu! Denn das weiß Er doch wohl auch aus Seiner Polackei, daß das Hammelfleiſch verflucht in kaltem Zuſtande verliert, und das Lütje da ſchnüffelt auch ſchon ganz begehrlich nach dem Zipollendufte.“
„Ano, ja, Herr Wachmeiſter, ich nehm’s und bin Ihnen und Paní Kruſius recht dankbar dafür, denn wir haben ſchon geſtern abend das letzte Brot mitſammen hinuntergewürgt, es geht ja für das Kind. Und ich kanns ihr wohl noch einmal vergelten, was ſie an uns tut. Jetzt aber iſt alles aufgezehrt durch die böſe Krankheit, was mein gutes, mein viel gutes Weib ſo ſorgſam geſpart und aufgehoben und ſelbſt gegen mich chud’as gehütet hat, bis ſie nicht mehr konnte. Mit ihr iſt nun alles hin bis auf das Kind da!“
Er holte aus dem Tiſchkaſten zwei Blechlöffel, den einen ſeinem Kinde reichend, und ſchob die Feldblumen zur Seite. „Nun komm, Františko!“
Das Kind wollte ſich verlangend über die Mahlzeit hermachen. „Halt, wie hat dir’s Mütterle gezeigt?“ Beſchämt legte es ſchnell den Löffel auf den Tiſch zurück, faltete ſeine kleinen Hände und ſprach ſein Tiſchgebet, die Augen aber hingen doch begehrlich an dem Henkeltopfe.
„Ich ſoll Ihm nochmals ſagen“, ſprach der Wachmeiſter Drückeferken um vieles milder, während die Beiden aßen, „daß ſie das Begräbnis bei Heller und Pfennig bezahlen wollen. Na, laß dir’s ſchmecken, Fränzchen. Er wird doch in Wahrheit der ganzen Stadt nicht die Komödie machen, den Hanswurſt beim heutigen Schüttenhoff zu ſpielen, Zrovnal, während ſein Weib da auf der Bahre liegt!“
„Der Pfennig iſt überall Herr“, ſagt ein Sprichwort meiner Heimat. „Wollen Sie mir ſagen, Herr Wachmeiſter, womit ich bis morgen früh die zehn Taler anderweit auf ehrliche Weiſe vollmachen kann? Denn ehrlich und ſelbſt verdient muß es diesmal ſein, weil ſie ihr Lebtag auch ehrlich geweſen iſt und auch nicht von Erborgtem gelebt hat. Meinen Stößerlohn vom letzten Vierteljahre habe ich noch zu fordern, und es fehlen noch grade drei Taler.“
„Menſch, nennt Er das vielleicht ehrlich, als bunter Peijaz mit anlackierter Viſage vor der Muſik herzudanzen, Seine verdeubelten Faxen zu machen und die Schuljugend mit Seiner Pritſche zu bearbeiten!“
„Allerdings nenne ich’s ſo, Herr Wachmeiſter Drückeferken.“ Er ſetzte den Löffel in Stillſtand und ſchlug an ſeine Bruſt. „Da drinnen ſieht’s trübſelig genug aus, und auf die bunten Lappen außen herum kommt es nicht an, mag auch der Lack die roten Augenlider verdecken. Was hat ſie ſelbſt mir da des Abends aus ihrer Bibel vorgeleſen? ‚Wenn du aber faſteſt, ſo ſalbe dein Haupt und waſche dein Angeſicht, auf daß du nicht ſcheineſt vor den Leuten mit deinem Faſten.‘ Wiſſen die Leute, wiſſen Sie, Herr Wachmeiſter, wie mir heute zu Mute iſt?“
„Weiß ich, weiß ich leider Gottes ſehr genau“, gab jetzo gar kläglich der grimmige Wachmeiſter Drückeferken ſeinen Gedanken Ausdruck, „aber Er weiß nichts davon, wie in den vierziger Jahren die Cholera in Angerbeck wütete! Habe ich doch auch ein Weib und zwei Kinder begraben müſſen an einem Tage! Zwei Kinder, ſage ich Ihm, und das waren man nicht bloß ſo lütje Würmer, wie das da! Und dieſer Stockböhme wirft einem Unerfahrenheit vor!“
„Und Sie ſind in Ihrer Trauer hinter ihrem Sarge hergegangen in der blanken Montur da, was ich nicht einmal will. Iſt’s nicht ſo, Herr Wachmeiſter?“
„Was da! Weiß Er nicht, daß ich von hohem Magiſtrat in dieſen Rock eingekleidet –“
„Nun, mich hat hoher Magiſtrat in dieſe Narrenjacke geſteckt!“, lachte Zrovnal bitter auf.
„So tu Er zum Deubel, was Er nicht laſſen kann!“, ſchrie der Wachmeiſter erboſt. „Das Maulwerk werde ich mir Seinetwegen nicht weiter fuſſelig reden. Aberr – ich werrrde dem Herrn Magiſtrat und der Madam in dieſem Sinne Bericht ablegen, habe mich indeſſen zuvörderſt eines andern Auftrages zu entledigen. Alſo – kurz und gut: Ich ſoll die Franziska da, das Fränzchen da mit in die Apotheke bringen, läßt Ihm die Frau Kruſius ſagen, da für dieſes Kind eine ſolche Jämmerlichkeit und Komödie nichts iſt und nichts ſein kann. Was die Madam iſt, will es in Pflege und Obhut nehmen und ſehen, was ſich draus machen läßt. Und was das Kleine etwa noch in Beſitz haben ſollte an Kleidern, Wäſche und Schuhwerk, das ſoll Er mir für die erſte Notdurft zuſammenpacken.“
„Je to pravda? Iſt es wahrhaftig wahr? O Pane Drückeferken! Das wollten Sie tun, das wollte die Gnädige tun! Jak se vám odsloužim? Wie kann ich das vergelten! Mit tauſend Freuden ſage ich ano, ja ja! Das Kind, das Kind! Mir hat’s lange ſchon, ſchon als meine arme liebe Frau dalag und ſich nicht mehr ſo recht darum kümmern konnte, angelegen. Durfte ich ihr denn das Letzte nehmen, an das ſich ihr erlöſchend Leben klammerte und hielt? Ich bin ein zlobec, ein Böſewicht von Anbeginn und nicht wert, ein ſolch zart Menſchenblümlein zu hegen! Es würde wohl auch verkommen unter meiner unglückſeligen Hand, wie die da.”
Mit fieberhafter Haſt ſuchte er die wenigen Habſeligkeiten des Kindes zuſammen, und der Wachmeiſter half ihm ſogar, ein Bündel aus ihnen zu formen.
„Da, nehmen Sie es, ja nehmen Sie es mit, Herr Wachmeiſter Drückeferken! Ich verdiene ja die Güte nicht, daß Sie mich der Gnädigen daneben empfehlen, aber ſagen Sie ihr und dem Herrn tauſend, tauſend Dank! – Hat’s geſchmeckt, Fränzele? Gelt, der Herr Wachmeiſter Drückeferken iſt ein gutes Mannel! Da, ſtreichele Mütterle noch einmal die kalten Wängele!“
Er preßte das Kind im Beiderwandröckchen an ſeine Bruſt in der Narrenjacke, er bedeckte es mit Küſſen und benetzte es mit Tränen.
„Da haben Sie’s, Herr Wachmeiſter! Fränzele, leb wohl! Geh mit dem Pane Wachmeiſter zur Frau in die Apotheke, und ſei auch recht, recht artig! Nehmen Sie’s, Pane!“
„Der Deubel ſoll Ihn frikaſſieren mit Seinem Pane! Von Ihm laſſe ich mich nicht panieren!“, ſchnauzte der alte graue Drückeferken, fuhr ſich aber mit dem Rücken ſeiner tapfern Linken über die Augen, ehe er mit ihr das Bündel und den leeren Henkeltopf und Franziskas Hand mit der Rechten ergriff. Er zog das Kind, das ſeinen ſtummfragenden verwunderten Blicken nach dies alles noch nicht recht begriff, von der kleinen Wiege über die Schwelle, hinter der das Elend hauſte, vorbei an dem finſter dräuenden Sargdeckel, hinaus aus dem Schloſſe zu Angerbeck, aus dem dämmerigen feuchten Hohlwege, hinauf ans Licht, in die helle Welt, durch die von ferne die Muſik erklang, mit der der Schüttenhoff ſeinen Anfang nahm.
Wir würden ihnen gern folgen, um auch unſererſeits aus dieſem Schatten zur freundlicheren Sonnenſeite hinüberzutreten, müſſen aber ſolches leider noch bis zum nächſten Kapitel verſchieben, denn für den Augenblick verſperrt uns wieder eine Perſon den Ausgang aus dem Schloſſe zu Angerbeck und gibt uns Gelegenheit, wenn auch ſehr gegen unſern Wunſch, einen weiteren neuen Einblick in den Charakter des Böhmen Benedikt Zrovnal gewinnen zu können und ihn von einer andern, leider aber nicht beſſeren Seite kennen zu lernen.
Schlürfenden, latſchenden Ganges nähert ſich auf der breiten Hauptſtraße ein altes Weib. Die Spuren, die ihre ſchleppenden Pantoffeln im Staube hinterlaſſen, gleichen denen eines Wagens. Sie nimmt ihren Kurs gerade auf den Hohlweg zu, der ſich zum Schloſſe niederſenkt, zu den Schatten hinab aus der hellen Sonne, deren Licht ſie zu fliehen ſcheint. Denn trotz des ſonnigen Spätſommertages hat ſie ihr wackliges Haupt mit einem ſchwarzen Tuche umſchlungen, unter dem ihr runzlig Geſicht mit der ſpitzen Naſe hervorlugt wie das einer Nachteule.
Sie zieht die Staubfurchen ſich nach über die niedrige Schwelle des Schloſſes. Die Gebreſte der drei Spinnerinnen des Märchens vereinigen ſich in ihr. Denn wie ihr Anſchleichen auf die Plattfüße ſchließen läßt, die ihr langer ſchwarzer Rock barmherzig verdeckt, ſo ſpuckt ſie ſich jetzt über die triefende Hängelippe in ihre breiten Platthände und hutſcht auf Wiege und Sarg los.
Benedikt Zrovnal, der wieder ſein Haupt auf den Tiſch gelegt hat, daß ſeine Tränen die von ſeinem Kinde zurückgelaſſenen, vergeſſenen Blumen netzen, ſchrickt von neuem auf.
„Was will die noch? Was will das Weib! Habe ich Sie nicht ſchon zweimal verſcheucht, haben ſich nicht genug Schreckensgeſtalten bei mir zu Gaſte geladen? Halt da! Sie ſoll die Hand ablaſſen von denen da! Ich habe Ihr geſagt, was getan werden muß, tue ich ſelbſt! Wer aus dem Sterben ſeiner Mitmenſchen ein Geſchäft macht und Kapital ſchlägt wie Sie, iſt ſelbſt ein wandelnder Leichnam. Jetzt verſtehe ich das Wort des Herrn, das mir mein Weib vorgeleſen hat: ‚Laß die Toten ihre Toten begraben!‘ Mir aber iſt ſie nicht tot, ſie lebt mir weiter, und ich will ſie mit in mein Leben faſſen!“
„Verſündige Er ſich nicht und treibe Er nicht Mißbrauch mit dem heiligen Worte, Er Heide in Seiner gottloſen Taternjacke!“, eiferte die Totenfrau dawider. „Es iſt doch männiglich bekannt, daß Er in keine Kirche kommt, und man nicht weiß, ob Er Türke oder Katholik iſt! Das ſage ich Ihm aber allen Ernſtes, daß Er ſich nicht mit den Obliegenheiten einer von der Obrigkeit beſtellten Perſchon zu bemengen hat!“
Damit wollte ſie ſich nun doch furchtlos von Amtswegen ihren Pflichten, ſoweit ſie ihr nicht ſchon von Benedikt Zrovnal vorweg genommen waren, hingeben. Aber der der Obrigkeit widerſtrebende Böhme ſprang ihr jetzt in den Weg.
„Nicht rühran! Zachovej Pán Boh! Gott ſoll mich und dieſe hier bewahren vor Leichenfrauen, Pfaffen und Küſtern! Hinaus mit Ihr, ſage ich. Hat Sie Sorge um Ihre Gebühren? Die ſollen Ihr und Ihresgleichen werden bei Heller und Pfennig. Und morgen früh bei Sonnenaufgang mag Sie ſich mit Ihren Leuten vor meiner Tür einfinden und Acht geben, daß alles der Ordnung gemäß zugeht! Meinetwegen kann Sie auch draußen Wache ſtehen bis dahin.“
Damit ſchob er die noch immer Widerſtrebende zur Tür hinaus und überließ ihr, im Hohlwege ihren Ärger hervorzukrächzen.
Er aber kehrte in die Stube zurück und ſtand lange an Sarg und Wiege und ſtöhnte und ſeufzte ſchwer. Er war noch ſo jung, und doch fühlte er ſich jetzt, da er mit den ſtillen Schläfern ganz allein, auch ohne ſeine kleine Leidensgefährtin, war, ſo alt, als ob ein ganzes, langes Menſchenleben hinter ihm läge! Seinen Lebensſommer mit Sonnenſchein und Vogelſang ſollte er begraben und ſich im öden und kalten Winter einrichten! Alte Leute leben mehr in der Erinnerung als in der Gegenwart. Was Wunder! Liegt doch alles, woran ihr jugendlich empfängliches Herz ſich hängen konnte, hinter ihnen. Sie flüchten ſich zurück in ihre Jugend, da ihr Leben noch ein Leben war voller Licht und Wärme, während ſie im Schatten und in der Kälte des Alters langſam verkümmern.
Schmetternde Janitſcharenmuſik riß den Böhmen Zrovnal jäh aus ſeinen Träumen! Unter Pauken- und Trompetenſchall hob er ſein totes Söhnchen aus der Wiege und legte es ſeinem toten Weibe an die Bruſt. Und als er wieder auf Augenblicke über ſeinem Elende die Welt vergeſſen hatte, donnerte ihn dicht vor dem Schloſſe die große Trommel wach. Was ging ſein Schmerz die luſtige Welt da draußen im Sonnenſchein an!
Er ſprang in die Ecke, in die er vorher ſeine Schellenkappe geſchleudert hatte, raffte dieſe auf und zog ſie ſich über die Ohren. Trotz und mit dieſer warf er ſich abermals über ſein geſtorbenes Glück, bis ihn der nächſte dröhnende Schlag von neuem aufſcheuchte. Haſtig und überſtürzt ſuchte er nach ſeiner Pritſche und fand ſie endlich unter den auf dem Tiſche zurückgeſchobenen Blumen, dem letzten, das ihm ſein Fränzchen zurückgelaſſen hatte. Nach einem flüchtigen Blicke auf den Sarg ſtürzte er zur Tür hinaus, dem Zuge nachzueilen und ſeinen Poſten als Luſtigmacher zu beziehen.
Da ſtieß er gegen den Sargdeckel, und der dumpfe Schall mochte wohl ſogar die große Trommel übertönen. Er warf die Pritſche auf den Hausflur, hob den Deckel mit beiden Händen und kehrte mit ihm an den Sarg zurück. Noch einen Blick, den aller-allerletzten, mit verzerrtem Munde und zuſammengebiſſenen Zähnen, – und der Deckel lag an ſeinem Platze und hatte ſeinen Raub. Mit dem aus dem Tiſchkaſten hervorgeholten Hammer ſchlug er die ſchon im Deckel ſteckenden Nägel tief in den Sarg und rannte nun wirklich ſpornſtreichs hinaus ins Freie. Im Hohlwege aber bemerkte er, daß er ſtatt ſeiner Pritſche noch den Hammer in der Hand ſchwang. „O Herrgott, ich könnte ja die Kinderle erſchlagen damit! Mein Verdienſt, mein Verdienſt! Da ziehen ſie ſchon um die Ecke bei der Apotheke!“ Er flog nochmals zurück. Ja, wo war doch gleich die Pritſche? Auf dem Tiſche? Im Tiſchkaſten? Hatte er ſie gar mit in den Sarg eingenagelt! Endlich fiel ihm ein, wohin er ſie geworfen. Nun aber fort, fort, was die Beine hergaben! – Wir folgen ihm, wenn auch weniger raſend, in den Sonnenſchein, in das dritte Kapitel unſeres Buches.
Drittes Kapitel.
Wie Fritzchen Kruſius ſich ſelbſt fängt und ſeine Mutter lateiniſche Stunde nehmen will.
Aus dem Selbſtgeſpräche des davonhetzenden Böhmen und Bajazzo Benedikt Zrovnal erfuhren wir ſchon, daß nicht weit vom Schloſſe, aber oben an der fürſtlichen Straße, die Apotheke lag. Selbſtverſtändlich war ſie die einzige im Orte und hieß als ſolche ſchlankweg Apotheke zu Angerbeck.
In ihrer Eckſtube ſtand Frau Ottilie Kruſius an ihrem Blumenfenſter. Die freundliche Sonne lächelte ihr durch das vielfach verſchlungene Grün der Topfgewächſe in das angenehme kluge Geſicht, umſpielte die hohe Stirn mit dem geſcheitelten, zu beiden Seiten glatt gekämmten Haare, durch deſſen kohlſchwarze Wellen ſich unter dem ſchwarzen Tüllmützchen hervor ſchon einige Silbenfäden ſtahlen. Sie beſtimmten, wie der Altweiberſommer den vorgerückten Jahreslauf, das Lebensalter Frau Ottiliens als Herbſtes Anfang. Dasſelbe zeigte auch der ſonſt hübſche ausdrucksvolle Mund, denn das goldene Zeitalter der ewigen Jugend und des künſtlichen Zahnerſatzes war am Angerbecker Horizonte noch nicht heraufgezogen.
Sie war eifrig beſchäftigt, allen ihren Lieblingen, der Kalla, der Dracäne, der Amaryllis, den Myrthen, den verſchiedenen Kaktusarten und dem blühenden Efeu aus einer kleinen, grünlackierten Gießkanne eine Erfriſchung zukommen zu laſſen, was nichts kleines war. Denn die Fenſterbank ſelbſt reichte für die Menge der Gewächſe bei weitem nicht aus, ſondern hatte durch einen halbrunden Tiſch, der mit ſeiner Platte an ihr befeſtigt war und ſich auf einem ſchrägen Beine an die Wand ſtützte, eine Erweiterung erfahren.
Frau Ottiliens blaue Augen durchforſchten ſcharf das Blätter- und Blütengewirr, und die Blattlaus, die dieſen wachſamen Polizeiorganen entging und nicht erbarmungslos zwiſchen den ſchlanken aber arbeitsharten Fingern ein jähes Ende fand, mußte ſchon ſehr ſchlau ſein und ſich Zeit ihres Lebens der Mimikry mit Erfolg befliſſen haben. Ein abgeſtorbenes dürres Blatt fühlte einen feſten Griff und ſich als künftigen Dünger dem Erdreich zurückgegeben, dem es entſtiegen war. „Du biſt Erde und ſollſt wieder zur Erde werden“, murmelte Frau Apotheker Kruſius.
„Ja, die arme Marie! Sie glaubte auch, in den Himmel hinein zu wachſen, und wie lange hat die Herrlichkeit vorgehalten! Nun hat die liebe Seele Ruhe, aber einen Kranz aus unſerm Garten, den ſie ſo lange gepflegt, muß ich ihr doch auf den Sarg legen.“
Sie ſchritt zur Tür, hemmte aber plötzlich den Fuß. Ihr Blick war auf eine Fliege gefallen, die ſich trotz des eingeſpannten Gazefenſters hinterliſtig eingeſchlichen hatte und nun auf der glänzend weiß geſtrichenen Stubentür ſpazieren ging.
„Warte, du Rackerzeug ſollſt mich nicht noch einmal piſacken!“ Die lederne, auf einer Seite mit einem geſtickten Roſenbukett geſchmückte Fliegenklappe war alsbald zur Hand, und Frau Kruſius ſchlich auf den Fußſpitzen, zum Schlage bereit, dem davonſummenden Kerbtiere nach, das ſogar noch einen Gefährten gefunden hatte und nun luſtig mit dieſem, der Verfolgerin zum Hohne, in der Stube umherſchwirrte und dann frech ſich den Stiel des Mordinſtruments als ſicherſtes Aſyl erkor. Ein ſauſender Hieb vertrieb es, und die Jagd wurde mit Zähigkeit fortgeſetzt. Schließlich ſiegte die Intelligenz und Strategie, und beide Frechlinge klebten am Leder.
„So, euch Schweinigel hätten wir auch! Lieber will ich eine Kröte in meiner Milchſatte ſitzen haben, als euch in meiner Stube ſehen, und um ſeine Ruhe will ſchließlich der Menſch auch nicht betrogen werden, wenn er ſich wirklich ein Viertelſtündchen davon mittags zähmen kann oder abends ſeine Patience legt.“
Frau Kruſius ging alſo als Siegerin hinaus auf den mit großen Sandſteinplatten belegten Hausflur, blieb an der offenen Küchentür ſtehen und fragte hinein: „Hannchen, iſt Drückeferken wieder da?“
Zwiſchen dem Geklapper von Tellern und Schüſſeln hindurch gab es ſehr geringſchätzend Antwort, „Och, der und wieder da! Ich dächte, das wüßten Sie doch längſt, Madam, daß der ſchlimmer iſt wie ein altes Weib.“
„Ich frage ja bloß”, erwiderte Frau Ottilie ſanftmütig.
„Wohin haben Sie ihn denn eigentlich geſchickt mit dem Henkeltopfe? Das hätte ich doch viel beſſer beſorgen können.“
„Nein, Hannchen, diesmal nicht. Mein Mann iſt wohl noch im Garten?“
„Ja, der Herr wird das neue Stacket ausmeſſen, er hat ſich die Eule geholt.“
„I, du meine Güte! Die Eule? Mädchen, du biſt nicht klug!“
„Na, gewundert habe ich mich auch, aber er ſagte, das wäre das bequemſte, die Eule wäre grade fünf Ellen lang.“
„Immer der alte Praktikus!“, lachte Frau Kruſius, daß ihr freundlich Geſicht noch um einen Grad freundlicher ward und jeder, auch der anſpruchsvollſte Photograph befriedigt worden wäre, und ging weiter, die der toten Marie im Schloſſe zugedachten Blumen aus dem Garten zu holen. An der Tür der hinteren Stube aber hielt ſie nochmals an.
„Ob der Junge wohl ſeine Schularbeiten macht?“ Mit einem kräftigen Ruck hatte ſie die Tür geöffnet, ſich aber ſehr geirrt, wenn ſie glaubte, den „Jungen“ dadurch in flagranti bei irgend einer Untat überraſchen zu können. Untätig – wenigſtens bei den Schularbeiten – war er allerdings, überraſchen aber konnte Madam Kruſius ihn nicht, denn das Neſt war leer, das Neſtküken ausgeflogen. Die Staffage eines eifrigen Studiums, die lateiniſche Grammatik Dr. Raphael Kühners, zwei dicke ſchweinslederne Bände des Lexicon Encyclion M. Joh. Adam. Weberi, des Hochfürſtlichen Sächſiſchen Friedrichs Gymnaſii in Altenburg Profeſſoris, Buschs Übungsbuch, ſowie eine Kladde mit äußerſt ſorgfältig ausgemalten Randleiſten und den in unzähligen und unglaublichen Varianten auf Seiten und Schnitt angebrachten Initialen F. K. machte ſich zwar ſehr breit, der würdige Träger des Namens Fritz Kruſius aber hatte ſich „dünne“ gemacht.
„Nein, es iſt doch eine Schande wert mit dem Schlingel! So wie man den Rücken wendet, treibt er ſeine Allotria! I du meine Güte, was hat der Bengel ſein Buch beſchmiert! Und dieſer letzte Satz da von den kurzen Königen! So groß kann doch der Unſinn in den alten Schmökern unmöglich ſein. Wenn ſich da mein Söhnchen man nicht geirrt hat! Na, töw, Burſche, dir wollen wir ſchon auf den Zahn fühlen, wenn wir auch kein Latein verſtehen! Dich werden die Unkundigen ſchon feſtzuhalten wiſſen. Aber erſt gilt es, ihn aufzuſtöbern.“
Das ſollte nun der von den Dichtern beſungenen Schärfe des Mutterauges nicht ſchwer werden, zumal auch das nicht minder ſcharfe Mutterohr dabei mithelfen konnte. Kaum hatte nämlich Frau Kruſius den Garten betreten, als ein jämmerlich Geheul, nein, ein raſendes Gebrüll ſie auf die geſuchte Fährte brachte und ſie zunächſt wieder von ihrem Vorhaben, der armen Marie einen letzten Blumengruß zu ſenden, abzog.
„O himmliſcher Vater, was iſt denn nun da dem entſetzlichen Jungen wieder paſſiert. Mann, Mann! Hörſt du denn nicht! Was iſt geſchehen!“
An der Ecke des langen Seitengebäudes, das den Holzſtall, das Waſchhaus, das Laboratorium, die Stoßkammer, die Glaskammer und die Wäſchrollkammer in ſich faßte, und hinter dem das Angſt- oder Wehgeſchrei mit immer kräftigeren Regiſtern hervorbrach, trafen Herr und Frau Kruſius zuſammen. Erſterer kämpfte mit einem Aſthma-Anfalle, den er ſich durch den haſtigen Lauf quer durch den Garten über Bohnen- und Spargelbeete hinweg auf den Schauplatz unſerer Erzählung und in dieſe ſelbſt hinein zugezogen hatte.
Sein ehrwürdiges, von einem weißen Barte umrahmtes Geſicht erſchien beängſtigend rot, und konvulſiviſch ſchwenkte er die fünf Ellen lange Kehreule durch die Luft, während er nach letzterer ſchnappte.
„O lieber Gott, faſſe dich, Mann! So ſchlimm wird’s nicht ſein. Ich fürchte weniger für den nichtsnutzigen Bengel als für ſeine Hoſe!“
„Eben war er noch bei mir und machte ſich an dem alten Zaune zu ſchaffen”, ſtöhnte der Apotheker und das Magiſtratsmitglied Kruſius ſtoßweiſe und ſchob ſein ſchwarzes, mit bunter Kante geſticktes Tuchkäppchen nach hinten.
„Da haben wir ja die Proſtemahlzeit, Mann! Siehſt du, mein Jüngelchen, ſo mußte es kommen, da ſitzt der Fuchs im Eiſen!“ Jetzt war es an der Frau, nach Luft zu ringen, um nicht an dem Lachanfall zu erſticken, obwohl ſie eine an die zwanzig Jahr jüngere Lunge hatte als ihr Eheherr.
Der junge Studioſus hatte es ergötzlicher gefunden, anſtatt der ſteilen Stufenleiter der lateiniſchen Formenlehre und Syntax ein ausrangiertes Stück des alten hohen Stacketes zu erklimmen, das aus gekreuzten Fichtenſtengeln zuſammengeſetzt war. Sunt qui cum conjunctivo, es gibt Leute mit dem Conjunctiv! Und Fritzchen Kruſius war auch einer! Jetzt lag er hilflos verhäkelt unter der ſchweren Laſt in Abhängigkeit. Er hatte mit ſeiner Himmelsleiter den Stützpunkt verloren, war hintenüber gefallen, und in dem Beſtreben, ſich vor dem Erdrücktwerden zu ſchützen, war er mit beiden Armen durch die Lücken des Zaunes gefahren und hatte ſich ſo der Hilfe ſeiner Hände, die er nur flehend in die leere Luft erheben konnte, gänzlich begeben. Und durch das Gegenſtemmen ſeiner Beine hatte er nichts weiter erreichen können, als die Befürchtung ſeiner Frau Mutter zu erfüllen; – ein nacktes, zerſchundenes, blutrünſtiges Knie guckte neugierig durch die Hoſe und den betreffenden Steckenrhombus in die Welt.
„Dieſer junge Mann bringt die ſchwierigſten Sachen fertig“, meinte der Apotheker, „er würde mit Leichtigkeit die fünfhundert Grundſilben des Kuānhoá durch ihre Stellung verdreifachen.“
Als Fritzchen ſeinen Vater mit dem fünf Ellen langen Stab Wehe urplötzlich neben ſich auftauchen ſah, verſtummte ebenſo plötzlich ſein Geheul, und er erquickte nur noch ſchluchzend über ſeine beiden Ohren hinweg das durſtige Erdreich mit ſeiner Tränenflut.
Madam Kruſius wiſchte ſich auch ihre Augen und hielt ihren Herrn und Gebieter am Ärmel zurück, als er ſich anſchickte, ſeinem Sohne beizuſpringen und ihn aus der Not zu reißen.
„Warte ein bißchen, Kruſius, dem Ausreißer wird es hoffentlich nicht ſchaden, wenn er noch ein Weilchen in den ſpaniſchen Bock geſpannt liegen muß. Das täte manch einem gut! Siehſt du, habe ich’s nicht geſagt? Du ſchnarchteſt geſtern abend ſchon lange, als ich noch ſaß und prünte, um dieſem infamen Jungen und ſeiner Sonntagshoſe einen ſolideren Boden zu geben, und heute das wieder! Na, hoffnungsvoller Jüngling, ſtopfen will ich ſie dir. Ich brauche ja nicht den Leuten zum Geſpött in ihr herumzulaufen, und vor nächſtem Jahre ſetzt es keine neue, höchſtens zu Weihnachten, wenn du auf jedes ſonſtige Präſent verzichten willſt. Das hat man davon, wenn man von ſeinen Schularbeiten wegläuft. Der kurze König iſt feſtgehalten und ſitzt richtig in der Klemme heute zum Schüttenhoff, den er ſich von weitem durch das Fenſter anſchauen darf. Und du, Kruſius, hätteſt dich auch mehr um den Jungen und ſein Latein kümmern ſollen, als hier Sonntags im Garten, wo man auf dem Präſentierteller ſitzt, mit dem Beſen herumzulaufen, und noch dazu zum Schüttenhoff!“
„Das iſt’s ja eben, Ottilie, zum Schüttenhoff iſt kein Menſch krank, und ich habe Zeit zu ſo was.“
„Na, deine paar Kranke laſſen dir das ganze Jahr Zeit zu ſo was, leider!“
Des jungen Sünders Antlitz ſchimmerte durch die Kreuzſtecken jetzt noch röter, als es vorher vom Brüllen geworden war. Seine Mutter war ihm über ſeine Überſetzung gekommen! Das waren ja ganz verteufelte Spitzen, die noch mehr stachen, als die ſcharfen Äſtchen der Fichtenknüppel.
„So, Mann, nun wollen wir ihn aufheben, aber vorſichtig, daß wir ihm die Flittiche nicht auch noch lädieren, und dann will ich mal bei euch in die lateiniſche Stunde gehen.“
Fritzchen hatte den Schluckup gewaltig, als er hinter Vater und Mutter herſchlich, und obwohl ihm nicht viel Gutes von dem Ausgange des bevorſtehenden Examens ſchwante, war er doch durch die ausgeſtandene Folter zu geknickt, als daß er auf Rettung aus dieſer neuen Not nach rechts oder links Ausſchau gehalten hätte. Er ging gradenwegs, mit Bewußtſein in ſein Unglück hinein.
„Jetzt nimm du mal all dein Apothekerlateiniſch zuſammen, Kruſius, hier Seite fünfundzwanzig, der neunte Satz! Und du, junger Gelehrter, den man mit zwei e ſchreiben ſollte, ſchieße los, welche Auffaſſung von dieſem Paſſus du zu der deinigen gemacht haſt!“
Stotternd und ſchluchzend gab der jugendliche Gloſſarius, durch eine Maulſchelle angeſpornt, ſeinen Kommentar: „Die kurzen Könige waren ſchuld geweſen, daß ſie von den Unkundigen feſtgehalten werden.“
Die fünf Ellen lange Kehreule, die der Magiſtrat immer noch wie einen Nachtwächterſpieß vor ſich auf den Boden geſtellt hielt, ließ mit kräftigem Stoße die Grundfeſten der Eß- und Studierſtube nicht nur, ſondern der ganzen Apotheke zu Angerbeck erzittern.
„O Himmel, erbarme dich! Nur dieſe Consecutio temporum ſich auszudenken und zu faſſen! Frau, iſt ſo etwas menſchenmöglich! Findet ſich ſolche Phraſeologie in dem Aufſchlagebuche des Magiſters Johann Adam Weber, in den lateiniſchen Auctoribus! Das Präſens nach dem Plusquamperfecto! Ottilie, geht dem Grünſchnabel da etwa ſchon eine Ahnung auf, daß es mit der Folgerichtigkeit in der Welt nur ſo ſo iſt, und daß es verdammt viel Ausnahmen zu merken gibt?“
„Vorläufig bitte ich dich, Kruſius, dem ſtupiden Jungen mit deiner Lebensweisheit nicht noch Flöhe ins Ohr zu ſetzen, und mir ſodann klipp und klar zu ſagen, was es mit dieſem albernen Satze auf ſich hat.“
„Ja, ſo, abgeſehen vom falſchen Gebrauche der Zeiten finde ich nur noch einen ganz geringen Fehler, der nach dem Pehlewi, der Reichsſprache der Saſſaniden, eigentlich eine ſolche Bezeichnung gar nicht verdient. Dieſer angehende perſiſche Mirza, der allerdings zu wenig Sorgfalt auf das Näſtalik verwendet, –“
„Mann, verſchone mich mit deinem perſiſchen und chineſiſchen Bombaſt!“
„Deiner chineſiſchen Weisheit, ſage lieber, weibliche Oberflächlichkeit. Du weißt doch auch aus deinem geliebten Schiller, wie Konfuzius ſpricht! ‚In die Tiefe muß du ſteigen, ſoll ſich dir das Weſen zeigen.‘ Alſo –, dieſer Lapſus rührt her von der Vertauſchung der beiden Liquidae, kurz geſagt.“
„O, ich möchte dir mit dem Schermeſſer über deinen heute mal chineſiſchen Zopf fahren!“
„Ereifere dich nicht weiter, meine herzallerliebſte Delila, die Sache iſt ja ſchon erklärt“, beruhigte der Magiſtrat lächelnd ſeine aufgebrachte Gattin, ſetzte den Zeigefinger auf die Majuskel des zur Diskuſſion geſtellten Satzes und fuhr fort: „Der Überſetzer hat das L infolge dieſes kleinen Kleckſes oder ſeiner habituellen Gedankenloſigkeit für ein R angeſehen und behandelt.“
„Und was kommt nun nach deiner Lesart dabei heraus?‘
„Was ſich jeder, der etwas zu bedeuten und zu ſagen hat in Staat, Kirche, Schule oder Haus, hinter die Ohren ſchreiben ſollte: ‚Leges breves esse debent, ut facile ab imperitis teneantur‘, in deinem geliebten Deutſch: Die Geſetze müſſen kurz gefaßt ſein, daß auch die Dummen ſie ſich merken können.“
„Ei Tobias, für ſolch verſtändig und verſtändlich Wort muß man ſich den alten lateiniſchen Herren ja ſogar verpflichtet fühlen! Und auch du, mein Junge, wenn ich dieſe goldene Regel befolge und ſie dir der Kürze und Merkbarkeit halber in dieſe Maulſchelle zuſammenfaſſe. Und nun hole deine Alltagsbüchſen hervor, mein Sohn, und bringe mir die da zum Stopfen in die Eckſtube. Es wird auch Zeit, dich hinter das Gazefenſter zu poſtieren, wenn du ſonſt von der Muſik und dem Anfange des Schüttenhoffs etwas hören und haben willſt.“
Fritz Kruſius verſchwand heulend, und ſeine Frau Mutter ſchickte ihm einen Stoßſeufzer aus dem Grunde ihres Herzens nach. Der Apotheker aber klopfte ihr auf die Schulter.
„Laß gut ſein, Herzenskind, er iſt ja noch jung, er wird erſt noch.“
„Ja, Tobias, du haſt gut reden mit deinem immerwährenden ‚er wird erſt noch‘. Du kümmerſt dich auch nicht um ihn und überläßt mir die ganze Sorge und hätteſt doch bei dem wieder einmal ſehr flauen Geſchäftsgange mehr Zeit dazu als ich.“
„Das weiß der liebe Gott! Darin muß ich dir leider voll und ganz beipflichten. Es graſſiert in Angerbeck und Umgegend die chroniſche Geſundheit in erſchreckender Weiſe.“
Und wehmütig den Kopf und das ſchwarze Tuchkäppchen ſchüttelnd, ſtellte er im Hinausſchreiten die fünf Ellen lange Kehreule in die Ecke der Hinterdiele, – denn der Platz war beim Bau der Apotheke zu Angerbeck nicht geſchont worden! Sie hatte eine große Vorder- und eine kleinere Hinterdiele, die durch die „Mitteltür“ voneinander getrennt waren.
Viertes Kapitel.
Bericht über die Aufnahme der Schloßprinzeſſin in der Apotheke zu Angerbeck. Frau Ottilie kommt endlich zum Kranzwinden.
An der Mitteltür legte Frau Ottilie ihre Hand auf den Arm ihres Mannes und bugſierte ihn an die Hoftür zurück, deren obere Hälfte offen ſtand und ſoviel Luft und Licht einließ, daß die Hinterdiele dem Apotheker zur Werkſtatt für ſeine mannigfachen Klamüſereien auf den Gebieten der Tiſchlerei, Drechslerei, Schloſſerei, Klempnerei, Schnitzerei und anderer „ei“ dienen konnte. Hierüber gab einen weiteren Ausweis die große an der Wand ſtehende Drehbank, die mit Schraubſtock, Amboß, Schneidekluppen, Sägen, Hobeln, Bohrern, Hämmern, Zangen, Feilen, Schraubenziehern, Lochbeiteln, Lötrohren und Spiritus- und Berzeliuslampen verſehen, bedeckt oder umgeben war.
Wenn auch Frau Ottilie oft Gelegenheit nahm, in dem noch öfter ganz entſetzlichen Chaos dieſer hunderterlei Dinge Ordnung zu ſchaffen und ſie aus dem Wuſte der „Berge hoch“ liegenden Hobel-, Dreh- und Sägeſpäne wieder ans Tageslicht und an ihren gehörigen Platz zu fördern, ſo kümmerte ſie ſich doch diesmal gar nicht darum, „fiel nicht darüber“, ſondern ſeufzte nur noch einmal, lehnte ſich auf die halbe Tür und gab ihrem Manne ſo ein Beiſpiel, dasſelbe zu tun und auf den kühlen mit grünem Graſe bewachſenen Hof zu gucken, wo ſich das Federvolk behaglich gluckſend im Schatten des großen Weinapfelbaumes umhertrieb.
Sie holte tief Atem über die halbe Tür herüber und ſuchte ſich ihr Teil an Luft und Licht für ihr beſchwertes Herz und ihr dieſes noch mehr beſchwerende Vorhaben.
„Was für ein unzulänglich Geſchöpf iſt doch eigentlich der Menſch, Tobias! Ich für meine Perſon hätte vollauf genug an dem einen Jungen.“
Der Apotheker und Magiſtrat Kruſius machte eine für ſein Alter merkwürdig ſchnelle Drehung nach links, ſeiner Gattin voll ins Geſicht zu ſchauen, und ſeine Bewegung war ſo plötzlich über ihn gekommen, daß er ſeine Arme, die er vorher auf die halbe Tür gelegt hatte, jetzt in derſelben Stellung in die Luft ſtützte.
„Ottilie, Herzenskind, ſo fühlſt du dich doch noch –“
„O du eingebildeter alter Pillendreher“, lachte Frau Kruſius errötend, „bleib mir mit deinen albernen Wippchen vom Leibe! Ich meine ja die ſchwarze Lotte, die Glucke! Guck nur, zehn Stück hat ſie da um ſich und hat für jedes ein wachſames Auge und hat jedes Eigentümlichkeit in den paar Tagen herausgefunden und weiß jedem ſein Teil vor den Schnabel zu bringen!“
„Na, Ottilchen, wenn unſere Kinder ſich genügen ließen, aus dem Unrat, Kehricht und ſonſtigem Abraum des Lebens ihre Notdurft zu ziehen, ſo wäre der Unterhalt ſo ſchwierig nicht. Prieschen gefällig?“
Herr Kruſius hatte mit Daumen und Zeigefinger der Schildpattdoſe eine ſeiner nicht ganz kleinen Naſe angemeſſene Quantität Kölner Kardinal, grob rappiert, entnommen und reichte ſie nun – die Doſe natürlich – mit zierlicher Verbeugung ſeiner Gattin. Dieſe ergriff ſie am offenen Deckel und ſchnüffelte nur ſo oben hin den ihr entſteigenden ſcharfen Duft ein.
„So, das genügt, Kruſius, tut aber ganz gut gegen die Schwarzſeherei und ſonſtige Mucken. Mit deiner Bemerkung haſt du übrigens recht, und – was ich ſagen wollte – ich habe Drückeferken hingeſchickt, das Kind zu holen, ehe es in Unrat und Unart verkommt.“
„Wa–a–as, Ottilie! Alſo doch! Bei den fünf Rezepten täglich im Durchſchnitt!“
„Sei ſtille, Kruſius, wenn dir’s nur darum zu tun iſt. Sind die Leute geſund, gedeiht auch das Viehzeug. Der günſtige Himmel wird dir dafür wieder mal ein einträglich Mäuſejahr beſcheren. Die Waſſerkruken mit dem Phosphorus darin und dem Totenkopf und den drei Kreuzen darauf bringen mehr Gewinn als Mandelmilch und Syrupus simplex.“
„Hm, ja! Ciò che’l viver non ebbe, abbia la morte“, lächelte Herr Kruſius trübe. „Iſt nicht die ganze Welt wie das Irrenhaus von Ferrara? Im Kloſter Sant’ Onofrio war es auch das Einzige, woran er ſich klammern konnte, der Unſtete und Flüchtige. Des Lebens Mangel wird der Tod erſetzen.“
„Nun, Mann, was andere dir ſagen, gilt dir ſtets mehr, als wenn du’s nur von mir haſt. Und deinem Torquato Taſſo will ich darum noch einen andern beigeben und mich in Sachen der kleinen verwaiſten Franziska auf ihn berufen. Welch brüderlichen Rat gibt Laertes der Ophelia?
‚Es nagt der Wurm des Frühlings Kinder an,
zu oft noch, eh die Knoſpe ſich erſchließt,
und in der Früh und friſchem Tau der Jugend
iſt gift’ger Anhauch am gefährlichſten.‘“
„Verkommen laſſen können wir das Kind auf keinen Fall, darin muß ich dir entſchieden, ganz entſchieden recht geben. Könnte es aber nicht doch vielleicht wo anders –“
„Dummes Zeug, Kruſius, du haſt ja gar nicht darüber nachgedacht, wohin es zu geben. Alſo will ich dir vordenken; habe nur die Güte, mir zu folgen und vorderhand auf ſich beruhen zu laſſen, wie meine Worte am beſten in gutem Böhmiſch oder Polackiſch wiederzugeben wären. Da ſind zunächſt Paſtor Mönkemeyers.“ Der Zeigefinger ihrer Rechten berührte die Kuppe ihres linken Daumens. „Benedikt Zrovnal hat es nicht verſtanden, ſich bei der Geiſtlichkeit Stand zu machen. Der Paſtor iſt ein guter Mann und hält gute Predigten, iſt aber in ſeinem Hauſe gleich ſeinen Kindern eine Null, wodurch der Einerwert ſeiner Frau Gemahlin ins Ungemeſſene wächſt. Und übrigens, wo finden ſich die ſchlimmſten Rangen von Angerbeck, wenn nicht in der Pfarre?“
Der rechte Zeigefinger ging zu ſeinem linken Zwillingsbruder über. „Da ſind ferner Doktor Krafts. Er hat bloß ſeine Spekulationen und Papierchen im Kopfe, läuft dreimal täglich auf die Poſt nach dem Kurszettel und vernachläſſigt gänzlich ſeine Praxis, wie du an dem Rezeptjournale und deinem eigenen Leibe genugſam verſpürſt, und bei ihr kann es kein Dienſtmädchen länger als ein Vierteljahr aushalten. Sollteſt du wünſchen, ihnen das kleine Ding anzuvertrauen?“
Der Mittelfinger kam an die Reihe. „Da ſind Amtsrichter Stelzers, für die nur ihre hohen Vorgeſetzten Menſchen ſind. Sie gibt eine Geſellſchaft über die andere, daß ſie ihre alten Schulden immer mit neuen bezahlen müſſen, borgt mir meine ererbten ſilbernen Löffel ab, mich ſelbſt aber hält ſie nicht für würdig und für viel zu verbauert, als daß ſie riskieren dürfte, mich neben ihre ökonomiſchen und amtsrätlichen Gäſte zu ſetzen.“
„Da ſind Rektor Bartels.“ Wie zum Spott war der Goldfinger dran. „Na, Tobias, wie viel ich auf meinen alten Freund Bartels halte, weißt du. Er nimmt ſich ja unſeres eigenen Schlingels ſo gewiſſenhaft an, daß wir’s ihm nicht vergelten können. Ihn und ſeine Sophie hielte ich für ganz geeignet, –“
„Nein, Kind, bei ſeiner kleinen Einnahme und ſeinen eigenen Kindern, das geht auch nicht!“
„Na, alſo. Bleibt nur fünftens: Oberförſter Stukenberg!“
„Ums Himmelswillen nicht der! Er lügt nicht bloß über die gewöhnlichen Jagdgeſchichten hinaus, ſondern trinkt auch alle Tage über den gewöhnlichen Durſt hinaus und haut ſeine Frau –“
„Die eine Schlampe iſt!“
Der rechte Handrücken ſtrich über den linken Handteller. „Tabula rasa! Ich bitte dich, Kruſius, wer bleibt uns noch? Und ich dächte doch, wir wären die Nächſten dazu, wie die Sache nun einmal liegt. Wenn auch unſere Marie meine Warnungen in den Wind geſchlagen hat, ſo hat ſie doch auch jämmerlich dafür büßen müſſen und durch ihre ſiebenjährigen treuen Dienſte unſer Einſchreiten in dieſer Sache verdient. Der Slowake ſteht ebenfalls ſo halb und halb in deinem Dienſte, –“
„Halb und halb iſt zu viel geſagt, Ottilie, denn halb und halb macht ganz, und das iſt nicht ganz zutreffend.“
„Natürlich, du ſpannſt ja wie gewöhnlich darauf, deine albernen Wortklaubereien anzubringen. Er iſt doch dein Stößer, und wenn du nicht immer Cortex frangulae, Rhabarber, Sennesblätter oder andere Purganzen zu ſchneiden oder zu ſtoßen hatteſt, ſo kannſt du ihm auch nicht in die Schuhe ſchieben, daß er mit dem bißchen Zeug nicht auch deine hartnäckige Geſchäftsſtockung beſeitigen konnte. Und ſtand er dir nicht auf pharmazeutiſchem Gebiete bei, ſo hat er ſich doch auf andere Weiſe oft nützlich machen können, die mindeſtens ebenſo wichtig ſein dürfte.“
„Ottilie, du haſt wieder mal recht, wie gewöhnlich! Ihm ſelbſt unbewußt, habe ich ihm die feinen Unterſchiede der durativen und iterativen, der frequentativen und inchoativen Verba ablauſchen können, die im Böhmiſchen ganz beſonders –“
„O du himmliſcher Vater, Kruſius, bleib mir nur jetzt mit deinen böhmiſchen Dörfern vom Leibe! Ich denke, er hat ſich noch größere Verdienſte erworben als Violinlehrer Fritzchens; der Dickkopf hat ihm manche ſchwere Stunde gemacht.“
„Und um deine bei weitem zarteren Sellerieköpfe, wenn er auch dabei nicht grade nach Eau de Cologne roch“, lachte Herr Tobias.
„Ach, du bringſt mich ja darauf, daß ich aus dem Garten einen Kranz – –“
Die Klingel an der Haustür erſcholl und ließ Madam Kruſius, die die untere Hälfte der Hoftür ſchon geöffnet hatte, ſtill ſtehen.
Bald vernahm das lauſchende Ehepaar Hannchens und Drückeferkens Stimmen ſich zur Zwieſprache miſchen, und die Inangriffnahme des geplanten Liebeswerkes mußte immer noch einmal hinausgeſchoben werden; die Lebenden verlangten ihr Recht vor den Toten.
„Da iſt Drückeferken zurück, und wenn er es mit hat, ſo ſei freundlich mit dem armen Kinde, lieber Tobias. Schüchtere es nicht gleich bei ſeinem Eintritte in unſer Haus ein, das ihm, ſo hoffe ich, eine neue Heimat bieten ſoll. Ach Mann, werden wir unſerer Aufgabe und Verantwortlichkeit gewachſen ſein?“
Wir wiſſen ſchon, daß Drückeferken es in der Tat mit hatte. Es war ihm unterwegs nicht abhanden gekommen. Seine Rechte hatte es feſtgehalten, wie ſeine Linke den irdenen Henkeltopf. Nach ſeiner Ankunft marſchierte er gewichtigen Schrittes und gradewegs auf die Küche los, denn er empfand vor allem das Bedürfnis, ſich des weibiſchen Ballaſtes zu entledigen, der ihn hinderte, ſich in militäriſcher Haltung vor den Magiſtrat hinzuſtellen, die rechte Hand am Mützenrande, den linken Daumen an der Hoſennaht. Er ſetzte daher den Topf ſehr behutſam auf die Anrichte und das kleine Mädchen nicht ganz ſo zart auf den Binſenſtuhl Hannchens, auf dem dieſe für gewöhnlich Kartoffeln ſchälte und die Kaffeemühle drehte.
„Gott ſoll uns bewahren!“, ſchrie der dienende Geiſt der Apotheke zu Angerbeck am Goſſenſteine auf und ließ die ſoeben abgetrocknete Salatſchüſſel wieder in den Aufwaſchtubben ſinken. „Da bringen Sie uns wohl gar die Schloßprinzeſſin ins Haus und in meine Küche, Herr Drückeferken, und mit ihr wohl noch manches andere, was einer redlichen Perſon, wie ich eine bin, nicht willkommen ſein kann!“
Die Nachfolgerin der armen Marie trocknete ſich die naſſen Hände an ihrer blauen Schürze, hob rückſichtslos das Kind von ihrem Stuhle und wiſchte dieſen mit der Schürze ab. „Sehen Sie nur mal dieſen Haarbüſchel, iſt das nicht der reine Weichſelzopf!“
„Brrr, oha! Stillgeſtanden!“, wehrte grimmig der Wachmeiſter die erhobenen Hände der Magd ab. „Sie hat der liebe Gott in Gnaden davor bewahrt, je ein ſolch kleines hübſches Kind zu kriegen, denn wie ſollte das bei Ihr zugehen! Schäme Sie ſich, Sie elendiges Weibsſtück! Das Kind bleibt ſitzen. Komm, Fränzchen, das Megatherium darf dir nichts tun.“
„Dann ſuche der Herr Wachmeiſter auch das Ungeziefer gefälligſt von meinem Stuhle ſelbſt ab“, gab Hannchen ſpitz dagegen und ſtrafte ihn mit Verachtung.
„Das iſt nicht Ihre Sache, alternde Jungfrau! Auf höheren Befehl requiriert und inſtalliert! Was die Madam iſt, wird wohl wiſſen, wie man ſich damit abzufinden hat, und die Aptheke hat gegen derlei Übel die paſſenden Mittel zur Hand. Umgewandten Napolium ſoll zum Exempel –“
„Unguentum Neapolitanum, Drückeferken!“, verbeſſerte ihn hinter ſeinem Rücken der in der Küchentür erſchienene Apotheker und Magiſtrat. „Was zu Deutſch Neapolitaniſche Salbe heißt und uns die ſchöne Stadt bei dem Veſuv in einem etwas anderen Lichte erſcheinen läßt, als das Veder Napoli e poi morire, welcher Wortlaut im übrigen nicht ganz korrekt ſein ſoll, denn –“
„Kruſius, bitte, laß mich nun auch einmal durch- und zu Worte kommen.“
Frau Ottilie ſchob ſich auf der Schwelle an ihrem Hausherrn vorbei. „Wo haben Sie die Kleine, Drückeferken? Ah, da ſitzt ſie ja, wie das liebe Elend! Fürs erſte iſt hier wohl ein ander Remedium am Platze wie geeler Jakob oder Merkurialſalbe, auf die wir vielleicht ſpäter kommen müſſen. Ich denke, ein bißchen Gut- und Freundlichſein, Hannchen. Meinſt du nicht auch, Tobias?“
Ihre Frage war in die Luft gerichtet, denn der Apotheker verſchwand in dieſem Augenblicke in der Offizin, kam aber im nächſten ſchon wieder zurück, die Tür derſelben mit dem Fuße zuſchmetternd, was ihm zur Gewohnheit geworden war, da er meiſtens die Hände nicht frei hatte, ſondern einen Mörſer, eine Reibſchale oder Kruken und Gläſer vor ſich tragen mußte. Er erſchien gerade im günſtigſten Momente, wie Blücher bei Waterloo, denn als Madam Kruſius mit ſanfter Überredung und einiger handgreiflicher Unterſtützung das Kind bewogen hatte, den gekrümmten Zeigefinger aus dem Mäulchen zu tun, und dieſes in ſtummer Verlegenheit offen ſtand, ſchob er ein Stück Zucker und drei ſüße Mandeln hinein.
„So, mein Mädchen, verſuche mal, wie das Studentenbrot ſchmeckt.“
Die kleinen roten Lippen ſchloſſen ſich, die Zähnchen begannen ihr Werk, der weinerliche Zug verſchwand allmählich aus dem weichen Kindergeſichte, und die Augen warfen einen freudig erſtaunten Blick auf den lächelnden alten Mann.
„En oll Afteiker un Hawergrütte is tau allen Dingen nütte!“, rief die Frau Ottilie und gab ihrem Manne trotz der Anweſenheit der heiligen Hermandad einen herzhaften Kuß. „Das haſt du wieder großartig angefangen, Tobias! Nun will ich aber auch das Meinige dazu tun. Komm, Fränzchen, gib mir die Hand. Wir gehen in den Garten und ſuchen uns für deine gute Mutter einen mächtigen Haufen der ſchönſten Blumen zuſammen, und nachher hilfſt du mir, einen Kranz davon zu winden. Die Sachen des Kindes haben Sie auch mitgebracht, Drückeferken?“
„Zu Befehl, Madam, was die Kleine iſt, hat ſie ſelbſten getragen.“
„Schön, ich danke Ihnen. Hannchen, gegen Abend wärme im Waſchhauſe das Badewaſſer. Du, Mann, läßt dir wohl von Herrn Drückeferken das nähere über Benedikt Zrovnal berichten.“
„Zu Befehl, Madam Kruſiuſſen, obwohl von dem Krowaten nicht viel Gutes zu berichten ſein wird, indem daß er –“
„Kruſius, nimm doch den Herrn Wachmeiſter mit in die Apotheke. Fränzchen, nun komm, wir werden ſchon unſere Streiche miteinander machen, wir ſehen uns auch mal nach unſerm Jungen um. Ah, da iſt er ja! Fritz!!“
Wütend ließ der Junge die Haustürklinke los und ſchlich in gerechtem Ärger ſeiner Mutter näher. O, wie hatte ihm ſchon die Freiheit gewinkt! Und jetzt war er doch attrapiert! Die Muſik des Angerbecker Schüttenhofes übte um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf die Jugend Angerbecks dieſelbe zauberiſche Wirkung aus, wie im grauen ſagenhaften Altertum das Spiel des Orpheus auf die Delphine und der Geſang der Sirenen auf den vielgewandten Odyſſeus.
Und draußen ertönte jetzt das Bombardon, der Schellenbaum und die große Trommel!
„Nein, mein Söhnchen, mit dem Hypotenuſenquadrate hinten und den Kathetenquadraten vor den Knien auf keinen Fall! Wenn du dich auch nicht ſchämen würdeſt, in ſolchem Aufzuge den Leuten unter die Augen zu gehen, ſo will ich mich doch nicht als Mutter eines ſolch liederlichen Bengels in ihre Mäuler bringen laſſen. Beſieh dir hier vom Fliegenfenſter aus das ganze Hopphe da draußen. Und das Kind, das Fränzchen, möchte wohl auch erſt etwas davon haben, ehe wir in den Garten gehen. Du, Fritz, läßt wohl noch ein Guckloch offen für das neue Schweſterchen.“
Das kleine Mädchen ſtreifte ein bitterböſer Seitenblick, ehe ſich der Sohn des Hauſes in angenommener ſouveräner Gleichgültigkeit auf den Stuhl kniete und mit beiden Ellenbogen ſo breit wie möglich auf die Fenſterbank fläzte. Nichtsdeſtoweniger aber hielt er heimlich Augen und Ohren geſpannt, um ſich durch das Fliegenfenſter vom kommenden Aufzuge nichts entgehen zu laſſen, und glich einem hinter dem Gitter ſeines Käfigs auf Futter lauernden Raubtiere.
Franziska gab ſich alle Mühe, ihre ſchmächtige Geſtalt neben dem breitſpurigen Burſchen womöglich noch ſchmaler zu machen, und blickte, auf den Zehen ſtehend, über ſeinen Arm, ſo gut es ging, hinweg.
Frau Kruſius hatte die Kinder ſich ſelbſt überlaſſen, um in der Offizin dem Berichte Drückeferkens beizuwohnen, konnte aber nichts weiter vernehmen, als deſſen letzten Satz: „Und da ſehen ja ſelbſten der Herr Magiſtrat mit höchſteigenen Augen den Peijaz heranfippern und mit ſeiner Pritſche den Takt zu der Muſik auf die Buckel der Schulpanzen angeben.“
Der Apotheker wollte noch eine Frage ſtellen, aber ein ſchmetternder, dreifacher Tuſch mit Fahnenſchwenken und Hurraſchreien vor ſeiner Haustür unterbrach ihn. „Gott ſoll mich bewahren“, rief Frau Ottilie, „das hat dieſer verrückte Menſch wohl auch angeſtellt? Sieh nur, Tobias, wie er dir mit ſeiner Pritſche ſalutiert! Aber wenigſtens hat er ſich das Geſicht nicht bemalt.“
„Das hat er bloß vergeſſen, Madam Kruſius, ſonſt hätte er’s ſchon gemacht. Aber an dem andern Kram iſt er unſchuldig, indem, was unſer ſtellvertretender regierender Burgemeiſter iſt, ein dreimaliges Hoch zu beanſpruchen hat, bevor der ganze Rummel losgehen kann. Das iſt ſomit die offizielle Eröffnung, Herr Magiſtrat, und ich bitte denn gehorſamſt um Dispens, meiner Pflicht gemäß draußen die Ordnung aufrecht zu halten.“
„Mann, Mann, ſtellvertretender regierender Burgemeiſter, da winke ihnen nur endlich ab mit einem herablaſſenden Gruße, ſonſt wankt und weicht das Volk nicht.“
Der ſtellvertretende regierende Burgemeiſter tat alſo, und der Zug wand ſich weiter.
Fritz ſah mit Grimm durch die Drahtmaſchen des Fenſters den Wachmeiſter aus dem Hauſe gehen und ſich als „rocher von bronze“ der allzu ungeſtüm andrängenden jungen Welt entgegenſtellen. Eine Zornesträne ward heimlich beſeitigt, wodurch der linke Ellenbogen ſich ein ganz klein wenig zu Gunſten Fränzchens verſchob, daß ihr Geſicht dem Fenſter ein bißchen näher kommen konnte. Fritz warf ihr wieder einen Seitenblick zu, etwas von oben herab, aber – ein Kumpan, und wenn es auch bloß dies dumme aufdringliche Geſchöpf war, was hier gar nichts zu ſuchen hatte, war doch beſſer als gar keiner. Wem ſollte er ſonſt imponieren? Der Rohrſitz des Stuhles ächzte wohl einigemal auf unter den bohrenden Knien, aber der junge Lateiner ließ ſich endlich herab, das kleine Mädchen einer Anrede zu würdigen.
„Du, Schloßprinzeſſin, guck da, – Kriſchan Wagener.“ Die letzte Silbe zog er nach. dem Sprachgebrauch der Angerbecker zu einem langen nähr aus. „Höre nur, wie er die erſte Trompete bläſt! Und wie ſie funkelt, ſo eine möchte ich auch haben! Da wollte ich aber tuten, daß ihr euch alle vor mir verkriechen ſolltet! Geige kann ich auch ſpielen, ſchon in der dritten Lage.“
„Hm, das weiß ich wohl. Das lernſt du von meinem Vater. Oh, der kann ſchön ſpielen!“
„Äh, das hätte ich auch ohne deinen Alten gelernt! Geigen iſt überhaupt nicht ſchön. Eine Trompete wäre mir tauſendmal lieber, und Kriſchan Wagener wäre mir auch lieber als dein Alter. – Du, guck, da iſt er! Hahahaha, heute iſt er wieder mal der Pritſchemeiſter mit der Pritſche! Na, mir ſollte er kommen! Mich dürfte er nicht ſo hauen! Hei, wie die Panzen vor ihm ausreißen! Na, na, na, Karl Schaper! Jetzt hat er’n beim Kanthaken, den dummen Bengel! Ich wollte ihm ſchon zeigen, was ’ne Harke iſt, dem Muſche Peijaz!“
Hier wollte Fritzchen dem kleinen Mädchen einen halb triumphierenden, halb mitleidigen Blick gönnen, denn er hatte in dem Vater die Tochter jetzt gründlich niedergeſetzt. Er wollte, können wir nur ſagen, denn der Platz zu ſeiner Linken war leer –; Fränzchen hatte ſich, infolge der ſchmetternden Muſik da draußen unbemerkt, von ſeiner Seite geſchlichen. Empört über ſolches Betragen rutſchte er von ſeinem Stuhle nieder.
Er ließ ſogar die Pionierabteilung mit ihren blanken Beilen und den darauf geſteckten Zitronen und die ganze Büchſenkompanie mit den funkelnden Gewehrläufen und den friedlichen grünen Sträußchen in den ſonſt grimmig dräuenden Mündungen achtlos vorüberziehen und blickte ſich nach der Verſchwundenen um. Was hätte wohl ein Junge noch nicht verpaßt eines kleinen einfältigen Mädchens wegen!
„Donnerküſel, da ſitzt das Lork im Winkel unter dem Blumentiſche auf meiner Alten ihrer geſtickten Fußbank! Und heulen tut es bei der Muſik wie Doktor Kraft ſein alter Phylax, wenn er mich geigen hört! Mach doch, daß du rauskommſt, kriech doch wieder in deinem Schloſſe unter, du, du – Schloßprinzeſſin! Hat dich etwa meine Alte hier hereingeſetzt, daß du mir was vorflennen ſollſt? Wenn du mir man nicht ſo dreckig wäreſt, ich holte dich an den Haaren – –“
„Vorläufig holt dich deine Alte erſt mal, mein Söhnchen!“, tönte es ihm hier wie die Poſaune des Gerichts in und um die Ohren, und Madam Kruſius ſchied die Böcke von den Schafen, ihren heulenden Jungen an die linke und das heulende Fränzchen an die rechte Hand nehmend.
„So, du Ungeheuer, jetzt wieder marſch an deine unterbrochenen Studien! Aber wehe dir, wenn ich zurückkomme, und du biſt nicht fertig! Und wir beide, Franziska, gehen nun endgültig in den Garten. Da, wiſch dir deine Tränen ab, mein Herzchen. Was hat er dir denn getan, armer Schelm? Hat er dich geſchlagen, oder gekniffen, oder geſtoßen?“
Das Kind ſchüttelte nur bei jeder dieſer eindringlichen Fragen unter ſtoßweiſem Schluchzen den Kopf und ſah mit traurigen Augen vor ſich hin.
Fünſtes Kapitel.
Beſuch des Angerbecker Schüttenhofes. Der Apotheker Tobias Kruſius bedauert, nicht auf die Kabeljaujagd gehen zu können, und der Rektor Bartels ſehnt ſich nach der Reitpeitſche des Grafen Schlabrendorf.
Im bisherigen Verlaufe unſerer Geſchichte haben wir uns nur wenig um den Schüttenhof des Städtchens Angerbeck gekümmert und uns den impoſanten Aufzug der Gilde nur – mit Fritzchen Kruſius – durch das Gitterwerk des Gazefenſters betrachtet, ſoweit es uns der Junge geſtattete, natürlich!
Wägen wir Alten ehrlich die Fälle gegeneinander ab, in denen wir uns unſere Jugend mit einem Sehnſuchtsſeufzen zurückwünſchen, und in denen wir mit einem Aufatmen der Erleichterung unſere Kindertage weit hinter uns wiſſen, ſo wird wohl eins dem andern die Waage halten. Des ſind wir wenigſtens froh, aus dem Zeitalter der Examina, der Deklination und Konjugation, der Gleichungen dritten, vierten und höheren Grades und der zerriſſenen Hoſen heraus zu ſein.
Wir können uns im Hinblick auf unſere unteren Gliedmaßen getroſt unter anſtändiger Geſellſchaft blicken laſſen, ohne befürchten zu müſſen, daß die Angerbeckſchen Gaſſenbengel, denen der alte Juvenalis mit ſeinem Maxima debetur puero reverentia völlig Hekuba iſt, hinter uns her Rübchen ſchaben und mit ihrem niederträchtig ſpitzen „Zip, zip, zip!“ uns in überwältigendem Schuldbewußtſein die untere Hälfte unſerer Kehrſeite verſtohlen mit beiden Händen befühlen und gegebenen Falls die ärgerliche Stelle bedecken laſſen.
Wir übergeben Fritzchen alſo vorläufig ſeinem Schickſale und miſchen uns am ſpäten Nachmittage unter das große und kleine Volk auf der Schießwieſe am Angerbache. Nicht bloße Neugierde treibt uns in das bunte Gewühl, das wir ſonſt ungern mit unſerer ſtillen innerbeſchaulichen Häuslichkeit vertauſchen.
Gleichwie der Herr Wachmeiſter Drückeferken von Amts- und Berufswegen bald im Schankzelte Karl Sanders’, bald vor dem Karuſſell Chriſtian Göhmanns, bald vor dem Pulcinellenkaſten oder den Verkaufsſtänden für Honigkuchen und Pfeffernüſſe auf Ordnung und Recht zu ſehen hat, ſo führt auch uns als gewiſſenhaften Geſchichtenerzähler unſer Beruf hier hin und dort hin, und den Stoff für das vorliegende fünfte Kapitel liefert uns recht zwanglos der Schützenhof von Angerbeck.
Wir können ihn jetzt recht bequem betreten, was dem aus dem Städtchen zurückkehrenden Feſtzuge nicht ſo leicht geworden war. An dem zu beiden Seiten des Einganges aufgetürmten alten Gerümpel erſehen wir, daß die Pioniere keine leichte Arbeit gehabt haben, die à la mode de Paris erbauten Barrikaden aus dem Wege zu räumen.
Die findigen Schlauköpfe unter den anwohnenden Angerbecker Pfahlbürgern wußten ſehr wohl die Sitte zu ihrem Vorteile auszubeuten. Im Dunkel der voraufgehenden Nacht ſchleppten ſie mit Weib und Kind auf Handwagen und in Schürzen, in Handkörben und Kiepen alles herbei, was ihnen zuhauſe hinderlich geworden, und ſparten ſo wieder auf ein Jahr den Abfuhrlohn. Denn die Väter der Stadt konnten es mit ihrer Würde und ihrem Amte natürlich nicht vereinen, den lichtſcheuen Abraum, die verroſteten Ofenrohre, die von Holzwürmern wimmelnden Kiſten und Bettladen, die invaliden Tiſche und Stühle, die zerbrochenen Waſchbecken und andere noch intimere und nicht für die breite Öffentlichkeit taugende Wirtſchaftsgegenſtände, länger als bis zum Montag Mittag im hellen Tageslichte liegen zu laſſen. Dieſe mußten alſo auf gemeine Koſten beſeitigt werden.
Als erſtes Schau- und Zugſtück hinter der durchbrochenen Barrikade prangt das Karuſſell Chriſtian Göhmanns aus Hameln. Mit ſeiner mächtigen Drehorgel inmitten der Sammet- und Perlenbehänge lockt er die Knäblein und Mägdlein heute gerade ſo an, wie einſt am 28. Juli eintauſendzweihundertneunundfünfzig ſein berühmter Landsmann, der Pfeifer.
Jetzt läßt er den Schützen zu Ehren, deren Schüſſe vom hinteren Ende der Wieſe herüberknallen, die ſehr beliebte Schweizerarie los, und die hoch zu Roß herumgewirbelten Jungen brüllen in Verzückung den Text dazu:
„Wenn die Büchſen, Büchſen knallen
und die Schweizermädchen fallen
in der Schweiz, in der Schweiz, in Tiro–o–ol.“
Chriſtian Göhmann ſelbſt ſteht in höchſteigener Perſon auf einer Stellleiter und ſchaukelt die mächtige gelbe Holzbirne an ihrer Kette hin und her, es den ausgeſtreckten Händen der Reiter möglichſt erſchwerend, den an Stelle der Blüte in der Birne ſteckenden Eiſenring im Vorbeiſauſen zu erhaſchen als Preis für einen Freiritt.
In der zunächſt aufgebauten Schießbude ſtrecken uns zwei reizende Dianen mit einladendem Lächeln ihre Windbüchſen entgegen, die in ungeheurer Menge maleriſch gruppierten Tonpfeifen gegen Entrichtung eines preußiſchen Dreiers unſerer Zerſtörungswut großmütig überlaſſend. Wir machen keinen Gebrauch von ihrer Güte, ſondern gehen, nicht wenig geſchmeichelt durch ihren Anruf: „Kommen Sie mal her, Sie Hübſcher!“ weiter. Wir verſagen uns auch den Genuß des leckeren Braunſchweiger Honigkuchens, der uns von einer dicken weißgeſchürzten Bäckerfrau angeprieſen wird, denn wir ſehen uns im weiteren Verlaufe unſerer Geſchichte veranlaßt, in Karl Sanders’ Schankzelte ein Glas Bier mitzutrinken, und möchten uns in unſern dortigen Betrachtungen nicht gern durch irgendwelches Unbehagen ſtören laſſen.
Das Kasperletheater erweiſt ſich ebenfalls für die Jugend ſehr anziehend. Knaben und Mädchen geben ſich vor ihm einem reinen, von keiner Kritik beeinträchtigten Kunſtgenuſſe hin, empfinden am Deubel und ſeiner Großmutter ein äſthetiſches, mit Gruſeln gewürztes Behagen und jauchzen dem Benefiziaten, dem trotz ſeiner zwei Höcker nie tot zu kriegenden Polichinell begeiſtert zu.
Strahlenförmig, wie Eiſenfeilſpäne um den Magnet, ballen ſich um einen Tiſch, der an den Flachsrotten des Angerbaches auf dem Steindamme ſteht, die großen Kinder Angerbecks und der Umgegend. Auf ihm treibt der „billige Jakob“ aus Sachſen ſein Weſen, der hier in unſerer Erzählung zum erſten, aber nicht zum letzten Male auſtritt. Er hat literariſche Kenntniſſe und gibt die in ſein jetziges Geſchäft einſchlägigen an:
„Kauft Band und Spitzen,
Schnür’ an die Mützen!
Mein Hühnchen, meine Kleine da,
Auch Zwirn und Seide
Und Kopfgeſchmeide,
Die neuſte War’, ganz feine, ja!
Wer nur dem Krämer
Geld gibt, da, nehm’ er,
Der ganze Pack iſt ſeine, ha!“
Und:
„Nadeln, Zeug in Woll’ und Seiden,
Sich von Kopf zu Fuß zu kleiden.
Kauft, Burſche, daß ich Handgeld löſe!
Kauſt, kauft, ſonſt wird das Mädchen böſe!“
Darauf fällt er in Proſa und den Dialekt ſeiner Heimat: „Eene Keldpärſche aus Krokodillenleder, direkt und pärmidal billig bezogen aus Said Paſcha’n ſeinen verauktſchonierten Nachlaß – finf Neigroſchen! S’is, weeß der Herre, kee Geld. Pei uns in Annaperk gewen ſe merſch Dreifache drfür. Na, meine Sach werd beh a beh miet alle, ich verkoofe heite untern Breis! Vier gute Groſchen! He, Sie Kleene, tun S’es Ihrem Gottlieb ſchenken, ’ne greßere Freide kennen S’en nich ahnrichten, als wenn ’r aus den ſcheenen Täſchel for ſei ſcheenes Lieſel äne Bratworſcht ſchmeißen kann! Na, iche bin nich eſo, hier ham S’es fir viertehalb! Danke ſcheenſtens! Weitähr! En Baar Huſenträcher, was Feines! Was, Sie tun’s woll nich glooben? Sonſten wären ſe doch nich in Seidenbabier eigewickelt! Mitſamt den Seidenbabier ſechs gute Groſchen, weils nu bald Matthäi am letzten is, ’s wärd awwer ooch Zeit, ſonſt mauſen ſe mr’ſch ganze Gelump in’n Finſtern. Wollen’s Geſchäft zur Perfektſchon bringen, Nachbar! De Leit werden’s Maul aufſchperrn, wenn Se ſich zeigen tun mit die feine Schtickerei! Scheenſten Dank! Reißen Se ſe geſund ab! Weitähr, daß’s vollends alle werd! Heit obnſt muß ’ch noch in’n vierten Akt den Autolicus machen bei Herrn Direktor Xylander dorte driben in der Muſenbude. Uf’n Zettel dorte kennt ’rſch leſen: Autolicus, ein Schpitzbube. Ein Baar goldne Manſchettenkneppe for zwee gute Groſchen! Noch nie dageiweſen! Weck damit! Danke gehorſamſt! Mein Handelszweig iſt Hemden, wenn erſt der Habicht baut, ſo ſeht nur auch nach der kleinen Wäſche.“
Doch laſſen wir jetzt den „billigen Jakob aus Sachſen“ ſeinen Warenvorrat allein aufräumen, da wir uns doch noch öfter mit ihm zu beſchäftigen haben werden, wir wollen Karl Sanders verſprochenermaßen in Nahrung ſetzen.
Die aus grünem Birken- und Buchengezweig gebildeten Wände des Schank- und Tanzzeltes ſind ſo dicht, daß die Dämmerung in dem weiten Raume ſchon durch die von der Decke herabhängenden Solaröllampen erhellt werden muß. Auf dem Muſikantenplatze hebt Kriſchan Wagener ſoeben ſeinen Fidelbogen zum Zeichen, daß ein neuer Tanz das junge Volk, das noch ganz erhitzt vom letzten verſchnauft, von neuem auf die Beine bringen ſoll. Bei den erſten Takten einer wütenden Tempête retten wir uns noch rechtzeitig vor einer Havarie in das Hinter- und Honoratiorenſtübchen, deſſen Wände ganz aus Brettern gebaut und ſogar mit einigen Glasfenſtern verſehen ſind. Der Tumult draußen wird wohltuend dadurch abgeſchwächt und gleicht dem einförmigen Wellenſchlag des Meeres, der den Paſſagier hinter den ſicheren Planken des Schiffes in ein gewiſſes Behagen verſetzt.
Soeben zündet auch hier ein Lohnkellner die Lampe über dem großen runden Tiſche und dem Ölflecke in der Mitte desſelben an, und ihr Licht fällt auf einen Gaſt, der als der einzige an beſagtem Tiſche Platz genommen hat. Es iſt ein älterer Herr, etwas hager und vornüber geneigt. Die beiden Bartſtreifen, die ſich an den Seiten des ſonſt glatt raſierten Geſichts hinunterziehen, ſpielen ſchon ſtark ins Grau, aber die Augen blicken durch die Brillengläſer jung aus dem faltenreichen Antlitze.
„Wünſchen der Herr Rektor ein Gläschen Bier?“
„Jawohl, Bertram, aber nicht geſpritzt, wenn ich bitten darf! Und einen Hering!“
An der Tür zum Schanktreſen blieb der Kellner ſtehen, denn ein neuer Gaſt konnte zugleich befriedigt werden. „Und Sie, Herr Magiſtrat?“
„Na, natürlich ein dito und einen Hering! Sine Cerere et Libero friget Venus, ohne Eſſen und Trinken erkaltet die Liebe, nicht wahr, Herr Rektor?“
„Nach dem, was ich heute nachmittag von Ihnen und Ihrer Frau gehört habe, wohl ſchwerlich. Aber jetzt ſtellen Sie meine Freundſchaft allerdings auf eine harte Probe! Herr Apotheker, Sie zitieren da kaltlächelnd den Eunuch des Terentius Afer, als ob ich mir auch ohnedies nicht ſchon als ein Verſchnittener, Unmännlicher vorkommen müßte! Denken Sie ſich –“
„Ach, Rektor, ich denke mir auch ſchon genug in dieſer Beziehung, zumal ich mir davon auch mein Teil nehmen kann, wie meine liebe Ottilie mir heute unter der Hand zu verſtehen gegeben hat. Ihr Wohl, Herr Rektor, rezipieren wir aus dieſem deliziöſen Allersheimer Lebenselixier neue Männlichkeit!“
„Ja, wenn das ſo leicht ginge! Sie haben gut reden, Apotheker, für Sie bedeutet die Urſache meiner Depreſſion den künftigen Aufſchwung Ihres Geſchäfts, das Anzeichen der Wünſchelrute, den erſten Spatenſtich zur Teufe Ihrer Goldgrube!
„Ah, jetzt verſtehe ich, Sie meinen den nun wirklich beginnenden Bahnbau?“
„Den meine ich. Was alle Welt mit Freuden begrüßen wird, worauf auch ich mich wie ein Kind freute, denn ich dachte nur an die leichte Erreichung meiner botaniſchen Jagdgründe, daraus muß mir nun eine Bitterkeit entſpringen, gegen die Ihre Picropegae die reinen Limonaden ſind!“
„Und hoffentlich auch noch von beſſerer Wirkung“, warf Herr Kruſius lächelnden Mundes ein, „gegen alle böſen Flüſſe.“
Der Rektor war aufgeſprungen und fuchtelte mit Armen und Beinen im Honoratiorenſtübchen Karl Sanders’ umher. „Die Hetzpeitſche des Grafen Schlabrendorf fehlt!“, murmelte er zwiſchen den zuſammengebiſſenen Zähnen hindurch.
„Was ſagen Sie da, Herr Rektor?“
„O nichts, mein Beſter. Der Menſch gewöhnt ſich eben an alles. Sehen Sie, bekommen wir da geſtern auf der Landeskonferenz von unſerer hohen fürſtlichen Schulbehörde den Befehl, die uns anvertraute Jugend über die Gefährlichkeit der Bahnübergänge aufzuklären!“
„Hahaha, und deshalb ſehen Sie ſo ſauertöpfiſch drein? Ich finde beim beſten Willen nichts dabei. Kommen Sie und ſetzen Sie ſich endlich. Ich habe aus Höflichkeit auf Sie gewartet, aber länger widerſtehe ich dem Lächeln dieſer ſchönen Heringsſeele nicht.“
Der Rektor ſetzte ſich und zerwürfelte in nervöſer Haſt eine Zwiebelſcheibe.
„Die Sanderſen hat das Gewürz gut getroffen, meinen Sie nicht, Rektor?“, fragte der Apotheker, mit der Zunge ſchnalzend.
„Spaniſcher Pfeffer, Herr Kruſius, der das Blut vergiftet, den ich aber gebrauche, beim Hinabwürgen meines Grimmes meine Geſchmacksnerven zu betrügen!“
„Aber Sie ſitzen doch hier recht gut aufgehoben, mitten auf dem Schüttenhofe Angerbecks, haben Ihre ſchöne Freizeit, –“
„Sitzen Sie etwa nicht auch hier, haben Sie etwa weniger Freizeit?“
„Allerdings, da haben Sie recht, das weiß der liebe Gott!“, ſeufzte Herr Tobias Kruſius.
„Geht Ihr Kollege in Altendorf nicht alle Tage auf die Jagd, außer der Schonzeit für Tiere und Patienten, und läßt die Rezepte von ſeinem alten erfahrenen Dienſtmädchen machen? Sie könnten bei der Klugheit Ihrer werten Frau Gemahlin getroſt auf den Kabeljaufang außer Landes gehen und Ihren offizinellen Lebertran als großer Medizinmann ſelbſt aus Labrador holen, wenn Ihnen Ihr etymologiſches Steckenpferd zum Glück nicht kommoder erſchiene. Wem aber die Sprachwiſſenſchaft nicht ein ſolches iſt, auf deſſen Rücken er ſich luſtig tummeln kann, ſondern eine Milchkuh, unter der er gebückt ſitzen muß, und die ihm auch mal verſehentlich oder aus Chikane mit dem Schwanzpinſel unter der Naſe herſtreicht, dem kommt ſie doch verflucht ſteril vor wie Pharaos Traumgeſichte zweiter Folge!“
„Hm, ja, wenn man doch auch nicht mit alt würde“, ſagte Herr Kruſius. „Es könnte mich wahrhaftig reizen, auch hier das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich doch vielleicht Ihren Vorſchlag zur Ausführung bringen. Von dem Idiom der Eskimos habe ich bisher nicht den blaſſeſten Dunſt.“
„Wie von ſo manchem nicht, wovor der Himmel Sie gnädig bewahrt hat“, knurrte der Rektor. „Caesar non supra grammaticos. Aber hätten Sie unſerer geſtrigen Landeskonferenz beiwohnen müſſen, Ihre beneidenswerte Schwungkraft und Naivität wäre für den Reſt Ihres hoffentlich noch recht langen Lebens vollſtändig ruiniert.“
„Wie ich mir ſchon zu bemerken erlaubte, Herr Rektor, ſcheinen Sie mir doch die Sache zu ſchwarz anzuſehen.“
Da Rektor Bartels auf ſeinem Teller nichts mehr vorfand, woran er ſeinen neu aufſteigenden Grimm verbeißen konnte, ſprang er abermals auf, um im Honoratiorenſtübchen des Sandersſchen Zeltes ſich auszulaufen, ſo gut das ging.
„Bertram, noch einen Schoppen! Zu ſchwarz anzuſehen! Sie ſchwimmen ja nur auf der Oberfläche wie der Tropfen Roſenöl in Ihrer Deſtille! Aber tauchen Sie unter in die Grundſuppe, Herr Apotheker, ziehen Sie die Kröte aus dem Schlamme, und Sie werden mit Schaudern ſehen, wie ſich’s regt in dem furchtbaren Höllenrachen! Da iſt zuerſt das Regierungskollegium –“
„Ihr Wohlſein, Herr Rektor!“
„Na ja, proſt, – aber wenn Sie ſich etwa über mich luſtig machen wollen, kann ich auch ſehr gut ſchweigen! O das lernt man famos!“
„I bei Leibe nicht! Alſo zuerſt das Regierungskollegium –“
„Mit ſeiner Bahnverwaltung, allerdings. Da heißt es ſparen, ſparen, ſparen! Die Weichenſteller, Bahnwärter, Schlagwärter werden ausgenutzt bis zum Omega, müſſen für drei arbeiten und ſich mit halbem Lohn begnügen. Und geſchieht infolge ihrer Übermüdung ein Unglück, kriegen die armen Teufel wieder alles auf die Kappe und müſſen brummen. Schadenerſatz aber können ſie doch nicht leiſten. Darum, und nur darum, müſſen Unglücksfälle möglichſt vermieden werden. So wird das Konſiſtorium zu Hilfe gerufen, wir werden kommandiert, die kommenden Geſchlechter zu der Weisheit heranzuziehen, daß es nicht gut tut, ſich vor ein heranſchnaufendes Dampfungeheuer zu pflanzen! Herr Kruſius, hinter dieſe Philoſophie ſind ſchon die wilden Büffel vor der neuen Bahn drüben in der amerikaniſchen Prairie gekommen, und zwar ſehr bald! Am liebſten aber ſtellte das hohe Konſiſtorium uns ſelbſt an die Barrieren, um auch noch die Warnungstafeln zu ſparen! Und für wen wird geſpart? Etwa für die Bahnbeamten oder für uns? Das glauben doch Sie nicht einmal, harmloſer Jüngling! Darüber will ich mich auch nicht ereifern, das iſt man gewohnt. Aber daß dies heuchleriſche Weſen ſich noch in den Schafspelz hüllt, uns in väterlich beſorgter Weiſe das leibliche Wohl der Jugend und der künftigen Staatsbürger auf die Seele bindet, in dies lächerlich pedantiſche Verordnungswurſtblatt eingewickelt, das iſt die reine Niedertracht! Und da müſſen wir ſtille ſitzen und dankbar kopfnickend noch ein Dutzend gute Belehrungen in den Kauf nehmen, wie die Sache am wirkſamſten anzugreifen ſein dürfte. Und über den Empfang quittieren wir mit unſerm ſchimpfierten Namen auf dem Giftſcheine der Präſenzliſte! O Menſchenwürde!“
„Hm hm hm! Im Grunde genommen haben Sie nicht ganz unrecht. Und wir kriegen ſie in Angerbeck nicht einmal zu ſehen, – die Bahn meine ich natürlich.“
„Was? Die Bahn nicht zu ſehen?“
„In den heutigen Anzeigen ſteht’s, ſie wird über Waldhauſen nach Altendorf geführt. Wir hier in Angerbeck bleiben hübſch in der goldenen Mitte, integer vitae scelerisque purus.“
„Die Bahn nicht einmal zu ſehen? Alles für ein Nichts?“
„Ihre famoſe Goldgrube zerfließt, eitel Fata Morgana. Und die Sorge, unſere Kapitalien mündelſicher anzulegen, bleibt uns bis auf unſere Kinder im dritten und vierten Gliede glücklich erſpart. Meine verehrte Kundſchaft in Waldhauſen wird in Zukunft die bequemere Verbindung nach Altendorf benutzen, und meines dortigen Kollegen Weizen wird blühen.“
„Und ſein erfahrenes Dienſtmädchen muß ſich noch eine Gehilfin nehmen, die Mixturen zuſammenzubrauen. O Sie Ärmſter! Und wer hat das zuwege gebracht?“
„Mein Reviſor“, ſagte Herr Kruſius, ſich ſtolz in die Bruſt werfend.
„Der von Spitznas, der Schweinehund?“, ſtieß der Rektor grimmig heraus, erbleichte auf einen Augenblick und ſtarrte den Apotheker an, ſich mit beiden Händen auf die Tiſchkante ſtützend.
„Pſt! Sie alter Achtundvierziger! Ja, der Herr Medizinalrat von Spitznas hat Sitz und Stimme im Landesausſchuß für Volksökonomie.“
Der Rektor trat zurück und führte mit geballter Fauſt einige wuchtige Hiebe durch die Luft.
„O Schlabrendorf, mein Friedrich“, murmelte er wieder, „alter Junge, hätten wir dich und deine Reitpeitſche noch hier, ſie täte wieder einmal not!“
Ein ungewöhnliches Anſchwellen des Lärms draußen lenkte ihn von ſeiner Sehnſucht nach der rätſelhaften wohltätigen Peitſche ab. Die Tür ſprang auf, und hereingeſtrömt kamen die Schützen Angerbecks, auf ihren kraftvollen Schultern den neuen Schützenkönig, den Schneidermeiſter Wehrbein, tragend.
Der Apotheker legte ſeinem Freunde die Hand auf den Arm und flüſterte ihm zu: „Herr Rektor, Ihre Geſellſchaft in Ehren. Aber ich ſäße jetzt lieber anſtatt unſeres regierenden Burgemeiſters im Moorbade, Schlamme, Schwefelpfuhle oder Fegefeuer, als hier auf dem Schüttenhofe zu Angerbeck als ſein Stellvertreter. Sehen Sie ſich nur dieſen König an! Was ſeine Kumpane und Untertanen zu ausgelaſſen ſind, das iſt er gedrückt und geknickt. Denkt er daran, wie teuer ihm ſein Meiſterſchuß noch zu ſtehen kommen wird? Und ſolchem Leichtſinne habe ich amtlich die Exiſtenzberechtigung zu erteilen gehabt!“
Zwiſchen dem Tumult des Zurufens und ‑trinkens hindurch vernahm man auch recht oft den Namen des Böhmen Zrovnal, der als Zielwart getreulich bis zum Ende des Schießens die Punkte angezeigt hatte. Die allgemeine Anſicht ging dahin, daß er ein ausgemachter Lump und es ſchade ſei, ihn nicht kurzer Hand ausweiſen zu dürfen, da er das Heimatrecht erworben habe.
Unſere beiden Herren räumten den neuen Gäſten bereitwilligſt das Feld. Mitten auf dem jetzt faſt leeren Tanzboden hielt der Rektor den Apotheker am Ärmel zurück. „Sie haben da meiner Sophie und mir einen Stein vom Herzen genommen, wie ich gehört habe. Glauben Sie, geſtern abend konnten wir nicht einſchlafen und heute morgen haben wir lange Rat gehalten, ob wir nicht zu unſerm Häuflein noch ein Sechſtes ins Neſt nehmen ſollten. Aber wir hätten es doch ſchwerlich ausführen können! Und nun haben Sie es getan, und der liebe Gott möge es Ihnen und Ihrer lieben Frau geſegnen, was Sie an der kleinen Zrovnal –“
„Es genügt, es iſt gut!“, rief der Apotheker Tobias Kruſius und entzog dem Rektor ſeine Hand, die dieſer wie ein Folterknecht umklammert hatte. „Helfen Sie uns lieber, das Kind zu erziehen, wie ſich’s gehört.“
„Das will ich, das will ich, obwohl Frau Ottilie ihren Weiſen von Ifferten nicht umſonſt auf ihrem Schoße und unter ihrem Strickſtrumpfe gehalten hat.“
An dem Zeltausgange machte ihnen der, deſſen Lob drinnen in ſo menſchenfreundlicher Weiſe geſungen ward, höflich Platz. Mit dem ſächſiſchen Händler, der ſich inſofern in einer Art Zwiſchenzuſtand, einem weſenloſen Sein, befand, als er den „billigen Jakob“ aus-, den ſpitzbübiſchen Autolicus aber noch nicht angezogen hatte, ſtand der Böhme Benedikt Zrovnal im Geſpräche und Hand in Hand.
Herr Kruſius nahm ſich ſeinen Stößer für einen Augenblick auf die Seite und folgte dann dem langſam voraufſchreitenden Rektor. „Was meinen Sie zum Beſuche des Theaters, Herr Bartels? Wir ſollten uns und unſern Frauen den Genuß des Wintermärchens nicht entgehen laſſen, zumal den armen Teufeln von fahrenden Leuten eine größere Einnahme wohl zu gönnen wäre. Der Direktor hat Heute ſein Benefiz, außerdem kann ich als ſtellvertretendes Stadtoberhaupt nicht wohl fehlen. Es wird vielleicht für Sie eine vergnüglichere Sitzung als Ihre geſtrige Konferenz.“
„Das wird ſie auf jeden Fall, auch wenn die Akteure aus dem Wintermärchen eine Tragödie machten! Und dann erſt recht! Topp, wir kommen. Haben Sie ſchon Einlaßkarten?“
„Ja ja“, ſeufzte der Magiſtrat ſchwer, „reichlich verſehen!“ Als ihn ſein Gefährte ob dieſer Antwort verwundert anblickte, gab er die klägliche Erklärung: „Ich konnte doch dem Direktor – Xylander nennt er ſich wohl, heißt alſo gewiß Holzmann oder ſo ähnlich – kein bares Geld für ſtädtiſche Abgaben und Standgebühren abnehmen, habe mich ins Abonnement tun laſſen müſſen.“
„Na, wenn der Burgemeiſter ſeine Badekur in Pyrmont noch um vier Wochen verlängern ſollte, ſo fürchte ich, daß Sie –“
„auf Ihre alten Tage noch ein liederlicher Kerl werden und vollends verkommen, wollten Sie wohl ſagen.“
Eigentlich hatte ja der Rektor etwas anderes gemeint, ließ aber den Apotheker bei ſeiner Annahme.
Sechstes Kapitel.
Benedikt Zrovnal erneuert eine alte Bekanntſchaft und träumt von der „Goldenen Gans“.
Der Böhme Benedikt Zrovnal fühlte ſich doppelt unglücklich und überflüſſig, nachdem er ſich der Pflichten eines Luſtigmachers und Zielers entledigt hatte. Was ihm nach dem Verluſt ſeines Weibes noch an Lebensfreude und ‑intereſſe übrig geblieben war, das hatte er teils der Frau in der Apotheke übergeben, teils durch ſein eigenſinnig närriſches Gebaren von ſich geſtoßen. Denn er fühlte wohl, daß er die mitleidige Teilnahme der Angerbecker, die ihn nicht ſchlechthin als Lumpen verurteilt, auch noch in Verachtung umgewandelt hatte.
Niemand, auch der derbſte Pferdeknecht nicht, hatte ihn zu den landläufigen Späßen herangezogen, für die er doch von Amtswegen da war. Auch der verſoffenſte Muſikant hatte ihm keinen Schnaps angeboten. Er hätte ja dem gütigen Spender ſchaudernd den gefüllten Fauſtpinſel aus der Fauſt ſchlagen müſſen. Aber immerhin! Warum es nicht geſchehen war, das war ihm doch nicht ganz gleichgültig.
Ekel vor der bunten Welt, zwiſchen der und ihm die ſchwarze Lade ſeines Weibes ſtand, und die ihn doch eng umgab, wie die bunten Lappen ſeinen Leib, ergriff und ſchüttelte ihn, daß die kleinen Schellen ſeiner Narrenkappe höhniſch klirrten. Am liebſten wäre er davon gelaufen, zurück in ſein traurig Schloß, an die Seite ſeiner Marie, die dem allen, was ihn noch beengte, ihm den Atem zu erſticken drohte, enthoben war. Am liebſten wäre auch er untergekrochen im weitbauchigen Deckel ihres Ruhebettes, daß er nichts mehr ſähe und hörte.
O einen Talisman vor dem Leben, das ihm überdrüſſig geworden, hatte er ja im Schranke, der neben dem Sarge ſeines Weibes ſtand, verborgen. Er war wirkſam, denn auf den alten Apotheker Kruſius konnte man ſich unter allen Umſtänden, auch den ſchwierigſten, verlaſſen, wenn ſonſt ſeine Remedia noch wirken konnten.
Aber der Gedanke an die ſchweigende Majeſtät des Todes im kleinen, ſtillen Häuschen, im nächtlichen Dunkel; hielt ihn auf, und verſtohlen ſchlug er ſich ſeitwärts – um die Ecke des luftigen Muſentempels, der jetzt nach Beendigung des Schießens und der rauſchenden Vergnügungen zu ſeinem Rechte kommen ſollte, und vor dem in großen Buchſtaben das einladende Plakat des Direktors Theophil Xylander prangte mit der Ankündigung des Wintermärchens.
Benedikt Zrovnal mußte ſich dicht am Tiſche des „billigen Jakobs“ vorbeidrücken und bemerkte nicht, wie dieſer plötzlich in ſeiner Beſchäftigung, den kleinen Reſt ſeiner Sachen zuſammenzupacken, innehielt, als der helle Schein der vor dem Theatereingange angezündeten Lampen auf das Geſicht des ſcheu Vorbeihuſchenden fiel.
Der Steindamm am Rande der Flachsrotten hinter den Zelten war einſam, trotz der Nähe der lärmenden Menge weltabgeſchieden. Und hier ſetzte ſich Benedikt nieder, barg den Kopf in beide Hände und ſtützte die Ellenbogen auf die Knie, daß die langzipflige Schellenkappe und die ſträhnigen Haare ſich über das ſtille, ſchwärzliche Waſſer hinauslegten, und daß der alte Poggenkantor, der in tiefem Baß melancholiſch den aufgehenden Mond anſang, erſchrocken ob der ſonderbaren Erſcheinung ſeine Schallblaſen jäh in Ruhe ſetzte.
Nur eine kurze Weile ſtarrte Benedikt vor ſich hin und ließ ſeinen Tränen freien Lauf über die Wangen hinab. Denn jetzt erſchallten haſtige, ſcharfe Schritte auf dem Pflaſter des Uferrandes, und den Daſitzenden erfaßten von hinten zwei Arme, daß er beſtürzt auffuhr und die kleinen Schellen auf ſeinem zurückgeworfenen Haupte wieder einen ſchrillen Klang gaben.
„Weeß Tneppchen, er iſt’s! Er lebt! Benedikt Zrovnal, du hier! Und in dieſer närriſchen verrickten Montur! Ei, du verhauene Nudel! Es geht doch närgends närriſcher her als uf der Welt! Menſchenkind, glotz doch eenen nich ſo geiſtesverſteert ahn, kennſt de denn den Alwin Pfitzner aus Annaberk nich mehr, der dich gleich uf den erſchten Blick wekhatte! Ich gloobe gar! Vor Rihrung zu heilen brauchſte nu grade nich, Bruderherz! Ich bin ooch ohnedem iwerglicklich, dich wieder in meine Ärme ſchließen zu kennen! Wie kommſt du hier nach Angerbeck? Warum hawwe ich dich nich eher geſähn un bin doch ſchont ä Wochener dreie da!“
„Alwin, Alwin Pfitzner aus Annaberg!“, ſtammelte der Bajazzo von Angerbeck, überwältigt, betäubt, und wiſchte ſich zunächſt mit ſeinem Ärmel die Tränen aus dem Geſichte; dann erhob er ſich und lehnte ſich mit dem Rücken an die Zeltwand.
„Nu äben der Alwin Pfitzner aus Annaberk, der Zachäus auf allen Kirchweihen! Heite der billige Jakob aus Sachſen und der ſchuftige Autolicus im Wintermärchen in eener Perſchon. Aber jetzt bin ich außer Dienſten. Ich habe allen meinen Plunder verkauft.
‚Doch ſollt’ ich deshalb trauern, mein Schatz?
Der Mond bei Nacht ſcheint hell,
Und wenn ich wandere von Platz zu Platz,
Dann komm ich zur rechten Stell!‘
Wie meent der junge Schäfer gleich iwer mir? Er treibt ſich auf Kirchmeſſen, Jahrmärkten und Bärenhetzen herum. Haſt es itze kapiert, Benedikt Zrovnal aus Preßnitz in Behmen?“
„Ja, ja, es freut mich ſehr, Alwin, dich wiederzuſehen –“
„Aber?“, fuhr der Sachſe in demſelben gedehnten kühlen Tone fort, aus dem er etwas herausgefühlt hatte, das ihm wie eine Abweiſung klang.
„Aber du kommſt mir gerade in einem Augenblicke über den Hals, wo ich am liebſten – Alwin, ich ſage es dir ehrlich – allein geblieben wäre.“
„Oho! Das muß ja ein ſchöner Grund ſein, der dich deinen alten Kumpan aus dem Gebirge nicht willkommen heißen läßt! Wenn du ſo gebildet norddeutſch ſ‑prichſt, ſo muß ich mich ja wohl auch mit meinem ehrlichen, aber einfältigen Gebärgſch vor dir verſ‑tecken. Ich kann auch hochdeutſch ſ‑prechen, bin nicht bloß der billige Jakob und Ausſchreier von vorhin, ſondern ſ‑piele heute abend da drin einen Bären, zu welcher Rolle ich infolge meiner tagsüber erworbenen Heiſerkeit vortrefflich paſſe, diverſe Leute aus dem Volke, den ſchlauen Autolicus und ſogar einen Herrn vom Hofe. Siehſt du nicht die Hofmanier in dieſer Umhüllung? Hat mein Gang nicht den Hoftakt? Strömt nicht von mir Hofgeruch in deine Naſe? Beſtrahle ich nicht deine Niedrigkeit mit Hofverachtung? Denkſt du, weil ich mich in dein Anliegen hinein vertiefe und es aus dir herauswinden möchte, ich ſei deshalb nicht von Hofe? Ich bin ein Hofmann von Kopf zu Fuß! Iſt dir das zu gering, dir in deiner Narrenjacke?“
„Ach, Alwin, ich ſehe, du biſt immer noch der Alte“, erwiderte Benedikt mit einem trüben Lächeln, „und du ſetzeſt bei mir dasſelbe voraus. Aber ich bin’s nicht mehr, ich kann’s nicht mehr ſein –“
„Und auch nicht wieder werden, wie ich merke“, fügte voller Geringſchätzung der Sachſe dazu.
„Haſt recht, Alwin, auch nicht wieder werden, nach allem, was ich erlebt habe, ſeitdem wir uns nicht mehr geſehen. Meine Frau –“
„Hoho! Aus dem Loche pfeift der Wind! Hätte mir’s eigentlich denken können. Alte Freunde und junge Frauen, keiner kann dem andern trauen. Alſo ein glücklicher Ehemann biſt du?“
„War ich einmal, Alwin.“
„Hahaha! So ſind wir ſchon über die Flitterwochen hinweg, und du getrauſt dir nicht, deiner Frau Gemahlin mit dem alten Kumpane, dem leichtlebigen Alwin Pfitzner aus Annaberg zu kommen! Du willſt mir’s nicht antun, mich von ihr von deiner Schwelle weiſen zu laſſen?“
„O Alwin, von der Schwelle wird ſie dich nicht weiſen, ſondern ſich deinen Beſuch in der Stube ſehr ſtille und geduldig gefallen laſſen, wenn – du nicht doch etwa dir die Schwelle vorziehſt. Aber Bohu žel –“
„Ei ſieh, dein Böhmiſch haſt du doch nicht ganz darüber vergeſſen! Nun kein Aber, Benedikt! Sizilien kann Böhmen nie genug Huld erweiſen, ich werde dem Könige von Böhmen Polyxenes, wie mein klaſſiſcher Chef Gottlieb Hölzchen dich jetzt nennen würde, den ſchuldigen Beſuch abſtatten und bin begierig, ſeine Königin zu begrüßen!“
„Gut, Alwin, wenn du darauf beſtehſt, ſo begleite mich nach Hauſe, mein Dienſt iſt aus, und du tuſt mir – wenn ich’s recht bedenke – doch eigentlich einen Liebesdienſt damit, denn allein traute ich mich nicht heim – vor mir ſelber“, ſetzte er leiſe hinzu.
„Hurra! Benedikt Zrovnal! Itze geht mer än Inſeltlicht uf!“, fiel Alwin Pfitzner in ſein vertrauensvolles Sächſiſch zurück. „Du meenſt, wenns de heem kommſt, brauchſte deine liewe Frau nich zu unterhalten, indem daß ſe das Wort alleene fiehrt! Un daß de nor eenen haſt, den de da als Kanonenfutter vorſchieben kannſt, da derzu komme ich dir gerade recht in den Wurf. Na, nor keene Bange nich, der Alwin Pfitzner hat ſchont andere Aufgaben geleeſt un noch beeſere Drachen getetet. Awwer, eene Hand wäſcht die andere. Soll ich dir än Liewesdienſt erzeigen, ſo mechte ich dich ooch um eenen erſuchen. Tu erſcht mal meine Kiſte mit ahnſacken, daß ich ſe zu Theophil Xylandren ſein Theatrum mundi neinkriege, indem daß ſe heit obnſt als Soufflierkaſten mein beſter Treeſter ſein muß. Doch da fällt mir ein, ich muß ja ſchont im zweeten Akte, erſchte Szene, den erſchten Hofherrn machen, wenn ooch bloß än paar Minuten, und in der zweeten Szene den Kerkermeiſter. Und ich gloobe gar, der Rummel geht balde los. Herrjemerſch nee! Was machen mr itze! Nu mechte eener und kann nich!“
„Komm ſchnell, ich trage dir deinen Kaſten mit hinein und warte auf dich dahinten.“
„Ja, awwer deine Alte! Hernachens kennen mrſch erſcht recht nich mit ’r riskieren!“
„Sie wartet geduldig, bis wir kommen“, ſagte Benedikt dumpf.
„Na, und drinne bleiben hinter den Kuliſſen willſt de nich?“
Benedikt ſchüttelte nur den Kopf, daß die Glöckchen wieder klangen, und beide trugen den Kaſten die Stufen hinauf. Alwin Pfitzner gab darauf dem wiedergefundenen Freunde das Geleite bis auf den Platz zurück, und hier wurde der Pritſchemeiſter auf einen Augenblick von Herrn Tobias Kruſius in Anſpruch genommen, wie uns das vorige Kapitel berichtete, Alwin Pfitzner aber ging ſeiner Pflicht nach.
Als Benedikt wieder auf ſeinem einſamen Poſten am Rande der Flachsrotten ſaß, ſchweiften ſeine Gedanken weit hinweg über Zeit und Raum, aus dem norddeutſchen Tale, das ihm jetzt zum Jammertale geworden, nach den fernen Höhen des Erzgebirges, in die Tage ſeiner Kindheit. Seine Heimat war das böhmiſche Städtchen Preßnitz. Über den Anfängen ſeiner Erinnerung lag der Schimmer eines ſtillen Glücks. Sein Vater ſtand am Werktiſche und baute Geigen und Bratſchen. Seine Mutter klöppelte all die Zeit, die ihr der Haushalt übrig ließ, die feinſten Brabanter Spitzen. Abends aber vertauſchte ſie den Klöppelſack mit der Harfe und ſang mit ihrer lieblichen Stimme deutſche und böhmiſche Lieder. Er ſelbſt, der Knabe Benedikt, begleitete ſie ſchon auf ſeiner kleinen Violine, ſo lange er zurückdenken konnte. Ach, dies Glück war nur von kurzem Beſtand. Das Geſchäft des Vaters ging nicht mehr ſo gut wie früher, Klingenthal und Markneukirchen riſſen mit ihren neuen, im großen angelegten Fabriken den Nutzen an ſich, die Handarbeit lohnte nicht mehr. Da erlernte der Knabe von ſeinem Vater eine andere Kunſt, wenn er nächtlicherweile mit ihm durch die Waldhänge des Haßberges und des Spitzberges ſtrich. Den Stutzen wußte er bald ebenſo geſchickt zu handhaben wie ſeine Violine!
Wie traurig und ängſtlich hatte ſeine Mutter doch jedesmal nach ſolchen heimlichen Gängen Vater und Sohn empfangen. Die Angſt der ſchlaflos verbrachten Nächte prägte ſich immer mehr ihren Zügen ein und legte ſich über ihr ganzes Weſen. Das erlegte Wild brachte der Vater aus Rückſicht vor ſeinem Weibe nie mit nach Hauſe, ſondern übergab es einer älteren ledigen Schweſter, der der wunderſchöne Name Kunigunde und die Freundlichkeit einer ſchleichenden Katze eigen waren, und die ſchon wußte, wie ſie die ihr zugeführten Leckerbiſſen an den Hintertüren der Häuſer am beſten zu Gelde machen konnte.
Eine heftige Lungenentzündung, die er ſich in einer Regennacht nebſt einem Rehbocke aus dem triefenden Walde heimgebracht hatte, raffte den Vater in wenigen Tagen hinweg. Und nicht länger, als die Krankheit gedauert hatte, hielt es die Mutter über das Begräbnis hinaus in der böhmiſchen Grenzſtadt Preßnitz. Als Harfeniſtin zog ſie in die Welt und nahm ihren Benedikt als Kunſtgenoſſen mit ſich auf ihre Wanderungen durch Böhmen, Mähren, Öſterreich, Schleſien und Sachſen. Nur nach Preßnitz ſetzte ſie nie wieder ihren unſteten Fuß. O, der Mann an den Flachsrotten Angerbecks wußte jetzt gar wohl, daß die Mutter ihn dadurch dem Verbrechen, der gefahrvollen Wilddieberei, entreißen wollte!
Aber das Schickſal hatte es anders beſtimmt. Nicht weit von der böhmiſchen Heimat, hinter der Hoſpitalkirche zu Annaberg in Sachſen, fand die Mutter guten Erſatz für ihr unruhig Leben und ihren unruhigen und ungenügenden Schlaf. Nicht weit von dem Grabmale der berühmten Klöppelmeiſterin und Wohltäterin der Gegend, Barbara Uttmann, fand auch ſie ihre Ruhe.
„Und die Polizei, die ſchnelle, war auch hier alsbald zur Stelle.“ Sie nahm ſich des geringen toten und lebenden Nachlaſſes der Witwe an. Dieſe ward ſtandesgemäß beſtattet, die Harfe und die wenigen Kleidungsſtücke wurden dafür in Zahlung genommen. Die Violine des Burſchen aber und dieſer ſelbſt wurden einſtweilen den Wirtsleuten zur „Goldenen Gans“ belaſſen, in deren Hauſe und Bette ſich die fahrende Frau zum letzten Schlummer ausgeſtreckt und zurechtgelegt hatte.
Die Geige nahmen die Beſitzer der „Goldenen Gans“ als teilweiſe Entſchädigung für den in der kurzen Krankheit entſtandenen Aufwand in Verwahrſam, und nur mit Mühe und reichlichen Tränen und unter der Bedingung konnte der Knabe ſie retten, daß er noch einige Abende mit ſeinem Spiele den Stammgäſten eine Unterhaltung bot. Tagsüber wurde ſein Inſtrument unter ſtrengem Verſchluſſe gehalten. Zwar griff manch ſalziger Tropfen rechts und links vom Saitenhalter den feinen Lack der Geige an, aber Benedikt hielt doch aus, denn dies war das Letzte, was er für ſeine geſtorbene Mutter und ihren ehrlichen Namen tun konnte, – er machte den Bierfiedler mit luſtigen und traurigen Weiſen, je nach Geſchmack des verehrlichen Publikums, während er vor übergroßem Schmerze hätte recht unmelodiſch aufſchreien mögen.
Und jetzt! Ein gurgelndes Stöhnen entrang ſich doch dem Manne, ob er auch gewaltſam ſein neues Weh hinunterkämpfen wollte. Seine Hände rauften krampfhaft den ſpärlichen Graswuchs aus den Fugen der Pflaſterſteine des Dammes. War er heute hier in Angerbeck nicht in der gleichen troſtloſen närriſchen Lage, wie anno dazumal in der Bergſtadt Annaberg? Hier ſaß er mit ſeinem grimmen Schmerze, mit zuckendem Herzen in der Narrenjacke, der Hanswurſt der johlenden, tanzenden, trunkenen Menge, ſeiner toten Marie den letzten Ehrendienſt zu leiſten, ihr Begräbnis zu bezahlen und – doch davon verſtand ja niemand etwas von all dieſen Menſchen, außer vielleicht der Frau in der Apotheke.
Ja, Alwin Pfitzner, es geht nirgends närriſcher her als in der Welt.
Seine unfreiwilligen Konzerte in der „Goldenen Gans“ ermöglichten ihm auch, da er daſelbſt freie Station erhielt, tagsüber ſich nach Gefallen auf dem alten Friedhofe zu Annaberg aufzuhalten und ſtundenlang am Grabe ſeiner Mutter zu weilen, ſich an den mannigfachen Grabinſchriften im Leſen zu üben – was ihm ſehr not tat – und die alte Linde zu bewundern, die der Sage nach vor vielen hundert Jahren mit der Krone nach unten eingepflanzt worden. Hier war es auch geweſen, wo er zum erſten Male dieſen Alwin Pfitzner geſehen hatte, der jetzt wunderlich genug wieder vor ihm aufgetaucht und nur durch die dünne Zeltwand von ihm getrennt war.
Der um einige Jahre ältere Burſche hatte wenig Mühe gehabt, Heimat, Familienverhältniſſe und Lebenslauf Benedikt Zrovnals zu erfahren, nachdem er ſich zunächſt eine Viertelſtunde mit ihm über die Linde im beſondern, dann über das Wetter und andere geſchätzte Themata im allgemeinen unterhalten hatte. Höchſt ſonderbar aber war es, wie ſich auch ſogleich nach Feſtſtellung der Perſonalien ein ganz intimer Anknüpfungspunkt für die junge Freundſchaft fand: Alwin Pfitzner aus Annaberg hatte enge Beziehungen zu der Tante Kunigunde oder Gundl, wie er ſie kürzer aber weniger ſchön nannte. Welcher Art ſie waren, darin weihte er ſeinen neuen Bekannten allerdings auf dem Gottesacker zu Annaberg zunächſt nicht ein, ſondern begnügte ſich, ihn wiſſen zu laſſen, daß ihn Geſchäfte jede Woche einmal zu ihr nach Preßnitz führten. Er rühmte ihre Güte und forderte Benedikt auf, nach Erledigung ſeiner Verpflichtungen gegen die „Goldene Gans“ ihn gen Preßnitz zu begleiten, wo er gewiß von ſeiner guten Tante, die ſchon oft von ihm geſprochen, mit offenen Armen empfangen werden würde.
Das hatte dem armen verwaiſten hilfloſen Benedikt Zrovnal wie eine liebliche Muſik geklungen, und kurz entſchloſſen hatte er ſeinem neuen Freunde die Zuſicherung gegeben, mit ihm nach Preßnitz zu gehen.
Der Plan ward abends in der „Goldenen Gans“ des näheren beſprochen, und Alwin Pfitzner ließ ſich nicht dabei „lumpen“, nicht nur, was die Zeche anbelangte, nein, er löſte Benedikt und ſeine gute Geige vollends aus.
Zwar war es Benedikt, als er oben unter dem Dache ſich auf ſeinem Strohſacke ausſtreckte – die „Goldene Gans“ war für ihn nicht gerupft worden –, als ob er der toten Mutter warnende Stimme höre, nicht nach Preßnitz zu ziehen, aber vor der hellen Morgenſonne zerrannen alle Bedenken. Er war glücklich, ſoweit das überhaupt nach dem Verluſte ſeiner lieben Mutter möglich war.
Alwin Pfitzner kam zur beſtimmten Zeit mit einem Querſacke über der Schulter und holte ihn ab, und beide wanderten, nachdem Benedikt von ſeiner Mutter Grabe draußen auf dem Friedhofe Abſchied genommen, zuerſt die Straße nach Königswalde dahin, dann aber auf ſehr ſonderbaren Wegen, das ſächſiſche Grenzſtädtchen Jöhſtadt umgehend, durch den Wald nach Böhmen hinein.
Wie war doch alles ſo gekommen und auseinander gefolgt! Wie ein Stein, ein Sandhäufchen den Angerbach da unten zu ſeinen Füßen gezwungen hatte, gerade hierher und nicht anderswohin zu fließen, ſo hatte ſich dieſer Menſch, dieſer Alwin Pfitzner, ihm in den Weg geſtellt, der ihn bis auf dieſen Steindamm an den Flachsrotten Angerbecks geführt hatte! Benedikt Zrovnal ſaß lange in ſolche Träume verſunken, er merkte es nicht, daß der Nachttau auf ihn herniederſank, er hörte nicht mehr den Lärm von der Wieſe her, nicht das Beifallklatſchen der Menge im Muſentempel hinter ſich. Die Fröſche hatten ſich längſt an den ſtillen Mann gewöhnt und konzertierten mit vollem Orcheſter, ohne daß er es vernahm. Er dachte auch ſchließlich nichts mehr.
Endlich legte ſich die Hand Alwin Pfitzners zum zweiten Male auf die Achſel des Freundes.
„Das Spiel iſt aus, man geht nach Haus.
Führ uns von hier, daß dann mit beſſerer Muße
ein jeder frag und höre, welche Rollen
wir in dem weiten Raum der Zeit geſpielt,
ſeit wir zuerſt uns trennten. Folgt mir ſchnell.“
Siebentes Kapitel.
Alwin Pfitzner ſtellt ſeinen Freund dem Direktor Theophil Xylander vor und wird von Benedikt im Schloß zu Angerbeck eingeführt.
Der König Leontes von Sizilien hatte drinnen in der „Muſenbude“ mit ſeinem Schlußworte mehr Erfolg und gefügigere Hörer bei Akteuren und Publikum gefunden, als der nun wieder verblichene Schuft Autolicus hier draußen auf dem Steindamme.
Er hatte Mühe, den Böhmen aus ſeinem gedankenloſen Hinbrüten heraus und auf die Beine zu bringen. Als ihm das endlich gelungen war und er den Freund bis vor den Eingang des Theaters mehr geſchleppt als geführt hatte, ſah er beim Scheine der Laterne in ein elendes jämmerliches Antlitz, das ihm zwiſchen dem bunten Narrenkleide und der Schellenkappe um ſo ſchreckhafter erſchien.
„Benedikt, alter Junge, iſt dir denn die Butter gänzlich vom Brote gefallen, von wegen –?“
„Ach, Alwin“, ſtöhnte der Narr, „lache mich nur aus, mache dich luſtig über den Luſtigmacher! Die Butter wollte ich gern entbehren, aber ich glaube, ein Stück eitel Brot wäre mir doch vonnöten. Hunger, Durſt und Kälte bringen uns ſchon wieder zur Vernunft und darauf, daß wir noch leben.“
„O heiliges Pech! Wo hawwe ich nor meine Gedanken gehat, laſſe dich hier haußen warten und eſſe mich toll und voll drinne in den Zwiſchenpauſen! Here he! Itze kehren mr erſcht noch mal ein in dieſe heiligen Hallen zum Herrn Direktor Theophil Xylander, der muß rausricken. Von der Luft kennen mr emal nich lewen wie die Dudelſäck!“
Ohne ſich auf irgend eine Erwiderung einzulaſſen, transportierte er den willenloſen Benedikt die Stufen hinauf und geraden Wegs durch die leeren gähnenden Bankreihen bis vor den Bühnenraum, auf deſſen Rampe nur noch eine einzige Lampe brannte und den Saal des ſizilianiſchen Königspalaſtes in einem gar trübſeligen Lichte erſcheinen ließ. Er wurde auch nicht pompöſer durch einige zum Abgang gerüſtete Aktricen, die, bevor ſie hinter den Kuliſſen verſchwanden, kichernde Bemerkungen und ſpöttiſche Blicke auf den Sachſen und ſeinen buntſcheckigen Begleiter herabſandten.
„Kimmere dich nicht um die albernen Schminkbichſen, Benedikt. Merkſt du ihnen noch ene Spur von Hermione oder Perdita an, der Eulalia Hartenſtein und der Euphroſyne Blankenburg, wie ſe ſich uf den Theaterzetteln großbrotig ſchimpfen tun?“
Auf dem umgelegten Trödel- und Soufflierkaſten Alwin Pfitzners ſaß ein Mann vornübergebeugt und drehte den Eintretenden einen breiten Rücken und einen mächtigen Hinterkopf zu, der in ſeiner oberen Hälfte vom Scheine des Lampenlichtes wie die Sichel des zunehmenden Mondes mild erglänzte. Er war ſehr vertieft, der Mann, denn auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zählte er in Reihen, je nach der Münzſorte, von den Talern bis zur landesüblichen Scheidemünze herab, die Einnahme der Abendkaſſe auf. An den auf- und abſteigenden Bewegungen ſeiner Unterkiefer in der Ohrengegend konnte ein aufmerkſamer Beobachter erkennen, daß er ſich daneben einer zweiten nicht minder angenehmen Beſchäftigung hingab, wofür ein neben dem Gelde ſtehender Teller mit belegten Butterbröten und ein Glas Bier einen weiteren Beweis lieferten.
Einem alſo in Anſpruch genommenen Manne können wir nicht verübeln, daß er das Kommen der beiden Freunde gänzlich überhört hatte. Als aber Alwin Pfitzner, den Böhmen im Arm haltend, jetzt mit der Fußſpitze an ſeine Kiſte ſtieß, daß die Sitzgelegenheit zitternd erdröhnte, fuhr der Kahlkopf erſchrocken herum, die Kinnladen ſtanden ſtill, und ein ſehr ausdrucksvolles Antlitz mit mächtiger Denkerſtirn erſchien über der rechten Schulter. Die beiden Hände ſtreckten ſich mit ausgeſpreizten Fingern ſchützend über die Münzſorten, und die großen Augen hefteten ſich erſtaunt auf die maleriſchen Dioskuren hinter ihm.
Der Sachſe aber zitierte den „jungen Schäfer“ aus dem eben über die Bühne gegangenen Wintermärchen: „Fürchte du dich nicht, Mann, du ſollſt hier nichts verlieren.“
Der ſich fürchtende Mann erkannte die Stimme, drehte ſich vollends herum, ſtemmte die Hände auf ſeine Knie, kaute weiter, betrachtete erſtaunt den bunten Schützling Alwin Pfitzners, übergab in Ruhe nach phyſiologiſchem Geſetze mit der Zunge ſeinen genügend zerkleinerten Biſſen einer weiteren Verdauung, und nachdem er alſo ſeinen Kehldeckel entlaſtet und für andere Funktionen ausgelöſt hatte, gab er dem Autolicus deſſen eigene Worte zurück: „‚Das hoff’ ich, Herr, denn ich habe manch Stück von Wert bei mir.‘ Aber – –, wer iſt das?
‚Durch welchen Mißverſtand hat dieſer Fremdling
zu Menſchen ſich verirrt?‘“
„Hochzuverehrender Herr Direktor und Chef!“
„Laß deinen Quatſch, Alwin Pfitzner! Bewahre dir den Männerſtolz vor Königsthronen und ſprich vernünftig! Ich bin es müde, über Sklaven zu herrſchen!“
„Na ja denn, Herr Direktor, fir mich iſt der dahier keen Fremdling, indem daß er mei liebſter, beſter Freind von Annaberk her iſt, hier unverhofft in Angerbeck nach zehn Jahren ufgeleſen, es iſt der Behme Benedikt Zrovnal, wiſſen Se, von dem ich Sie ooch ſchont manches refferiert hawe. Und nach der glänzenden Außenſeite kann mr hier ooch mal wieder nich gehn, ſoviel haw’ ich ſchont weiß kriegt! Das Unglicksworm hat weeß Tneppchen immer noch die Tränen in’n Barte hängen.“
Herr Theophil Xylander rutſchte von der Kiſte und ſtreckte mit königlicher Hoheit dem Böhmen die Rechte entgegen. Dieſer aber riß unwillkürlich ſeine Schellenkappe vor dieſem Manne ab und knüllte ſie in ſeine Taſche.
Der Theaterdirektor ſah ihn ſcharf an: „Die ewige Beglaubigung der Menſchheit ſind ja Tränen. Seid mir willkommen, trotz eures Außenwerks. Ein ſchlecht Gewerb, beim Gram den Narren ſpielen.“
„O Herr, dies Kleid hat mir den ganzen Tag auf dem Leibe gebrannt!“
„So legt das Neſſusgewand ab, doch geht behutſam damit um, daß ihr nicht auch zugleich aus eurer Haut fahrt. Und womit kann den Herr’n ich dienen?“
Alwin Pfitzner fühlte den Freund ſchwanken und nötigte ihn auf die erſte Reihe des Sperrſitzes nieder. „Was fir Schmerzen ihn eegentlich quälen, hat er mir doch wohl noch nicht vellig verraten, aber daß er außer dieſen ooch dämiſchen Hunger un Dorſcht im Kamiſole trägt, weeß ’ch.“ Und dabei ſtreifte ſein Blick zur Bühne hinüber.
Theophil Xylander verſtand ſofort, daß er ſich hier in die Rolle des alten Zechers Neſtor, der drei Menſchenalter ſah, zu verſenken habe. Er ergriff das volle Bierglas. „Trink ihn aus, den Trank der Labe, und vergiß den großen Schmerz.“
„O Herr Direktor“, ſtammelte Benedikt, vor dem geradezu ſchäbigen Reſt erſchrocken innehaltend, „was werden Sie von mir denken –“
„Der brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt. Übrigens wäre für meine Zähne, oder was von ihnen noch übrig geblieben iſt, dieſer Schinken und Braten viel zu zähe, Sie können, wie mir ſcheint, beſſer damit fertig werden. Die Lohſen eignet ſich auch beſſer zu Mopſa, der Schäferin, als zur Köchin, und – jeder Zoll von Weiberfleiſch iſt falſch! – Hier, alter Gauner Autolicus, nimm deinen Lohn dahin!“
„Herr, ich weiß“, zitierte Alwin Pfitzner, das vielſeitige Mitglied des Theaterperſonals, „daß ihr jetzt ein geborner Edelmann ſeid.“ Und dabei ſchob er ſeine Gage zu dem Handelserlös des Tages.
„Siehſte, Benedikt, ſo iſt er nun“, ſagte Alwin draußen, als er mit ſeinem Freunde Arm in Arm über den nun doch ziemlich verödeten Schützenplatz ſchlenderte, „dieſer mein Chef; jeder Zoll ein Kenig, und daderbei wie äne Mutter, mein Benedikt. Nee, ich freie mich wie ä Tepper, daß mir uns wieder ämal aus die richtigen Kuliſſen heraus in die Ärme geloofen ſein. Und – uf deine Ahle bin ich geſpannt, wie ä Bäräbeli! Awer – niſcht fir ungut – ſie muß dir den Brotkorb doch gar zu hoch ufgehängt hawen, daß dr ſo gering worden iſt. Haſt auch wohl ’ne ganze Razion Kinner, Benedikt?“
„Nein, Alwin, nur eins.“
„Mich iwerläft’s ſucceſſife doch ä biſſel, wenns mr ihr itze ſo ſpät uf de Bude ricken ſollen! Ich globe, ſe wärd noch äne andere Viſage ufſetzen als wie der Herr Direktor, wenn er bei die Proben ſprechen tut: ‚Spät kommt ihr, doch ihr kommt.‘ Ich hawe, weeßderhole, itze ſelbſt Sorge, wie ſe uns ufnehmen wärd!“
Benedikt ließ den Sachſen ſchwatzen und gab nur von Zeit zu Zeit einen tiefen, ſchweren Atemzug von ſich. Alwin Pfitzner aber merkte, daß die Schritte neben ihm wieder unſicher wurden, und er legte von neuem ſeinen Arm um den Schwankenden.
„Bis nor gemitlich, mei Benedikt, verlaſſen tu ich dich drum noch lange nicht, nu grade nicht! Was! Hier nunter miſſen mir, in dies Loch nei? Here, irren iſt menſchlich, iſt dies wärklich der richtige Weg?“
„Ja, Alwin, und hier ſind wir zur Stelle – vor dem Schloſſe zu Angerbeck.“ Der Böhme legte ſeine Hand auf die Klinke der Tür.
Kinder ſingen im Dunkeln, und der Zahnoperateur vernimmt nicht ſelten ſtatt des Geſchreis ſeines Opfers ein krampfhaftes Lachen, auch ohne Anwendung des Lachgaſes. Und auch der durchtriebene Autolicus, der Herr vom Hofe, der Bär, ſaß der Tür gegenüber in dem Graſe der Böſchung des Hohlweges, im Tau der Nacht, und lachte wie einer, der die kalte Zange ſchon an den warmen Lippen fühlt, und repetierte ſeine heutige Rolle. „Haha! Was für ein Narr iſt doch Ehrlichkeit! Und Redlichkeit, ihr geſchworener Bruder, iſt ein recht einfältiger Herr! Benedikt, daß de itze noch zu Schpäßen ufgelegt biſt, hätt’ch mr nich vermutet. Dieſe ahle Bude – das Schloß zu Angerbeck!“
Der wiedergefundene, ſtille, närriſche Freund in ſeinem phantaſtiſchen Koſtüm, mit ſeinen langen wirren Haarſträhnen um das trotz des Dunkels der Nacht und des Hohlweges weißleuchtende Geſicht, mit ſeiner Hand an der Tür dieſer unheimlichen Hütte, flößte ihm ein Grauen ein, als ob er ahnte, was ihn hier erwartete. In dieſem Augenblicke hätte der vielgewandte, mit allen Hunden gehetzte Handelsmann und Akteur einer vielgewanderten Schmiere es für eine große Erleichterung gehalten, wenn aus dem Fenſter da das grinſende Haupt der alten, auf zartes Kinderfleiſch erpichten Märchenhexe gefahren wäre.
„Benedikt, mir täten doch vielleicht beſſer, deine liewe Frau nich zu ſteren, ſie mecht’s iwel ufnehmen, un verdenken kennt mrſch’r nich. Wie wär’ſch, wenns de mit mir in mei Quattier gängeſt?“
Der Böhme aber hatte ſchon die Tür geöffnet und verſchwand im Dunkel, und Alwin Pfitzner aus Annaberg murmelte aus Calderon (Das Leben ein Traum!):
„Die Pforte
ſteht offen, – ha! ein Grabesſchlund
gähnt ſo und läßt zu ſeinen Toren
die Nacht heraus, die drinnen ward geboren.“
Doch Benedikts Stimme mahnte ihn an ſein Verſprechen, und ſchlotternd ſtieg er über die Schwelle. Eine eigentümliche Atmoſphäre nahm ihn auf und legte ſich ihm beängſtigend auf die Bruſt.
„Here, Benedikt, ich gloobe gar, du haſt erſcht mit deinem jungen Frauchen Einzug hier gehalten und ſtehſt am Anfang deiner Flitterwochen! Freindliche Nachbern hawen dir wohl äne Guirlande iwer der Tire ahngebracht, es riecht mr ganz wie friſche Blumen. Da will’ch dr liewer doch nich ſo gählings ins Haus neifallen wie die Ratte ins Sirupfaß.“
Unſicher, ob er umkehren oder weiter eintreten ſollte, hatte er ſich bis an die Stubentür getaſtet.
„Einen Augenblick, Alwin, bleib ſtehen, wo du ſtehſt! Ich werde dir ſogleich Licht in dieſe Finſternis und Angelegenheit bringen.“
Vom Schranke her leuchtet ein Schwefelhölzchen auf und wird von zitternden Fingern an den Docht einer Talgkerze gehalten, die in einem alten Meſſingleuchter ſteckt. Erſt ſträubt ſich die Flamme ein wenig, von dem, was wir im erſten Kapitel unſerer Erzählung geſchaut haben, den wohltätigen Schleier zu heben, dann aber –
„So, Alwin, was ſein muß, muß ſein.“
Benedikt ſetzte die Kerze auf den Sarg zu Häupten und machte ſich ſodann nochmals am Schranke zu ſchaffen. „Im Blumengeruch haſt du dich nicht getäuſcht, Alwin, nur mit dem Einzuge hatteſt du nicht recht. Denn wie du hier ſiehſt, müſſen wir Auszug halten. O Gott, auch eine Guirlande iſt da! Das hat ſie getan!“
Was die Verachtung, die er an dieſem Tage von ſeiten der Menge trotz ſeiner Pflichterfüllung oder auch wegen derſelben erfahren hatte, nicht gekonnt, das tat hier ein Blick auf das einfache grüne Gewinde, das in herabhängenden Bogen den Sargdeckel ſchmückte.
Benedikt Zrovnal ſtieß einen markerſchütternden Schrei aus, warf ſich über den Sarg, ſchlang ſeine Arme, ſeine in der Narrenjacke ſteckenden Arme um das Fußende desſelben und drückte ſein Geſicht auf das harte Holz.
Da ſtand nun der billige Jakob aus Sachſen! – – Wie alle ſeine geſchätzten und in aller Welt geliebten Landsleute war er „helle“ und hatte beim erſten ſchwachen Aufflackern des Lichtleins die Sachlage begriffen. Aber er, der das Maulwerk ſonſt wahrhaftig auf dem rechten Flecke hatte, er war diesmal um das kleinſte Wort verlegen. Hilf- und ſprachlos ſtand er da und klammerte hinter ſeinem Rücken die Finger um den eiſernen Knopf der Tür und ſtarrte die lange, ſchwarze Truhe vor ſich an. Ach, wäre doch aus ihr ein böſes, keifendes Weib aufgeſtanden, er hätte ſich bald wieder auf einige ſchnoddrige Redensarten beſonnen. Aber ſo! Der Knochenmann drückte den Mimen an die Wand und ließ ihn keine angemeſſene Poſe finden; er wagte kaum zu atmen. Und als ſein Blick den unglücklichen Freund traf, rollten ihm zwei Tränen die Wangen herab. Sich ſelbſt kam er hier als ein Nichts, als furchtbar überflüſſige Beigabe zu dieſem Elende vor.
Und doch war auch dieſer ſo plötzlich einfältig gewordene Burſche mit ſeinem stupor von einem gütigen Geſchick an die richtige Stelle geſtellt worden! Er ſelbſt ahnte es nicht, wozu ſich der Allweiſe, Vorausſchauende ſeiner bedienen wollte. Eine große erlöſende Tat legte er ihm nun zwar nicht auf, geiſtlichen Zuſpruch erwartete er auch nicht von dem leichtlebigen Händler und liederlichen Mitgliede der Theophil Xylanderſchen Schauſpielertruppe. Dem großen Welten- und Menſchenmeiſter ſtehen auch einfachere Mittel zu Gebote. Er drückte dem Mimen nur ein wenig die mitfühlende Bruſt zuſammen, und – ein tiefer, tiefer Seufzer entſtrömte ihr.
Er durchzog den Raum des Todes im Schloſſe zu Angerbeck, wie einſt an einem Maiabende des Jahres 1700 und ſo und ſo viel zur Zubettgehenszeit der greuliche Ruf der Rohrdommel das Schloß zu Neuſtrelitz. Wie dieſer Adolf dem Vierten und ſeiner Chriſtel-Schweſter durch Mark und Bein drang, ſo erſchütterte der Seufzer Alwin Pfitzners jetzt ſeinen Freund Benedikt und hielt deſſen Hand, die er eben zum Munde führte, zurück.
Mitten aus ſeiner tiefſten Verzweiflung ſchreckte der Böhme auf und entſann ſich, daß da außer ihm noch jemand am Leben war in dieſer Nacht des Todes. „Alwin, du biſt ja hier! O verzeihe, daß ich deine Freundſchaft ſo ſchlecht lohne! Da ſteht wohl noch ein Stuhl am Tiſche.“
Alwin brummte nur etwas – „hat niſcht zu ſagen – keene Rickſicht von neten –“, blieb aber auf ſeinem Platze und Poſten ſtehen.
„Sieh, Alwin“, ſagte Benedikt, auf den grünen Schmuck zeigend, „das iſt nun heute die dritte Guttat aus der Apotheke – aller guten Dinge ſind drei, ich hatte mir aber die dritte anders ausgemalt, – da unten am Waſſer. Doch ſoll’s ſo bleiben, was drüber iſt, das iſt vom Übel!“
Und aus der zuſammengeballten Hand Benedikts flog’s neben dem Sachſen gegen den Türpfoſten, und die Scherben eines zertrümmerten Fläſchchens ſauſten durch die Stube gleich den Splittern einer einſchlagenden Granate.
Pfitzner ſprang erſchrocken zur Seite. „Benedikt, Menſch, du werſcht doch nich!“ Und dann erſchnupperte er den das Gemach augenblicks erfüllenden, betäubenden Duft bittrer Mandeln.
„Wornach tut denn gleich das Zeik richen?“
„Acidum hydrocyanatum, Alwin. Habe mir den lateiniſchen Namen oft genug angeſehen, wenn ich mir’s tropfenweiſe aus der Flaſche im Giftſchranke nahm die letzten Wochen daher. Oder ſage Blauſäure, wenn du willſt. Ich ſah es ja kommen hier.“
Dabei ſtrich er wie liebkoſend über den ſchwarzen Sarg.
„Da hätten die Angerbecker Spießbürger zum letzten Male ihren gerechten Spaß an dem Narren gehabt. Alwin, du mit deiner Gegenwart haſt’s auf dem Gewiſſen und zu verantworten, daß ich das Zeug nicht als remedium cardiacum gegen mein Herzweh anwandte und es lieber noch einmal mit einem andern verſuche, das ja eigentlich auch aus der Apotheke ſtammt.“
Damit griff er nochmals in das Schrankfach und legte feierlich ein großes, in ſchwarzes Leder gebundenes Buch mit verblichenem Goldſchnitt auf die Totenlade, ſchlug es bei einem eingelegten Zeichen auf und las mühſam beim ſchwachen Scheine des Lichtleins: „Sie wird nicht mehr hungern noch dürſten; es wird auch nicht auf ſie fallen die Sonne oder irgend eine Hitze. Denn das Lamm mitten im Stuhl wird ſie weiden und leiten zu den lebendigen Waſſerbrunnen; und Gott wird abwiſchen alle Tränen von ihren Augen.“
„Benedikt, Menſch!“, rief der Sachſe abermals, „ich hawwe ejal gedacht, du wärſcht kartholiſch!“
„Was ich bin, weiß ich ſelber nicht, Alwin. Aber das weiß ich, daß ſie ihren lieben Finger auf dieſe Stelle hier vor ihrem Sterben gelegt hat. Er ſoll mir auch den Weg weiſen aus dem Tode zum Leben.“
„Gott ſei Dank, Gott ſei Dank!“, ſchluchzte Alwin Pfitzner aus Annaberg, „der mich altmodiſch Stick noch mal auf die Kommode geſetzt hat! Du, weeßte, da is mr gleich das Dings eingefallen, das mir mal vor ä Gahrner dreie in – in – na, in Thiringen war’ſch, ä kleenes Neſt, ſpielen taten, von die beeden Verliebten, Romeo und Julia. Ei, hammer da Not gehat, daß mr die Leite nor zeſammenbrächten fir den erſchten Ufzug, wo ſo viel Volks uftreten muß. Na, Ausſtaffierung taten ſe ja weiter keene gebrauchen, und die Knittel mußten ſe ſich ſelber mitbringen. Es tat immer ins Geld laufen, zwee Neigroſchen der Mann und ’ne Flaſche Bier extra! Na, alſo, was er is, Romeo, der ſpricht in ganz ähnlicher Lage: ,O wackerer Apotheker! Dein Trank wirkt ſchnell.‘ Un weck is er, mauſetot! Ja, un was war’ſch hernach? Niſchten war’ſch. Falſch hat er’ſch ahngefangen, denn was ſie war, ſeine Dulcinea – – – na, Benedikt – – ſo viel kann ich mr nu denken: Deine liewe Frau is dir geſtorben – mei Beileid – mei Beileid! Dieſerhalb alſo biſt du die letzte Zeit nicht aus der Bude gekommen, haſt deine liewe Frau da gepflegt und ihr die Zeit vertrieben, und mir hawwen enander freilich nicht zu Geſichte kriegen kennen! Mei Beileid, mei herzliches Beileid!“
Damit ſchüttelte er beide Hände ſeines Freundes Benedikt eine halbe Ewigkeit, als wollte er ihm alles, was etwa noch an ihm hing von finſteren Todesgedanken, abſchütteln, und er ſchüttelte ihn wirklich ins Leben zurück.
„Ich danke dir, du alter, lieber Junge! Du biſt eine treue Seele, du biſt mir ein rechter Troſt geworden. Und ich ſchäme mich vor dir, nur an mich – und wie – gedacht zu haben. In welche ſchlimme Lage und Aufregung hätte ich dich zum Danke für deine Freundſchaft verſetzt, und das wahrlich nach keinem leichten Tagewerke! Geſetzt haſt du dich immer noch nicht, doch hier iſt auch kein paſſender Aufenthalt. Er ſtieß das Fenſter auf, daß die kühle Nachtluft, die zwiſchen den Blumen- und Mandelgeruch hineinſtrömte und die dumpfe Schwüle ſiegreich vertrieb, das Licht zu verlöſchen drohte.
„Komm, Alwin, wir ſetzen uns draußen an den Herd, falls du jetzt nicht doch vorziehſt, über die Schwelle da wieder hinauszuſchreiten. Habe manche Stunde mit meiner Marie und dem Fränzchen an ihm verplaudert! Doch gewiß ſehnſt du dich nach deinem Quartiere.“
Alwin hatte ſich ſchon, wenn auch nicht am Herde, ſo doch auf ihm niedergelaſſen und gab zur Antwort: „Mein Benedikt, gloobſte wertlich, daß ich mich itze ſchont in den Kahn hauen mechte und ſchlafen? Alſo Marie war ihr Name? Und wer iſt Fränzchen?“
„Unſer Kind, unſere Tochter Franziska.“
„Menſch, und das alles erfährt mr nor ſo beileifig, ſo beh a beh!“
„Haſt du mich denn ſchon zu Worte kommen laſſen, dir alles klar zu machen?“
„Na, itze halt ich’s Maul, und du haſt’s Wort.“
„So ſetze dich wenigſtens hier auf die Bank. Das Licht wird wohl reichen, bis ich wiederkomme.“
„Benedikt, mei eenziger Freind!“, ſchrie der Sachſe in Todesangſt, „du wärſcht mich doch dahier nich alleene laſſen wollen!“
„Beruhige dich, Alwin, endlich muß ich doch die Narrenjacke ausziehen und dir einen würdigeren Wirt zeigen, und eine Öllampe haben wir auch nötig.“
Der letzte Grund leuchtete Pfitzner ein, und er ließ ſeinen Freund die ſchmale knarrende Holztreppe hinauf ſteigen. Auf der dritten Stufe aber krallte er ſich ſchon wieder in die bunten Zacken des Bajazzokittels feſt. „Du wärſcht doch nich etwa dorte oben aufs neie ſo äne Dummheet machen wollen! Das Umgehen mit än Schießpriegel haſte doch aus ’m Effeff verſtanden!“
„Keine Sorge, Alwin, das liegt, Gott ſei Dank, nun hinter mir.“
Als Benedikt nach geraumer Weile wieder erſchien, ward er vom Sachſen mit einem lang gezogenen Ho – ih! begrüßt ob der Veränderung, die er mit ſich vorgenommen hatte. Er ſelbſt aber hätte noch mehr Urſache gehabt, einen Ruf der Verwunderung über ſeinen Gaſt auszuſtoßen, wenn ihm nicht der Schmerz um ſein verlornes Glück die Kehle zugeſchnürt hätte.
Alwin Pfitzner ſchien ſeine Wartezeit an dem Herde weiſe benutzt zu haben, denn Benedikt fand ihn auf eine große Scheibe ſaftigen Landſchinkens mit ſeinem Taſchenmeſſer einhauen, vor ihm lag ein angeſchnittener bräunlicher Brotlaib, und das erſterbende Fünkchen des Talgſtumpfes ſtrahlte wider im Rubinlichte eines angetrunkenen Glaſes Rotwein.
„Du, here, Benedikt, allzu ſchlimm kann die Armutei im Schloſſe zu Angerbeck, weeß Tneppchen, nich ſein, was Kiche, Keller und Kleederſekkertär ahnlangt“, meinte er zwiſchen den mahlenden Kinnladen hindurch.
„Alwin, willſt du dich über mich luſtig machen! Wie kommſt du zu den Dingen?“
„Ganz eefach aus dem Korbe da hinter der Kochmaſchine. Es is noch mehr Vorrat drinne, än halb Mandel Gläſer, ooch etliche Pullen Laubenheimer. Ich habe mir aber Steh-Julchen vorgezogen. Wenns nich von dir ſchtammt, wärds ja wohl ebenfalls aus der Apotheke ſein, und ich hatte Sorge, – du mechteſt die Pullen ooch gegen die Wand pfeffern“, grinſte Alwin und zog den Mund ſo breit, daß er Benedikt in Verſuchung brachte, ſich in ſeinem Genicke zu überzeugen, ob zwiſchen den Mundwinkeln – bergmänniſch ausgedrückt – noch ein Pfeiler ſtehen möchte.
„Sicherlich iſt mir das auch von Paní Kruſius hingeſetzt! Ach, Alwin, dieſe Frau!“
„Ricke ran, Benedikt, und mache dir dariwer keene Kopfſchmerzen. Aufs Wohl der edlen Gewerin!“
„Sie hat’s gewiß für die Träger beſtimmt, die bei Tagesanbruch kommen werden“, ſeufzte der Böhme ſchmerzlich.
„Na, den Schinken und das Brot gewiß nicht! Und ſonſt is noch genug vorhanden. Iwerhaupt, du hätteſt mir gleich reinen Wein einſchenken kennen iwer wie und wenn! Ich hätte unſere ganze Truppe – den Chef und die Weibſen natirlich ausgegenommen – ufgeboten, mir hätten deiner liewen Frau den erſchten und letzten Liewesdienſt gern erwieſen. Awer itze is es doch wohl zu ſchpät – ſie liegen nun alle längſt in ihren diverſen Quattieren in den Federn – exkluſifeh wieder Herrn Xylander, der ſtäts äne Vorliewe fir Mondſchein an den Tag oder vielmehr an die Nacht gelegt hat.“
„Es iſt gut ſo – der lieben Angerbecker wegen. Aber unlieb iſt mir’s nicht, daß mich Paní Kruſius in ſtand geſetzt hat, dir deine mir ſo oft erwieſene Gaſtfreundſchaft erwidern zu können.“
„Beziehſt du dich etwa auf die ‚Goldene Gans‘ in Annaberk? Na, Benedikt, Wenzelsſohn, mir waren damals alle zwee beede nette Brider! Awer – was ſollte das bedeiten, was de vorhinſt meenteſt mit’n Schießen? Bedreibſte das edle Weidwerk nich mehr?“
Der Böhme ſchüttelte melancholiſch das Haupt, dann aber blitzte es faſt freudig in ſeinen Augen auf. „Nein, Alwin, ich ſage es noch einmal, Gott ſei Dank, deſſen habe ich mich begeben!“
„Du ſcheinſt dich iwerhaupt ſehr zu deinem Vorteel verändert zu hawen trotz deines buntſcheckigen Felles von vorhinſt, was ich – nebenbei bemerkt – immer noch nicht begreifen kann bei ſo einem Falle“, – des Nachdrucks wegen ſprach Alwin hier tadellos hochdeutſch – „wenn mr fragen därf, warum haſte denn die Muſchkete an den Nagel gehängt?“
Benedikt wandte ſein Geſicht der angelehnten Stubentür zu, hinter der der Sarg ſtand. „Sie hat mich davon abgebracht“, ſagte er innig. „Aber Alwin, mit dir ſcheint doch auch eine Veränderung – wenn du erlaubſt – eine Beſſerung vorgegangen zu ſein. Seit anno dreiundfünfzig findet man hier zu Lande ſchon keine Gelegenheit mehr, ſeine Kenntniſſe und Erfahrungen, die man im Grenzverkehr hinüber und herüber erworben, zu verwerten. Warum trägſt du in deinem Querſacke nicht mehr zwiſchen Annaberg und Preßnitz den Gorl hin- und die Klöppelſpitzen herüber? Es war doch eine leichtere Laſt als die Büchſe und ein Rehbock dazu!“
Hier wandte nun Alwin Pfitzner ſeinerſeits ſein Geſicht voll der Himmelsgegend zu, in der er die Schützenwieſe Angerbecks mit dem Muſentempel ſeines Direktors vermutete, mimte den Ton und die Gebärde Benedikts nach und ſagte: „Er hat mich davon abgebracht! Wenn der Theophil Xylander – oder, wie er ſich damals nennen tat, der Gottlieb Hölzchen – nicht geweſen wäre, täte ich itze gewißlich nicht ſo gemitlich bei dir ſitzen, Benedikt, ſondern ganz wo anderſch – in Waldheim in Sachſen oder in Karthaus in Behmen, je den näheren Umſchtänden nach. Merkwirdigerweiſe warſch wieder die ‚Goldene Gans‘, wo ſich auch mein Schickſal wandte, wo mich der Herr Hölzchen aufgriff, ein bedeutendes dramatiſches Talent in mir entdeckte und mich in die Zahl ſeiner darſtellenden Künſtler einreihte. Ich ſage dir, Benedikt, das iſt ein Mann! So wie der kann dr keener ins Gewiſſen neireden un den Kopp waſchen!“
„Paní Kruſius vielleicht ausgenommen“, warf Benedikt mit nachdenklichem Kopfnicken dazwiſchen.
Achtes Kapitel.
Benedikt Zrovnal gibt ſeinem Freunde weiteren Bericht von ſich und wird vom fürſtlichen Theaterdirektor Xylander in die Daumenſchrauben gelegt.
„Scheen war’ſch ibrigens doch“, nahm Alwin Pfitzner am Herde des Schloſſes zu Angerbeck wieder das Wort, „oder, wie mein Chef ſich ausdricken wirde, höchſt romantiſch! Weeßte wohl noch, Benedikt, wie ich dich das erſchte Mal mitnehmen tat dorch den Wald?“
„O je! Du erſchieneſt mir damals als ein großer Naturfreund.“
„Erſchieneſt? War ich auch, Benediktus!“
„Ich habe wenigſtens, wenn auch ſpäter erſt, eingeſehen, daß du nichts beſſeres tun konnteſt in deiner Lage, als mir die Schönheiten der Berge, Täler und Wälder zu zeigen und mich, zu dieſem Zwecke natürlich, die engſten, ſteilſten und krummſten Pfade zu führen.“
„Natirlich! Wenns nur de grade Straße geht, ſieht mr de Scheenheiten nich ſo!“
„Dafür aber die Grenzjäger und Zollwächter!“, lächelte Benedikt.
„Dieſe allerdings verhüllen ſich weniger den Augen der profanen Welt, wie ſich in dieſem Falle unſer Direktor ausdricken wirde.“
„Und große Eile ſchieneſt du auch nicht zu haben mit deinen Geſchäften, denn öfter, als es der nicht gerade weite Weg erforderte, hielten wir Raſt auf dem grünen Moosteppich.“
„Na ja, das Geſchäft bracht’s nu eben ſo mit ſich. Das Zeignis wärſcht du mir awer heite noch ausſchtellen miſſen, daß ’ch dr den Aufenthalt ſo ahngenehm wie meglich machen tat!“
„Das tateſt du! Als Knauſer haſt du dich dort ſo wenig gezeigt, wie in der ‚Goldenen Gans‘. Was dein Querſack bot, wenigſtens aus dem vorderen Zipfel, haſt du redlich mit mir geteilt, und ſelten hat mir’s ſo gut geſchmeckt, wie damals im grünen Walde mit der Ausſicht in die lange gemiedenen Jagdgründe meiner Knabenzeit! O života jaro! Nur eins konnte ich nicht begreifen, was mir jetzt auch klarer iſt. Auf die Amſeln lauſchteſt du, die hoch oben auf den Fichtenſpitzen beim Abendſonnenlichte ſchlugen, als ich’s ihnen aber gleichtun wollte und meine Geige dem Lederfutteral entnahm, meiner Heimat einen Gruß und meiner geſtorbenen Mutter – ein Valet zu bringen, da wurdeſt du böſe und verlangteſt von mir, mein Inſtrument und meine muſikaliſchen Gefühle zu unterdrücken.“
„Friher war ich in dieſem Punkte wie die Hunde: wenn ſie Muſik heren, tun ſie heilen. Un daderzu war ich weeß Tneppchen zu luſtig!“
„Und fürchteteſt, die Grenzaufſeher durch dein Geheul zu erſchrecken?“
„Benedikt, hätten ſich die Grenzer mit uns und meinem Querſacke, was den hintern Zippel ahnbelangt, zu ſchaffen gemacht, ſo hätten mir nicht, wie ich dir’ſch verſchprochen, bei deiner vielgeliebten Muhme Gundl nach Sonnenuntergang ans Fenſter pochen kennen.“
„Nach Sonnenuntergang! Alwin, es war ſtockfinſtere Nacht!“
„Na, ich meente doch den Sonnenuntergang in den Vereinigten Staaten von Nordamerika! Ibrigens, fällt mr ein, wärd das Tagesgeſtärn auf ſeiner Reiſe um die Welt wohl ooch ſucceſſife in Angerbeck erwartet werden kennen, und du läßt mich ejal alleene die Arzenei dahier ſchlucken, und wie niſcht Verninftiges in dich neinzubringen is, ſo ooch bei unſerm Diskurſch niſcht aus dir heraus als ahnzigliche Schpitzen von wegen friher. So nimm du doch endlich mal das Wort un befriedige ooch meinen Wiſſensdorſcht! Es iſt mr immer noch ſehr dunkel, wie du mir ſo bletzlich aus die Soffiten herunter uf die Bihne des Lewens geporzelt biſt!“
„Ja, der Weg von Preßnitz nach Angerbeck iſt weit genug, wie du auch aus Erfahrung weißt, zumal wenn man ihn, wie ich, wandernden Fußes durchmeſſen und dabei aus einem gemeingefährlichen Wilddiebe ein ehrlicher Hausvater und Narr werden ſoll. Über mein Leben in Böhmen weißt du ja Beſcheid, und das um ſo beſſer, als du mir zum Führer in – – beides hinein gedient haſt. Jawohl, Alwin, guck mich nicht ſo von der Seite her an! Wenn ich dir eins zum Vorwurf zu machen weiß, ſo iſt es das. Mit der Verwandtſchaft und der Vetternſtraße iſt es ein eigen Ding, und mancher tut beſſer, er geht ſeine eigenen Wege durch die Welt. Ich will mich lieber von einem wildfremden Menſchen in ſein Soll und Haben eintragen laſſen als von einem Verwandten väterlicher- oder mütterlicherſeits, denn dieſe leſen noch manchen Poſten zwiſchen den Zeilen dazu. Nur die Mutterhand ſchreibt nichts an. Die Mutter! Als ſie im Todeskampfe lag in der ‚Goldenen Gans‘, verſtand ich nicht, was ſie mir mit ihrer letzten Anſtrengung ſagen wollte, achtete wohl auch zuerſt in meiner großen Betrübnis und dann in meinem Leichtſinne zu wenig darauf. Später, als ich flüchtig davon mußte, habe ich ganz genau gewußt, was ſie gemeint hat! Vor Preßnitz und meiner Verwandtſchaft hat ſie mich gewarnt!“
„Benedikt, niſcht fir ungut, ich dächte awer doch, die Gundlmuhme hätte ſich ejal eißerſcht freindlich gegen dich geſtellt.“
„O ja, äußerſt freundlich! Das erſte, was ſie tat, als du uns allein gelaſſen, war, daß ſie mich in ihre Bodenkammer führte und mir ehrlich meinen einzigen väterlichen Nachlaß, den ſie mir getreulich jahrelang gehütet hatte, in die Fauſt drückte, – meines Vaters Kugelſtutzen und Pulverhorn! Alwin, dieſe Nacht hat unſer Konto beglichen, und du magſt dir getroſt einige Gläſer Wein dazu einſchenken. Was dir die Grenzer waren, wurden mir die Jäger und Forſtgehilfen, zumal ich ihnen ſchon gezeichnet war als des alten berüchtigten Zrovnals Sohn, mit deſſen Auftauchen aus der Verborgenheit auch die Wilddiebſtähle erneuten Aufſchwung nahmen. Lange konnte ich’s nicht treiben, zu meinem Glücke, Alwin, mußte ich fort. Man überraſchte mich auf friſcher Tat, und nur einem Fehlſchuſſe des Hegers hatte ich’s zu danken, daß ich entkam. Über Annaberg hinaus, wo ich dich vergeblich ſuchte, zog ich weiter, ſtatt des Stutzzens wieder meine alte Geige auf der Schulter. Meine erſte Nachtherberge ſuchte und fand ich in der Höhle unter den großen Felſen, die ich aus deinen Erzählungen kannte.“
„Unter den Greifenſteinen?“, fragte Alwin Pfitzner.
Benedikt nickte und fuhr fort: „Im Zwickauer Kohlenrevier fand ich Arbeit, ich vergrub mich in der ſchwarzen Tiefe und verdiente mir, wenn auch mit Anſtrengung, meinen Unterhalt reichlich. Bald aber ſollte ich gewahr werden, daß ich von dem Schauplatze meines früheren Treibens noch nicht weit genug entfernt war, wenn man auch nach meinen nicht ganz vorſchriftsmäßigen Papieren wenig gefragt hatte. Der Ruf nach Arbeitskräften war auch über die böhmiſche Grenze gedrungen, und eines Tages gewahrte ich unter der Belegſchaft bekannte Geſichter aus der Preßnitzer Gegend. Ich wollte mich nicht entdecken laſſen, nachdem ich den Segen ehrlicher Arbeit, mir damals ganz neu, empfunden hatte, ließ mir mein Abkehratteſt geben und zog weiter. Mein Ziel war Weſtfalen, das ich von meinen Kameraden öfter als geprieſenes Arbeitsfeld hatte nennen hören. Und hier, nicht weit von dieſem Ziele, bin ich hängen geblieben, wie du ſiehſt, Alwin.“
Der Erzähler ſchwieg und ſtocherte gedankenvoll mit einer Haarnadel ſeiner verſtorbenen Frau den niedergebrannten Docht der kleinen Öllampe wieder in die Höhe.
„Merkwirdig, hechſt merkwirdig, weeß Tneppchen“, ſprach der ſächſiſche Händler und Mime ebenfalls gedankenvoll, dabei den Kopf ſchüttelnd und dann ſein Glas „Steh-Julchen“ leerend.
„Was dabei beſonders merkwürdig ſein ſoll, kann ich nicht finden, Alwin, es ging alles ganz natürlich zu, auch das Folgende. Ich hatte hier in Angerbeck in einigen Häuſern vorgeſprochen, denn der Hunger plagte mich wie heute. Aber ein grimmer Polizeimann, der Drückeferken, war mir auf der Spur. So verſuchte ich mich weiterzuſchleppen, denn ich wollte mich, ſo nahe dem Ziele, nicht ins Priſon bringen laſſen. Allein, allein – –“
Ein Weilchen hielt der Sachſe ſeine Ohren noch geſpitzt, doch vergeblich. Benedikt ſaß, die Ellenbogen auf den Knien, wieder in ſeine Träume verſunken da.
„Allein, allein, allein, allein, wie kann der Menſch ſich trügen – Erzähl Er nur weiter, Herr –“, fiel Alwin Pfitzner in des Wandsbecker Boten Lied nach der Beethovenſchen Melodie, ſchlug ſich dann aber ſelber auf den Mund, ſchaute ſich ſcheu nach der Stubentür um und ſagte leiſe und paſſender: „Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wiſſen.“
So glatt und leicht, wie er ſich’s dachte, kam aber der fahrende Mann nicht zu der erwünſchten Klarheit und Erkenntnis, und er mußte weiter ſehen, ſich gelegentlich zu unterrichten. In dieſer Nacht oder vielmehr in dem auf dieſe Nacht folgenden Morgengrauen aber warf ihm gnädig das Schickſal noch einige Brocken hin, das jetzt in Geſtalt des Wachmeiſters Samuel Drückeferken in der aufgeſtoßenen Haustür daſtand.
„Gott ſoll mich bewahren! Ich denke, mich rührt der Schlagfluß dahier auf dem Süll! Gezecht und gebrüllt wird allhier! Und das ſoll ein Trauerhaus ſein! Iſt es nicht genug, daß ſich das Auge des Geſetzes den Schlaf ausreiben muß für die Allotria auf dem Schützenhofe da draußen bis in den hellen Morgen hinein! Muß man noch Poſten ſtehen am Sarge von Frau und Kind, daß der betrübte Witmann, Vater und Hansnarr die Nachbarſchaft nicht aufſtört bei nachtſchlafender Zeit! Herrr –! Himmelbombenelement, iſt das nicht gar der – der – der billige Jakob aus Sachſen, den er ſich als Saufkumpan in ſeine Spelunke invitiert hat und mit der Madam Kruſiuſſen ihren Weinpullen traktiert?“
„Zu dienen, Herr Bolizeier“, ſagte der Freund Benedikts, ſich höflich verbeugend, „Alwin Pfitzner aus Annaberk in Sachſen, ſehr verbunden!“
„Darum alſo habe ich Ihm, freilich gegen meine perſönliche Überzeugung, den Weinkorb hineingeſetzt, daß Er ſich aus ihm mit ſolch einem doll und voll ſäuft! Sobald alſo kommt die Freude zum Durchbruch, daß er die zwei da drinnen los iſt, die Er ſich in Seinem Leichtſinne aufgeladen hatte! Und um den dritten Freſſer mag ſich ja nun auch die viel zu gute – daß ich nichts anderes ſage – Frau Magiſtrat kümmern! Iſt es nicht genug damit geweſen, daß Ihn den ganzen Tag in ſeinem Peijazkittel der Hafer geprickelt hat!“
Benedikt Zrovnal war aufgeſprungen und wehrte nun dem Redefluß des Vertreters der Angerbecker Obrigkeit.
„Drückeferken!“
„Zum Deibel mit Seinem infamen Drückeferken! Habe ich es Ihm heute nicht ſchon mal unter Seine niederträchtige Naſe gerieben, daß ich für Ihn der Herr Wachmeiſter bin!“
„Herr Wachmeiſter denn! Sie wiſſen doch recht gut Beſcheid. Hatte nicht der hochweiſe Rat dieſer Stadt die bunten Lappen als Bedingung an die Verleihung des Heimatrechtes und den Konſens zu meiner Heirat gehängt? Mußte ich nicht mein Bürgerrecht mit der Annahme des erledigten Poſtens eines Pritſchemeiſters erkaufen? Hätte man mich nicht mit Ihrer Hilfe unbarmherzig nach meiner kaum vollendeten Geneſung aus hieſigem Krankenhauſe und dem Weichbilde Angerbecks abgeſchoben, wenn ich ihn nicht angenommen hätte?“
„Hätte, hätte, hätte man’s doch getan, ſo wäre man geſcheiter geweſen, als wie man jetzo daſteht und die Schande für das ganze Gemeinweſen der Stadt mit anſehen und hineinfreſſen muß!“
„Mei guteſter Herr Wachmeeſter, ſin Se doch nor gemitlich, ich färchte, Se wären uns noch den ganzen rickſtändigen Schitzenfeſtrummel auf den Hals hetzen, wenns Se ſo weiter bläken“, warf der Sachſe höflich ein, „un daß dieſes hier nich grade äne baſſende Unterkunft fir ahngeheiterte Nachtſchwärmer is, erlaube ich mir gitigſt aus Ihren eigenen heechſt beachtenswerten Redensarten zu entnehmen. Benedikt, hier fehlt mal wieder mei Stichwort und der Herr Direktor Xylander.“
„Wozu der Lärm? Was ſteht dem Herrn zu Dienſten?“, fragte hier eine Stimme über den Süll herüber, und durch die noch offene Haustür ſchritt die zu dieſer Stimme gehörige Perſon herein. Mephiſtopheles war’s nicht, wenn auch die drei da drinnen, jeder von ſeinem Geſichtspunkte aus, das Erſcheinen des Teufels nicht eben als etwas Beſonderes angeſehen hätten. Es war der ſoeben von Alwin Pfitzner an die Wand gemalte fürſtliche Theaterdirektor, der da, ſelbſt wie ein Fürſt, ſeinen breitrandigen Künſtlerhut von ſeinem ehrwürdigen Haupte nahm und mit einer unnachahmlichen Handbewegung den freudigen Anruf ſeines Akteurs auffing und abſchnitt.
„Ja, Gottlob kommt er bei jedem Szenenwechſel immer noch auf die Sekunde, auch ohne die Klingel des Regiſſeurs. Theophil Xylander, fürſtlicher Direktor“, ſtellte er ſich einfach und würdig vor und heftete ſein großes tiefes Auge auf dasjenige des Geſetzes.
Der „rocher von bronze“ ſchwankte, der Wachmeiſter Samuel Drückeferken trat unſicher einen Schritt zurück und verſchluckte den angeſtauten ferneren Redeſtrom.
„Sehr verbunden, Herr Wachmeiſter, daß Sie mich durch Ihre weittragende Stimme, dem Nebelhorne gleich, den rechten Weg durch die Nacht in dieſe Höhle finden ließen. Das hier alſo iſt das Schloß von Angerbeck! Und Sie, mein Gaſt von heute abend, ſind der Schloßherr, von dem tagsüber die Spatzen auf den Dächern pfiffen und jetzt, da die verehrte Einwohnerſchaft Angerbecks wie ſie ſich behaglich im Neſte ſtreckt und bis morgen ihre wohlmeinende Anſicht über den lieben Nächſten nicht über das Ehebett hinaus weiter zu geben braucht, auch wohl die Heimchen zirpen mögen, wenn, vom Lichte aus dem Sterbehauſe angezogen, der Kauz und der Uhu ihnen nicht dabei in die Quere kommen. Den letzten der beiden Nachtvögel nehme ich auf mich, Herr Wachmeiſter. Ich fürchte, die Angerbecker Obrigkeit und Bewohnerſchaft wird fürs erſte morgen früh noch eine andere Frage ventilieren, wo nämlich ihre Polizeiorgane geſteckt haben, während die Stacketlatten vor dem Brauhauſe zur Triumphſänfte für den neugebackenen Schützenkönig erhoben werden. Wenn Sie den Atem anhalten, Herr Wachmeiſter, hören Sie das Holz in unſer Todesſchweigen hinein noch ganz deutlich krachen.“
„Gott ſoll mich bewahren, Herr – Herr fürſtlicher Direktor, Sie haben recht! O dieſe Schwebelbande! Da ſoll doch gleich der Deibel zwiſchen fahren! Mit Ihrer gütigen Permiſſion – –“
Der pflichtgetreue tapfere Wachmeiſter Samuel Drückeferken ſchoß über die Schwelle wie eine gefangene Ratte, der ſich plötzlich die Klappe ihrer Falle öffnet. „Donnerlittchen!“, atmete er in der kühlen Nachtluft auf. „Lieber einem halben Dutzend beſoffener Schmiedegeſellen unter die Fäuſte geraten, als noch eine Minute länger in der Bude unter dem Feuer dieſer Augen verſengen! Ich glaube beinahe, der Kerl iſt ſchlimmer mit ſeinen Augen und ſeinem Maulwerke, als die Madam Kruſiuſſen!“
Drinnen im Schloſſe zu Angerbeck aber rief Alwin Pfitzner: „Haſte itze was bemerkt, Benediktus, wie Eener de Leite zu nehmen verſchteht? Herr Direktor, wie Ziethen aus dem Buſch!“
„Alwin, ich ſehe“, ſagte Theophil Xylander, „daß du trotz meiner guten Schule es in dieſer Kunſt immer noch nicht weit gebracht haſt. Wir ſind hier nun unter uns, welche Redensart ich wohl auch in Bezug auf dieſen unſern mir bis heute abend völlig fremden fellow-passenger anwenden kann. Denn was menſchenmöglich war, mir ſeit Schluß unſerer Vorſtellung im Honoratiorenſtübchen des Schankzeltes und auch ſonſt auf dem Schützenplatze, im Schießhauſe, vor den Leckerlibuden, kartheſianiſchen Teufelchen, Kraftmeſſern und auch auf dem Tanzboden über den Herrn Pritſchemeiſter nach Lebenslauf und Charakter Wiſſenswertes mitteilen zu laſſen, iſt geſchehen. Ich bin Ihrer Ölfunzel und dem Wachmeiſter dankbar, daß ſie mich nach dem Schloſſe zu Angerbeck nicht lange ſuchen ließen und ich hier die beſte Gelegenheit finde, meine eigene Auffaſſung an Ort und Stelle – in aller Ruhe, wenn’s den Herren nicht ſtörend iſt – mir zurecht zu legen. Zunächſt aber geſtatten Sie –“
Der fürſtliche Theaterdirektor trat über die Schwelle hinaus und – wieder ein mit einem großmächtigen Lorbeerkranze in der Hand, den er wohl vorher an die Hauswand gelehnt haben mochte.
„Sehen Sie darüber hinweg, Schloßherr, daß ich mit fremdem Kalbe pflüge. Was aber ſoll mir der Ehrenkranz, für mein heutiges Benefiz wohl extra aus der Hauptſtadt verſchrieben, noch mehr, als mich erfreut zu haben? Morgen ſchon würde er mir ein überläſtig Frachtſtück. So leuchten Sie mir dazu, ihn als ein Zeichen meiner Teilnahme Ihrer Frau und Ihrem Kindchen auf den Sarg –“
„Herr Direktor, das wiſſen Se ooch ſchont! Und ich tu alles nor ſo beh a beh erfahren!“
„Was man nicht weiß, das eben brauchte man“, fertigte der Chef ſeinen Akteur anzüglich ab und folgte dem jungen Witwer, der die Öllampe in zitternder Hand trug, in die Stube, während Alwin ſich auf dem Hausflur im Hintergrunde hielt.
Benedikt nahm dem fürſtlichen Theaterdirektor den ſchweren Kranz ab und legte ihn auf die ſchwarze Truhe, die zur Hälfte unter ihm verſchwand. „Nicht alſo“, ſprach der Spender, „ich will Ihr Liebſtes und die zarten Blumen hier nicht damit erdrücken, nur ihnen zu Füßen wollen wir ihn legen.“ Behutſam nahm er das Kunſtwerk aus der Hauptſtadt wieder vom Sargdeckel herab und lehnte es an das Fußende, über das die beiden weißſeidenen Enden der Schleife nun zu beiden Seiten niederhingen. Auf ihnen prangten in Golddruck die üblichen Widmungsworte: „Dem Verdienſte – ſeine Kronen.“
Theophil Xylander wies mit dem Finger darauf. „Verdient hat ſie ſie auch, und nach allem, was ich von ihr gehört, wohl mehr als ich – aber bekommen davon haben wir nur das Schaumgold – günſtigſten Falles unter der Druckerpreſſe dieſer Welt. Hoffen und glauben wir, daß ihr vom höchſten Intendanten die Krone des Lebens verliehen worden.“ –
Benedikt Zrovnal ſchluckte und murmelte: „Herr Direktor, womit habe ich das verdient?“
„Kann mich nicht entſinnen, daß ich von Ihrem Verdienſte geſprochen hätte, nur von dem ihrigen da, Herr Pritſchemeiſter. Ach, dort hängt ja Ihre Violine, mit der Sie den Stammgäſten der ‚Goldenen Gans‘ zu Annaberg vor alters aufgeſpielt haben. Nun, Mann, tragen Sie mir Ihre Oriflamme wieder vorauf und pflanzen Sie ſie auf dem Herde als Feldzeichen auf! Die hier aber wollen wir ſchlafen laſſen zu einer fröhlichen Urſtänd. O–o–o, hier iſt Ihnen wohl etwas zerbrochen, es ſcheinen Glasſcherben da zu liegen. – Rücke zu, Alwin, und gönne mir für einen Augenblick noch ein Plätzchen auf der Bank. Dort im Winkel unter der Treppe haben Sie noch einen leidlichen Vorrat an Brennholz liegen, und trotz der warmen Nacht draußen fängt es an, mich hier wie einen Troglodyten zu fröſteln. Beim kniſternden Herdfeuer plaudert ſich’s auch angenehmer. Den Weinkorb aber laſſen Sie in Ruhe, mich verlangt nicht darnach.“
Bald flackerte die Flamme auf, und Theophil Xylander ſaß auf der Bank, ſtützte den einen Ellenbogen aufs Knie und ſein ehrwürdig Haupt auf die Hand. Mit der andern ſtrich er ſich die ſpärlichen Haarreſte vom Hinterkopfe über den kahlen Schädel herauf, daß dieſer im rötlichen Feuerſchein Alwin Pfitzner an eine Sardellenſemmel erinnerte, und heftete dann ſeine großen, durchdringenden Augen auf den ihm gegenüber ſitzenden Witwer.
„Es kann Sie nicht Wunder nehmen, mein Herr Wirt, wenn ich mich als ein Mann vom Fache für Sie intereſſiere, aber auch unterſcheide zwiſchen dem Schauſpieler und ſeiner Rolle. Sie haben die Ihrige heute nicht ſchlecht geſpielt, auch was das Exterieur, die Koſtümierung anlangt.“
„O Herr Direktor, mir war es bitterer Ernſt damit, trotz dem, was Sie hier geſehen!“
„Herr Direktor“, kam auch Alwin Pfitzner ſeinem Freunde zu Hilfe, „er hat es der netigen Pfenge wegen getan, daß er ſeiner liewen Frau doch än ahnſchtändiges Begräbnis konnte bieten!“
Jetzt ſtrich ſich Herr Xylander nicht über die Glatze, ſondern vor Alwin ſehr geringſchätzend durch die Luft. Weiter beachtete er ihn nicht, hielt vielmehr ſeine Augen in der alten Richtung.
„Daß Sie mit Ihrer Geldnot den Wachmeiſter Drückeferken und das andere kluge und dumme Publikum nur düpieren wollten, iſt mir klar, ſpricht aber weiter für Ihr Talent. Der Frau aus der Apotheke, die Sie gründlich kennt, wie ich im Honoratiorenſtübchen wohl vernommen habe, können Sie keinen Sand in die Augen ſtreuen, Sie – Sie Eigentümer des Schloſſes zu Angerbeck.“
„Alabonnähr, zum Hausbeſitzer hat erſch gar gebracht, und ich denke doch, das is hier ſo ’ne Art von ſtädtiſchem Arm… – – von Amtswohnung!“
„Das Häuschen habe ich mir mit einem kleinen Erbteil meiner Frau erſtanden zur Erwerbung meines Heimatrechts!“
„Ja, Benedikt, da warſch doch erſcht recht äne Dummheet mit der Pulle Blauſeire vorhinſt.“
Der Böhme verbarg ſein Geſicht in den Händen, der Theaterdirektor aber murmelte: „So iſt alſo mein Autolicus, dieſer alberne Menſch, doch einmal wieder zu etwas zu gebrauchen geweſen.“
„Herr Direktor, er hat mrſch zugeſchworen –“
„Sei jetzt ganz ruhig, Alwin“, ſagte Herr Xylander in auffallend mildem Tone. „Mann, Sie leiden unter dem Gefühle, nicht verſtanden zu werden.“
„O, die da drinnen hat mich wohl verſtanden, immer verſtanden!“
„Herr, mag ſein. Sagen Sie mal, warum haben Sie nicht als echter Böhme und guter Muſikant einen – ehrenvollen Poſten als erſter Geiger bei der Stadtmuſik, der Ihnen angetragen worden, angenommen? Warum haben Sie Ihre Violine an den Nagel gehängt?“
„Ich habe ſie oft genug von ihm abgenommen, Herr Direktor, und meinem Weibe an den langen Winterabenden hier am Herde vorgeſpielt, und ſie wurde nicht müde, auf dem Spinnrocken den Takt dazu zu treten, und in manches Lopp Garn aus Angerbecker Flachs, den ich ihr in den Rotten dort unten am Schüttenhofe erweicht und hier vor dem Hauſe zum Trocknen aufgeſtellt, habe ich meine böhmiſchen Weiſen einflechten müſſen. Ich meine, auf ihrem letzten Laken da drinnen mag ſie wohl ſanft ſchlafen.“
Herr Direktor Theophil Xylander räuſperte und ſchneuzte ſich vernehmlich und ſtörte mit eigener Hand in dem Herdfeuer. „Soviel Arbeit um ein Leichentuch! Aber weichen Sie mir nicht aus, Schloßherr, warum ſind Sie nicht Stadtmuſikante geworden?“
„Darüber könnte Ihnen mein Weib auch die beſte Auskunft erteilen. Weil das Pritſchemeiſteramt nur einmal im Jahre, wie am heutigen Schüttenhofe, zu verwalten war, Herr Direktor, die Tanzmuſiken hier und auf den Dörfern in der Runde faſt jede Woche einfielen!“, jammerte Benedikt Zrovnal wie mit den Daumen zwiſchen der Schraube.
„Der Grund läßt ſich hören!“, höhnte der Großinquiſitor unerbittlich. „Mit Faulheit iſt noch niemand auf einen grünen Zweig gekommen.“
„Das war es nicht, Herr fürſtlicher Direktor, das war es wahrhaftig nicht! Ich hab’s ja verſucht, und Kriſchan Wagener hätte mich gern behalten bei ſeinem Corps als erſten Geiger, aber –“
„Nun, aber?“
„Ach, ich kam meiner Frau, trotz meiner beſten Vorſätze, immer in einem Zuſtande nach Hauſe, der ihr nicht gefiel. Und auf ihre Bitten und Vorſtellungen hin habe ich mich deſſen begeben!“
Der fürſtliche Direktor erhob ſich von der Bank und ſchritt, die Hände auf dem Rücken, im Raume auf und ab.
„Sehen Sie wohl, Herr Chef, ſie hat ihn um den Finger wickeln kennen. Alabonnähr vor ſo äner intakten Frau! Ei ja, die täte uns ooch nich ſchaden! Von Suff und edlem Waidwerk und ibrigen Mucken hatſen kuriert!“
Herr Xylander blieb vor Benedikt Zrovnal ſtehen und gab ſeiner Meinung klaſſiſcheren Ausdruck. „Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt. Was denken Sie zu tun, wenn Sie der Mutter Erde ihr Liebſtes übergeben haben?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Böhme kläglich. „Nicht bloß auf dem Schüttenhofe habe ich den Angerbeckern Anlaß zum Mißfallen gegeben.“
„Das kann ich mir nun denken! Ordnen Sie Ihre Angelegenheiten hier in dem, was Ihnen noch geblieben iſt. Und dann – gehen Sie in die Apotheke und holen ſich Ihr Lebenswaſſer von der Frau Kruſius. Doch – ſtill! Mich dünkt, ich wittere Morgenluft!“
Damit ſchritt er, die Dankesworte Benedikts abſchneidend, freundlich nickend in den neuen anbrechenden Tag hinaus, gab aber im Abgehen ſeinem Faktotum verſtohlen einen Wink zu bleiben.
Alwin Pfitzner puſtete vor dem ſieghaft aufſteigenden Morgenlichte die trübſelig ſchwälende Lampe aus.
„Wenns de niſcht derwider einzuwenden haſt, Benedikt, mechte ich noch än Weilchen in deiner ahngenehmen Geſellſchaft verbringen und mich ä weng nitzlich machen bei dem, was nu kommt. Zum Ausſchlafen hammer ſchpäter bis zu Mittage Zeit genung. Du awwer tu nu endlich deiner vielgeprieſenen Madam aus der Aptheke die Ehre ahn und lange zu. Ich hawe dir doch noch den Lewenahnteil dervon iwerlaſſen.“
Und während Benedikt nun wirklich ſeiner Aufforderung Folge gab, griff er zu Schippe und Beſen, die er an der Wand hängen ſah, ging in das Gemach des Todes und kehrte vorerſt die Scherben der zertrümmerten Giftflaſche zuſammen.
Neuntes Kapitel.
Marie Zrovnal wird zur Ruhe gebracht, und Alwin Pfitzner aus Sachſen ſchwört ihrer Tochter Treue bis in den Tod.
Der Tag, der neue Tag, in den wir mit unſerer Erzählung den Leſer ganz unbemerkt, ohne Zubettgehen und Auſſtehen, Gutenacht- und Gutenmorgenſagen, geführt haben, brachte in Angerbeck manches zur Ruhe, obwohl auch er in eigener Unruhe wenig hinter ſeinem Vorgänger zurückblieb.
Am Angertore mühten ſich ſchon ſehr früh vor Beginn des gewöhnlichen Tagesverkehrs die Straßenwärter ab, das zum teil ſcheußliche Konglomerat der zerſtörten Barrikade auf einem zweiſpännigen Kaſtenwagen zu verladen und auf den ſeiner Bepflanzung und Verſchönerung harrenden „Stern“ im Stadtparke auszuſchütten.
Etwas ſpäter, nachdem das Gros der Angerbecker Jugend von der Schule abſorbiert und alſo unſchädlich gemacht war, ſtand Chriſtian Göhmann, der Karuſſellbeſitzer aus Hameln, zwar nicht mehr auf ſeiner Leiter an der ſchaukelnden Holzbirne, wohl aber auf der Kommandobrücke und wies ſeine Leute an, die Pferde, Löwen, Hirſche, Kutſchen und Schiffe aus ihrem Wirkungskreiſe zu löſen und ſie, kunſtgerecht aneinander gepfercht, auf bereitſtehenden Fuhrwerken unterzubringen und die Sammetbehänge, Goldtreſſen und Lampen in ihre Kiſten zu packen. Karl Sanders’ verſchlafener Ganymed ſonderte verdroſſen im verödeten Schankzelte den Weizen von der Spreu, die widerſtandsfähigen Bier-, Wein- und Schnapsgläſer von ihren ſchwächeren verunglückten Genoſſen. Der Tempel der Dianen verſchwand aus der Reihe der Weltwunder Angerbecks, und ſogar die weltbedeutenden Bretter Theophil Xylanders, auf denen ſich vier Wochen lang die erhabenſten und wunderlichſten, die traurigſten und luſtigſten Szenen vor mehr oder weniger vollbeſetzten Bänken abgeſpielt hatten, bedeuteten um die heutige Mittagsſtunde nur noch einen Haufen Holz.
Auch die Bretter, die Benedikt Zrovnals Welt umſchloſſen, waren aus dem Schloſſe zu Angerbeck hinausgetragen, zur Ruhe gebracht und auf Sankt Severini Friedhofe mit einem Erdhügel bedeckt worden.
Jedweden geiſtlichen Zuſpruch hatte ſich der Böhme durch die gewiſſenhafte Ausfüllung ſeines ſtädtiſchen Narrenpoſtens verſcherzt, auch wenn er nicht als „Katholik oder Türke“ vereinſamt in der Diaſpora geſtanden hätte. Alwin Pfitzner aber war getreulich an der Seite ſeines Freundes als zweiter und letzter Leidtragender mit dem Kranze des Theaterdirektors hinter der Bahre hergeſchritten, nachdem die Totenfrau und die Träger vorläufig mit ſeinem Gelde abgelohnt worden waren.
Er hatte Benedikt die Schaufel aus der Hand genommen und das zweite Häuflein fruchtbarer Erde auf das Samenkorn zum Hineinwachſen in die Ewigkeit geſtreut. Und wir, Berichterſtatter wie Leſer, können damit zufrieden ſein, auch daß ihm Schillers Lied von der Glocke dabei nicht gegenwärtig war und ihm aus einer ſeiner Rollen auch gerade nichts Paſſendes einfiel, ſeinen Freund und uns damit zu quälen in der troſtreichſten Abſicht.
Alle ſeine ſchönen Worte waren ihm abhanden gekommen, und nachdem er bereitwillig auf Benedikts Vorſchlag, ſein übernächtig Daſein in der Dachkammer des Schloſſes zu verſchlafen, eingegangen war, meinte er nur kopfſchüttelnd: „Es geht doch närgends närriſcher her als in der Welt, Benediktus! Daß nu deine liewe Frau ooch grade heite mußte nausgetragen werden und mir Blatz machen!“
Bis in den hellen Mittag hinein lagen die beiden, und Frau Marie mit ihrem Söhnchen an der Bruſt konnte nicht ruhiger und tiefer ſchlafen draußen auf Sankt Severin als die beiden Geſellen in ihrer ihnen abgetretenen Kammer.
Als aber die Sonne ſich dem Zenit ſo weit als möglich genähert hatte und nun durchs Dachfenſter ſenkrecht auf Benedikts geſchloſſene Augen fiel, ward er unruhig. Ein wirrer Traum, in dem das Licht mit der Finſternis rang, mochte ihn ängſtigen, und jäh fuhr er empor mit dem Rufe: „Marie! Milenko!“
Er ſaß auf ſeinem Lager mit ausgeſtreckten Armen, aber die im Traum geſchaute Lichtgeſtalt entſchwand ſeinen geöffneten Augen, und an ihrer Statt erhob ſich der ſächſiſche Handelsmann und Mime und glotzte ihn verſchlafen und dämlich an.
„Alwin Pfitzner aus Annaberk, zu dienen! – Haſte mir gemeent, Benedikt?“
Der aber war ſchon aufgeſprungen und fuhr in ſeine Kleider. „O Alwin, jetzt eben ſtand ſie vor mir wie im Leben! Ich lag krank, wie einſt vor zehn Jahren im Siechenhauſe, und ſie trat an mein Lager, am Arme den Korb mit den ſtärkenden und heilenden Sachen aus Frau Kruſius’ Küche und Herrn Kruſius’ Offizin, freundlich, wie ſie mir immer erſchien, ein Engel, ſeine Gaben austeilend! Und doch liegt ſie vor dem Tore auf Sankt Severin! Ich muß hin zu ihr, ich muß an ihr Grab. Wie das klingt: an ihr Grab! Werde mich erſt an das Wort gewöhnen müſſen, Alwin.“
Er ſtürmte ſchon die Treppe hinab.
„Benedikt, Benediktus! Warte doch nur eenen Ogenblick, ſo tu mich doch ooch mitnehmen! Laß mich doch erſcht – Weeßderhole! Dorte läft er ſchont. Hat denn iwerhaupt mei Chef äne Ahnung dervon, wie ſchwer es is, uf ’nen Narren Achtung gewen!“
Zum Glücke hatte der helle Sachſe ſchon ſo viel topographiſche Kenntniſſe über Angerbeck geſammelt, daß er auf dem nächſten Wege dem enteilenden Freunde nachlaufen und ihn wirklich am Tore des Friedhofes einholen konnte.
„An Seitenſtechen ſcheinſt du ja nich zu leiden, Benedikte“, keuchte er, die Knöchel ſeiner linken Hand in die Gegend ſeiner Milz drückend. „Es iſt nor hibſch von dir, daß de noch ſo viel Einſehen haſt, mich nich iwer dieſe reihenweiſe ufmaſchierten Higel ſchtolpern zu laſſen un die ſchtillen Schläfer zu ſchteren!“
Gänzlich alles Lebens bar war der Ruheplatz der Toten für diesmal nicht. Am friſch aufgeworfenen Grabe der ſchönen Marie ſahen die Freunde eine Frau ſtehen, während ein kleines Mädchen aus einem Handkörbchen die rohe Erde mit Blumen beſtreute.
„Sie brauchen Ihrem Kumpanen aus Sachſen da nicht abzuwinken und ihn am Rockärmel zurückzuhalten, Zrovnal. Drückeferken hat ſeinen Polizeibericht ſchon abgelegt und wird ihn nicht gänzlich aus der Luft gegriffen haben.“
„Zu dienen, gnäd’ge Madam, Alwin Pfitzner aus Annaberk in Sachſen, der geſtern obnſt die Ehre hatte, ſich Ihnen als Schpitzbube Autolicus und Brummelbär zu bräſentieren un hernachens Ihnen die Ehre antun tat von wegen die Freſſalien un ä Gläſel Steh-Julchen als Buſenfreind von Ihrem Schteßer, awer immer als Ihr gehorſchamſter Diener un Faktotum des Herrn Direktor Xylander, der das Kränzel hier geſchtiftet hat.“
„Ja, ja, die Frau Amtsrichter Stelzer wird ihr blaues Wunder haben, wenn ſie entdeckt, wozu ihr Lorbeerkranz noch Verwendung gefunden hat. Aber es iſt ſehr freundlich von Herrn Xylander –“
„Na, un ob! Der weeß ſchont, wie’s ſo ’nem armen Teifel zumute is!“
„So hat auch er etwas Liebes verloren, begraben müſſen?“
„Nu, das tat’ch nich grade meenen. Was ſeine Eltern waren, natirlich, die hat er ja wohl ooch hergewen miſſen wie mir alle, awer das muß ſchont hibſch lange her ſein, un mit ſeiner Liebſten die Geſchichte ebenfalls, ’s war ooch vor meiner Zeit.“
„Eine Braut hatte er alſo auch, der alte Hageſtolz?“
„So was ähnlichs wärd’s ſchont geweſen ſein, das Reschen Sonnenburg. Awer – bitte, Frau Aptheker – er härt nich gern dervon reden, ’s war ooch, wie geſagt, vor meiner Zeit.“
Der geſchwätzige Alwin Pfitzner merkte ob ſeiner Verlegenheit nicht, wie die Frau aus der Apotheke zuſammengezuckt war und ihre Hand auf das hochſchlagende Herz gedrückt hatte.
„Nich wahr, meine guteſte Madam, Sie ſagen ihm niſcht dervon. Ich – ich weeß ja ooch weiter niſcht driwer zu vermelden, als daß ſe ſich als erſchte Liebhawern bei’ne eingefihrt hat. Awer ihre Rolle hat ſe nich lange ſchpielen kennen, indem daß ſe die Verzehrung wohl ſchont mitgebracht hat. Na, ich will awer niſcht geſat ham.“
Frau Kruſius bückte ſich über den Grabhügel und ordnete die zerſtreuten Blumen, bald aber nahm ſie in ihrer gewöhnlichen Weiſe das Wort.
„Sie dachten wohl in aller Einſamkeit hier in ſich zu gehen, Zrovnal? Hoffentlich ſind Sie aber jetzt nüchtern genug, um meine Anweſenheit und die der Kleinen ſich erklären zu können. Das will ich mir ſpäter von dem Kinde nicht nachreden laſſen, daß ich es von der alten guten Sitte, am Begräbnistage das Grab, zumal das ſeiner Mutter, zu beſuchen, abgehalten hätte.“
Benedikt Zrovnal ſtand am friſchen Hügel ſeines Weibes und hatte ſein Kind auf den Armen. Jetzt preßte er’s feſt an ſich, und Fränzchen ſchlang die Arme um ſeinen Hals und brach in Tränen aus.
„Iſt es denn wahr, Väterle, daß da unten unſere liebe gute Mutter liegt mit dem Brüderchen und mit der ſchmutzigen Erde zugedeckt iſt?“
„Ja, mein Fränzele! O Gott, das Kind kann den Tod noch nicht faſſen, Paní Kruſius! Aber nicht weinen, milenko! Wecke Mütterlein nicht auf. Sie ſchlafen beide ſo ſüß und wiſſen nichts von der ſchmutzigen Erde. Und dann – ſieh, du haſt ja ſchon ſo ſchöne Bliümeln draufgeſtreut, daß das Bett ganz bunt ausſieht. Und dann – ſpäter, wenn ich fort bin, kommſt du und pflanzt hübſche blaue Vergißmeinnicht in die Erde und Immergrün und Efeu und auch eine Roſe dazu! Und dann – iſt die Erde nie mehr ſchmutzig, dann iſt ſie grün und bunt wie ein ſchöner, ſchöner Garten, und die bunten Schmetterlinge kommen und ſpielen Haſchemännchen drauf, und Mütterchen hat ihre helle Freude dran.“
Das Kind lächelte ſchon wieder durch ſeine Tränen hindurch und zappelte, zu Boden geſetzt zu werden.
„Ei ja! Das tue ich! Und Fritz aus der Apotheke muß mir Käfer fangen! Ja, das muß er, wenn er auch nicht will! Die ſetzen wir zwiſchen die Blumen.“
„Dein Körbchen iſt auch noch nicht leer, Fränzchen“, meinte Frau Kruſius und ſtrich ſich über die Augen. Als die Kleine ſich ihrer Beſchäftigung jetzt doppelt eifrig hingab, wandte ſich Frau Ottilie wieder den beiden Männern zu.
„Das Kind habe ich fürs erſte notdürftig herausſtaffiert und es hergeführt, wenn ich ihm auch – den trübſeligen Eindruck und die demütigende Erinnerung eines Leichenbegängniſſes in der Form, die Ihnen beliebte, Zrovnal, erſpart habe. Von einem Menſchen, der nicht das Oberſte zu unterſt zu kehren und die Nacht zum Tage zu machen gewöhnt iſt, konnten Sie kein Gefolge erwarten. Und es iſt wirklich ein merkwürdiger Glücksumſtand geweſen, daß Sie nicht ganz allein Ihrer Frau das letzte Geleit zu geben brauchten.“
Benedikt ſtand da und ließ den Kopf hängen, und der Sachſe drückte ſich allmählich im Rücken der Frau Kruſius näher an das Kind heran.
„Na, Zrovnal, ich habe Ihnen nun den Kopf gewaſchen, Sie können ihn wieder heben. Es iſt noch nicht aller Tage Abend für das, was Sie noch in der Welt zu tun haben, für – das Vermächtnis Ihrer Frau, für das Kind. So ganz ein Jammertal iſt die Erde nicht, wie ſie Ihnen jetzt erſcheinen mag. Sagten Sie nicht ſelbſt zu der Kleinen, daß auch aus dieſem Hügel friſches Leben ſprießen wird? In ein fruchtbar Ackerland gehört nicht bloß Samen hinein, es gehört auch Regen drauf.“
„Paní Kruſius, milostpaní – gnädige Frau! O liebe gnädige Frau, ich weiß ja nicht, wie ich Ihnen danken ſoll für all das Gute, das Sie an mir, an uns getan haben.“
Er ſtreckte ihr beide Hände entgegen, und ſie – ergriff und ſchüttelte beide Hände.
„Wenn Sie es nicht wiſſen, was Sie tun ſollen, ſo werde ich es Ihnen ſagen. Kommen Sie zu mir in meine Eckſtube, da ſoll Ihnen kein Zweifel bleiben.“
„Ja, milostpaní, ich werde mich einſtellen. Der Herr Theaterdirektor hat mir in dieſer Nacht denſelben Rat gegeben.“
„So, hat er das? Herr Xylander iſt ein kluger Mann und ein angenehmer Geſellſchafter, weshalb ich ihn auch geſtern abend für heute nachmittag zu einer Abſchiedstaſſe Kaffee eingeladen habe, was mir ſämtliche Honoratioren Angerbecks wieder mindeſtens ein Jahr lang nachtragen werden. – Laſſen Sie uns hier ein wenig auf und ab gehen, Zrovnal, ich kann das lange Stillſtehen nicht vertragen. – Ja, er iſt ein kluger Mann, aber Sie kennt er doch zu wenig. Er bietet Ihnen eine Stellung bei ſeiner Truppe an, was meinen Sie dazu?“
„Hm, ich weiß nicht, ob ich mich dazu eignen würde“, entgegnete Benedikt geſenkten Blicks.
„Ob Sie ſich dazu eignen würden! Nun, ich muß ſagen, Sie haben geſtern eine glänzende Probe Ihrer Befähigung abgelegt. Alſo wollen Sie?“
„Ich weiß noch nicht, wirklich nicht.“
„So ſchämen Sie ſich, Mann! Soll die da unter dem Hügel wirklich zehn Jahre vergeblich gelebt und gelitten haben! Haben Sie ſich etwa nicht ſchon genug ihretwegen vorzuwerfen? – Seien Sie ruhig, ich weiß ſchon, was Sie ſagen wollen! Gewiß, geprügelt haben Sie ſie ja gerade nicht. Für Sie wäre ein bißchen Firlefanz und Komödiantenkram das reine Strychnin! Sie ſollen Ihrem Kinde ein Vater werden, zu dem es ſpäter mit Achtung auſſehen kann. Denn wiſſen Sie, wann es, wie jetzt da, um meines Mannes oder meinen Hügel herumſpringen wird? Und damit Sie ſich beſſer den redlichen Schweiß und auch die Geringſchätzung Ihrer lieben Nächſten abwiſchen können, ſo laſſen Sie ſich vor allen Dingen Ihre loddrigen Polkalocken abſchneiden, die mir ſchon längſt ein Greul geweſen ſind.“
„Sie ſtrich ſo gern darüber“, ſagte Benedikt zu ſeiner Entſchuldigung.
„Ja, ja, ſo ein bißchen fürs Äußerliche war ſie wohl und hat ſich auch zuviel darum geplagt, bis ihre Krankheit dem allen ein Ziel ſetzte und die Spitzchen und Schleifchen, mit denen ſie ihr Fränzchen behing, im rauhen Windſtoße der Not davonflatterten. Und eine Delila war ſie auch nicht. – Übrigens gefällt mir von Ihnen, daß Sie mit Ihrem alten Bekannten da – obwohl mir ſein Charakter bis jetzt zweifelhaft erſcheint – gute Freundſchaft halten und der Hügel ſich nicht zwiſchen Sie und ihn gelegt hat. Ich kann die Leute nicht ausſtehen, die bei einem Trauerfalle ihre beſten Freunde behandeln, als hätten dieſe den Verſtorbenen böswillig umgebracht. – Gegen Abend kommen Sie wohl in die Apotheke, um mit meinem Manne und mir Ihre Angelegenheiten ins reine zu bringen. Doch, – o du himmliſcher Vater, der Menſch, ihr Freund aus Sachſen, leidet wohl am Schafwurm oder iſt vollends übergeſchnappt!“
Dieſer zum elegiſchen Frieden eines Gottesackers wenig paſſende Ausruf Frau Ottiliens war nur zu berechtigt durch einen Blick auf Alwin Pfitzner und die kleine Franziska Zrovnal. Denn erſterer ſtampfte mit ſeinen langen Beinen unermüdlich um das jüngſte Grab herum und haſchte nach der letzteren, ihr mit Vorbedacht aber immer ſoviel Vorſprung laſſend, daß der Hügel zwiſchen ihnen blieb.
Des Mädchens Wangen glühten, und ſeine Augen leuchteten vor Luſt, das ſchwarze Röckchen und die dunklen Haare flogen, und hoch in der Luft ſchwenkte es fröhlich jauchzend über das Ungeſchick ihres neuen Bekannten das geleerte Blumenkörbchen.
„Sehen Sie, Benedikt, heute morgen haben Sie ſie begraben, und jetzt ſchon regt ſich das Leben neu an ihrem Hügel! Zeigt uns nicht der alberne Menſch da, daß die ewige Auferſtehung kein Wunder iſt, daß der ewige Tod vielmehr eins wäre? – Fränzchen, Fränzchen! Mädchen, willſt du gleich! Stillgeſtanden! Du holſt dir in deiner Tollheit auch noch den Tod! Und Sie, Sachſe, können Ihre Döneken anderswo treiben, als hier auf Sankt Severin!“
Der Sachſe hatte ſchon die ſcharfen Augen der Frau Apotheker Kruſius herüberblitzen ſehen, und mit einem Hechtſprunge, den ihm ſeine kleine Geſpielin nicht zugetraut, hatte er das Hindernis genommen und ſchloß nun das erſchöpfte, nach Luft ringende Kind in ſeine Arme.
Es ſuchte ſich loszumachen. „Wir ſpielen nur Haſchemännchen! Der Onkel Alwin iſt ein Laufkäfer, und ich bin ein Schmetterling, ein Trauermantel, und Mütterchen freut ſich darüber!“
Frau Kruſius mußte ſich bemühen, auf dem Friedhofe ihren Ernſt zu bewahren, und ſelbſt über das Antlitz Benedikts huſchte ein Sonnenſtrahl, er warf ſeinem Freunde keinen böſen Blick zu.
Die Kleine war frei. „Onkel Alwin ſagt, wenn ich groß wäre, ſollte ich nach Sachſen kommen. Das iſt weit, weit, da muß man mit der Eiſenbahn fahren, die geht puff, puff!“
Und puff! hatte die ſonderbare Spezies von Carabus die kleine Fauſt im Rücken. Der langbeinige Laufkäfer aber erwiſchte ſeinen Schmetterling doch noch einmal auf ſeiner Flucht hinter die Röcke der Frau Kruſius.
„Fränzchen, wenns de reiſen tuſt, ſo fahr nor zweeter Klaſſe,
un wenns de Kaffeetrinken tuſt, zerbrich nor nich die Taſſe.“
Frau Ottilie hatte vollauf genug von dem ſehr unpaſſenden Benehmen. Sie nahm das Mädchen bei der Hand und ſchritt, die Männer hoheitsvoll grüßend, dem Tore zu. „Ich will Sie nicht länger in Ihrer Betrübnis ſtören, Zrovnal, und Sie von meiner läſtigen Gegenwart befreien, Herr Sachſe.“
Verhindern konnte ſie es indes nicht, daß Fränzchen durch den lückenhaften Zaun noch hier und da mit Alwin Pfitzner ſich neckte und dieſer dem Kinde zum Abſchiede zuflüſterte:
„Unſere Freindſchaft die ſoll worzeln,
bis mir ooch ins Grab nein porzeln.“
Frau Ottilie hatte auf dem Heimwege von Sankt Severin ihre eigenen Gedanken, und alle liefen auf den einen Namen zuſammen, den ſie aus dem Munde des närriſchen ſächſiſchen Mannes vernommen: Röschen Sonnenburg! „Oft kommt ein nützlich Wort aus ſchlechtem Munde.“
Zehntes Kapitel.
Tobias Kruſius lobt ſeinen duftenden Karzer. Fritz Kruſius ſchreibt ſein Tagebuch und beklagt ſein Schickſal.
Am Montag Nachmittage lag die Ruhe, die nach dem geſtrigen Schützenfeſte wie eine allgemeine Abſpannung in Angerbeck herrſchte, immer noch ganz beſonders über der pharmazeutiſchen Praxis und dem Handverkauf des Apothekers und Magiſtrats Tobias Kruſius. Nach der Hoffnung Frau Ottiliens aber war die Ruhe in der Offizin ihres Mannes mehr eine Stille vor als nach dem Sturme. Hatten die Leute geſtern vor Vergnügen und heute vor dem Ausſchlafen keine Zeit zum Krankwerden, ſo würden ſie morgen zu ihrem Leidweſen und dem Apotheker zur Genugtuung ſchon erfahren, daß ſich’s auf dieſer mangelhaften Erde, alſo auch auf dem Schüttenhofe zu Angerbeck, nicht ungeſtraft unter Palmen wandeln läßt.
Da die Sonne ſich noch nicht ganz hinter den heraufziehenden Wolken verkrochen hatte, alſo draußen über Straße, Hof und Garten noch eine brütende Sonnenſchwüle lag, genoß Herr Kruſius dieſe Ruhe in ſeiner Weiſe in der kühlen Offizin. Er ſtand an ſeinem eichengemalten Stehpulte zwiſchen den beiden Fenſtern, das ganz ähnlich dem Blumentiſche ſeiner Frau ſeine Stütze nur in einem ſchräg gegen die Wand geſtemmten Beine hatte.
Auf dem Pulte hatte das Rezeptjournal, in Großfolio aufgeſchlagen, ſeinen ſtändigen Platz. Aus dem letzten mit dem Datum verſehenen Recipe war leider erſichtlich, daß ſich ſeit vorgeſtern kein Eintrag nötig gemacht hatte. Trotz dieſer eigentlich ſehr niederdrückenden Tatſache ſah Herr Kruſius weder unfreundlich noch ſorgenvoll drein. Er ritt ſich aus dem wohlbeſetzten Marſtalle ſeiner Steckenpferde heute eins zu, das mehr in ſeinen Beruf, als Etymologie, vergleichende Sprachenkunde, Drehbank, Lötrohr, Feile, Eiſenbohrer oder Hobel einſchlug.
Auf dem Großfolio lag ihm ein ſchweinslederner Tröſter und verdeckte gnädig das troſtloſe veraltete Datum des Rezept-Regiſters: APPENDIX Oder Anhang Uber das kürtzlich ausgegangene Cardilucianiſche Tractätlein Von der Peſtilentz, Darinn die jenige Sachen in gedachtem Traktätlein, welche unverſchuldeter Maßen von etlichen haben wollen zweifflich gemacht werden, hierinn unwiderſprechlich noch mit Mehrem erwieſen, und weiter unterſchiedliche nohtwendige und nützliche Dinge treulich communiciret werden. Durch J. HISKIAM CARDILUCIUM, Com. Pal. Phil. & Med. Doct. Nürnberg, In Verlegung Wolffgang Moritz Endters und Johann Andreae Endters Sel. Söhnen. MDCLXXIX.
Herr Tobias Kruſius mußte wohl ſein ausnehmend Behagen an dem alten gelehrten pfalzgräflichen Doktor der Philoſophie und Medizin finden. Bald notierte er eine flüchtige kurze Bemerkung, bald ſchlug er, wenn ihm ein Paſſus ganz beſonders gefiel, mit der federbewehrten Rechten auf die Pultklappe, bald machte er einen Rundlauf um den in der Mitte der Offizin ſtehenden Rezeptiertiſch.
Es war ihm gänzlich aus dem Bewußtſein gekommen, daß ſeine Gattin ihm den hoffnungsvollen Sprößling Fritz an den mit grünem Wachstuch bezogenen Tiſch zur Erledigung der Schularbeiten unter die Augen und zur Hand geſetzt hatte.
Beſagter Tiſch hatte ſeinen Platz direkt unter dem ſchrägen Beine der Pultklappe, und wenn Herr Kruſius in Verzückung über ſeinen Tröſter die Hand auf ſie niederfallen ließ, ſo geſchah es zum öftern, daß ein Tropfen der ſelbſtgefertigten Alizarintinte in kühnem Schwunge der Feder entrann und ſich wie eine bläulich ſchimmernde Qualle mit nach allen Seiten geſtreckten Fangarmen auf dem Schreibbuche Fritzchens niederließ und abhob.
Der Junge ſtieß bei ſolchem Vorkommnis wohl ein unterdrücktes weinerliches Geknurr aus, wagte aber ſonſt nichts zu bemerken, zumal er aus Erfahrung wußte, daß er doch nicht auf die nötige Aufmerkſamkeit des Vaters zu rechnen hatte.
„Ein göttlicher Kerl, dieſer alte Doktor Joannes Hiskias Cardilucius! Seine Beweiſe gegen ſeine Widergruntzer machen ihm wahrhaftig wenig Difficultät! Cardilucius! Hahaha, wohl ſelten hat ein Mann ſeinen Namen mit größerer Berechtigung geführt! Cardilucius – Herzenshecht – Haupthecht! Ob es der mit ſeinem Namen wie der Herr Theaterdirektor Theophil Xylander gemacht hat? Jedenfalls gibt uns der Mann hier in unſerer von allerhand Gerüchen erfüllten Offizin die größtmögliche Sicherheit gegen allerhand von außen andringende Gefahr. Wie ſchreibt in ſeiner Kriegsarzney der hocherfahrene D. Minderer, den unſer Cardilucius als Gewährsmann anzieht? ‚Wenn der Luft vergiftet iſt und ein Geisbock vorhanden, ſo reibe dich an ihm, darfſt dich den Geſtank nicht irren laſſen, oder heb deine Naſen früh über ein heimlich Gemach und ſauge dich des abſcheulichen Geruches voll ein.‘ Sehr, ſehr gut! I gitte, gitte, gitte! Naturalia non sunt turpia. Und was meint unſer Haupthecht dazu? ‚Denn ein ſolcher ſehr ſtarker Geruch erfüllet das ganze Gemach, darin er iſt, dermaßen, daß die fremde peſtilenzziſche Luft hernach nicht leichtlich Zugang findet, denn wenn etwas ſo voll iſt, daß nichts mehr drein gehet, ſo muß alles übrige hauſſen bleiben.‘ Zum Glück beſchließt er dieſes ſein fünftes Kapitel mit der Einräumung, daß man nicht gerade nötig hat, ſich dabei an ſtinkende Sachen zu halten, ‚denn obſchon dergleichen böſer Geruch etwan die Peſt auch abhält, iſt er doch dem Herzen und Hirn widerwärtig.‘ Denke ich auch, Cardiluci!
Aber entſtrömen meinen Kruken, Büchſen und Gläſern nicht hunderterlei Wohlgerüche? Empfindet Rektor Bartels die Apothekenluft nicht immer als eine neue Erweckung und Erhebung ſeiner niedergeduckten Lebensgeiſter? Ein Gutes hätte alſo wenigſtens mein duftender Karzer doch! Ottilie ſollte mir wirklich mehr Geſellſchaft leiſten trotz des Herrn von Spitznas!“
Während Herr Kruſius ſeine Lektüre und den dazu gehörenden Kommentar nur ſehr undeutlich gegrummelt hatte, gab er den letzten Ausruf laut von ſich, ſo daß ſie, an die er gerichtet war, ihn beim Eintritt in die Offizin vernahm.
Frau Ottilie ſchob die Tochter des Böhmen Zrovnal vor ſich her, und Franziska, der die rings an den Wänden ſich hinziehenden Repoſitorien mit den langen Reihen der Büchſen und Gläſer mit den gelben Schildern bedrückend erhaben vorkommen mochten, ſtand in ſtummem Staunen mit großen Augen in dem ihr bis jetzt fremden Raume.
Der Apotheker kniff das Kind freundlich lächelnd in die ſammetweiche Wange. „Iſt recht ſo, liebe Ottilie, nur herein, nur alle herein, denn wenn etwas voll iſt, muß alles übrige haußen bleiben!“
„Und was verſchafft mir, uns die Ehre, daß du uns dir auf den Hals wünſcheſt? Bislang haſt du dieſe Sehnſucht ja meiſt ſtill auf dem Herzen behalten.“
„Johannes Hiskias Cardilucius! Frau, man lernt nie aus und alle Tage etwas Neues. Nicht wahr, Fränzchen, hier iſt es hübſch? Da ſitzt auch der Fritze, ſieh mal zu, wie er ſich mit ſeinen Aufgaben abzufinden weiß. Ottilie, dieſer alte Doktor aus Kurpfalz hat mir ein Licht aufgeſteckt, daß wir die glücklichſten Leute ſind, daß wir ſchon beſitzen, was andere ſich mit Tauſenden erkaufen müſſen, daß wir uns gegenwärtig in dem wirkſamſten und angenehmſten Kurorte befinden, daß wir gefeit ſind gegen jedwede Infektion, genau ſo, als wenn wir in dem holländiſchen Städtchen – – – ja, wie hieß doch das Neſt – richtig, hier, fünftes Kapitel – den Namen muß ich noch notieren – genau ſo, als wenn wir in Weſep ſäßen!“
Wieder fand ein Tintengeſchoß Fritzchens Manuſkript.
„Dort hat ſich nämlich niemalen die Peſt, die ſchrecklich in der Nachbarſchaft gewütet, einniſten können von wegen der vielen Säue, die im Städtchen gehalten wurden.“
„I du meine Güte, bleibe mir doch mit dem verdrehten Kerl und ſeinem Schmöker vom Leibe!“, lachte Frau Kruſius. „Und daß du das Fränzchen als Tugendwart da zu dem Bengel ſtellen ſollteſt, war auch nicht meine Abſicht! Statt daß du hier dieſe alte Doktorſchwarte durchſchnüffelſt, hätteſt du dich ſelbſt um den Jungen und ſeine Arbeiten kümmern ſollen. Hilf, Himmel! Seh ich recht! Iſt es die Möglichkeit! Mann, Mann, ich dächte, du brauchteſt nicht nach dem holländiſchen Neſte zu ſuchen bei dieſer wieder mal ganz entſetzlichen Sch… – Schmiererei des entſetzlichſten aller Menſchen! Ja, breite nur deine Pfoten darüber, infamer Junge, du haſt nicht Finger genug, deine Schandtaten zu verbergen! Iſt das nicht, als wenn eine chileniſche Buſchſpinne da eine Nacht durch darauf geſeſſen hätte! Her damit, und um die Ohren will ich – –“
Hier aber fiel eine weiche Kinderhand der Erzürnten in den erhobenen Arm, der ſich über den ſich duckenden und heulenden Knaben wie eine Zornrute des Himmels ausſtreckte.
„Fritz war’s ja nicht, die Tinte kam von da oben herunter!“
Da ſtand ſie nun, die Frau Kruſius. Da ſtand ſie wie der Meiſter Koch vor ſeinem nichtsnutzigen Küchenjungen im Märchen vom Dornröschen, im tauſendjährigen Schlafe der Apotheke zu Angerbeck. Da ſtand auch der Herr Apotheker und Magiſtrat und kratzte ſich mit dem Federhalter hinter dem Ohre, nachdem er ſein ſchwarzes Hauskäppchen zur Seite geſchoben.
Seine augenblickliche Verlegenheit verbarg ſich hinter der weiſen, beſchaulichen Art, mit der er die Gruppe vor ſich und im beſonderen ſeines Sohnes Schriftwerk betrachtete. Wie der Vogel Marabu in philoſophiſcher Überlegenheit an ſeinem Schnabel entlang ſeinen Blick auf den Papyrusſtauden am Nilſtrande ruhen läßt, alſo ſah Herr Tobias Kruſius auf den wachstuchbezogenen Tiſch unter ſeinem Pulte hinab, und der große Arzt Bombaſtus Theophraſtus Paracelſus kam ihm als Nothelfer gerade zur rechten Zeit. Zu ſeinem Glücke und Frau Ottiliens und der Leſerinnen Schonung zitierte er ihn auf lateiniſch: „Omne stercus in peste bonum, humanum ante optimum.“
„Wenn du damit ſagen willſt, Kruſius, daß ihr beide, Vater und Sohn, auf dieſen Blättern euer Möglichſtes geleiſtet und zuſammengetragen habt, ſo gebe ich dir vollkommen recht. Und du, Junge, bedanke dich bei Fränzchen, um die du ſolche Fürſprache nicht verdienſt. Laß einmal ſehen, was du Wirkſames zur Desinfektion gegeben haſt. Ah! Tagebuch für Fritz Kruſius! Nennt man das Schularbeiten?“
„Herr Rektor Bartels hat es uns aufgegeben“, ſagte Fritzchen ſtörriſch im Tone unterdrückten Rechtes und gekränkter Unſchuld.
„Hm, es kann allerdings eine gute Stilübung abgeben. Alſo: ‚Geſtern war Schüttenhof, und die kleine Schloßprinzeſſin kam außen Schloſſe in unſer Haus. Ich durfte nicht hingehen, denn ich hatte mir meine neue Hoſe zerriſſen, auch durfte ich Franziska nicht hauen. Den ganzen ‚geſchlagenen‘ Tag war es langweilig zu Hauſe, und abends ging der Vater mit der Mutter in das Theater. Wir Kinder durften mit Hannchen aufbleiben und dann um halb elf Uhr die Eltern vom Schüttenhofe abholen, wo niemand mehr über meine geflickte Alltagshoſe lachen konnte. Ich mußte der Mutter ihren neuen Schirm tragen. Es war der teure. Ich lag grade im Bette, als er vermißt wurde, und wurde ‚rausgetriezt‘, denn der Verdacht kam auf mich. Nach einer Weile, als alle Schlupfwinkel für ſolche oder ähnliche Gegenſtände ausgeſucht waren, mußte ich mit der Stalllaterne und Hannchen abends um elf Uhr ‚abſchieben‘. Wir kamen bis zu der gediegenen Barrikade, wo wir allerhand fanden, aber mit dem Schirme war es ‚Kirſchkuchen‘. In dieſer traurigen Stimmung bewegte ich mich beſonders nach Hauſe, wo uns Mutter mit eben ſolcher, als auch mit nicht grade ‚guter Laune‘ empfing, denn es war kein Wunder, denn der Schirm koſtete zwei und einhalb Taler. Mutter drohte mir ſchon an, alles Geld, was ich nur in der Sparbüchſe hätte, ‚rausrücken‘ zu ſollen. Doch wie ein Wunder! In demſelben Moment fand Franziska den vermißten Schirm zwiſchen den Sofakiſſen, wo er hingerutſcht war. Wer war froher, als ich? Jetzt legte ich mich das zweite Mal ſchlafen.‘“
Fritzchen hatte mit ſeiner Humoreske durchſchlagenden Erfolg, allerdings ganz wider ſeine Abſicht. Aber der angehende Autobiograph bewahrte ſeine ſtoiſche Ruhe.
„Dieſes Schriftſtück ſpricht ja für ſich ſelbſt, mein Junge, auch ohne die Illuſtrationen. Daß Franziska den Schirm gefunden, würde ich aber an deiner Stelle noch unterſtreichen. So viel Platz findeſt du zwiſchen den Kleckſen gewiß. Und ſoeben iſt dir auch neuer Stoff zur Fortſetzung dieſes Themas zugefallen.“
Frau Ottilie führte ihren Mann hinter den Rezeptiertiſch und nötigte ihn auf das im Hintergrunde der Offizin ſtehende Sofa nieder. „Tobias, iſt es nicht, als ob ein ſchon jetzt ſpürbarer Segen mit der Krabbe aus ihrer Trübſal heraus in unſer Haus eingezogen ſei?“
Herr Tobias nickte beifällig und gab ſeiner Frau einen Kuß, ſprang aber im nächſten Augenblicke auf, denn die Haustürklingel ertönte. „Hurra, jetzt gehts auch bei mir los, Ottilie! Angerbeck beginnt Bauchgrimmen und Migräne zu bekommen!“
Er öffnete das große Schiebefenſter, das die Offizin vom Hausflur trennte, und vor dem das Publikum ſeine Wünſche anzubringen hatte, und neigte ſich weit über den Treſen vor, denn von der Kundſchaft war nur wenig zu ſehen. Ein wüſter Büſchel Flachshaar ragte eben über die Kante des Ladentiſches, und ein Knirps legte aus ſchmieriger Pfote eine Scheidemünze hin.
„For’n Dreier Lackeritzen!“, krähte es aus der Unterwelt.
„Succus Liquiritiae, zehn Gran“, murmelte reſigniert der alte Apotheker, holte die zur betreffenden Etiquette gehörige Büchſe und gab dem Bengel, ohne zu wiegen, einige Stücke des eingekochten Süßholzſaftes der Firma Giuſeppo Graſſo auf die begehrlich ausgeſtreckte Hand, die alsbald mit ihrem Eigentümer verſchwand.
Herr Kruſius ſchob das Fenſter zu und ſeufzte: „Die Jugend läßt ſich ſelbſt durch den Schüttenhof nicht ſo leicht den Magen verderben.“
„Und wir ſind alt genug geworden, uns nicht durch ein bißchen Enttäuſchung werfen zu laſſen, Tobias. Doch warum waren wir denn gekommen? Wir müſſen dem Kinde durch eine leichte Beſchäftigung aus dem Jammer, der ſich wie ein Rückſchlag nach dem Übermute auf Sankt Severin eingeſtellt hat, heraushelfen, und anſtellig iſt es dazu. Sieh, Fränzchen, Hannchen hat dir hier noch ein Stück Arbeit gelaſſen. Da haſt du ein Wiſchtuch. Nun fängſt du hier an, die Büchſen und die Börte alle der Reihe nach ſauber abzuſtäuben. Halt! Jedes Ding will beim rechten Ende angegriffen ſein, erſt kommen mit Hilfe der Treppenleiter die oberen daran. Der Staub, der von oben kommt, hängt ſich leicht unten an. So, mein Kind, nun nimm dich vor Scherben in acht. Ich werde derweil ſehen, was ſich aus meinem alten Satinkleide für dich herausſchneiden läßt. Und du, Tobias, vergiß nicht, daß du zu heute nachmittag Herrn Xylander zum Abſchiedskaffee eingeladen haſt.“
„Hm, zu Befehl, Herr General, obwohl ich es eigentlich nicht war, der – –. Ja, weg iſt ſie! Und mich läßt ſie hier mit einer rhetoriſchen Apoſiopeſe in meinem Konzeſſivſatze ſtehen.“
Im ferneren Studium des kurpfälziſchen Doktors kam Herr Kruſius nicht weit. Denn das fünfte Kapitel, aus dem er jetzt das Réſumé zu ziehen gedachte, erweckte in ihm auf dem Wege der Aſſociation einen andern Gedankengang.
Er trat ans Fenſter, in deſſen Niſche das Queckſilberbarometer aufgehängt war, und klopfte an die Glasröhre. „Es fällt weiter! Hat die Schützengilde, das Komödianten- und ſonſtige auf einen heiteren Himmel angewieſene Volk ſeinen Willen gehabt, ſo werde ich nun auch wohl den meinigen bekommen. Dort aus dem Wetterloche ſchiebt ſich eine ſchwarze Wolkenwand vor, und die Fliegen, die mir Ottilie übrig gelaſſen, ſind wie raſend. Morgen wird es mit dem Regen einſetzen, und auf dieſen Benedikt Zrovnal iſt unter den gegebenen Verhältniſſen doch nicht zu rechnen. Die paſſende Zeit wäre es, zumal die Frau, wie mir bekannt, auch gerade keine Wäſche hängen hat. Alſo ſelbſt iſt der Mann!“
Mit der freundlichen Ermahnung an die Kinder, ihre Sache gut zu machen, ſchlug er zuerſt Hiskiam Cardilucium ſehr ſanft, darauf hinter ſich die Offizintür dermaßen gewaltig zu, daß die Wände, die Büchſen, Kruken, Gläſer und die Knie der auf der Leiter ſtehenden Franziska erzitterten und letztere faſt das Gleichgewicht verloren und den Syrupus Rubi Idaei, den Himbeerſaft, den Fliegen und dem Fritzchen zum Raube hingeworfen hätte.
Ein hämiſches Gewieher unter dem verlaſſenen Stehpulte des Apothekers hervor belehrte das Mädchen, daß es ſich einer Wendung zum Beſſeren in Fritzens Meinung über es noch nicht getröſten konnte, doch ließ es ſich in ſeiner Arbeit nicht beirren.
„Hähähä! Du Schloßprinzeſſin, das wäre ein Gaudium geweſen, wenn du mitſamt dem Potte dagelegen hätteſt, und deine eigene Dummheit und mein Alter mit ſeinem Türenſchmeißen und nicht ich wäre daran ſchuld geweſen!“
Franziska zitterten von neuem die Knie, und in ihren Augen ſtieg es naß auf. Heute aber miſchte ſich in ihren Schmerz der unwürdigen Behandlung wegen auch ein verhaltener Zorn.
„Meinetwegen lache über mich“, erwiderte ſie trotzig, „über deinen Vater ſo zu ſprechen, ſollteſt du dich aber ſchämen!“
Fritzchen hatte längſt ſein Tagebuch ein Stück von ſich geſchoben und kaute auf dem Ende ſeines Federhalters, ſeine Augen mit der Mordgier einer Katze auf das arme Opfer ſeines Witzes gerichtet.
„Wenn ich jetzt der Leiter einen Tritt geben wollte, lägeſt du auch da“, replizierte er.
„Und du kriegteſt die ſchönſte Tracht Prügel von der Mutter!“
„Von der Mutter! Was die ſich einbildet! Meine Alte iſt noch lange nicht deine Mutter, dummes Frauenzimmer! Ich möchte überhaupt wiſſen, was du hier willſt!“
„Staub wiſchen“, antwortete das Mädchen jetzt ſehr ruhig und nötigte damit ihren Gegner, der ihr dieſe einfache Wahrheit und Tatſache nicht beſtreiten konnte, auf ein anderes Gebiet des Angriffs.
„Als ob das weiter was wäre! Hm, du ſcheinſt es beſſer hier im Hauſe kriegen zu ſollen, als ich. Alle haben es beſſer als ich, jeder kann machen, was ihm Spaß macht, und ich muß hier ochſen an den verdammten Schularbeiten. Guck, die Pultklappe iſt unten himmelblau angeſtrichen, und wenn ich hier hocke und aufſehe, kommt mir mein Alter vor wie Jupiter tonans. Du biſt natürlich ſo ungebildet, daß du nicht weißt, was das iſt.“
„Nein, das weiß ich nicht. Ich würde aber die Schularbeiten an deiner Stelle gern machen, wenn du ſo gebildet dadurch wirſt. Es wäre beſſer, du ließeſt mich ruhig weiter wiſchen und machteſt deine Arbeit auch weiter.“
„Du haſt mir gar nichts zu ſagen, verſtanden? Das bilde dir nicht ein, daß ich über dich ſchreibe, was meine Alte meinte. Denkſt du, ich hätte dich vorhin nicht durchſchaut? Bloß einſchmeicheln wollteſt du dich bei mir, weiter nichts!“
Hier war Franziska mit ihrer Arbeit und ihrer Geduld zu Ende. „Das brauchſt du dir auch nicht einzubilden, du eingebildeter Bengel!“
Und ehe ſich’s Fritzchen verſah, wirbelte ihm das Staubtuch und ſein greulicher Inhalt um die Ohren und in die Augen, und Fränzchen ſchoß aus der Tür. Kräftiger hatte ſie der Apotheker auch nicht zugeworfen. Hinten an der Hoftür aber ſtand das Kind und ſchluchzte und dachte an ſeine verſtorbene Mutter und ſeinen kleinen Bruder und ſeinen unſteten Vater, deſſen heißes Slawenblut in ſeinen Adern floß und ihm eben wider Willen zu Kopfe geſchoſſen war.
Elftes Kapitel.
Herr Tobias Kruſius treibt Obſtzucht, Herr Theophil Xylander ergreift die Flucht, und Herr Rektor Bartels verlangt zum andern Male nach der Peitſche des Grafen Schlabrendorf.
„Mann, Mann! Kruſius! O Himmel, wo ſteckt er wieder?“, tönte der Ruf Frau Ottiliens etwa eine Stunde ſpäter durch Haus und Hof der Apotheke zu Angerbeck, nachdem der fürſtliche Theaterdirektor Theophil Xylander in die Stube genötigt worden war.
„Der Herr iſt im Garten, Madam, und hat ſeine Erfindung aus dem Schuppen mitgenommen“, rief mit hohnvollem Grinſen von ihrem ſummenden Kaffeekeſſel weg Hannchen aus der Küche.
„Zweimal geklingelt habe ich ſofort beim Kommen des Beſuches und bald den Draht dabei abgeriſſen. Daß das aber immer weniger zieht, haben Sie doch ſelbſt in letzter Zeit oft genug geſagt.“
„Kümmere du dich um den Kaffee, impertinentes Geſchöpf, und nicht um meine Bemerkungen“, erwiderte bekümmerten und aufgebrachten Herzens die Hausfrau und eilte über den Hof dem Garten zu. Ein ſcharfer Geruch lenkte ihren Blick jedoch zurück an die Hinterſeite des Hauſes, an der ein verdächtiger Deckel lehnte.
„O Mann! Den paſſendſten Augenblick haſt du ja wieder herausgefunden, mich, uns, ganz Angerbeck vor der großen Welt zu blamieren und in ſchlechten Geruch zu bringen! Und der wirkt ja freilich ſtärker, als hundert Ehren- und Lorbeerkränze der Frau Juſtizamtmännin! Tobias, was ſoll der Direktor von uns denken?“
Letztere Frage und der Mund Frau Ottiliens blieben einſtweilen offen vor dem, was im Gras- und Obſtgarten zu ſehen war.
Um jeden der jungen kraftſtrotzenden, noch an Pfähle gebundenen Zwetſchenbäume, von denen einige ſchon Früchte trugen, hatte Herr Kruſius einen ringförmigen Graben gezogen und den aufgehackten Raſen mit dem Lebenselixir aus dem zwiſchen zwei hohen Rädern hängenden Zuber, der von Hannchen vorerwähnten „Erfindung“, bis zum Rande angefüllt. Gegenwärtig ſtand er über ſeine Wühlarbeit ſo eifrig gebückt, daß er das Kommen ſeiner Gattin nicht gewahrte, bis dieſe ihrer Erſtarrung ſo weit Herr wurde, daß ſie ausrufen konnte: „O du himmliſcher Vater! Tobias, das muß ich ſagen, was du zur Belebung deines Geſchäfts tun kannſt, das ſchaffſt du ehrlich! Iſt das ein Apothekenodeur? Nicht allein um die Bäume, nein, auch um –“
„Nein, auch um dich, Ottilie!“, fiel ihr lächelnd und ein wenig verſchnaufend ihr Eheherr ins Wort. „Zwetſchenmus iſt dir doch das liebſte Electuarium, und der Duft davon geht dir auch über den der Senneslatwerge. Und über die größere offizinelle Wirkung ließe ſich auch noch ſtreiten.“ Er ergriff das langgeſtielte Schöpfgefäß und goß den Inhalt in die Furche:
„Wie Wein von einem Chemikus durch die Retort’ getrieben –“
„Nein, Mann, deine diesbezüglichen Auseinanderſetzungen laß jetzt wenigſtens weg und mich nicht länger in Verlegenheit ſtehen! Sagte ich dir nicht –“
„Ja, erlaube, liebes Kind, eins nach dem andern. Was du meinteſt von der Aufhilfe meines Geſchäfts, entbehrt nach Hiskiae Cardilucii Traktate leider jeder Berechtigung. Eher könnteſt du behaupten, ich grübe mir dir zuliebe mit der Harke ins eigene Fleiſch und füllte mir ſelbſt einen Schwedentrunk ein. In Weſep, weißt du, waren die Leute –“
„In Weſep oder ſonſtwo waren die Leute ſicherlich nicht ſo einfältig, die Wäſchepfähle zu jauchen und einem gefliſſentlich die Wäſche zu erſchweren, das weiß ich! Und außerdem wartet der Theaterdirektor auf uns und den Kaffee. In aller Eile habe ich ihm Franziska in die Tür geſchoben, damit er doch nicht ganz allein die Wände anzuſtarren hat.“
Der Apotheker ſtand da, auf ſeine Gelte geſtützt, und ſtarrte zwar nicht die Wände, wohl aber den Mittelpunkt des von ihm zuletzt aufgeworfenen Wall- und Ringgrabens an.
„Hm, hm, da habe ich allerdings in meinem Eifer überſehen, daß an dieſem Pfahle der Baum fehlt.“
„Und ich kann dein Zitat weiter führen: ‚Zum Teufel iſt der Spiritus, das Phlegma iſt geblieben!‘“
„Nein, nein, Ottilie. Ich ſtehe ſofort dir und Herrn Direktor Xylander zu Dienſten! Xylander – Holzmann wird der Menſch von ſeinem Vater her –“
„O Mann, beeile dich mit deiner Toilette!“, rief ihm noch die davoneilende Frau zurück, „unmöglich können wir unſern Beſuch länger ſich ſelbſt überlaſſen!“
Ihre Sorge war indes ziemlich unnötig, Herr Theophil Xylander war ſich nicht ſelbſt überlaſſen. Er hatte ſchon für ſich und ſeine kleine ſchüchterne Geſellſchafterin das rechte Mittel zur Unterhaltung gefunden. Bei ſeiner Umſchau in dem Eckzimmer Frau Ottiliens ſah er das tafelförmige, mit Mahagoniholz fournierte Pianoforte offen ſtehen, und als ein Mann, der nach einem vielbewegten Leben ſich wohl hier und da geſtatten konnte, die Form zu überſehen, ſetzte er ſich an das Inſtrument und ſchlug das erſte beſte Notenbuch, das ſich ihm in Querfolio darbot, auf: Mozarts Zauberflöte, eine große Oper in zwey Akten. Bei A. Kühnel, Leipzig.
Zwei Pyramiden, zwei Sphinxe und eine große Strahlenſonne oben in der Mitte umrahmten obigen Titel. Herr Xylander präludierte leicht einige Takte und lockte das Mädchen mit weicher Stimme von der Tür zu ſich heran: „Du feines Täubchen, nur herein.“ Und das Fränzchen ſchob ſich, von den Tönen angezogen, wirklich bis an ſeine Seite.
„Ei ſieh, mein Kind, was für ein ſchönes Bild wir hier finden! Weißt du aus deiner bibliſchen Geſchichte, in welchem Lande die Kinder Israel mit Moſe wohnten?“
Franziskas dunkle Augen leuchteten auf. „O ja, ſie wohnten in Ägypten, wo ſie zu ſchweren Arbeiten gezwungen wurden!“
„Brav, mein Mädchen, und hier ſehen wir, was ſie im Hauſe der Dienſtbarkeit bauen mußten, dieſe großen Spitzen aus mächtigem Mauerwerk, die Grabdenkmäler der ägyptiſchen Könige.“
„Meine Mutter hat nur einen kleinen Hügel bekommen, aber ich habe ihn mit Blumen beſtreut, und ein ſehr ſchöner Kranz mit weißer Schleife liegt darauf. Im Frühlinge ſoll er aber noch ſchöner werden, da pflanze ich Roſen und Vergißmeinnicht darauf.“
„Ah, da biſt du wohl – – ein gutes Kind“, fiel ſich Herr Theophil Xylander, da ihm augenblicklich vor den dunklen Mädchenaugen keine geiſtreichere – Wendung zu Gebote ſtand, ſelbſt in ſein Wort, das er hatte ſprechen wollen.
Die Kleine aber durchſchaute den großen Mimen doch, und in ihr erwachte der Stolz und legte ihr ihren Namen auf die Lippen: „Franziska Zrovnal“. Daß ſie hierdurch den fremden Herrn in einige Verlegenheit gebracht hatte, fühlte ſie aber auch gleichwohl, und ihr Feingefühl ſagte ihr, daß ſie nun das Ihrige zu einer Ablenkung geben mußte.
„Und was iſt das hier?“, fragte ſie, ihren Finger auf eine der ruhenden Sphinxe ſetzend, dann aber, als ſie genauer hingeſehen, vor der ihr unverſtändlichen, unheimlichen Geſtalt zurückſchreckend, als gereue ſie die Frage.
Du kleine Franziska Zrovnal, in welch eine Verwirrung mußteſt du den alten Theaterdirektor Theophil Xylander mit deinem Fingerzeig weiſen und wollteſt ihn aus ſeiner Verlegenheit reißen? Das Buch des Lebens iſt kein Kinderbilderbuch, und der aufgeſetzte Finger heiſcht umſonſt nach der Erklärung.
Der Direktor kroch förmlich vor dem Pianoforte Frau Ottiliens in ſich zuſammen.
Lebendig ward das Marmorbild, der Stein begann zu ächzen.
„Derweilen des Mundes Kuß mich beglückt, verwunden die Tatzen mich gräßlich“, murmelte Herr Xylander, das Sphinxbild anſtarrend.
„O Kind, es iſt das Rätſel des Lebens, deſſen Löſung nur der hinter ihm lauernde Tod kennt. Manch Klügerer, als wir beide es ſind, hat ſchon vergeblich ſeinen Hirnkaſten damit abgeplagt. Und ein Dichter in der großen, klugen Stadt Paris hat ſogar deine Frage nicht ſelbſt ſtellen mögen, ſondern ſie vorſichtig der Nachtigall in den Schnabel gelegt:
‚O ſchöne Sphinx! O löſe mir das Rätſel, das wunderbare!
Ich hab’ darüber nachgedacht ſchon manche tauſend Jahre.‘“
Frau Ottilie Kruſius hatte ſich wirklich ganz umſonſt abgeängſtigt, ſie hätte ihren Tobias, was den Beſuch anbetraf, ruhig die Wäſchepfähle, ſo viel auch ihrer im Garten ſtanden, weiter düngen laſſen können. Denn was jetzt geſchah, überhob ſie jeder Verantwortlichkeit Herrn Xylander gegenüber.
Franziska hatte ſeinen Blick auf die Sphinx gelenkt. Was konnte ſie dafür, daß jetzt ſein ſcharfes Auge mehr an und unter dem Bilde erſchaute als einen Löwen an Leib und Taten und ein Weib an Haupt und Brüſten? Ein halb verblichener, von zarter flüchtiger Mädchenhand hingeworfener Name ſtand in der Ecke des Titelblattes: Ottilie Diederichs.
„O Iſis und Oſiris!“, rief betroffen Herr Theophil Xylander, ſah den Namen noch einmal an und warf in nervöſer Haſt die Blätter des Buches herum. Mechaniſch ſpielte er, was ihm vor die Augen kam:
„Papageno, ſchweige ſtill!
Willſt du dein Gelübde brechen,
Nichts mit Weibern hier zu ſprechen?
Stille, ſag’ ich, ſchweige ſtill!“
Von der Küche her ſcholl Frau Ottiliens helle Stimme. Da ſtieß der Theaterdirektor den Klavierſeſſel ungeſtüm zurück, ſtürzte ſich auf ſeinen Hut, drückte und ſchüttelte dem erſchrockenen Kinde in aller Eile die Hand und keuchte: „Kind, Kind, ſage der Frau Apotheker eine Empfehlung, ich könne ſie jetzt unmöglich ſprechen! Nein, nicht ſo, ſage, mir wäre jetzt plötzlich etwas eingefallen, was mich fortriefe, ſie müſſe mich entſchuldigen, – keine Zeit, keine Zeit! Hier iſt die Stelle, wo ich ſterblich bin!“
Aus der Tür war er. – – Draußen auf dem Hausflur aber ſtand Frau Ottilie, eine grüne Taſſe mit Goldverzierungen behutſam in beiden Händen haltend.
„Herr Direktor?!“
„Verzeihung, o bitte tauſendmal um Verzeihung, gnädige Frau! Ich – ich – o fragen Sie das Kind – empfehle mich gehorſamſt dem Herrn Gemahl – –“
Und fort war er, wirklich fort! Frau Kruſius mußte erſt ihre Taſſe aus den zitternden Händen auf den Sofatiſch in ihrer Eckſtube in Sicherheit bringen, ehe ſie ſich auf den nächſten Stuhl fallen laſſen und das Kind fragen konnte: „Was heißt das, was bedeutet das?“
Ja, das Kind konnte ihr auch keine Aufklärung geben! Nur nach dem Titelblatte der Zauberflöte, bei A. Kühnel in Leipzig erſchienen, konnte es blättern und nur ungefähr, aber ſehr ungefähr, die närriſchen Worte des Theaterdirektors wiederholen.
„Na, einer Heinrich-Heine-Stimmung halte ich ihn doch nicht für fähig, zum armen Peter hat er das Zeug nicht!“, murmelte Frau Ottilie. „Röschen Sonnenburg verſchwindet bis auf weiteres, bis zum fünften Akte in der Verſenkung, und ich – trage meine grüne Taſſe wieder fort und verſenke ſie ebenfalls bis auf weiteres in meine Eckſchenke.“
Auch der Rektor Bartels brachte keinen Aufſchluß des Rätſels, obwohl ihm Herr Theophil Xylander auf der Straße begegnet war. Schon von weitem hatte dieſer ihm die Hand zum Abſchiede entgegengeſtreckt und gerufen: „Leben Sie wohl, leben Sie wohl, denn wir verlaſſen Pilſen noch vor Abend!“
„Und haben Sie ihm nichts Beſonderes angemerkt, Herr Rektor?“, erkundigte ſich Frau Kruſius nochmals.
„Nicht die Bohne! Ich verabſchiedete mich mit den üblichen Redensarten und Segenswünſchen und pries ihn glücklich, daß er als leichter Vogel ſeine Schwingen wieder regen könne. Drauf ſchüttelte er mir herzlich die hingehaltene Pfote und meinte: ‚Zum Fliegen gehören hohle Knochen, Herr Rektor! Tragen Sie getroſt Ihr Päckchen Aufſatzhefte da unterm Arme heim, der Flug ins Blaue hinein iſt oft genug ein unſicher Ding! Freut mich, Ihre werte Bekanntſchaft gemacht zu haben.‘ Und ward nicht mehr geſehn.“
Heim trug der Rektor ſein Päckchen fürs erſte noch nicht, ſondern ſchleuderte es der Frau Kruſius auf den Deckel des Pianoforte, daß die Saiten klirrten. „Ein Täßchen Kaffee nehme ich dankend an, Madam; angeſichts dieſer Vorbereitungen wäre ich ja ein Unmenſch, wenn ich meine Frau nicht ein halbes Stündchen warten laſſen könnte mit dem ihrigen.“
„Den ſollen ſie auch bekommen, Sie alter Hypochonder! Was haben Ihnen nun die Bücher da und mein Klavier getan?“
„Ihr Klavier hat mir nichts getan, es ſeufzt nur auf unter dem Drucke der achtundfünfzig miſerablen Dokumente!“
„So geben Sie Ihre Schläge wenigſtens an die richtige Adreſſe ab, wenn es drin von Fehlern wimmelt!“
„Hm, das mit den Fehlern möchte noch gehen.“
„Ah! Sie ſind es bloß, Rektor?“, fragte jetzt erſtaunt der in großer Empfangstoilette eintretende Apotheker.
Den Schulmann ſchüttelte ein krampfhaftes Lachen. „Da hören Sie es, Frau Kruſius! Jawohl, mein Herr, leider bloß der Rektor Bartels! Verzeihung, Madam, aber es iſt doch verflucht ſchwer, ſich in die Wahrheit einzuleben, nur ein Menſch zweiter Klaſſe zu ſein, wenn man auch noch ſo alt geworden iſt. Ach, was ſage ich, ein Menſch zweiter Klaſſe! Da hinter meinem Rücken liegen die achtundfünfzig Urkunden, von mir ſelbſt unterſchrieben und ausgefertigt, daß man überhaupt keiner iſt, daß man’s höchſtens bis zu einem Pavian gebracht hat!“
„I du barmherziger Himmel, Rektor!“, rief Frau Ottilie, „was ſoll denn das nun wieder heißen! Mein Mann hat es ja ganz anders gemeint!“
Herr Bartels ſprang an das Klavier und riß das oberſte Heft gar unſanft an ſich, ſchlug es auf und hielt es Frau Ottilie vor die Augen. „Da ſehen Sie ſelbſt! Herr Kruſius, Sie können mir bezeugen, daß ich nie, zu Ihrem eigenen Ärger, eher in den Keller zu Sanders gekommen bin, als bis ich mit meiner Korrektur fertig war. Sie, Frau Kruſius, wiſſen ebenfalls, daß meine Frau mich ſtets ungern mit meinem Packen kommen ſieht, der ihr faſt ein größerer Greul iſt, als mir, wegen der Menge Solaröl, das er frißt –“
„Das er ſäuft, wäre hier wohl richtiger im Bilde geblieben“, warf Herr Kruſius ein.
„– auch im Hochſommer“, fuhr der Rektor fort, ohne auf den Einwurf zu achten. „Sie werden mir bezeugen können, daß ich meine Korrekturen ſtets peinlich pünktlich erledigt habe. Und ich, nun ich beſtätige mir das als ein Mann von Ehre ſelber, wenn ich auch – der Wahrheit ebenfalls die Ehre – es nicht bloß aus Pflichtgefühl getan habe, ſondern um den Kram möglichſt bald vom Halſe loszuwerden.“
„Weiß ich, weiß ich zur Genüge, Herr Rektor“, ſagte Herr Kruſius.
„Und ich glaube es Ihnen gern“, ſagte Frau Kruſius, „wenn ich’s auch aus Ihrem Hefte hier nicht erſehen kann.“
„Wollte Gott, Sie könnten’s nicht, ſondern müßten es glauben als eines ehrlichen Mannes Wort! Unſere Herren da oben am grünen Tiſche aber ſcheinen nichts zu halten vom kindlichen ſeligmachenden Glauben, den ſie uns preiſen laſſen, und ſetzen das brutale Wiſſen darüber! Mißtrauen a priori iſt ihr Götze, ihre Unterſtellten ſind ihnen durch die Bank Tagediebe, denen man auf die Finger paſſen muß! Schwarz auf weiß, oder vielmehr rot auf weiß, Herr Kruſius, – daß ich Ihnen nicht wieder aus dem Bilde falle, – und auf unſern Amtseid wollen ſie es haben, wann ich meine Korrekturen mache!“
„Soll ich Ihren Kaffee warm ſtellen, Herr Rektor?“, fragte unſchuldig Frau Ottilie.
„Nein, ich danke, mir iſt warm genug!“, ſchnauzte Herr Rektor Bartels grimmig. „Es genügt nicht, daß ich zur rechten Zeit fertig bin, daß ich ſogar die Arbeiten an dem Tage ihrer Niederſchrift verbeſſere! Ich muß mich noch lächerlich dazu machen und dasſelbe Datum unter jeden Aufſatz bringen, den der Schüler ſchon ſelbſt darunter ſetzt! Hier, da ſehen Sie es: ‚Angerbeck, den 8. September 18…‘, und hier: ‚Den 8. September. Bartels.‘ Und dieſer Stumpfſinn läuft durch ſämtliche Hefte und über ſämtliche Seiten darin! Apage te! O mein Friedr… – –“
Der Rektor brach plötzlich mit einem ſcheuen Blicke auf die Hausfrau ab, mitten in ſeinem Hilferufe nach der geheimnisvollen Reitpeitſche des Grafen Friedrich von Schlabrendorf, und das Teſtimonium der „zertretenen Menſchenwürde“ flog zu ſeinen ſiebenundfünfzig Genoſſen zurück. Herr Bartels aber ſtand immer noch da, wie ein Matador, der jetzt nicht rote Tinte, ſondern Blut fließen laſſen ſollte.
„Und die Jahreszahl brauchen Sie nicht dazuzufügen?“, fragte Frau Kruſius naiv.
„Das, gottlob, nicht!“, antwortete der Gefragte verſchnaufend.
„So würde ich in Ihrer Stelle das auch noch tun, und um jedes Mißverſtändnis im Keime zu erſticken, auch noch das post Christum natum daran hängen.“
Einen Augenblick ſtutzte der Rektor. Als er aber in das ſchelmiſch lächelnde Geſicht ſeiner Gaſtgeberin blickte, lachte er herzlich wie ein Kind. „Frau Ottilie! Niemals ſprachen Sie beſſer zum Zweck! Ihren Kaffee will ich mir doch munden laſſen!“
Zwölftes Kapitel.
Womit Herr Kruſius die kleine Franziska füttern will. Neue Untaten des Böhmen und Fritzchens. Die Angelegenheiten Benedikts werden geordnet, wobei ihm Herr Kruſius einen guten Rat gibt.
Der Rektor Bartels war ſeinem am Abende vorher gegebenen Verſprechen gemäß gekommen, mit Herrn und Frau Kruſius das Nähere über den Franziska Zrovnal zu erteilenden Unterricht feſtzuſetzen. Unſern Leſern – ſo wir deren finden ſollten – wollen wir indes die pädagogiſchen Geſichtspunkte, Leitſätze und Folgerungen nicht zur Begutachtung unterbreiten, wofür uns hoffentlich eine ſtille Anerkennung nicht vorenthalten wird. Vielmehr wollen wir die Quinteſſenz der Beratung in des Rektors Wort zuſammenfaſſen: „An dem Kinde iſt manches verſäumt worden, was ſich noch nachholen läßt, und – das Kind hat berechtigte Eigentümlichkeiten.“
„Die hat es“, pflichtete Frau Ottilie bei, „und dadurch ſetzt es ſich in direkten Widerſpruch zu Fritz, Ihrem Schmerzenskinde, Herr Rektor, das zwar auch mehr als genug Eigentümlichkeiten aufzuweiſen hat, aber meines Wiſſens keine einzige berechtigte. An ſeiner neueſten Leiſtung auf dem Gebiete der Literatur werden Sie wieder Ihr blaues Wunder erleben!“
„I laß, Ottilie“, ſagte Herr Kruſius gutmütig lächelnd, „der wird erſt noch.“
„Ich hoffe auch auf einen wohltätigen Einfluß des kleinen Mädchens“, meinte der Rektor. „Das ewig Weibliche möchten wir auch hier nicht unterſchätzen.“
„Ihre ironiſche Verneigung können Sie unterwegs laſſen, Bartels. Vorläufig merke ich an dem Jungen aber auch keinen Sinn für Frauenſchöne noch -tugend, das müßte auch erſt noch werden.“
Herr Tobias Kruſius wiegte am Ende des Erziehungs- und Unterrichtsprogramms ein wenig enttäuſcht ſein Haupt. „Hm, ein bißchen Franzöſiſch iſt ja ganz wunderſchön, für den Schnabel, très-aimable. Aber es iſt doch jammerſchade, daß Sie, Herr Rektor, des Böhmiſchen nicht mächtig ſind. Ich ſage Ihnen –“
„O du himmliſcher Vater, Tobias! I warum nicht gar, – ich glaube, du wärſt wahrhaftig imſtande, das Kind damit und mit Sanskrit und Zend und Kaſſubiſch zu füttern und blödſinnig zu machen! Na, gottlob biſt du wohl ſolcher ſlowakiſchen Zungen ſelbſt zu wenig kundig.“
„O Frau!“, rief Herr Kruſius und fuhr ſich mit beiden Händen an das Haupt, als ob er an Ohrenreißen litte, „du miſchſt da die Sprachenfamilien ins Unglaubliche zuſammen! Aber meinetwegen, machen wir mit Franzöſiſch den Anfang.“ –
Der Rektor hatte ſich ſchon längſt empfohlen und der Apotheker wieder ſeinen Hausrock angelegt und ſich in ſeine Offizin begeben.
Frau Kruſius aber hatte die beiden Kinder herbeikommen laſſen, und dieſe waren die einzigen, die ihre rechte Freude an dem Kuchenteller des verunglückten Abſchiedskaffees für den Theaterdirektor hatten. Nachdem der letzte Biſſen von Fritz verſchlungen war, wurden die Kinder hinausgeſchickt, ſich ihrem Vergnügen in Hof oder Garten hinzugeben, denn Frau Ottilie erwartete den Böhmen Benedikt Zrovnal.
„Gegen Abend kommen Sie wohl in die Apotheke, um mit meinem Manne und mir Ihre Angelegenheiten ins reine zu bringen“, hatte ſie ihm auf dem Friedhofe Sankt Severini geſagt, und jetzt war es um ſechs Uhr. Sie konnte ihre Einſamkeit mit den Gedanken an alte Zeiten, mit dem längſt verklungenen, heute zum erſten Male ſeit langen Jahren wieder vernommenen Namen nicht mehr ertragen, und ſie ging zu ihrem Manne hinüber.
„Tobias, wo nur der Menſch bleibt! Drückeferken ſollte ihn nochmals an die Zeit erinnern, und es geht nun ſtark auf ſieben. Ich fürchte, dieſer alte Freund und Liederjahn wird ihn beim Glaſe zurückhalten. Heute ſcheint uns alles verquer zu gehen.“
„– dergleichen ſaumſelige Leute werden meiſtenteils durch ihren eigenen halsſtarrigen eigenſinnigen Kopf und neidiſches mißgönſtiges Hertz zurückgehalten, daß ſie andern, die fleißiger ſind als ſie, nicht können noch mögen Gehör geben und folgen.“ Alſo ſchloß Herr Tobias ſeine Lektüre des Kapitels „Tugend der ſtetsgrünenden Simplizien“ in ſeinem Schmöker Hiskias Cardilucius, pfalzgräflichem Doktor der Philoſophie und Medizin, der ſich keine Gelegenheit entgehen ließ, gegen ſeine Widerſacher geharniſcht Stellung zu nehmen.
„Du kannſt dein altes Doktorbuch wohl bald auswendig! Das mag übrigens ſtimmen bis auf das neidiſche und mißgünſtige Herz, das ich noch nicht an ihm bemerkt habe. Aber ich ſehe ſchon im Geiſte Drückeferken ihn bringen, – vorausgeſetzt, daß er dazu noch au fait iſt. Es geht ſtark auf ſieben, Tobias!“
„Das heißt, es iſt fünf Minuten über ſechs Uhr“, lächelte Tobias, ſein Stundenglas erſt vors Auge und dann vors Ohr haltend.
„Ach, meinetwegen! Deine Rechthaberei und Wortklauberei iſt heute mal wieder unerträglich und paßt in einen ſolchen Tag und meine Stimmung ganz und gar nicht hinein! Um ſieben Uhr wird der Menſch noch nicht da ſein, ebenſowenig, wie du noch ein Rezept bekommen wirſt. Meine Hoffnung auf einen lebhafteren Gang des Geſchäfts ſcheint ſich auch nicht zu erfüllen. Die Menſchheit von heute iſt ſchon zu ſehr ans Wohlleben gewöhnt, als daß es ſie krank machen könnte. Wie viel ſind es bis jetzt?“ Sie ſchob den weiland Doktor der Philoſophie und Medizin bei Seite und warf einen betrübten Blick ins Rezeptjournal.
„Glücklich vier Stück alſo!“
„Und zwei unſichere Zahler dabei“, fügte der Apotheker mit fataliſtiſchem Triumphe hinzu.
„Ich weiß nicht, Mann, ob wir uns für unſere Verhältniſſe nicht doch zuviel mit dem Kinde auf die Hörner genommen haben, und ich trage darüber meine Bedenken und Sorgen wie gewöhnlich für dich mit. Du wirſt immer älter –“
„Und du immer jünger natürlich!“, Herr Kruſius umſchlang lachend ſeine Frau und gab ihr einen Kuß, den dritten in unſerer Geſchichte! Ach nein, erſt den zweiten, denn den allererſten hatte ſie ihm gegeben.
„Du kannſt es doch nicht laſſen mit deiner Wortverdreherei! Ja, nicht einmal zum Halten eines Lehrlings reicht der Verdienſt, dir das Leben etwas zu erleichtern.“
„I laß gut ſein, meine Seele! Haſt du mir nicht ſelbſt erſt geſagt, Kinder bringen Segen ins Haus? Und ein paar Jährchen halte ich mit Gottes Hilfe doch wohl noch zuſammen.“
Es ſchien wirklich ſo, als ob der liebe Gott Herrn Tobias diesmal bei ſeinem ſeltenen Verſuche, ſeine Gattin zu tröſten, unter die Arme greifen wollte. Die Hausglocke klingelte, und es liefen zum Beginn der wohltätigen Wirkung des Schüttenhofes zwei Rezepte Doktor Krafts auf einmal ein: die Frau Amtsrichter Stelzer wollte ſich vor dem Zubettgehen mit einem Chininpulver ſtärken, und die Frau Oberförſter Stukenberg hatte ſich doch den Magen verdorben und ſich Natrum bicarbonicum und Magnesia usta verſchreiben laſſen.
„Tobias, das haben wir wenigſtens vor der leidenden Menſchheit voraus! Dein Schoppen Bier und meine Taſſe Kaffee mit dem Stückchen Zuckerkuchen dazu machen uns keine Beſchwer.“
„Und mein Hering, nicht zu vergeſſen, auch nicht.“
Während der Apotheker auf dem Rezeptiertiſche ſeine zwölf Hornkapſeln zur Verteilung des Pulvers für die Frau Juſtizamtmann nebeneinander zu einem regelrechten Halbkreiſe ordnete, ging Frau Ottilie doppelt erleichtert hinaus, ſich nach den Kindern und der Hauswirtſchaft umzuſehen.
Nach dem Rat der Götter ſollte indeſſen ihre gehobene Stimmung nur bis in die Mitte des Hausflurs vorhalten, denn durch die von neuem aufgeriſſene Haustür polterte in Fleiſch, Blut und Montur der ſchon von ihr im Geiſte erſchaute Wachmeiſter Samuel Drückeferken herein, geradenwegs auf die Offizin los.
„O Gott, das arme Kind!“, ſeufzte Frau Kruſius und preßte die Hand aufs Herz. Doch ſie überwand mit Heroismus den lähmenden Schrecken des Augenblicks. „Pſt! Herr Wachmeiſter, ſtören Sie meinen Mann jetzt nicht, er hat mit Gift zu tun!“
„Und ich mit Gift und Galle, Frau Magiſtrat! Mit Verlaub, zum Donnerwetter, ich muß dem Herrn Magiſtrat unverzüglich Meldung abſtatten! Iſt er nicht an des regierenden Herrn Burgemeiſters Stelle Oberhaupt des ſtädtiſchen Gemeinweſens?“
„Wollte Gott, dieſe unglückſeligen vier Wochen Kur des Burgemeiſters, die für uns eine richtige Pferdekur ſind, wären erſt vorüber! Drückeferken, Sie kommen in Sachen dieſes –“
„Naturällemang dieſes Halunken und Schlowaken, dieſes niederträchtigen –“
„Still! O meine Ahnung! Das Kind! Wachmeiſter, das geht mich, wie Sie wohl wiſſen, mehr an als meinen Mann. – Ruhig ſollen Sie ſein! Schreien Sie mir nicht noch das Kind her. Kommen Sie hier in die Eckſtube, – und nun geben Sie mir in Gottes Namen Bericht, ich bin gefaßt! In welcher Kneipe ſitzt er feſt, und aus welcher hat man ihn ſchon hinausgeworfen?“
„In einer Kneipe ſitzen tut er gerade weniger, Madam, aber in ſeiner eigenen Spelunke ſitzt er mit ſeinem ſauberen Kumpanen aus dem Sächſiſchen und treibt es deſto greulicher!“
„Sitzen kann er alſo noch, er wälzt ſich noch nicht unter dem Tiſche?“
„I wo denken Sie hin, Madam, höllſchen mobil iſt er, das habe ich an meinem eigenen Leibe oder beſſer an meiner Naſe verſpüren müſſen.“
„Er hat Sie auf die Naſe geſchlagen?“
„Frau Magiſtrat! Ihre hohe Weisheit in Ehren! Aber den Wachmeiſter Samuel Drückeferken hat noch niemand auf Gottes Erdboden auf die Naſe geſchlagen! Das gibt es nicht!“
„Na, da reden Sie doch!“
„Zu Befehl! Als ich hinkomme, die Beſtellung von Madam zu machen, und in das Schloß eingetreten bin, greint mir dieſes andere Ungeheuer, der billige Jakob aus Sachſen, mit ſeinem breiteſten Maule entgegen, ſeinen ‚Freind‘ nicht zu ſtören, da er grade ‚iwer‘ einer wichtigen Beſchäftigung ſei. Und ein Geruch wie von verſengten Haaren oder wie in der Schmiede beim Pferdebeſchlagen legt ſich mir auf die Bruſt, und durch den blauen Dunſt ſehe ich den böhmiſchen betrübten Witmann am Herde hocken und mir den Rücken zukehren. Und auf dem Herde hatten ſie Feuer, das blies er an, nachmittags um jetzige Jahreszeit! Der Sachſe ärgerte mich naturgemäß, und ich ſage, daß ich ihn auf den Schub bringen will. ‚Das werde ich ſelbſt beſorgen, Herr Wachmeiſter, bemühen Sie ſich nicht weiter‘, ſagt der Schlowake, ‚hinten herum durch die Gärten bringe ich ihn auf den Weg nach Altendorf, und Angerbeck wird kein Ärgernis mehr an ihm nehmen, nachdem es ſo viel Pläſier von ihm gehabt hat. Und bei Frau Kruſius‘ – er ſagte aber in ſeinem Kauderwälſch Panjih Kruſius – ‚werde ich darauf auch noch erſcheinen. Darum ſind Sie ja wohl gekommen. Ich möchte es aber erſt etwas dämmriger werden laſſen, auch mit meinem Geſchäfte hier zu Rande kommen.‘ Und nun erhebt ſich vom Feuer her ein Qualm und Geſtank, als ob der leibhaftige Deubel ſeinen Schwanz und Pferdefuß zugleich ſchmoren ließe, und darauf ſpringt der Muſche Peijaz in die Höhe und mir entgegen und hält mir ein Stück Dings unter die Naſe, daß ich zurückfahre wie dazumalen, wo mich der Herr Magiſtrat von wegen meinem Geſichtsreißen auf die Pulle mit Salmjackengeiſte riechen ließ, und ſchauderhaftig meinen alten Keuchhuſten kriege, daß ich aus dem Schloſſe raus muß, ich mag wollen oder nicht. Und was meinen Sie wohl, Frau Kruſiuſſen, was es war? Wie ein großes Räucherkerzchen ſchwenkt dieſes Megatherium ſeine Narrenzipfelmütze, an der der blaugelbe Rand angeſengt war. Und oben an der Spitze mußte er wohl Luft geſchafft haben, denn der dicke Qualm drang wie aus einem feuerſpeienden Fenusberge daraus hervor. Und beim Hin- und Herſchwenken raſſelt er mit den Schellen. Ich ſage Ihnen, Madam, genau, wie ich’s mal bei den Katholiſchen in Duderſtadt geſehen habe, wo die Meßjungen auch ſo in blauem Dunſte mit ihren Räucherdingern in der Cyriacuskirche herumliefen. Das duftete freilich anders. Aber dieſer Schlowake bringt ja wohl auch dem Deubel und ſeiner Großmutter Räuchopfer dar, und das riecht denn auch darnach!“
„I du barmherziger Himmel, was ſtellt der Menſch nun wieder an!“
„Ja, das ſagen Sie mal! Aber Sie bringen mich wieder darauf, daß ich dem Herrn Magiſtrat ſelbſt melden muß und zwar ſogleich! Der Kerl iſt imſtande, ſeine ganze Narrenmontur zu verbrennen, und ſie iſt ſtädtiſches Infentarium, für das wir zu ſtehen haben!“
„Das laſſen Sie doch vorläufig bleiben, Drückeferken, und mich für das ſtädtiſche Eigentum verantwortlich ſein. Und daß ich’s beim Magiſtrat verantworten werde, darauf können Sie ſich verlaſſen und dabei beruhigen. Oder können Sie es etwa vor Ihrem Gewiſſen verantworten, wenn mein Mann infolge Ihrer Störung und ſeiner Aufregung die Frau Juſtizamtmännin vergiftet?“
„Gott ſoll mich vor ſolcher Schuld bewahren, obwohl der Schlowake und ſein ſächſiſcher Komplice keiner Rückſichtnahme wert ſind! Denn hören Sie, Madam! Als ich vor dem Schloſſe draußen ſtehe und noch mit meinen Bruſtbeklemmungen kämpfe, lacht dieſer Handelsmann und Komödiant mich aus und ſagt: ‚Du, Benediktus, den hätteſt de richtig nausgereichert wie den Fuchs ausn Bau.‘ Der Ärger und die Wut ſtickten mich noch mehr als der Huſten, und ich will mich nun ſchleunigſt aus Schußweite verziehen, denn hinein war keine Möglichkeit für mich. Wie ich bald aus dem Hohlwege raus bin, ſteht das Ungeheuer auf dem Süll und ſchreit, was er kann: ‚Herr Wachmeeſter, Herr Wachmeeſter, loofen Se doch niche ſo! Eenen Ogenblick noch!‘ Na, ich bleibe denn auch ſtehen, und was ſagt mir nun der freche Eſel? ‚Herr Wachmeeſter‘, ſagt er, ‚Ihr blaugekäſteltes Schnupptichel hängt Sie ja ne halwe Ehle zum Rockſcheeſel naus wie än Schwanz, und mr kennt denken, das härte zer Uhniform. Tun Se’s liewer erſcht neinſacken!‘ Nun war denn ja wohl das Maß bei mir voll! Ich ſchmeiße ihm einen vernichtenden Blick zu – ſehen Sie Madam, ſo ohngefähr – und drücke mich. Nun denken Sie ſich, bölkt mir das Scheuſal noch einmal nach: ‚Herr Drückeberger, Herr Drückeberger, Drückeferkel, Drückeferkel!‘ Und wollte ich nicht die ganze Bürgerſchaft zuſammenſchreien laſſen und mir den Reſpekt vergeben und mich blamieren, mußte ich noch einmal ſtehen bleiben, nein, ſogar dem elenden Subjekte noch entgegengehen, daß er nur ’s Maul hielt. ‚Ich hätte noch än kleenes Ahnliegen‘, grinſt er mich ganz freundſchaftlich an, ‚Herr Wachmeeſter, grißen Se die Frau Apthekern ſcheen, und das kleene Freilein, das Fränzel, ſoll den Onkel Alwin nich vergeſſen un das Värſchel, das ich’n heite uf’n Gottesacker gelernt hawwe.‘ Was ſollte ich nun ſolch bodenloſer Unverſchämtheit entgegenſtellen? Wäre ich grob geworden, wie ſich’s gehörte, hätte das Untier ſicherlich zum drittenmale hinter mir her gebölkt und mir wahrhaftig die ganze Nachbarſchaft auf den Hals gehetzt! So dachte ich, das beſte iſt, du machſt gute Miene zum böſen Spiele, und ich verſpreche ihm denn auch, ſeinen Auftrag auszurichten, und wir ſcheiden wie die beſten Freunde mit kräftigem Händeſchütteln, wo ich doch lieber den ganzen Kerl aus ſeinem Felle herausgeſchüttelt hätte!“
Ganz ſo geläufig, wie wir unſern Freunden, konnte der Wachmeiſter Samuel Drückeferken ſein Abenteuer vom Schloſſe zu Angerbeck der Frau Apotheker nicht mitteilen. Oft genug konnte ſie ihm nicht das nötige Gehör ſchenken vor Lachen, zumal wenn er ſich abmühte, Alwin Pfitzner lautgetreu wiederzugeben.
„Na, ich empfehle mich ganz gehorſamſt, Frau Magiſtrat. Sie werden mir gegebenen Falles bezeugen können, daß ich meine Pflicht bis zur Grenze der Möglichkeit getan habe.“
Frau Kruſius konnte wieder aufatmen trotz der letzten Untat des Böhmen. Sie mußte an des Armenadvokaten Firmian Siebenkäs Lenette denken, die auch leichten Herzens nach der am grillierten Kattun glücklich vorübergegangenen Gefahr ſelbſt ihren blinkenden Gewürzmörſer vom Knochenfinger des Verſetzungstodes berührt ſah.
„Und dem Himmel ſei Dank, daß er das Kind fern gehalten hat!“
Wen ſich der Himmel zu ſeinem Werkzeuge auserſehen hatte, ſich dieſen Dank zu verdienen, ahnte Frau Ottilie allerdings nicht, dafür aber ein neues Unheil, als ſie ihren Sohn heimlich und ſcheu auf dem Hofe um den Holzſchuppen ſchleichen ſah, der der Schauplatz ſchon manchen ſchlimmen Streiches des Knaben Fritz geworden war.
Ihre Ahnung wurde verſtärkt durch eine unterdrückte weinerliche Stimme, die vom Dachboden beſagten Holzſchuppens erklang. Sie ſtellte ſich darum hinter der halben Hoftür auf die Lauer.
„Bitte, ach bitte, lieber Fritz, laß mich doch jetzt wieder herunter. Es iſt ſo finſter und schmutzig hier!“
Fritz ſchien vor Vergnügen Bauchſchmerzen zu bekommen, wenigſtens ſeinen Gebärden nach zu ſchließen, denn er verhielt ſich trotz aller Verrenkungen mucksmäuschenſtill.
„Fritz! O lieber Fritz! Sei doch ſo gut und laß mich hinunter!“, tönte Fränzchens Stimme dringender und angſtvoller, doch der liebe Fritz gab kein hörbares Lebenszeichen von ſich, ſondern ſchlug vor Wonne einen Purzelbaum in dem weichen Raſen hinter der Schuppentür.
„Fritz! Lieber, lieber Fritz – Fritz – Fritz!“
Die wachſende Angſt des Mädchens machte ſich in der Klimax der Tonſtärke bemerklich, ſo daß es der liebe Fritz mit einem ſcheuen Seitenblick nach der Tür und den Fenſtern des Hauſes für geraten hielt, einzuſchreiten. Er war alſo wieder anweſend. „Hähähä, nicht wahr, jetzt bin ich mit einem Mal der liebe Fritz und nicht mehr der eingebildete Bengel!“, gab er von unten herauf, doch ſehr von oben herab zur Antwort.
„Lieber, guter Fritz! Lehne doch die Leiter wieder herüber, es iſt ja ſo entſetzlich finſter hier!“
„O gucke dir nur das alte Knochengeſtelle recht genau an, das leuchtet im Finſtern! Sieh nur hin, wie dich der Totenkopf oben drauf angrinſt.“
„Fritz, gib die Leiter herüber!“, ſchrie das Mädchen auf, als ob der Knochenmann, den der Junge ſich aus der Obſoletenkammer ſeines Vaters ſtibitzt und zuſammengebaut hatte, ſeine Knochenhand ſchon in ihrem Nacken habe.
„Daß du hinläufſt und meiner Alten alles anpetzt! Erſt verſprich mir, nichts zu klatſchen!“
„Aber Fritz, das hätte ich auch ſo ganz gewiß nicht getan!“
„Hört, hört, wie ſich die ſtolze Schloßprinzeſſin wieder mal fühlt! Erſt geſtehſt du ein, daß du – daß du gepetzt hätteſt, und dann verſprichſt du, es nicht zu tun! Na, wird’s bald, Schloßprinzeß?“
„O dieſer infame Jeſuiter!“, ſeufzte Frau Ottilie.
„Nein, Fritz, das tu ich nicht! Gib die Leiter her!“
„Wird’s bald, Schloßprinzeß? Du, das Knochengerüſt wird dich in die Arme nehmen, und die Fledermäuſe werden ſich in deinen Haaren verfitzen!“
„Wenn du mir jetzt die Leiter nicht herſtellſt, rutſche ich am Balken hinunter!“
„Und bleibſt mit den Haaren an den Latten hängen wie Abſalom und zerreißt dir dein Kleid, das dir erſt meine Alte angezogen hat! Du haſt ja viel Geld, Schloßprinzeſſin! Aber ein paar ſaftige Maulſchellen von meiner Alten ſind dir auch ſicher!“
„Die kann ich bei dir bequemer und paſſender loswerden und anbringen, du Ungeheuer!“, fiel es jetzt dem Sünder auf Ohren, Nerven und Backen, und Frau Ottilie ſah das Mädchen mit entſtelltem Geſichte oben an der Bodenöffnung, aber wirklich mit ſeinem über die Knie zuſammengerafften ſchwarzen Röckchen in einer Stellung, als ob es ſein Wort von der wagehalſigen Fahrt in die Tiefe wahr machen wollte.
„Augenblicklich ſtellſt du die Leiter an! Und nun komm, mein Kind, vorſichtig! Nimm dir Zeit, Mädchen! O Gott, wie das Kind zittert! Für künftige Zeiten ſieh dir deine Leute beſſer an, ehe du deinen Edelmut an ſie vergeudeſt, den guten Rat gebe ich dir fürs Leben, Mädchen. Der Bengel hat dich doch erſt mit ſeinen Kneepen da hinauf gelockt?“
„Ich ſollte mir ſeine Räuberhöhle, – ſeine – ſeine –“
„Na, gib dir keine Mühe weiter, ſeine Schliche zu beſchönigen. Ich werde morgen früh ſelbſt mal ein Auge da oben hinwerfen und nicht darauf warten, bis er mir die Leiter zurechtſtellt. – Für diesmal wareſt du ja zwiſchen dem greulichen Totengebein und den Fledermäuſen beſſer aufgehoben als in meiner Stube“, murmelte Frau Kruſius, „dank meinem Herrn Sohne. – Jetzt aber marſch ins Haus!“ – –
Die Kinder waren ſchon zu Bett gegangen, und Frau Ottilie ſaß in ihrer Eckſtube bei der gelben Stelllampe mit dem grünen Schirme. „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat ſich geneigt“, war auf ihm zu leſen, wie ſich deſſen der aufmerkſame Leſer aus dem erſten Kapitel dieſes Buches erinnern wird. Neben der Lampe ſtand der Stopfkorb, denn Frau Ottilie – ſtopfte Strümpfe.
Dieſe Beſchäftigung liebte ſie ſchon ganz im allgemeinen nicht, im beſonderen war ſie ihr ein Greuel, wenn ihr ein Paar von Fritzchens Socken unter die Hände kam. Sie war ſchon jedesmal im voraus ſicher, mit ihrer ganzen Fauſt, die ſie als Stopfpilz zu gebrauchen gewohnt war, durch die Hacken fahren zu können. Sie ſeufzte denn auch oft genug bei ihrer Danaidenarbeit, ſummte aber, um ſich die Einförmigkeit doch etwas erträglicher zu geſtalten, nichts deſtoweniger Karl Maria von Webers Lied: „Schlaf, Herzensſöhnchen, mein Liebling biſt du.“ Nur dann und wann horchte ſie auf, denn die Klingel draußen rührte ſich heute abend doch noch öfter, als ſie in ihrem Kleinmute vom Nachmittage angenommen hatte.
Endlich ſteckte Hannchen den Kopf in die Tür und meldete biſſig: „Madam, der Stößer iſt da.“
„Gut, laß ihn herein und bitte meinen Mann, wenn es ſeine Zeit erlaubt, auch herüber zu kommen. – So, Zrovnal, da ſind Sie ja auch endlich, und nun ſetzen Sie ſich: Eine ſonderbare Beſuchzeit haben Sie ſich allerdings auserleſen, und ohne dieſen Korb voll Beihilfe meines Sohnes hätten Sie mich vielleicht ſchon – Warum ſind Sie nicht eher gekommen?“
Der Böhme rückte unruhig auf ſeinem Stuhle. „Paní Kruſius, Madam, Sie ſind der einzige Menſch hier in Angerbeck und auf der ganzen Welt, dem ich ſagen kann, was ich denke und fühle.“
„Na, dann, bitte, los!“, ermunterte Frau Kruſius ihren Gaſt.
„Ich wollte nicht bei helllichtem Tage kommen und in Ihrem Hauſe noch ein- und ausgehen nach geſtern und heute. Ich habe Ihnen ſchon zu viel zu verdanken und werde Ihnen in Zukunft noch viel mehr verdanken müſſen, als daß ich Sie unnötigerweiſe noch mehr in den Mund der Leute von Angerbeck bringen möchte, wenn Sie dem – Lumpen Ihre Tür noch offen halten nach alledem.“
„Hm, der Grund läßt ſich allenfalls hören, Zrovnal! Ich habe aber noch mehreres zu fragen. Warum haben Sie Ihre Narrenkappe verbrannt, die doch, wie Sie recht gut wiſſen, zum Stadtinventar gehört?“
„Die Narrenkappe gehört zur Stadt, wie der Kork auf die Flaſche, das weiß niemand beſſer als ich“, antwortete Benedikt bitter lachend, „aber die Stadt mag ſich auf meine Rechnung eine neue, ihr beſſer ſitzende anſchaffen! Ich habe ihr die alte, meine, verdorben und das Feuer mit meiner ſtädtiſchen Pritſche angezunden und die ganze ſtädtiſche Narrenproſtemahlzeit dazu geworfen. Ich habe ihr die Kanone gründlich vernagelt! Und Ihnen, Madam, ſage ich auch, warum. Sehen Sie, die Kappe ſollte kein Schafskopf mehr nach mir aufſezten, und in der Narrenjacke ſollte niemand nach mir mehr den Hanswurſt für die ganze Stadt abgeben, mit der ich mir mein ganzes, nun begrabenes Lebensglück erworben hatte! Sie wiſſen es ja ſo gut wie ich, nein, beſſer, daß vor zehn Jahren ſich jeder aus der ganzen Bürgerſchaft für zu weiſe hielt, den Peijaz und Narren zu ſpielen. Nur der arme chud’as, der Böhme, der Tſchech Benedikt Zrovnal, den die Liebe in der Stadt gefangen hielt, dem Sie, meine gute Madam, vielleicht weil Sie damals ſelbſt vor noch nicht langer Zeit den guten Herrn gefreit hatten und wußten, wie es einem Verliebten ums Herz iſt, aus Mitleiden einen Unterſchlupf als Stößer verſchafften, als man ihn aus dem Krankenhauſe an die friſche Luft ſetzte, der um jeden Preis heimatberechtigt werden wollte, der war gut genug dazu um eben dieſen Preis. Ich habe meine Rolle die zehn Jahre daher zur Zufriedenheit von ganz Angerbeck geſpielt, das wird mir jedes Kind bezeugen können.“
„Ich auch“, fügte Frau Ottilie paſſenden Ortes ein, „die Narrenjacke war Ihnen wie auf den Leib geſchnitten!“
„Und ſeit mich das Unglück betroffen, bin ich doch für das geſamte Stadtweſen der Lump geworden! Mein Narrenkleid aber hat ſich mir, je fadenſcheiniger es wurde, zu einem Feierkleide umgewandelt, und ich habe es höher geachtet, als manch einer ſeinen ſchwarzen Abendmahlsrock! Der Narr konnte es nicht entheiligen laſſen durch irgend einen nachfolgenden Weiſen, und nun wiſſen Sie, Paní, warum ich’s verbrennen mußte, und wenn es zehnmal ſtädtiſches Inventarium war! Es wird Ihnen noch erinnerlich ſein, daß dazumal auch die Stelle des Totengräbers vakant geworden, die ich lieber genommen hätte, doch dazu war ich nicht gut genug trotz der Fürſprache des Herrn Kruſius. Das kann ich aber ſagen, an Schaufel und Hacke hätte ich jetzt, auch wenn ich ſelbſt mit ihnen meiner Marie das Grab hätte ſchaufeln müſſen, der Stadt keinen Schaden zugefügt.“
Frau Ottilie hatte ſchon lange die Stopfnadel mit dem Wollfaden in dem auf ihrem Schoße liegenden Strumpfe ſtecken, ohne ſie weiter zu führen. Ihre klaren Augen hielt ſie auf den grünen Lampenſchirm gerichtet, doch war es dem Böhmen, als er jetzt ſchwieg und ſie anſah, als ob ihr Blick weit, weit in Fernen gerichtet ſei, die nur ſie ſchaute.
„Es iſt gut, Benedikt Zrovnal, mit Ihrer Antwort auf meine zweite Frage bin ich ebenfalls zufrieden, auch als Frau Magiſtrat. Nun ſtelle ich Ihnen die dritte: Was wollen Sie nun tun, womit wollen Sie Ihr Brot verdienen, nachdem Sie in unſer Haus zu kommen ſich nur im Dunkeln getrauten, nachdem Sie ſelbſt mit Ihrer – Uniform die Brücke zur Stadt hinter ſich verbrannt haben?“
„Ja, was ſoll ich tun, Madam? Sie haben recht, hier bleiben kann ich nicht und mag ich nicht, trotz meinem oder vielmehr meiner Tochter Anweſen. Über das gütige Anerbieten des Theaterdirektors haben Sie, glaube ich, auch die richtige Meinung. Was bleibt mir übrig, als mit meiner alten guten Geige wieder in die Welt zu ziehen, wie ich vor zehn Jahren tat.“
„Um in kurzer Zeit derſelbe zu ſein, der ſie vor zehn Jahren waren, um einſt in einem Straßengraben wie ein Tier zu verenden! Und die arme Marie ſoll ſich wirklich doch umſonſt dieſe zehn Jahre durchgequält und ‑geſorgt haben, Sie zu einem rechten Manne zu machen? Und an Ihnen ſind dieſe zehn Jahre, die Sie ſoeben mit Emphaſe Ihr ganzes Lebensglück nannten, auch ſpurlos vorübergegangen? Sie wollen Ihre Erfahrungen abſchütteln wie den Staub von den Füßen? Und wenn ich Ihnen auch die Erziehung Ihres Kindes um ſeinetwillen abzunehmen geſonnen bin, bleiben Sie nicht immer der Vater, der ſeinem Kinde vorzuleben und einen ehrlichen Namen zu bewahren hat? Ihre alte Geige iſt gut, und Ihr Spiel darauf iſt auch gut, das habe ich ja oft genug zu meiner und meines Mannes Freude hören können hier am Klavier –“
Frau Kruſius ward durch den Eintritt ihres Mannes unterbrochen, der ihre letzten Worte aufnahm: „Ja, Zrovnal, Ihre Variationen über den Karneval müſſen Sie mir noch einmal, gleich heute abend –“
Der Böhme war aufgeſtanden, und bei ſeiner demütigen Verbeugung ging ein bitteres Lächeln über ſein Angeſicht.
„Mann, Mann, du denkſt wieder mal an gar nichts! Setzen Sie ſich wieder, Benedikt, und du, Tobias, hilf uns lieber den rechten Weg finden, der ihn aus dieſer letzten böſen Zeit herausführen kann!“
Herr Kruſius ging in der Eckſtube ſeiner Frau auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Dann blieb er vor dem Pianoforte ſtehen und ließ ſeinen Blick auf der Wand darüber haften. Zwei ſchöne Stahlſtiche des Hannoverſchen Kunſtvereins aus den Jahren 1849 und 1850, „Leonore“ und „Der Harfner und Mignon“, hingen in einfachen Goldrahmen zu beiden Seiten.
„Hm, Zrovnal, das iſt etwas für Sie! Hier Liebe und Tod, dort Armut und Not! Sie haben es nicht allein durchzumachen. Ich denke, die Verzweiflung der Lenore wird Sie nicht mehr anfechten, nachdem Sie da noch lebendig ſitzen.“
Benedikt wurde über und über rot, er dachte an die vergangene Nacht.
„Aber ſehen Sie ſich den alten Harfeniſten an, wie er da über ſein Inſtrument den Kopf hängen läßt! Wer nie ſein Brot mit Tränen aß: – dieſe Situation könnte Ihnen wohl noch aufgehoben ſein. Die ſchlanke Mignon da im Hintergrunde, ſieht ſie nicht dem Fränzchen ähnlich? Bitte, Frau, rücke doch den Lampenſchirm etwas höher, daß das Geſicht beſſer zu ſehen iſt. Ja, die Not ſpricht aus ihren weichen kindlichen Zügen ſchon beredt genug. Cardilucius hat recht! Die ſtärkenden Dinge und ſonderlich kräfftige Speiſe und Tranck bringen auch in dem Hinabſchlucken in den Magen dem für Hunger und Durſt gantz matten Leibe Angeſichts in allen Gliedern neue Kräffte, und herrſchet alſo der Magen gantz mächtig über alle Glieder, welches Helmontio Urſach gegeben zu behaupten, daß Anima sensitiva oder die Seele der Sinnlichkeit ihren eigentlichen Sitz im Magen habe.“
„Der Deubel traue einem Apotheker! Nun, das muß ich ſagen, Mann“, raffte ſich Frau Ottilie aus ihrem grenzenloſen Erſtaunen auf, „du verſtehſt es ja ganz vortrefflich, dich zum Praedikanten der Materie zu machen! Und deinen famoſen Doktor willſt du unſerm Zrovnal auch als Mentor, als Wegweiſer beigeben?“
„Allerdings! Unſer Freund hier ſoll ſich aus ihm die nützliche Lehre nehmen, daß er die Not und die Armut nicht an ſich kommen laſſen, ſondern ſich gegen ſie wappnen muß. Wie ſagen wir Lateiner, Frau? Quaerenda pecunia primum est. Merken Sie ſich den Satz, Zrovnal, wenn Sie ſich ihn mit Ihrem Böhmiſch auch nicht überſetzen können. Quaerenda – pecunia – primum est! Trachtet am erſten nach Geld – Geld – Geld, ſo wird euch ſolches alles zufallen!“
Dabei fuhr der alte Apotheker mit gekrümmten Armen und Händen durch die Luft und deutete ſo geſchickt das Zuſammenſcharren unermeßlicher Reichtümer an, daß ſeine Frau, wenn ſie ihn nicht zu genau gekannt, ihn für einen hartgeſottenen Geizhals gehalten hätte, ähnlich dem, welchen der Meiſter Daniel Chodowiecky in ſeinem Baſedow’ſchen Bilderbuche in Kupfer geſtochen hatte. Innerlich ſchrak ſie aber doch zuſammen. Konnte nicht ihr Mann in aller Unſchuld und Ahnungsloſigkeit in dieſem leidenſchaftlichen Menſchen einen Teufel heraufbeſchwören, dem er bislang bei allen Untugenden noch keine Macht über ſich eingeräumt hatte, in ihm das plutokratiſche Tier wecken?
„Tobias, haſt du mir nicht aus deinem langnaſigen Heiden Ovidius vorgeleſen, wie mit den Schätzen des Königs Midas auch ſeine Ohren wuchſen, daß er ſich nicht mehr unter anſtändigen Menſchen ohne ſeinen Turban blicken laſſen konnte? Ja, Zrovnal, nehmen Sie ſich an meinem Manne ein Beiſpiel! Sie kennen ihn ja auch ſeit zehn Jahren und wiſſen, was er – nach außen hin vor ſich gebracht hat. Nehmen Sie ſich einen beſſeren Rat und Troſt von der Wand da mit, als ihn der alte Doktor Cardilucius und der alte Apotheker Kruſius zu geben vermögen! Zwiſchen Bürgers Lenore und Goethes Mignon habe ich meinen Wahlſpruch aufgehängt, den ich der frommen Herzogin Eliſabeth von Braunſchweig verdanke:
‚Alles hat ja ſeine Zeit,
Freud und Leid.
Gut Gewitter, böſe Stunden
werden wechſelweis erfunden.
Dennoch geht es, wie Gott will:
Halte ſtill!‘
Still müſſen Sie werden, und das beſte Beruhigungsmittel, beſſer als Morphium und Branntwein, iſt die Arbeit, die ehrliche harte Arbeit im Schweiße des Angeſichts, wie wir ſie Ihnen leider bei dem Gange des Geſchäfts nicht bieten konnten. Der ſaure Schweiß neutraliſiert die ſalzige Träne!“
„Ich möchte wohl arbeiten, aber wer nimmt mich an; – ich müßte doch noch, wie vor zehn Jahren meine Abſicht war, nach Weſtfalen ins Kohlenrevier gehen –“
„Das Schlechteſte wäre es noch nicht, aber ich weiß Ihnen noch Beſſeres zu nennen. Gehen Sie nach Waldhauſen an die neue Eiſenbahn. Dort werden Arbeitskräfte gebraucht, je mehr, deſto beſſer.“
„Die neue Eiſenbahn!“, ſeufzte Herr Kruſius dazwiſchen, „dem Rektor iſt ſie ein Dorn im Auge, und mir wird ſie auf ihrer glatten Straße mein bißchen Brot mit Dampf davonführen.“
Frau Ottilie ſeufzte auch wohl ein wenig, ſagte aber zu dem Böhmen: „Sie haben es gehört, Zrovnal, der Apotheke wird die neue Eiſenbahn allerdings Abbruch tun. Aber wenn der eine Eimer in die Tiefe fährt, zieht er den andern in die Höhe. Für Sie kann die Eiſenbahn der Weg zum Glück werden. Helfen Sie ihn getroſt mit bauen, füllen Sie die Tiefen aus, oder wühlen Sie ſich ein wie der Maulwurf, ſprengen Sie die Felſen des ‚Heißen Nackens‘. Wenn Sie es nicht tun, tut’s ein anderer. Sie werden nicht allzu weit von hier entfernt ſein und können, wenn Sie wollen, jeden Sonnabend Abend in Angerbeck in Ihrem Häuschen Einkehr halten und ſich nach Ihrem Kinde umſehen.“
Benedikt ſtand jetzt vor dem Stuhle der Frau Kruſius und machte den Verſuch, ihr die Hände zu küſſen. „Ach dummes Zeug, Zrovnal, wir ſind hier nicht in der Polackei.“
„Milostpaní, gnädige Frau, das hat Ihnen der Himmel eingegeben, ich werde tun, was Sie wollen!“
„Nur, was ich Ihnen nach beſtem Wiſſen rate. Iſt’s ein Fehler, – iſt es das Rechte? Der Zweifel wird mich wohl bedrücken, doch das iſt meine Sache. Es iſt wenigſtens ein Anfang, ſpäter müſſen Sie ſelbſt wiſſen, was weiter wird. Alles aber wäre damit noch nicht abgemacht. Sie haben, ſo viel ich weiß, das Begräbnis noch zu bezahlen. Sie müſſen auch einige Mittel für den Anfang haben. Tobias, du haſt wohl die Güte –“
„Mit Verlaub, Herr Kruſius, den letzten Stößerlohn möchte ich doch jetzt lieber bei Ihnen ſtehen laſſen, im Falle dem Kinde etwas zuſtoßen ſollte. Mein alter Freund aus Sachſen hat’s nicht anders getan, als mir die Hälfte ſeiner Barſchaft aufzuladen. Und ich – bin gern ſein Schuldner.“
„Oho, Benedikt Zrovnal, da ſind Sie allerdings noch weit von der von mir prophezeiten Armutei entfernt!“
„Und hier übergebe ich dem Herrn Magiſtrat der Stadt Angerbeck den Betrag für meine bis geſtern in Ehren und zum letzten Male getragene Pritſchenmeiſtermontur, wie er im Inventarienverzeichniſſe angegeben iſt. Ihr Wert hatte ſich in den zehn Jahren nicht verringert.“
„Na, na, Zrovnal, ich glaube, ſie iſt doch hier und da hölliſch mitgenommen worden. Aber – wollen Sie denn die Narrenjacke auch mit an die Eiſenbahn nehmen?“
„Laß das jetzt, Tobias, und behalte das Geld, ich werde dir ſchon die ſchuldige Aufklärung geben. – Über Ihr Häuschen, Zrovnal, habe ich mit der Witwe Amelung geſprochen, deren Mann an der Steinbrecherkrankheit eingegangen iſt. Sie will es mit ihrem Sohne zuſammen mieten, eine Dachkammer aber ſoll ſie Ihnen für Ihre nötigſten Sachen laſſen.“
„Ja, ich danke Ihnen nochmals, Madam. Mir iſt es recht ſo, ich weiß doch, wenn ich ab und zu komme, wohin ich gehöre. Vielleicht wird ſich meine Gegenwart in nächſter Zeit von Gerichts wegen öfter nötig machen.“
„Wäre mir auch lieb, Zrovnal“, ſagte Herr Kruſius, „wenn Sie mich nicht ganz im Stiche ließen. Über die inchoativen Verben ſind Sie mir noch einige Aufklärungen ſchuldig.“
„Was ich Ihnen mit meinem dummen Verſtande dienen kann, werde ich gern tun, Herr Kruſius.“
„Ja, ich will Ihnen ein Beiſpiel anführen. Wann ſagt man –“
„O lieber Mann, dazu iſt es doch wohl heute zu ſpät! Wie wollen Sie es mit der Miete halten?“
„Die mag die Amelungen Ihnen bringen, Madam, als Zinſen für Ihre Hypothek, die Sie wohl noch auf dem Häuschen belaſſen werden, und was übrig iſt, verwenden Sie bitte mit für das Fränzchen, es iſt ja wenig genug!“
„Gut, Zrovnal, ſo wollen wir’s halten, und damit wäre denn alles, was an uns liegt, erledigt. Nun kommen Sie mit hinauf und geben Sie Ihrem Kinde einen Abſchiedskuß in ſeinen hoffentlich freundlichen Traum hinein.“
Dreizehntes Kapitel.
Die Regierung des neuen Schützenkönigs findet ein jähes Ende. Herr Tobias Kruſius eröffnet einen Branntweinſchank, und Frau Kruſius verſucht ſich in Häuſerſpekulationen.
Frau Ottilie Kruſius hatte zwar ſchon jetzt recht, wenn ſie die vier Wochen Badekur des Burgemeiſters, die dieſen in den Moorbädern Pyrmonts feſthielten, auch für ſich und ihren Gemahl eine Pferdekur nannte. Die nachfolgenden Ereigniſſe aber ſollten dieſer ihrer Auffaſſung leider eine noch größere Berechtigung geben, als ſie ſelbſt ahnte.
Der Schüttenhof mit ſeinen mannigfaltigen Aufregungen und ſeinen Anforderungen an das Stadtoberhaupt wäre den alten Schultern des Magiſtrats Kruſius ohne Unterſtützung ſeitens der jüngeren ſeiner Frau ſchon eine zu ſchwere Laſt geweſen, aber er war nun doch glücklich zum Austrag gebracht und hinterließ für drei, vier Tage einen Aufſchwung der Rezeptur und des Handverkaufs in der Offizin, die letzten ans Ufer plätſchernden Wellen des einmal im Jahre aus ſeiner trägen Ruhe gebrachten Sumpfes.
Das fremde fahrende Volk, das zumeiſt auf der ſonſt ſtillen Pfütze mit Meiſterſchaft und glatten Kieſeln „Jungfern geworfen“ hatte, war davon gezogen, als letzter Nachzügler Alwin Pfitzner aus Annaberg in Sachſen.
Und nächſten Tages, im erſten Morgengrauen, als ganz Angerbeck und mit und in ihm Franziska Zrovnal noch in ſüßem Schlummer lag, war auch ſein Freund, Fränzchens Vater, der lange mißfällig fühlbar geweſene Fremdkörper, aus dem ſtädtiſchen Gemeinweſen ausgeſchieden.
Somit glaubte die Apotheke zu Angerbeck auch das trübe Nachſpiel der Poſſe beendet und abgetan.
Aber nach Einlauf der erſten Poſt legte der Wachmeiſter Samuel Drückeferken mit den „Amtlichen Anzeigen“ dem ſtellvertretenden Stadtoberhaupte eine Neuigkeit auf den Treſen, die den kaum zur Ruhe gekommenen Stadtſumpf aufs neue aufrührte, ſchlammig trübte und Herrn Kruſius ſogar stante pede als obrigkeitliche Perſon aus der Offizin trieb. Kaum beachtete der Magiſtrat den Ruf Frau Ottiliens, wenigſtens nicht mit dem Hauskäppchen auf die Straße und durch die Stadt zu laufen.
Hannchen brachte bald darauf mit den vollen Waſſereimern vom gegenüberliegenden Brunnen das die Nachbarſchaft durchſchwirrende Gerücht ihrer Herrin in die Küche und zu Ohren. „Madam, Sie wiſſen’s wohl noch gar nicht? Vor einer halben Stunde haben ſie bei der Deipenkuhle am Stadtberge den Schneider Wehrbein gefunden, den neuen Schüttenkönig!“
„Betrunken?“
„I ne, Madam, mit ’nem Strick um den Hals, mauſetot! Seine Frau ſoll es auch noch gar nicht wiſſen.“
„O du barmherziger Himmel, auch das noch!“, fuhr Frau Kruſius zurück. „Das wäre ja zu fürchterlich! Dem liederlichen Patron könnte man es allerdings zutrauen, ſeine Frau und vier Kinder im Elende ſtecken zu laſſen. Auch das noch, auch das noch!“
„Juſtizamtmanns Lowiſe meinte, um den Windhund wäre es nicht ſchade, und gerade der hat er auf dem Schüttenhoſe vor dem Konditorzelte noch zwei Eierkränze geſtiftet und ſie in die Backen gekniffen. Oberförſters Mine hat’s ganz gewiß geſehen.“
„Nur gut, daß die Kinder in der Schule ſind.“
Lange blieb auch die Beſtätigung des böſen Gerüchts nicht aus. Der Totengräber mit der Karre und ihrer ſchauerlichen, mit Stroh zugedeckten Ladung kam richtig bei der Poſt um die Ecke, von der Wachmannſchaft begleitet, und auf dem Steinwege nebenher ſchritt der ſtellvertretende Burgemeiſter, Herr Apotheker Tobias Kruſius.
Frau Ottilie würde ſich jetzt wahrlich nicht gewundert haben, wenn man ihr den Selbſtmörder auch noch ins Haus geſchafft und vor die Füße gelegt hätte, aber der „Schüdderump“ ging diesmal gnädig an der Apotheke vorbei, dem Spritzenhauſe zu, und nur ihr Herr trat ein.
„Iſt denn das Maß dieſer unglückſeligen vier Wochen noch nicht voll?“
„Es ſcheint leider nicht ſo, meine Liebe, ich hätte mir auch nicht träumen laſſen, daß das Burgemeiſteramt in ſolchem Maße einen ganzen Mann erfordere! Pharmacopolae, balatrones, hoc genus omne! Medizinmänner und unnütze Schwäger paſſen nicht dazu.“
„Nein, Tobias, hier muß ich dir einmal mit einer deiner gewöhnlichen Wortklaubereien kommen! Einen halben Mann erfordert es, einen, der kein Herz hat oder an Hypertrophie leidet. Ein weit Gewiſſen iſt der beſte Speicher. Ach, Tobias, wir ſind wohl recht rückſtändig in der Welt, was gehen uns nun eigentlich dieſe Leute an?“
„Hm, ſchon wahr! Wenn ich mir nur nicht ſagen müßte, daß dieſer Schüttenhof dem Manne vollends den Hals zugeſchnürt und ſeine Familie ins Unglück geſtoßen hat.“
„Wir ſind uns doch ſchon recht ähnlich geworden, Mann, in denſelben Gedanken ſtand ich auch. Hätteſt du es aber verhindern können, daß der Hokuspokus unterblieb?“
„Das grade nicht, aber kümmern ſollen hätte ich mich mehr um die Leute, daß ſie nicht in ihrem Übermute und Unverſtande den Schneider zum Schützenkönige machten. Aber währenddeſſen habe ich mich ganz gemütlich mit Rektor Bartels im Honoratiorenſtübchen unterhalten, wo dem armen Teufel draußen der Strick gedreht wurde.“
„Ganz gemütlich pflegt eure Unterhaltung nicht immer zu ſein, doch das nur nebenbei. Jedenfalls muß ich, wenn die erſte Aufregung ſich gelegt haben wird, mich nach der armen Frau und den Kindern umſehen.“
„Ja, das tu, Ottilie!“
„Du aber haſt die Pflicht, Kruſius, im ſtädtiſchen Armenausſchuß dich nach Kräften für die Familie zu verwenden. Haben ſich die Väter der Stadt – denn die waren außer dir vollzählig dabei – die Suppe eingebrockt, ſo mögen ſie ſie nun auch auslöffeln. Das aber muß ich auch noch ſagen, daß der Herr Burgemeiſter wahrhaftig nicht tiefer in ſeinem Moorloche ſitzen kann als wir.“
In der Abenddämmerung, als die Hausfrau ſich nach des Tages Geſchäften entbehrlich und die rechte Zeit für gekommen erachtete, ging ſie, einen Korb am Arme, zu den vom Unglück jäh heimgeſuchten Hinterbliebenen des ephemeriſchen Schützenkönigs.
Herr Tobias Kruſius hätte ganz gut wieder einmal den Beiſtand ſeiner Frau im Verlaufe der nächſten Stunde gebrauchen können, denn ſchon wieder nahm die heilige Ordnung durch ihren Mann Drückeferken ſeine Kraft und Einſicht in Anſpruch, die für den neuen Fall natürlich ebenfalls nicht ganz ausreichten.
Der Wachmeiſter erſchien auf dem Hausflur wie der kommandierende General eines Armeekorps an der Spitze ſeines Heeres. Sein ſtattliches Gefolge ſchwoll immer mehr an und drohte die ganze Breite der fürſtlichen Straße für jedweden Verkehr zu ſperren. Dicht hinter ihm traten drei abenteuerliche Geſtalten ins Haus, braun von Geſicht, in grauweiße grobe, mit blauen und roten Schnüren beſtickte Kotzen gekleidet, den ledernen Sertak über der Bruſt, die braune Gunja von der Schulter herabhängend, auf den pechſchwarzen Haaren die hohe Lammfellmütze.
Eilfertig erſchien der Apotheker hinter dem Fenſter ſeiner Offizin. Sobald ließ ja der beſſere Geſchäftsgang noch nicht nach! Aber das war ja Drückeferken, der vor ihm ſtand! Und der Lärm auf der Straße, das Stimmengeſchwirr im Hauſe, gehörte das auch zum Geſchäft?
„Herrr Magiſtrat! Mit Permiſſion! Kaum ſind die Hottentotten vom Schüttenhofe glücklich zum Tempel hinaus, ſo fällt uns wieder dieſe Polackenbande zur Laſt!“
Nein, die drei gebräunten Geſichter, die da hinter dem Wachmeiſter auftauchten, hatten auch nicht einen leidenden Zug, der auf ein nur einigermaßen einträgliches Geſchäft deuten konnte. Und was war das? Plötzlich erdröhnte der alte Hausflur von dem knarrenden Baß eines Dudelſacks, in das gar anmutig ſchnarrend eine Klarinette die Melodie des Karnevals von Venedig einflocht, des Karnevals, um den Herr Kruſius geſtern abend durch des Böhmen Fortgang gekommen war! Das Getöſe dabei war ihm aber doch zu viel, er verſchwand vom Fenſter und riß die Tür auf.
Eines Ausrufs war er fürs erſte nicht fähig, ſondern ſtand ſtarr am Türpfoſten, denn auf das Zeichen des dritten fremdländiſchen Mannes, das dieſer mit einem langen Stabe gegeben, erhoben ſich vor den Augen des Apothekers auf ſeinem friedlich deutſchen Hausflur zwei zottige Ungetüme; zwei gewaltige braune Bären, Bären aus der wilden Walachei dahinten, wackelten plump auf ihren Hinterbeinen auf ihn zu und ſtellten mit mörderlichem Gebrumm Klarinette und Dudelſack in den Schatten.
War denn die ganze Hölle losgelaſſen?
„Drückeferken!“, ermannte ſich Herr Kruſius zu rufen. „Drückeferken! Halten Sie mir die Bieſter vom Leibe! Zum Kuckuck, Sie tragen nicht umſonſt das Schwert, ſondern ſind von Stadtwegen – – Menſch, wie kommen Sie dazu, mir das wilde Vieh auf den Hals zu hetzen!“
„Das ſagen Sie wohl, Herr Magiſtrat!“, wimmerte der Wachmeiſter, ſich gegen die noch offene Haustür zurückziehend, „aber die Kerls haben die ſtädtiſche Abgabe für Schauſtellungen zu entrichten, und herrran müſſen ſie!“
Der Apotheker fand durch dieſe natürliche Erklärung die Feſtigung ſeines Gemüts ſo ziemlich wieder, und da er ſah, daß ſich die beiden Untiere im allgemeinen eines geſitteten Betragens befleißigten, blieb ihm von ſeiner vorigen Beſtürzung nur das Gefühl einer ſchrecklich albernen Situation, in der er an ſeinem Türpfoſten lehnte. Das war alſo eine Separatvorſtellung, die ihm, ihm ganz allein galt, ſich nur um ſeine Perſon drehte! Dieſer Gedanke machte ihn faſt hilfloſer als der Schreck vorher.
Da bemerkte er zu ſeiner Erleichterung, wie ſich drüben die Küchentür vorſichtig öffnete. Ja, vorſichtig war Hannchen in ihrer Küche geweſen! Ehe ſie ſich auf Franziskas Bitte bereit finden ließ, die ſchnell geſchloſſene Tür zu öffnen, um einen Blick hinauszuwerfen, hatte ſie erſt mit Holzkaſten und Eimerbank eine Schutzwehr geſchaffen.
Die erſchrockenen Geſichter Hannchens und Fritzchens erſchienen in dem Spalt, und das wilde Gezeter des Jungen, ſowie er der Beſtien anſichtig ward, ſetzte dem ganzen Getöſe die Krone auf. Die Magd ſchlug denn auch alsbald die Tür wieder zu, hatte aber doch nicht verhindern können, daß Franziska, die Herrn Kruſius hatte ſtehen ſehen, mit einem Sprunge die Schanze nahm und der Küche entſchlüpfte. Sie eilte zu ihrem Pflegevater hinüber, an den Bären vorbei, und ſchmiegte ſich an ihn. Und ſo hatte Herr Kruſius doch jemanden, dem er die Tiere und ihre Künſte zeigen konnte! Aber aus einer noch größeren Verlegenheit ſollte ihn das Mädchen reißen!
Als die Muſik verſtummt war und die Bären ſich niedergelegt hatten, ſtand der alte Polyglotte den fremden Lauten gegenüber, die ihn nun umſchwirrten, gänzlich ratlos, in Verlegenheit lächelnd.
„Prosím, Pane, dejte nám sklenice kořalky!“ Immer dringender ward dieſe Anrede vom Dudelſack- und Klarinettenkünſtler wiederholt.
„Kind, Kind, ich müßte mich ſehr täuſchen, wenn es nicht Böhmen wären. Ach, hätten wir doch jetzt deinen Vater zur Hand. Ja, ich verſtehe ſchon: Bitte, Herr, geben Sie uns – geben Sie uns – ja, was zum Henker meinen denn die Leute?“
Herr Kruſius empfand ein Zucken und Ziehen der von ſeiner Linken gehaltenen Mädchenhand. Er ſah auf das Kind nieder, deſſen Stirn bis unter das Haar rot geworden war.
„Branntwein möchten ſie haben“, flüſterte es mit flüchtigem Augenaufſchlag.
„Mädchen, Herzenskind! Du verſtehſt dieſe Kerle!“ Liebkoſend ſtrich er über ihren Scheitel.
„So ſage ihnen denn auch, daß man in der Apotheke keinen Schnaps führt.“
Die Bärenführer griffen jetzt mit Verſtändnis das eine Wort des Apothekers auf.
„Schnaps, Schnaps, Pane, prosíme Schnaps! Ano, Schnaps!“, bettelten ſie einzeln und durcheinander und machten dazu die Gebärde, die international verſtändliche.
Da hatte ſich erſt Herr Kruſius etwas eingebrockt!
„Nemáme kořalky v lékárně!“, aber rief das Mädchen, das Herzenskind, in den Tumult hinein und war dem Apotheker, ehe er ſichs verſah, unter den Armen weggeſchlüpft, auch die begehrlichen Fremden in Überraſchung hinter ſich laſſend.
Seinen Poſten vor der Offizin konnte Herr Kruſius dieſen Kunden gegenüber nicht verlaſſen, und ſo war er wieder auf ſich ſelbſt angewieſen. Die braunen Männer aber hatten genug begriffen, und ſie wußten, in ſolchen Fällen wohl bewandert, ſich zu helfen.
„Liquor, Liquor, prosím Pane, Liquor!“
Herr Kruſius kratzte ſich hinter dem Ohre und ſchob ſein Käppchen zur Seite. „Liquor anodynus Hoffmanni mit großer Verdünnung durch Aqua fontana“ lautete das Ergebnis ſeiner für dieſen Fall paſſenden Diagnoſe, und bald war jedem der drei fahrenden Geſellen ein Gläschen der improviſierten Deſtille kredenzt.
Jetzt ſchob ſich auch der Wachmeiſter Samuel Drückeferken von neuem heran, und auch er erhielt ſein Teil. „Aber die ſtädtiſche Abgabe, Herr Magiſtrat, nicht zu vergeſſen, wenn ich bitten dürfte.“
Herr Kruſius ſchlug ſich vor die Stirn, ſetzte die Flaſche auf den Rezeptiertiſch zurück, griff zu einem der für ſolche Fälle vom Burgemeiſter übergebenen Formulare, füllte es aus und machte nun ſeinerſeits den Fremden in nicht mißzuverſtehender Weiſe deutlich, daß ſie zu zahlen hätten.
Ja, ihre Taſchen kehrten ſie ihm alle um und ſchnitten ihm ſo klägliche jämmerliche Geſichter, daß Herr Kruſius in ſeine Ladenkaſſe griff und mit der Hälfte des heutigen Geſchäftsumſatzes den Erlaubnisſchein ſelbſt einlöſte.
Drückeferken aber verdolmetſchte ihm eine neue Sorge! Die Bärentreiber hatten ihm unterdeſſen durch die Pantomime des Schlafens, die ſie ſowohl ſelbſt ausführten als von ihren Tieren auf den Steinplatten des Hausflurs agieren ließen, zu verſtehen gegeben, daß ſie in Angerbeck zu nächtigen gedachten.
„So laufen Sie in die Herberge, Wachmeiſter, und fragen Sie bei Tönnies an, ob er die Geſellſchaft aufnehmen will. Verweilen Sie ſich aber nicht, ich weiß nicht, wie ich meine Gäſte weiter unterhalten ſoll!“
Dreimal wurden die Gläſer noch leer, dafür das Haus voll Kinder, die ihrer Neugier durch eine nähere Betrachtung der ſich faul räkelnden Tiere nach Luſt frönten. Unter ſie miſchte ſich nun auch der tapfere Fritz und führte das große Wort.
Endlich ſtob der Schwarm davon, denn des grimmen Wachmeiſters Stimme ließ ſich wieder vernehmen. „Herr Magiſtrat, die Kerle will Tönnies aufnehmen, aber die Beeſter nicht. Die Frau ſagt, lieber will ſie ſich den Deubel zum Schlafgaſt infitieren, als das Getier. Im Ziegenſtalle fräßen ſie die Ziege und ihre Hittchen, im Schweinekoben murkſten ſie die beiden Säue ab, und auf den Hühnerwiemen wären ſie erſt recht nicht hinaufzubringen.“
„Hm hm, ſo müſſen die beiden gebildeten Meiſter wohl mit dem Spritzenhauſe fürlieb nehmen, Drückeferken!“
Der Wachmeiſter aber ſtrich ſchmunzelnd ſeinen martialiſchen Schnauzbart. „Wohl, wohl, Herr Magiſtrat, da könnten wir wieder mal für den ſtädtiſchen Säckel ſparen. Von dem dürren Schneider werden ſie nichts übrig laſſen, was des Begräbniſſes noch wert wäre.“
„Schämen Sie ſich, als Polizeiorgan ſolche infamen Äußerungen zu tun, Drückeferken!“, ſchallte dem verblüfften Witzbold gleich Poſaunenton die ſcharfe Stimme der Frau vom Hauſe in die Ohren.
„Laß nur, Tobias, ich bin durchaus nicht erſchrocken über dieſe fünf braunen Kerle! Wenn ſich das ganze Neſt gleichſam um die Apotheke herumlegt, ſo wird man wohl im allgemeinen genugſam auf abnorme Zuſtände in ſeinen vier Pfählen vorbereitet und gefaßt ſein, und in den beſonderen Fall hat mich ſchon die keifende Herbergsmutter eingeweiht. Quartier müſſen natürlich die Leute und die Tiere haben, und da du nun einmal in dieſen entſetzlichen vier Wochen die Stadt vertrittſt, ſo haben wir auch hier wieder die Pflicht einzuſpringen und ſind verantwortlich, daß über Nacht kein Unheil geſchieht. Ich dächte, wir hätten an dem Geſchehenen ſchon mehr als genug! Und wenn ſich noch alles ſo leicht machen ließe wie hier, möchte meinetwegen der Burgemeiſter bis kommende Oſtern in ſeinem Schlammloche ſitzen bleiben. Leere Ställe ſtehen uns leider, für diesmal aber gottlob, zur Verfügung. Aber das ſage ich, wo die beiden Ungetüme bleiben, bleiben auch die drei Menſchen zu ihrer Bewachung. Ein paar Schütten Stroh und die Decken dazu ſoll Hannchen in den Pferdeſtall liefern. Eine Branntweinſchenke iſt jedoch die Apotheke nicht! Pfui! Man riecht ja den Fuſel über die Straße! Drückeferken, Sie wiſſen Beſcheid, zeigen Sie den Leuten ihre Schlafgelegenheit, und dann mögen ſie, ſolange es noch Tag iſt, ihrem Erwerb nachgehen.“
So geſchah es. Frau Ottilie hatte die größte Mühe, ſich der beabſichtigten Handküſſe von den liquorduftenden Lippen zu erwehren. Das aber mußte ſie doch über ſich ergehen laſſen, daß die Tiere mit Muſik auch vor ihr ihre Künſte zeigten, ehe ſie davonwackelten und alles junge Volk Angerbecks – natürlich auch Fritzchen – weiter in die Straßen hinter ſich herzogen und die Apotheke in ihre ſonſtige traumhafte Ruhe zurückverſenkten.
Jetzt erſt kam der Apotheker dazu, in zarter Rückſicht ſeiner Gattin den leeren Henkelkorb vom Arme zu nehmen und, ihr auf die Schulter klopfend, zu ſagen: „Gott ſei Dank, der mir ein Weib gegeben, das zur rechten Stunde auf dem Plane erſcheint und eingreift! Ich hätte wahrhaftig nicht gewußt, die Kerle auf die rechte Art zu befriedigen und loszuwerden. Auch das Fränzchen hat mir beigeſtanden. Denke dir, ſie hat mir als Dolmetſch der fremden Männer gedient, – keine Ahnung hatte ich von ihrer Sprachkenntnis! Aber ſie iſt mir davongelaufen, ganz rot übergoſſen.“
„O ja, mit den Slowaken mag ſie ſich vielleicht verſtändigen können von ihrem Vater her, und natürlich hat ſie da wieder einen Stein im Brette bei dir. Was mußte ſie dir denn erklären?“
„Daß die Kerle Schnaps begehrten.“
„O du lieber Gott, ja! Keine Redensart wird ihr geläufiger gelegen haben als die! Die arme Marie hat’s glücklich überſtanden, aber das Kind – das Kind! Ihm wird das frühere Elend noch lange anliegen, und mich wundert’s nicht, daß es davongelaufen. Übrigens, Tobias, ſitzt die Schneiderfamilie im größten Elend! Ich habe mir die Sache mit dem Schloſſe anders überlegt. Die Amelungen iſt durch die Erſparniſſe ihres Mannes und den Verdienſt ihres Sohnes in den Stand geſetzt, ſich ſelbſt ein Haus zu kaufen, wie es ihr Seliger ſchon längſt vorhatte. Morgen früh gehe ich hin, ihr vorzuſchlagen, daß ſie der Wehrbeinen das Haus abnimmt. So kommt dieſe vorläufig aus der größten Sorge heraus und kann ins Schloß ziehen. Waſchen, Plätten, Flicken und Stopfen verſteht ſie, und es gibt in Angerbeck ja auch jetzt ſchon Frauen genug, die derlei Sachen unter ihrer Würde halten. So mag ſie ſich wohl mit ihren Kindern notdürftig durchſchlagen.“
„Aber, Frau, da könnte doch die Amelungen gleich das Schloß kaufen. Benedikt Zrovnal wäre es auf gute Manier los und brauchte ſich nicht weiter darum zu ſorgen, und mit der Miete würde es doch wohl manchmal bei der Wehrbeinen hapern.“
„Du denkſt ſcharf, Tobias, aber aus deinen beiden angeführten Gründen geht trotzdem hervor, daß die Amelungen das Schloß eben nicht kaufen kann.“
„Ich verſtehe“, lächelte Herr Tobias gutmütig und bewundernd und klopfte ſeiner Frau wieder auf die Schulter.
„Aber das hätte ich nicht gedacht, Mann, daß mich der Burgemeiſter noch zu einem Häuſerſpekulanten und Agenten machen würde.“ Damit nahm ſie ihren leeren Korb und verließ die Offizin.
Ihrer hellen Stimme gelang es bald, das Fränzchen aus dem ſchattigen Laubengange des Gartens herbeizurufen; dagegen Fritz zum Abendbrote zu erlangen, dazu mußte ſchon Hannchen aufgeboten werden. Bei einer Taſſe Tee ſprach die Hausfrau: „Ich habe heute wieder einmal das Gefühl, Mann, daß du dir dein Abendpfeifchen wohl verdient haſt, wie ich mir meine Patience. Der Junge da muß freilich erſt ſeine verſäumten Schularbeiten nachholen, und du, Fränzchen, haſt die ‚Spinnſtube‘ des wackeren Paſtors Örtel aus Horn zu leſen. Ihr könnt mir noch ein Weilchen Geſellſchaft leiſten, denn die Sorge, daß die fünf Braunen da hinten keine Dummheiten machen, wird mich doch wenig ſchlafen laſſen.“
Vierzehntes Kapitel
berichtet, wie Franziska Zrovnal unſern Fritz leiblich und geiſtig rettet.
Bis in den neuen Tag hinein ſchlief Frau Kruſius wenigſtens nicht, und den Kaffee ließ ſie ſich auch nicht aus Bett bringen. Sie ſetzte vielmehr ſelbſt den blanken kupfernen Keſſel auf, in den ſie zwei Quartier Waſſer mehr als gewöhnlich gegoſſen hatte, und zündete das Herdfeuer an, während Hannchen den geſtern mehr als in der blühendſten und einträglichſten Mäuſezeit belagerten Hausflur fegte.
Um ſechs Uhr ſchon ſaß die Familie um den Kaffeetiſch, die Kinder waren fix und fertig zur Schule, die in Angerbeck, ebenfalls noch nach alter Mode, um ſieben Uhr begann.
In der Küche machte Hannchen die Honneurs, denn an ihrem Tiſche ſaßen heute drei hungrige und durſtige Morgengäſte, die Bärenzieher, die die alternde Perſon vollauf mit ſich ausſöhnten, indem ſie ihr mit Blicken, Gebärden, viel Slawiſch und wenig Deutſch die Cour ſchnitten. Ihr Kreiſchen und das Gelächter der Männer tönte öfter in die „hintere Stube“, in der die Familie Kruſius ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegte.
Fritz Kruſius war mit ſeinem Morgenimbiß wie gewöhnlich zuerſt fertig, und ſein Eifer trug ihm ein ſpöttiſches Ständchen ſeiner Frau Mutter ein, denn dieſe ſummte ihm anzüglich das Schloſſergeſellenlied vor. Heute nahm Fritzchen nur wenig Notiz davon, ſondern zupfte unter dem Tiſche Franziska wiederholt am Kleide, bis dieſe aufmerkſam wurde und gutmütig dem abgehenden Jungen mit ihrem Schulränzchen folgte.
„Komm“, flüſterte er ihr an der Hoftür zu, „die Bärentrekker ſind noch bei Hannchen in der Küche, wir wollen uns die beiden Tiere noch einmal anſehen, ſie ſind ja angebunden und auch ganz zahm.“
„Nein, Fritz, laß das lieber, die Mutter hat es verboten.“
„Ach, die trinkt auch ganz gemütlich ihren Kaffee und merkt nichts!“
„Es iſt aber doch nicht recht, wenn du es tuſt, und man kann nicht wiſſen –“
„Hä, du feige Memme fürchteſt dich natürlich!“
„Na, Fritz, dein Gebrüll geſtern –“
„Ja, das wußte ich, daß du mir damit kommen würdeſt, aber das war auch ganz was anderes! I, komm nur, Prinzeſſin! Wir müſſen bald in die Schule, und ehe die aus iſt, ſind die Kerle längſt über alle Berge, und ſehen möchte ich die Viecher noch einmal, grade jetzt erſt recht, wo ſie bei uns geſchlafen haben! Du, alle Bengels beneiden mich drum! Und wenn ſie mich nun fragen, was die Bären heute morgen angegeben haben, da ſoll ich mich wohl auslachen laſſen? Komm, Göſſel, wir wollen die Tierlein füttern! Sie haben die ganze Nacht nichts gekriegt, die armen Lörke. Gib mir doch da dein Frühſtücksbrot, der Gerechte erbarmet ſich ſeines Viehes, aber das Herz –“
„Ach, laß es doch lieber, die Mutter wird böſe werden!“
„So, alſo geizig biſt du auch noch, du – Schloßprinzeſſin! Feige und geizig!“
„Hier, Fritz!“, ſagte das Mädchen mit verhaltenem Weinen und reichte ihm ihr ganzes Butterbrot, obgleich ſie wohl wußte, daß er ſein eigenes im Torniſter ſtecken hatte. „Mitgehen tu ich aber nicht!“
„So bleib da, eigenſinniger Balg, ich gehe allein.“
Fritz rannte über den Hof und ſchloß die Tür des Pferdeſtalles auf.
In demſelben Augenblicke aber ward ſie von innen ſo heftig aufgeſtoßen, daß ſie den Knaben mit zu Boden riß, und über ihn fiel in plumpem Schwunge das größere der beiden Ungetüme.
Ein markerſchütternder Schrei Franziskas jagte Frau Kruſius vom Kaffeetiſche auf und an die Hoftür. „Zu Hilfe, zu Hilfe! O du himmliſcher Vater, die Bären!“
Ein unheilverkündendes, abgeſtoßenes Gebrumm!
Aus der Küche kamen die Bärenzieher geſtürzt, allen voran flog Franziska, das Fränzchen, über den Hof, gradenwegs auf den Bären zu, der ſeine Pranke dem Knaben auf die Bruſt ſetzte.
Fritz lag totenbleich, unfähig ein Glied zu rühren und ſah ſtieren Blickes der Beſtie dräuende, geifernde Schnauze dicht über ſich.
„Zurück! Na zpátek, na zpátek!“, Fränzchen rief’s und warf ſich über den Knaben, nicht achtend, daß ihr Kopf dem Tiere in den braunen Pelz fuhr.
Meiſter Braun wich dem leichten Stoße nur wenig, doch wandte er, dem gewohnten Befehle gehorſam, wirklich das mächtige Haupt zur Seite, erſchnappte das dem Jungen entfallene Butterbrot und trottete, mit ſeiner Beute zufrieden, ein paar Schritte der Tür zu, bis er durch einen wohlgezielten Fußtritt des zuerſt kommenden Führers vollends über die Schwelle geſcheucht ward.
Das Abenteuer hatte auf Frau Ottilie und ihren Sohn inſofern eine ſonderbare Wirkung hervorgebracht, als beide wie ausgewechſelt erſchienen. Während die ſichtliche furchtbare Gefahr den Jungen, der ſonſt ſchnell mit dem Schreien bei der Hand war, gänzlich ſtumm gemacht hatte, ging der Auſtritt ſeiner immer ſo gefaßten Mutter doch über die Nerven; ſie konnte ſich nicht halten und ſchluchzte nun laut am Halſe ihres ſie beſorgt und teilnehmend umfaſſenden Gatten.
Aber ſei es nun, daß alsbald bei ihr eine Reaktion der ſeltenen Bewegung eintrat oder ſie ſelbſt das falſche beiderſeitige Verhältnis erkannte: – kurz, ſie raffte ſich plötzlich auf und gab Fritzchen, der immer noch blaß und mit geſenktem Haupte daſtand, eine ſchallende Ohrfeige, daß dieſer das bisher Verſehene nun aus Leibeskräften nachholte, Herr Kruſius dagegen aufatmend ausrief: „Gott ſei Dank, Ottilie, mir war es ganz unheimlich zu Mute!“
„Da haſt du deinen Jungen wieder in ſeiner Glorie!“, ſagte Frau Kruſius, durch die Bewegung aus ihrem abnormen Zuſtande nun gänzlich aufgerüttelt.
„Et e vite nascitur rubus“, bemerkte Herr Kruſius zu ſeiner Entſchuldigung kleinlaut. „Auch fromme Eltern können gottloſe Kinder erzeugen.“
„Allerdings, Kruſius, doch auch das Gegenteil kommt vor! Franziska, Fränzchen!“
Das mutige Kind hatte die Empfindung des Apothekers geteilt und mit ängſtlichen Augen das ungewohnte Weſen ſeiner Wohltäterin beobachtet. Jetzt aber ward es von dieſer an ſich geriſſen und ans Herz gedrückt, und ſein warmes weiches Kindergeſicht fühlte noch die Tränen Frau Ottiliens auf der Wange.
„Mein liebes, liebes Kind! Wie ſoll ich, ſollen wir dir danken! Tobias, hat uns der Herr nicht ſchon überreich vergolten, was wir an dem Mädchen erſt tun wollten?“
„Und was meinſt du zu dem Böhmiſchen?“, fragte Tobias dagegen.
„Ach liebe Tante Kruſius, ich habe ja nichts dabei getan“, ſagte das Fränzchen ganz beſchämt und ſchüchtern.
„Kind, Kind, bleibe mir mit der albernen lieben Tante vom Leibe! Deine liebe Mutter möchte ich ſein, hörſt du? – Sie aber“, wandte ſie ſich an die drei fahrenden Leute, „Sie ſollten beſſer auf Ihr Viehzeug aufpaſſen! Schämen Sie ſich, in der Küche mit der alten Perſon da herumzukareſſieren und uns ſolchen Schrecken einzujagen! Von Rechtswegen ſollten Sie ins Loch, und mein Mann als ſtellvertretendes Stadtoberhaupt ſollte Ihnen jedem eine Tracht Prügel zudiktieren, ſtatt ſeinen Liquor einzuſchenken!“
Die „alte Perſon“, die die Rede ihrer erzürnten Herrin voll und ganz verſtanden hatte, drückte ſich ſchleunigſt an ihr veſtaliſches Herdfeuer zurück. Die drei mähriſchen Brüder aus den Karpaten aber, die nur ein Wort davon erfaßt hatten, riefen dieſes hocherfreut im Chore nach: „Liquor, Paní, prosime vás, Liquor!“
„Was da! Liquor! Nix Liquor, ihr nichtsnutzigen Halunken, augenblicklich packt eure Tanzbären zuſammen und euch zum Tempel hinaus!“
Frau Kruſius wußte diesmal ſehr deutlich zu reden, und der Abmarſch ging auch demnach unter dem Brummen des Getiers und des Dudelſacks und dem Quieken der Klarinette ſo ſchnell von ſtatten, daß der Apotheker ganz darüber hinkam, an ſeine Gäſte noch einige philologiſche Fragen zu ſtellen, die ihm des Nachts im Bette eingefallen waren.
„Für euch beiden“, wandte ſich Frau Ottilie an die Kinder, „wird es Zeit, in die Schule zu gehen. Ein anderes Frühſtück bekommſt du natürlich nicht, mein Söhnchen! Wer zu ſatt iſt, wird wählig!“
Um neun Uhr ſetzte der Wachmeiſter Samuel Drückeferken, der im Nebenamte den Kalefaktorpoſten an der Schule bekleidete, die Schulglocke in Schwung, und bald darauf ſtrömte aus den Klaſſenzimmern das ſchulpflichtige Völkchen Angerbecks auf den Spielplatz hinaus, rechts die Knaben, links die Mädchen. Unter den letzteren bildeten ſich bald einzelne Gruppen, die äußerlich recht ſittſam, reihenweiſe hintereinander gingen und ihr Frühſtück verzehrten. Wie eine große, in den mannigfaltigſten Farben der bunten und weißen Kleider, Schürzchen, Tücher, Haarſchleifen, hellen und dunkeln Zöpfen oder Locken ſchillernde Schlange, von der hellen Morgenſonne überſtrahlt, glitt der Zug der Mädchen dahin.
Was den Knaben in ihrer eintönigen derben Kleidung an lebhafter Farbenwirkung abging, erſetzten ſie durch ihre chaotiſche Beweglichkeit. In vollem ſprudelnden Jugendübermute ſchüttelten ſie jegliche Gebundenheit, die ſie zwei Stunden über ertragen hatten, von ſich und tummelten ſich bunt durcheinander, ſich haſchend, entfliehend, ſich hinter ihren Kameraden verſteckend, auch wohl hier und da wohlgemeinte Püffe und Knüffe austeilend. Es hütete ſich aber doch jeder, die Sache zu übertreiben, denn er fühlte das wachende Auge des Rektors Bartels über ſich, der aus einem Fenſter ſeines Klaſſenzimmers den ganzen Platz überblicken konnte und, während er in aller Gemächlichkeit ſein Frühſtück ebenfalls einnahm, jedem Miſſetäter zunächſt ſein Urteil mit Kreide auf die Fenſterbank konzipierte, um es ſpäter nötigenfalls mit dem Rohre ins Reine zu bringen.
Heute aber blieb die Nomenclatur der ſtraffälligen Burſchen ſo ausnehmend dürftig, daß es Herrn Rektor auffiel, und da er über die Erfolge ſeiner erzieheriſchen Tätigkeit peſſimiſtiſch genug dachte, lehnte er ſich weiter zum Fenſter hinaus, um nach einer beſonderen Urſache dieſer Erſcheinung zu ſuchen.
„Hm, ich kann ihn wahrhaftig da unten nicht entdecken, den Mosjöh Kruſius! Er war doch heute da und litt nicht an ſeinem fingierten Kopfweh. Allerdings verteufelt duckmäuſerig und kleinlaut war er dieſe beiden Stunden, auch iſt mir nichts aufgefallen, was darauf hindeuten könnte, daß er einen ſeiner Vordermänner mit einer Nadel in podicem geſtochen habe. Was muß es da gegeben haben? – Ah, ah, alſo doch in gewiſſem Sinne ſtrafbar! Oft genug habe ich auch das verboten. Da ſitzt er!“
Dieſer letzte Ausruf des Rektors bezog ſich wirklich auf Fritzchen Kruſius, der auf der hohen Mauer, die den Schulhof vom Nachbargrundſtück trennte, Platz genommen hatte und deshalb jetzt auf der Fenſterbank in die Kreide geriet.
Er hatte ſich ganz nahe an die Wand der Schule gedrückt, jedenfalls in der Hoffnung, ſich hierdurch den Blicken des geſtrengen Lehrers zu entziehen. Zu der Ecke aber ſchweiften ſo viel Augen der Knaben hinauf, daß ſich Herr Rektor Bartels nicht hatte verſagen können, auch einmal dorthin zu ſchauen, obwohl er ſich mit Anſtrengung weit aus dem Fenſter vorbeugen mußte.
Da ſaß alſo der Junge und baumelte mit den Beinen, ſoweit das die Mauer erlaubte und die Kappen ſeiner Stiefel aushielten. In der einen Hand hielt er ſein Butterbrot, unberührt, in tadelloſem Oval, mit der andern beſchattete er ſeine Augen vor der Sonne, um eine beſſere Ausſicht über den Platz zu genießen.
„Sehr merkwürdig! Was ſoll nun das wieder heißen? Appetit hat er heute auch nicht, und ſonſt iſt er ſchon nach der dritten Minute mit ſeinem Brote fertig und zu Rande? Was hat er Intereſſantes auf dem Kieker, daß er darüber das Eſſen vergißt? Nach den Mädchen gafft der Bengel wie angenagelt hinüber! Habe ich nicht ſeiner Frau Mutter erſt das fauſtiſche Schlußwort zitiert? Hm, und da hinten, – iſt das nicht die Zrovnal, die Franziska, das Fränzchen der Frau Kruſius, die da am eiſernen Zaune lehnt? Die Einzige, die einſam ſteht und ſchwarz gekleidet iſt unter all den hellen Sommervögeln! Die ſchönſchillernde Schlange zeigt ihr da wohl ihre Giftzähne! Wie die impertinenten Mamſells, die Kraft und die Stelzer, höhniſch auf ſie hinabſchauen und untereinander tuſcheln und ihr die belegten Brötchen vor die Augen halten! Da, jetzt wendet ſie ſich ab und guckt durch das Gitter, wahrſcheinlich um den hochnäſigen Gänſen die Freude nicht zu machen, ihre Tränen auf irgend eine Anzapfung zu zeigen. Na wartet! Euch nickligen Dinger werde ich auch mal in die aufgepluderten Perücken fahren und euch die Schminke abwiſchen!“
Vorläufig aber wiſchte Herr Rektor Bartels erſt mal den Namen „Kruſius“ auf dem Fenſterbrette ab, obwohl er ihn noch kurz zuvor mit Nachdruck unterſtrichen hatte.
Wie kam er dazu, dem Sünder Abſolution zu erteilen?
Fritzchen hatte ſeinen Ausſchaupoſten in kühnem Sprunge verlaſſen, hatte ſich mit ſeinem Ellenbogen durch das Gewühl ſeiner Mitſchüler geſchoben, war in das Gehege der holden Weiblichkeit eingebrochen, wie der Hirſch ins Saatfeld (dies trug ihm die oben erwähnte Unterſtreichung ſeines Namens ein), und ſtand nun dicht hinter dem ſein Näschen durch den eiſernen Zaun ſteckenden Fränzchen.
„Hier iſt dein Frühſtück, Franziska“, ſagte er in ſehr geſchäftsmäßigem Tone. Das Mädchen fuhr herum und ſah den Jungen im höchſten Grade erſtaunt an. Er kam hierher, er redete ſie an! Und noch dazu hier, wo er ſie gar nicht gebrauchte zu ſeiner Unterhaltung, zum Spielzeug ſeiner Bosheit, wo er ſeine Karnuten maſſenhaft um ſich hatte, wo er ſich durch all die ſpottſüchtigen ziſchelnden Stranzen – nach ſeinem eigenen Ausdrucke – hindurchwinden mußte und außerdem die Nemeſis unter den Augen des Rektors in tollkühnſter Weiſe herausforderte! Und bei ihrem Namen nannte er ſie, was er noch nie getan! Und als ſie ihn vor Erſtaunen über das alles groß anſah, eine Antwort vergaß und ſich mit der Hand ans Gitter klammerte und ſie nicht ausſtreckte nach dem dargebotenen Brote, ward er nicht ungeduldig und ſtampfte nicht, wie es ſonſt ſeine Art war, mit dem Fuße! Er achtete nicht darauf, daß die großen neugierigen Mädchen, erfreut über dieſe unerhörte, den ſchönſten Klatſch bietende Konvention zwiſchen der „Schloßprinzeſſin“ und ihrem Ritter, einen Kreis um beide ſchloſſen. Er ſtand wie ein armer Sünder und hielt ihr immer noch ſein Butterbrot hin.
„Bitte, Franziska, nimm es doch!“
Ein Zug von Bitterkeit war nicht mehr in dem Mädchengeſichte zu entdecken, als ſich nun die Hand löſte vom Eiſen.
„Danke, Fritz, aber wir teilen, ſonſt ſchmeckt mir’s doch nicht. Ich hätte nicht wieder an das Frühſtück gedacht, aber grade jetzt brachten mich die darauf und ärgerten mich“, flüſterte das Fränzchen und gab die Hälfte dem Jungen zurück, der nun in tollſter Laune den dichten Kreis der Mädchen durchſtürmte und einige Burſchen über den Haufen rannte. Und dennoch blieb ſein Schuldkonto beim Rektor getilgt, dafür wurde er aber zu einer Unterredung unter vier Augen heraufgerufen.
Von ſieben bis elf Uhr kann viel geſchehen, und Frau Fama hatte nicht müßig den Vormittag verträumt. Die zu ihren Penaten zurückgekehrte Schuljugend beiderlei Geſchlechts erfuhr von Müttern, Köchinnen, Stuben- und Kindermädchen – Stützen der Hausfrau gab es damals in Angerbeck noch nicht – die ungeheuerlichſte Mär, die je nach allen drei Dimenſionen übertrieben ward. –
Danach hatte die Schloßprinzeſſin, wie einſt der Hirtenknabe das Lamm, Fritzchen Kruſius dem blutdürſtigen Rachen der Bären entriſſen, die ihr Opfer ſchon in einen ſtillen Winkel der Apothekenſcheune zum leckeren Frühſtück geſchleift und ihm die Halsgegend zerfleiſcht hatten. Frau Kruſius war in Ohnmacht gefallen; nachdem ſie aber durch ihren Mann mit Salmiakgeiſt zum Riechen und Liquor zum Trinken, alſo wieder zum Leben gebracht worden, hatte ſie den drei fremden Bärenziehern ihren Dudelſack um die Ohren geſchlagen und ſich ſo von Sinnen getan, daß ihr eigener Mann als ſtellvertretendes Stadtoberhaupt ſie durch den Wachmeiſter Drückeferken ins Spritzenhaus zu dem erhängten Schneider Wehrbein hatte bringen laſſen müſſen. An dem Aufkommen Fritzchens zweifelte ganz Angerbeck.
Zum Leidweſen der Klatſchbaſen teilten dieſen Zweifel aber die heimkehrenden Schulkinder nicht, denn ſie hatten das Aufkommen des Halbtotgeſagten, wie es im Erſteigen der verbotenen Mauer ſich unzweideutig gezeigt hatte, alle angeſehen, und einige fühlten ſeine geſunde Kraft jetzt noch zwiſchen ihren Rippen.
Die Frühſtücksteilung, das gemeinſame Brotbrechen zwiſchen Fritz und der Schloßprinzeſſin gewann dagegen, beſonders bei der halbwüchſigen Weiblichkeit, erhöhte Bedeutung, und auf Franziska Zrovnal ſahen in der Pauſe des Nachmittagsunterrichts ſelbſt die Kraft und die Stelzer nicht mehr hochnäſig nieder. Die unbedeutende Schloßprinzeſſin war über Mittag zur Heldin des Tages geworden, und jeder und jede bewarb ſich um die Gunſt, zu ihrem Hofſtaate gezogen zu werden, ein Bemühen, dem die Kleine gar kein Verſtändnis entgegenbrachte.
Herr Kruſius hatte allen Grund, in ſeiner Offizin vergnüglich zu ſchmunzeln. Angerbeck mußte ſich vergewiſſern, wieviel von den noch verbleibenden Gerüchten auf Wahrheit beruhte oder ihm auch zu Waſſer werden ſollte.
Daß Frau Kruſius gleich ihrem Sohne noch wohlauf war, konnte ſich männiglich überzeugen, denn ſie half ihrem Manne getreulich, die ihm gänzlich ungewohnte, ſeine Kräfte überſteigende Kaufluſt des pleno titulo Publikums zu befriedigen; und an ihrem guten Verſtande konnte ſie auch nicht gelitten haben, ſie gab durchaus kein auffallend reichliches Gewicht. Und trotz ihrer vielverzweigten Handelsverbindungen fand ſie noch Zeit, ſich mit Herrn Rektor Bartels, der auf ſeinem Nachhauſewege „einen Sprung“ hereingekommen war und dort am Fenſter im hölzernen Lehnſtuhle ſaß, zu unterhalten.
„Madam Kruſius, ich habe es mir gleich gedacht, das Mädchen übt auf den Jungen einen wohltätigen Einfluß aus.“
„Siehſt du, Frau, auch ich habe dir immer geſagt: Der wird erſt noch!“
„Na, meine Herren, vorläufig ſehe ich ja weiter nichts, als daß den Schlingel ſein eigenes Gewiſſen ein wenig gezwickt hat. Wir müſſen abwarten, wie lange die Empfindung vorhält. Der liebe Gott wird wohl zur gegebenen Zeit wieder einmal nachhelfen und die Schraube feſter anziehen müſſen, aber man muß ihm für alles dankbar ſein.“
Ein Junge hatte ſich glücklich bis vor das Offizinfenſter geſchoben und hielt nun einen umfangreichen irdenen Topf in ausgeſtreckter Hand über den Treſen herüber.
„Was wünſcht mein Jüngelchen? Für einen Groſchen Zitronenöl? Deine Mutter will gewiß Vatern einen Topfkuchen backen zum Geburtstage, nicht? – Was reden Sie aber von unſerm Wohltun und unſerm Gemeinſinn, Herr Rektor! Wir haben das Mädchen aufgenommen und es ‚rettet unſern Fritz leiblich und geiſtig‘, wie Sie ſich ſo ſchön auszudrücken beliebten. Wir haben die ſloweniſchen Landſtreicher aufgenommen, und wie Sie ſich ſelbſt überzeugen können, blüht das Geſchäft in ungeahnter Weiſe. Und die Kerle haben die ſtädtiſche Gebühr, die mein Mann für ſie bezahlt hatte, bei ihrem Abzuge heimlich da auf das Zahlbrett gelegt. Mein Mann hat ſich bei dem Schützenvereine paſſiv ſchreiben laſſen, weil er durch die Vertretung des Burgemeiſters keine Zeit mehr zum Schießen hatte, und nun habe ich ihn da noch friſch und geſund, und er hat ſich und uns nicht ruiniert. Wer weiß, – o Gott! Denn davon bin ich überzeugt, dies Jahr hätten ſie ihn zum Schützenkönige gemacht, und wenn er noch ſo viele Löcher in die Luft geſchoſſen hätte. – So, mein Sohn, ein Kompliment an deine Mutter, und ich wünſchte deinem Vater viel Glück zum Wiegenfeſte und deiner Mutter auch, daß ſie die beiden Tropfen Zitronenöl wieder aus dem Topfe herausfindet. Am klügſten täte ſie, den Teig da drin gleich einzurühren. – Iſt es nicht, Herr Rektor, als ob Gott uns deutlich machen wollte, uns nichts auf unſere ſogenannten Wohltaten einbilden zu dürfen? Sind das nicht viel mehr geglückte Spekulationen als Wohltaten? Sie haben ihren Lohn dahin, wir ſind abgefunden. – Und was möchte die Goldtochter da in ihre Kruke?“
„Haarwuchsbalſam für zwei gute Groſchen.“
„Sie entwickeln ja da die reine Philoſophie des unbewußten Utilitätsprinzips, meine verehrte Madam Kruſius!“
„Meinetwegen nennen Sie’s, wie Sie wollen. Ich denke mein Teil und vergeſſe nicht, daß es der Herr regnen läßt über Böſe und Gute, nehme ſeinen ſichtlichen Segen dankbar hin, weiß aber, daß er ihn auch manch liebes Mal ſpendet, wo wir ihn nicht erwarten dürfen. – So, mein Kind, merke dir das auch für deinen Haarbalſam! Ja recht vorſichtig ſein, nichts an die Hände bringen und beileibe nichts unter die Naſe reiben, ſonſt bekommſt du den ſchönſten Huſarenbart, und das wäre zu viel des Segens.“
Fünfzehntes Kapitel.
Der liebe Gott hilft wirklich nach und zieht die Schraube feſter an.
Währenddeſſen ſaßen in der hinteren Stube, dem Eß- und Kinderzimmer, Fritzchen und Franziska mit ihren Schularbeiten beſchäftigt, da für den erſteren die Offizin bei dem heutigen lebhaften Geſchäftsgange nicht der geeignete Platz zum Studium war. Aber auch die Stille der Hinterſtube war nicht ganz imſtande, zerſtreuende und von dem Ernſt der Sache ablenkende Gedanken von dem Jungen fern zu halten.
Er läutete wieder einmal ’n Eſel zu Grabe und kaute an dem traurigen Rückſtande ſeines Federhalters.
„Du, Franziska“, hub er nach einer Weile des Druckſens an, „wenn ich groß bin, heirate ich dich.“
Das Fränzchen ſchaute von ſeinem kleinen Ploetz auf und den Genoſſen erſtaunt an. Dann brach es in helles Gelächter aus.
„O du Kiekindiewelt! Was wollteſt du wohl mit einer Frau machen!“
„Wenn ich einmal ſo ganz allein in einem Hauſe ſein müßte, weißt du, und es wäre dann ſo ganz, ganz ſtill, o, da hielte ich’s nicht eine Viertelſtunde aus! Vollends bei einem Gewitter, da muß ich eine Frau haben.“
„Da nimm dir doch einen von deinen Jungen ins Haus, wie Karl Schaper, oder nimm dir ein Dienſtmädchen, wie Hannchen!“, verſuchte Franziska ihn von den Heiratsgedanken abzulenken. „Erſt mußt du aber recht viel lernen, daß du deine Leute bezahlen kannſt, ſonſt bleiben ſie nicht, wenn’s donnert.“
„Siehſt du, das iſt’s ja eben! Eine Frau darf nicht fortlaufen, wenn ſie auch keinen Lohn kriegt.“
„So! Das iſt allerdings ein hübſcher Grund, eine Frau zu nehmen“, entgegnete Franziska in gerechter Entrüſtung, in ihrer Würde als zukünftiges Eheweib angegriffen. „Wenn ich das weiß, da heirate ich dich gewiß nicht!“
„Na, nur nicht gleich ſo hitzig, Frauenzimmer, darüber ließe ſich ja noch reden. Aber das Kochen müßteſt du perfekt verſtehen! Das mußt du aus dem Effeff lernen!“
„Erſt muß ich einmal Franzöſiſch lernen, und darum ſtöre mich jetzt, bitte, nicht.“
„Ich möchte wiſſen, wozu du Franzöſiſch lernteſt! Tüchtig, tüchtig kochen und Torten backen, das iſt die Hauptſache! So dumm wäre ich gewiß nicht, etwas zu lernen, was ich nicht unbedingt müßte.“
Für jetzt ſchien Fritz ſeinem aufgezwungenen Pflichtgefühl Genüge getan zu haben, denn er klappte ſeine Bücher zu und holte ſeine Käferſammlung herbei:
„Biſt du denn mit deinen Arbeiten ſchon fertig, Fritz?“, wagte Franziska in mahnendem Zweifeltone zu fragen.
„Hm, du ſiehſt wohl nicht, daß ich hier auch arbeite! Die ekelhaften Exempel habe ich allerdings fertig, nun kommt die Naturgeſchichte daran, die Käferologie, wie der Rektor ſagt. Hier guck, kennſt du den?“
„O Fritz, iſt der aber herrlich! Wie er am Bauche glänzt, ganz veilchenblau!“
„Du kennſt ihn nicht?“
Das Mädchen ſchüttelte die braunen Locken.
„Geotrupes stercocarius.“
„Das dachte ich mir, daß er einen ſo vornehmen ſchweren Namen haben müſſe.“
„Dummes Geſchöpf! Es iſt ja ein ganz gemeiner Miſtkäfer, wie du ihn überall auf der Landſtraße finden kannſt, wo Pferde – geweſen ſind! Ich habe ihm bloß die Läuſe abgeleſen und ihn ein bißchen plattgedrückt“, erklärte Fritz mit überlegenem Grinſen. „Du biſt aber nicht der Erſte, der darauf hereinfällt. Karl Schaper dachte auch, es wäre ein Puppenräuber, Calosoma sycophanta, und ich habe ihm dafür richtig dieſen Nashornkäfer abgekunkelt. Du, heute mußt du mit mir an die Deipekuhle am Stadtberge! Unter den Eichen gibt es den Klemmbock, den Hirſchkäfer, wie ihn der Rektor nennt. Na, ich ſage Klemmbock, Lucanus cervus. Karl Schaper hat neulich dreie dort gefunden.“
„So geh doch lieber mit Karl Schaper, der weiß dann auch die richtigen Flecke. Ich muß aber jetzt wirklich weiter lernen.“
„Natürlich! Du immer mit deinem blödſinnigen Lernen! Karl Schaper weiß allerdings die Flecke, aber er will immer alles, was er findet, für ſich behalten.“
„Dann würde ich doch allein gehen in deiner Stelle!“
„An die Deipekuhle, allein? Na, das kannſt du doch wahrhaftig nicht verlangen. Ne, allein gehe ich auf keinen Fall, du mußt mit!“
„Aber warum?“
„Na, hat ſich etwa nicht an der Deipenkuhle der Schneider Wehrbein an einem Eichenaſte aufgehängt? Das iſt eben der Kaſus!‘
Das Fränzchen ſchüttelte ſich ein wenig, ſagte aber dann: „Wenn du es ſehr gern haſt, will ich mitgehen, aber du mußt mir verſprechen, die armen Käfer, die du findeſt, nicht zu quälen.“
„Na, wozu hat denn mein Alter Aethyläther in der Offizin?“
„Und dann darfſt du mich jetzt nicht länger vom Lernen abhalten, ſonſt kann ich gewiß nicht mitgehen.“
„Meinetwegen denn, du eigenſinniges Lork. Ich ochſe unterdes noch eine Seite lateiniſche A verbo.“
Er führte wirklich ſeinen löblichen Entſchluß aus und ließ ihr noch eine Stunde Zeit. Dann aber zogen die Kinder mit ihrem Vesperbrote und der Ermahnung der Mutter, keine neuen Dummheiten zu begehen, ab.
Die Deipekuhle (tiefe Grube) war ein ſeit unvordenklichen Zeiten außer Betrieb geſetzter großer Kalkſteinbruch, der mit ſeinen drei ſteilen, zum Teil noch aus Felsplatten, ſonſt aber aus lockerem, mit kalkſchieferigem Geröll durchſetzten Erdreiche beſtehenden Rändern nicht allzu weit im Walde lag. Die vierte offene Seite dagegen, auf der man allmählich zur Sohle hinabgelangen konnte, lag tiefer im Eichenforſt verborgen. Längſt hatte ſich der abgebaute Boden wieder mit Graswuchs und Eichengeſtrüpp beſiedelt, nur die abſchüſſigen Ränder zeigten noch das grauweiße verwitterte Schuttgemenge.
Dieſer alte Steinbruch war den Kindern Angerbecks als Fundort verſchiedener Petrefakten wohlbekannt und darum ein Anziehungspunkt, und hierhin führte nun Fritz Kruſius ſeine Gefährtin. Nach einem etwa halbſtündigen Marſche durch Wieſen und Weideland ſtanden die Kinder oben am Waldrande und ſchauten rückwärts in das liebliche Tal, in dem zu ihren Füßen das Städtchen mit ſeinem altertümlichen Kirchturme lag.
„O wie ſchön iſt es hier!“, rief Franziska. „Ich bin noch nie ſo hoch geweſen, viel höher als der Turm dort unten!“
„So wollen wir uns hier lagern und unſere Butterbröte eſſen, daß wir Platz für meine Beute ſchaffen da in deiner Blechtrommel. Ehe es dunkel wird, habe ich längſt das Ding voll.“
Und mit der jederzeit vorhandenen Eßluſt der Jugend leerten ſie denn auch die kleine grüne Frühſtückstrommel, die das Fränzchen an einem von Frau Ottilie geſtickten Bande über der Schulter trug.
„Sieh, Fritz, dort oben, dort ganz oben, wo der Goldrand am Himmel iſt, wird jetzt meine Mutter mit dem Brüderchen ſein, noch viel, viel höher als wir hier. Da muß es auch noch ſchöner ſein, und weit über alle Länder, über die ganze große Welt wird man von dort oben herab ſchauen können.“
„Das ſind doch bloß Wolken, dummes Ding, da drauf kann niemand ſtehen“, belehrte Fritz.
„Meine Mutter braucht auch nicht zu ſtehen, die kann jetzt ſchweben und fliegen wie die Engel, und das Brüderchen trägt ſie auf dem Arme, weißt du, grade wie auf dem ſchönen Bilde in der Eckſtube die Mutter Maria, die auch ſo über den Wolken ſchwebt. Meine Mutter heißt auch Marie. Ich möchte dort oben ſein, wenn man nur nicht erſt ſo tief in die Erde hineinmüßte.“
„Du, aber der Schneider Wehrbein iſt nicht erſt tief in die Erde hineingegangen, der iſt hier auf eine Eiche geſtiegen. Wenn ich nur wüßte, wo das geweſen iſt.“
„O ich möchte es nicht wiſſen! Dort hinauf wird er wohl auch nicht gekommen ſein. Wir müſſen nun aber weiter gehen, ſonſt wird es d… – deiner Mutter zu lange dauern.“
„Du ſollſt doch nicht ‚deiner Mutter‘ ſagen! Ich habe es heute morgen trotz der klingenden Schelle meiner Alten wohl gehört, daß ſie auch deine Mutter ſein wollte.“
Fritz ſah lauernden Blickes zu dem Mädchen auf, das ſich erhoben hatte und das Laub von ihrem Kleide klopfte. Die Röte ihres Geſichts hatte nicht bloß von den ſtrahlenden Wolken ihren Urſprung.
„Ich, ich – ja, ich muß mich erſt hineinfinden, Fritz.“
„Meine Alte ſteht dir wohl nicht an?“, inquirierte der Junge verſtändnislos und unbarmherzig weiter. „Sie iſt dir wohl nicht genug?“
„Aber, Fritz, wie kannſt du nur ſo etwas denken! Sieh, wenn ich deine Mutter meine Mutter nenne, ſo muß ich doch auch deinen Vater meinen Vater nennen, und es kann doch niemand zwei Väter auf einmal haben.“
„Hm, da haſt du eigentlich ganz recht, Küken! Das hat ſich meine weiſe Frau Mutter doch nicht reiflich genug überlegt gehabt. Na, Franziska, offen geſtanden, mir iſt’s auch lieber, daß du meine Schweſter nicht biſt.“
„Und mir wäre es lieber, du wärſt nicht ein ſolcher Grobian und hörteſt von ſolchen Dingen zu ſprechen auf.“
Am Eingange zur Deipenkuhle, wo die kahlen Geröllwände ihren Anfang nahmen, fand Franziska eine Terebratel, ſowie bei weiterem Suchen eine Menge kleiner verſteinerter Bruchſtücke von Pflanzenſtengeln, die Fritz ihr belehrend als „Mühlſteine“ bezeichnete.
In dem Knaben erwachte nun die Jagdluſt auf den Lucanus cervus, und während das Mädchen, Verſteinerungen ſuchend, an dem Grubenrande weiter ſchritt, alſo nach und nach in die Tiefe der Kuhle geriet, pürſchte ſich Fritz weiter in den Wald hinauf. So lag bald, ehe die Kinder es ſelbſt gewahrten, der hohe Abhang trennend zwiſchen ihnen. In ihrem Eifer achteten ſie auch nicht darauf, daß die Abenddämmerung, durch den Waldesſchatten ohnehin verſtärkt, zunahm.
Die Flugzeit des Hirſchkäfers war eigentlich ſchon vorüber, und ſo gebrauchte Fritz längere Zeit, ehe es ihm glückte, einen Spätling zwiſchen dem Wurzelgewirr einer uralten Eiche zu entdecken. Seine Geduld ward aber auch belohnt, denn der Fang beſtand in einem prächtigen großen männlichen Exemplare. Schnell griff er zu, aber – da hing ihm auch ſchon der Klemmbock mit ſeinen kräftigen hörnenen Kiefern am Zeigefinger, daß er auſſchrie.
Er ſchleuderte den Käfer auf das weiche Moos und ſuchte ihn nun geſchickter an den Seiten zu faſſen. Die ſtemmenden, ſchiebenden Bewegungen des ſtarken Tieres, die zappelnden Beine und ausgreifenden Zangen aber wurden ihm widerlich, und hilfeſuchend ſchaute er ſich nach ſeiner Begleiterin um. Das Mädchen trug ja noch die leere Brotkapſel, in die er ſeinen Gefangenen ſperren konnte.
Von Franziska aber war nichts zu ſehen; nur die dunkeln Stämme der Baumrieſen ſtreckten, ſoweit er blicken konnte, ihre knorrigen, wunderlich verdrehten Äſte nach ihm aus. Der Abendwind hatte ſich aufgemacht und raſchelte in dem dürren vorjährigen Laube und rauſchte über ſeinem Haupte.
Da ward ihm nicht nur der ſich zwiſchen ſeinen Fingern immer ungebärdiger ſtellende Käfer unheimlich, nein, ſeine ganze Lage ward es! Und hier der Aſt, dicht über ihm, der ihm beinahe an die Mütze reichte, – ſollte an ihm nicht der Schneider Wehrbein gehangen haben mit den gläſernen ſtieren Augen und den blaugedunſenen Lippen, wie ihn Karl Schaper durch das Gitterfenſter des Spritzenhauſes hatte liegen ſehen?
Von kindiſcher Furcht, von Entſetzen ergriffen, ſtolperte er davon, auf die Deipekuhle los, die mit ihrer weiten Lücke noch hell gegen die Waldesdämmerung abſtach.
„Franziska! Fränzchen! Schloßprinzeſſin!“
Sein Angſtruf äffte ihm höhniſch von der gegenüberliegenden Felswand nach.
„Fränzchen! Franziska!“ Er achtete nicht mehr auf den Lucanus cervus und fühlte es nicht, daß ihm dieſer wieder ſeine Zangen in die Haut gezwängt hatte.
Da tönte grade unter ihm des Fränzchens helle Stimme nach oben, das jetzt ſeinen Ruf vernommen hatte. Das gab ihm die Beſinnung und Frechheit wieder.
„Verrücktes Frauenzimmer! Was kriechſt du dort in das Loch und läßt mich hier oben allein! Schleunigſt! Mach, daß du heraufkommſt, ich habe einen! Aber fix, bring mir die Büchſe, das Bieſt kneift mich blutig!“
Franziska ſprang zurück, um den Ausgang des Steinbruchs zu gewinnen. Der Umweg aber ſchien ihm viel zu lang. „Halt! Dummes Zeug! Gleich hier ſteige herauf, daß wir aus dem Walde kommen! Klettere nur ein Stück! Siehſt du, ſo iſt’s recht. Wart, ich helfe dir über das letzte Ende noch hinauf!“
Mit ſeiner freien Rechten raffte er einen dürren Zweig auf und ſtreckte ihn Franziska entgegen, die ſich ſoeben unter einer vorſpringenden Felsplatte aufrichtete. Jetzt ergriff ſie das Ende des Holzes, und Fritz ſtemmte ſich mit den Füßen ein.
Da ſchrie ſie jäh auf, aber es war zu ſpät.
Das lockere Erdreich hatte unter den Füßen des Knaben nachgegeben, und mit den Geröllmaſſen rutſchte er in die Tiefe hinab.
Die Sinne ſchwanden ihm wohl für einige Zeit, doch dank ſeiner zurückgebeugten Haltung hatte er ſich nicht überſchlagen, ſondern das vor ihm weichende Geſtein hatte ſeinen Sturz gehemmt und ihn ſo nach unten befördert, daß er, auf dem Rücken gleitend, am Fuße der ſchrägen Wand liegen blieb.
Als er ſich klar wurde, was mit ihm vorgegangen, richtete er ſich auf, rieb ſich die Augen und noch etwas ſeines Körpers und fühlte zu ſeiner Befriedigung, daß wenigſtens er keinen Schaden genommen hatte. Anders ſah es allerdings mit ſeiner Bekleidung hintenherum aus.
Da ſtand er nun und blickte an der Rutſchbahn hinauf. Aber was war denn das? Hatte denn das Mädchen nicht auch dort, auf halber Höhe, wo jetzt die Trümmer lagen, geſtanden? War es vollends bis über den Rand hinaufgeklettert? Aber nein, das war ja nicht möglich! Er hatte ja Franziska im letzten Augenblicke ſinken ſehen, hatte ja in ſeiner Hand das Zurückſchnellen des Eichenzweiges gefühlt, den ſie losgelaſſen, um ihn nicht noch heftiger mit in die Tiefe zu reißen.
„O Gott, o Gott! Sie iſt verſchüttet, ſie iſt tot, und ich habe ſie durch meine Ungeduld und Angſt umgebracht!“
Als ob ihm das Kainszeichen auf der Stirn brennte, ſo jagte er aus der Deipenkuhle hinaus, wieder in den dichteſten, dunkelſten Wald zurück. „Mörder! Mörder!“, kreiſchten und knarrten ihm unter Windſtößen die wirren Äſte von allen Seiten in die Ohren und ſchienen ihn in ſeinem Laufe aufhalten zu wollen. Da dachte er plötzlich daran, wie er heute ſchon einmal in Todesgefahr und Todesangſt geſchwebt hatte. Er ſah ſich liegen unter dem lechzenden Rachen der Beſtie aus den Karpaten, ſah die kleinen roten Augen über ſich funkeln, fühlte den heißen Atem an ſeiner Wange! Und dann ſah er ſeine todesmutige Retterin ſich über ihn werfen und fühlte ſich ſicher und geborgen in der Berührung ihres weichen Kleidchens.
Und die wollte er jetzt ſchmählich im Stiche laſſen! „Nein, nein, ich komme, Fränzchen!“, ſchluchzte er laut auf in tiefſter Scham und rannte atemlos in die Deipekuhle zu der Unglücksſtelle zurück. „Jetzt lebendig oder tot! Das will ich mir nicht von dir nachſagen laſſen hier unten in der Tiefe oder droben im Himmel vor deiner Mutter, daß ich dich verlaſſen hätte! Und ſollte es währen bis Mitternacht!“
Alle Furcht hatte er hinter ſich gelaſſen. Da lag noch der Aſt, den ſie mit ihrer Hand umklammert gehalten! Er raffte ihn auf, arbeitete ſich an dem Abhange hinauf und begann an der Stelle, wo er das Mädchen zuletzt geſehen, das Geröll, die Erde, die Steine wegzuräumen. Mit dem Holze ging’s ihm zu langſam. Er warf es beiſeite und ſcharrte und ſchob und hob mit beiden Händen, denn – ach, wo war der Lucanus cervus! Er achtete es nicht, daß ihm die ſcharfen Steinkanten die Hand blutig riſſen. Mit fieberhafter Anſtrengung wühlte er tiefer und tiefer und hob mit Füßen und Knien den ſich hinter ihm türmenden Wall die ſteile Böſchung hinab.
Jetzt aber fanden ſeine Finger keinen Angriffspunkt mehr, eine glatte, feſte Felsplatte ſetzte ihnen ein Ziel. Beſtürzt ſtarrte er vor ſich hin. Die Tränen rannen ihm über die Backen.
„Schloßprinzeſſin, Fränzchen, liebes, liebes Fränzchen, wo biſt du?“
Dann ging ihm ein kleiner Hoffnungsſchimmer auf! Hatte Fränzchen nicht gerade unter dieſer Platte geſtanden? Hatte er es nicht gerade darüber hinaufziehen wollen? Als er ins Rutſchen kam, mußte es doch ebenfalls wieder ein Stück abwärts geraten ſein. Konnte es da nicht unter dieſer Platte einen Schutz gefunden haben?
Von neuem hob er den alten Aſt auf, zwängte das Ende dicht am Rande der Platte in das Geröll und wuchtete ſo einen großen Teil desſelben in die Tiefe. Noch zwei-, dreimal wiederholte er es. Da fand ſein Hebebaum zum Einſetzen keinen Widerſtand mehr, weit fuhr er in eine Höhlung hinein.
Er warf ſich in höchſter Spannung an die Öffnung.
„Fränzchen!“
„Biſt du es wirklich, Fritz, du biſt nicht tot?“, tönte ihm wie Engelsgeſang ein ſchwaches Stimmchen aus der Finſternis entgegen.
„Gott ſei Dank! O du lieber, guter Gott, ich danke dir!“, ſchluchzte und jubelte er noch unter Tränen. „Nun ſitze noch ein kleines Weilchen ganz ſtille, dich wollen wir gleich heraus haben!“
Wie ein Maulwurf ſchleuderte er den trennenden Schutt mit allen Vieren hinter ſich. „Meine Alte wird ja heute abend ihre helle Freude an den knieloſen Büchſen haben, und mein Alter an den zerſchundenen Knieſcheiben! Windelweich werden ſie mich dreſchen! Macht nichts! Nur feſte drauf! O, ich will ſtille halten wie ein Lamm, wie ein Spartanerjunge!“
Die Öffnung ward größer und größer.
„Hier, Fritz, nimm erſt einmal die Trommel für deinen Klemmbock!“
Ja, der Klemmbock! Wo war der!
„Der Lucanus iſt mir bei der Geſchichte durch die Lappen gegangen!“, rief Fritz übermütig, „aber dich habe ich wieder! Nein, dich habe ich jetzt erſt richtig!“
Er zog das leichte ſchlanke Kind in die Höhe, und beide lachten ſich in Jugendluſt an.
„Es iſt ja noch ganz hell!“, rief Franziska erſtaunt.
„Das nennſt du hell“, rief Fritz dawider, „wo man kaum noch da unten den Boden ſehen kann!“
„Da hätteſt du aber dort in meinem Loche ſitzen ſollen, da ſah man überhaupt nichts! O doch, etwas habe ich geſehen da drin, was ſehr Schönes!“ Ihr Geſichtchen leuchtete verzückt.
„Das mußt du mir erzählen! Erſt aber wollen wir vollends hinaufſteigen, was jetzt bedeutend leichter geht, ich habe eine bequeme Bahn gemacht.“
Oben angelangt, ſtrichen und klopften die Kinder ſich gegenſeitig, ſo gut es ging, die Spuren des Kalkſteinbruches ab. „Aber Fritz, ich bitte dich, wie ſiehſt du aus! Da guckt ja ſogar ein Knie heraus, ſo können wir doch gar nicht in die Stadt zurück!“
„Ach, laß nur, bis dahin iſt es dunkel genug, wir gehen hinten herum durch die Gärten. Um die Tracht Prügel werde ich mich allerdings kaum herumſchlängeln können, aber diesmal will ich mich ganz gewiß nicht dabei auf die Erde legen und mit den Füßen ſtrampeln. So, nun komm und gib mir Kunde, was du ſahſt auf der Höhle tiefunterſtem Grunde, frei nach Schiller!“
„O, auf dem Grunde ſah ich’s gar nicht, ſondern oben. Aber da muß ich von vorn anfangen. Als das Erdreich unter deinen Füßen wich und mir entgegenſtürzte, bückte ich mich unwillkürlich nieder unter den Stein, und das Gepraſſel ſchlug oben darauf und über mich weg, und ſo hat es mir nichts geſchadet. Ich drehte mich um und wollte nach dir ſehen, da war’s ſchwarze Nacht um mich her. Erſchrocken war ich zwar, aber ich dachte, du würdeſt mich ſchon wieder ans Licht bringen. Ich wartete alſo ruhig in meinem Gefängniſſe. Als ich nun gar nichts hörte, auf mein Rufen auch niemand Antwort gab, und ich mir den ſchrecklichen Sturz, den du gemacht haben mußteſt, vorſtellte, glaubte ich nichts anderes, als du müßteſt tot ſein und ſchon im Himmel. Ich dachte, ihn finden ſie wohl dort unten liegen, aber mich finden ſie ſicher nicht. So leicht hatte ich’s mir gar nicht gedacht, unter die Erde zu kommen, wovor ich mich doch erſt ſo gegrault hatte. Ich ſetzte mich hin und wollte auch ſterben, daß ich wieder bei – meiner Mutter ſein könnte.“
„So, bei mir alſo nicht“, warf Fritz ein und dachte dann bei ſich: „Es geſchieht mir aber recht, ich lief ja auch in meiner Feigheit von ihr fort!“
„O doch, Fritz, auch bei dir. Denn ſieh, als ich ſo lange, lange ſtill da geſeſſen hatte und eben die Augen zumachen wollte, ging ein heller Glanz vor mir auf, und ich ſah meine Mutter, ganz von goldenen ſtrahlenden Wolken umgeben, mit dem Brüderchen auf dem Arme, und an der Hand hatte ſie dich! Aber dann hörte ich dich draußen ſcharren, und alles war auf einmal weg.“
„Da hätteſt du wohl lieber gehabt, ich hätte dich in deinem finſtern Grabe ſitzen laſſen?“
„Nein, nein, da du auch noch lebſt, iſt es mir ſchon ſo lieber. Wer ſollte dich denn auch von den Schlägen losbitten, wenn ich nicht – – der Mutter alles erzählte?“
„Du, Franziska, da muß ich dich doch ſehr bitten, laß dem Dinge ſeinen Gang! Noch nie habe ich mir ehrlicher meine Keile verdient als heute, und das will viel heißen!“
Sechzehntes Kapitel.
Fritz kommt auf die hohe Schule. Was Herr von Spitznas in der Apotheke zu Angerbeck anrichtet. Herr Tobias Kruſius iſt längſt den Windeln entwachſen.
Die weiteren Beſchwerden, die für Herrn Kruſius aus der Vertretung des Burgemeiſters entſprangen, können wir in Hinſicht auf den Fortgang unſerer Geſchichte der Apotheke zu Angerbeck auf ſich beruhen laſſen und wollen nur erwähnen, daß Herr Tobias unter großer Erleichterung ſeines Gemüts ſeine Würde in die Hände des aus den Moorbädern Pyrmonts gekräftigt Heimgekehrten zurücklegte.
Benedikt Zrovnal tat ſein Möglichſtes, ſich in Angerbeck in Vergeſſenheit geraten zu laſſen, und die Bedenken des Magiſtrats- und Stadtverordneten-Kollegiums, ihn eines Tages als hilfsbedürftig dem Stadtſäckel zur Laſt fallen zu ſehen, erfüllte er nicht und machte in keiner Weiſe Anſpruch auf ſein wohl erworbenes Heimatrecht.
Im Anfange war er dann und wann nächtlicherweile Sonnabends im Schloſſe eingekehrt, hatte in dem Stübchen, das er ſich vorbehalten, geſchlafen und dann ein Kind der Witwe Wehrbein, die jetzt das Häuschen bewohnte, in die Apotheke geſchickt, ſeine Tochter auf ein Stündchen herbeizurufen. Immer kehrte die Kleine mit irgend einem Zeichen der väterlichen Liebe beſchenkt zu ihren Pflegeeltern heim. Benedikt ſelbſt jedoch hatte ſich nicht wieder in der Apotheke blicken laſſen, nur zufällig traf Frau Ottilie einſt mit ihm am Grabe ſeiner Frau auf Sankt Severin zuſammen.
„Das muß ich ſagen, Zrovnal, wenig genug kümmern Sie ſich um Ihre Tochter“, hatte ſie ihn angeſprochen und darauf folgende Antwort erhalten:
„Madam Kruſius, was das Kümmern anlangt, ſo weiß ich gar wohl, und auch Sie wiſſen es, daß Sie ſolches mir abgenommen haben. Und wenn ich auch dadurch gleichſam ein Vater zweiten Grades geworden bin, ſo war es doch das Beſte und Klügſte, was Sie für das Kind tun konnten. Und ich will Ihnen in Klugheit nicht nachſtehen, wenigſtens was das anbetrifft. Wenn ich nun kommen wollte und mich zwiſchen Sie und das Kind drängen, ſo wäre das nicht bloß ein Unrecht, ſondern auch ein Schaden. Mir bleibt nichts übrig zu tun, als mich Ihnen dankbar zu erweiſen, und das kann ich vorläufig nur dadurch, daß ich Ihrem Hauſe und ganz Angerbeck mich fern halte. Vielleicht ſpielt mir ein gütiges Geſchick die Möglichkeit in die Hand, Sie auch auf andere Weiſe von meiner Dankbarkeit zu überzeugen. Das müſſen wir aber Gott und der Zukunft überlaſſen.“
„Nun, Ihre Anſicht von der Sache iſt nicht übel! Daß Sie Ihre wüſten Haarſträhnen abgelegt haben, will ich für ein gutes Zeichen nehmen, daß Sie ſich vorgenommen, ſich in die Menſchen zu ſchicken und ſelbſt ein brauchbares Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft zu werden.“
Nach ſeiner ruhigen, einfachen und tadelloſen Erklärung, auf die Frau Kruſius denn auch ein Weiteres nicht zu bemerken wußte, ſchüttelte ſie ihm die Hand und fühlte, daß ſie jetzt hart gearbeitet haben mußte. Dann war Benedikt Zrovnal davongegangen, ohne jemals wiedergekommen zu ſein.
Im nächſten Frühjahre hatte ein vom Altendorfer Bahnhofe zurückkehrendes Steinfuhrwerk eine ſchwere Frachtkiſte nach Angerbeck mitgebracht und vor der Apotheke abgeſetzt. Herr Kruſius aber hatte vorher einen Brief und einen Geldbetrag durch die Poſt erhalten mit der Bitte, den in der Kiſte angekommenen Granitblock auf dem Grabe der weiland Marie Zrovnal gebornen Langhagen aufrichten zu laſſen.
Das war fürs erſte das Letzte, was der Böhme und Pritſchenmeiſter a. D. von ſich hören ließ, und damit tat er auch für Franziska ſein Beſtes, ihr zu erleichtern, Herrn und Frau Kruſius als Vater und Mutter anzuſehen.
Ihre Pflegemutter hatte ihrem Tobias und Herrn Rektor Bartels mit Befriedigung recht geben müſſen, daß das Mädchen auf Fritz einen ſehr wohltuenden Einfluß ausübte. Gern hätte ſie dieſen noch länger wirken laſſen, aber der Rektor hielt es nun doch an der Zeit, den Jungen auf die hohe Schule zu ſchicken.
Darum fuhr Montags nach dem Weißen Sonntage im erſten Morgengrauen ein Wagen vor die Apotheke, den der Fuhrmann Heinrich Brömmer unter Beihilfe Hannchens mit einer kleinen Schülerausſtattung belud. Aus einer Seegrasmatratze und den nach dem Ermeſſen Frau Ottiliens dazu gehörigen Ober- und Unterbetten, Pfühlen und Kopfkiſſen baute er einen warmen und weichen Sitz auf den Kiſten zuſammen.
Herr Apotheker Tobias Kruſius ſtand in ſeinem grauen Schlafrocke am Stehpulte zwiſchen den beiden Fenſtern ſeiner Offizin und ränderte mit Lineal und Reißfeder auf goldgelbem Papier Schilder ab, die er mit ſehr kalligraphiſchen Aufſchriften zu verſehen und an ſeine weißen Porzellanbüchſen zu kleben gedachte. Schon ſeit vielen Wochen war er mit dieſer Arbeit beſchäftigt, der er täglich zwei Morgenſtunden Schlafs opferte. Die Mehrzahl der Gefäße prangte denn auch ſchon in den Regalen in ihrem Schmucke, und mit ſtolzer Befriedigung ließ Herr Kruſius ſeinen Blick über die langen Reihen laufen. Dieſe Woche hoffte er mit ſeinem mühſeligen Geſchäfte zu Ende zu kommen. Dann mochte Hohes Fürſtliches Medizinalkollegium den gefürchteten Reviſor, den Medizinalrat von Spitznas, ſenden! Tobias Kruſius konnte ihm gefaßt und getroſt die Tür ſeiner Offizin öffnen!
Heute morgen aber wollte die Arbeit doch nicht ſo recht vom Flecke. Die Reißfeder hielt oft nicht die Parallele inne bei der zierlichen dreifachen Umränderung, und der Apotheker fuhr ſich öfter verſtohlen an die Augen oder gebrauchte ſein buntgewürfeltes Schnupftuch.
Frau Ottilie ging noch ab und zu, ſich für die Abreiſe zu rüſten und Fürſorge für die Haushaltung während ihrer Abweſenheit zu treffen. Die beiden Kinder ſtanden in der offenen Haustür; Frau Kruſius hatte Franziska abends vorher heilig verſprechen müſſen, ſie früh genug zu wecken. Sie tauſchten nur abgebrochene Sätze mit einander, und ſelbſt dieſe machten ihnen offenbar Schwierigkeit.
„Nun, Junge, nimm Abſchied vom Vater“, ſagte die Mutter im Vorbeigehen, „und du, Franziska, ſiehe hier nach dem Rechten, ſorge, daß der Vater pünktlich ſein Eſſen und ſeinen Kaffee bekommt. Leiſte ihm hübſch Geſellſchaft und vertreibe dir die Zeit mit dieſem Stückchen Schokolade.“
Reiſefertig trat ſie mit ihrem Sohne in die Offizin.
„Aber, Tobias, ich denke, ein Viertelſtündchen könnteſt du doch heute für den Jungen und mich übrig haben, wir müſſen nun aufbrechen.“
„Gleich, gleich! Ach ja, es iſt wahr, ihr müßt nun fahren“, ſagte Herr Kruſius, als ob er mit keinem Gedanken bei der Sache geweſen wäre, doch kam’s etwas gedrückt heraus. „Ja, da müſſen wir vor allem das Penſions- und Schulgeld herausholen.“ Er ging unter nochmaligem Schneuzen an ſeinen Geldkaſten und übergab ſeiner Frau eine ſchwere Rolle harter Taler.
„So, für das erſte Quartal. Lebe wohl, Frau, und Glück auf den Weg! Lebe wohl, mein Junge! Sei brav und fleißig, denke immer an den lieben Gott und deine gute Mutter! Das wird dich vor Abwegen behüten, daß du einſt ein rechter Mann wirſt und meine Stelle hier einnimmſt, wenn ich auf Sankt Severin – hm, ja – die Apotheke zu Angerbeck bleibt nicht immer ſo eine Tretmühle, wie ſie jetzt iſt! Paß auf, ſo in zehn, zwanzig Jahren da wirſt du an mich denken! Na, mit meinem alten Namensvetter aus der Bibel will ich ſprechen: So zieht hin! Gott ſei mit euch auf dem Wege, und ſein Engel geleite euch!“
Fritz fühlte, als ihm ſein Vater einen Kuß auf die Stirn drückte, auch eine Träne darauf fallen. Er ſagte gar nichts, denn ihm war die Kehle wie zugeſchnürt. Erſt am Wagen fand er wieder Worte, als nun das Fränzchen zu ihm trat.
„Na, Kleine, ſei man ruhig und faſſe die Sache nicht zu tragiſch auf, in den großen Ferien komme ich ja wieder. Adieu, Hannchen, altes Haus!“
Das Fränzchen ſteckte ihm die von der Mutter erhaltene Schokolade zu, in ihr beſtes Stück Stanniol gewickelt, und lief davon.
Fritz ſchwenkte vom Wagen herab ſeine Mütze gegen die Offizin, hinter deren Fenſter ſein Vater ſtand und ihm zunickte. Er bemerkte recht gut, daß dem alten Manne auch jetzt eine Träne in den weißen Bart rann. Seine Stimmung war demgemäß anfangs etwas getrübt.
„Mein Sohn“, ſagte die Mutter an ſeiner Seite, als ſie zum Tore von Angerbeck hinausfuhren, „ob es der Schmerz über den Abſchied von Vater und Vaterhaus allein iſt, der dich drückt, weiß ich nicht, will es aber zu deiner Ehre annehmen. Bedenke nun auch, daß dein Vater ſeit langem ſchon weiße Haare trägt und wir nicht wiſſen können, wie lange es dem Herrn gefällt, ihn uns zu laſſen. Dein Vater hat in ſeinem Leben viel zu tragen gehabt, mehr als du dir denken kannſt. Er hat eine liebe Frau begraben müſſen, und ſeine Söhne, die ihm nun jetzt hätten eine Stütze ſein können, ſind nach Amerika gegangen und dort verdorben und geſtorben. Auf dir allein ſteht ſeine Hoffnung. Kaufe die Zeit ehrlich aus, ihm Freude zu machen, ehe es zu ſpät ſein könnte! Und wenn dein Vater dir ſagte, du ſollteſt das Gedächtnis an mich treu bewahren, ſo gebe ich dir mit noch viel größerem Rechte anheim, ſeiner zu gedenken, der ſich in ſeinem Alter immer noch keinen Feierabend gönnen mag, dir das Beſte zu geben, was Eltern ihren Kindern hinterlaſſen können. Sauer wird’s ihm genug, das weiß ich am beſten. Wie gern ſäße er hier an meiner Stelle, dich in die Schule zu bringen ja, ſchon dieſe Fahrt zu machen. Denn bedenke, ſeit über dreißig Jahren iſt er nicht eine halbe Stunde weit von Angerbeck fortgekommen! Und wie gern erzählt er doch von der Zeit, da ihm die Flügel noch nicht beſchnitten waren, von Darmſtadt, Heidelberg, der Bergſtraße und dem ſchönen Rhein! – Ja, Junge, du haſt mehr Urſache als die meiſten deiner künftigen Karnuten, die Allotria, die auf der hohen Schule leider mehr als genug im Schwange ſind, zu unterlaſſen. Tu aber deine Pflicht mit Freuden und laſſe den Kopf nicht hängen! Dein Vater hat ſich trotz allem ſein fröhliches Herz bewahrt bis auf den heutigen Tag.“
Die letzte Mahnung Frau Ottiliens war überflüſſig. Seinen Kopf hatte Fritz ſchon erhoben und ſchaute hellen Auges in die morgenfriſche Landſchaft mit ihren jungen Saatfeldern und ſchön geſchwungenen Höhenzügen, in deren Buchenwäldern die Morgenluft den erſten hellgrünen Blätterflaum erzittern ließ. Sogar das Trillern und Jubilieren der wieder eingezogenen Lerchen ſchlug aus der blauen Luft durch das Wagengerumpel. Welch rechter Junge hätte auch angeſichts ſolcher Herrlichkeit, durch die ihn ein Paar munterer Pferde ſo leicht dahinzogen, den Kopf hängen laſſen, trotz des bevorſtehenden Aufnahmeexamens! Seine Mutter mußte allen Ernſtes ſagen: „Nein, mein Söhnchen, mit heilen Armen und Beinen möchte ich nun doch zu deinem Vater und dem Fränzchen heimkommen“, um ihm ſeine Luſt, ſelbſt den Fuhrmann zu ſpielen, auszutreiben.
Die Sonne ſtieg höher, und auch Frau Kruſius atmete aus voller Bruſt auf. War ſie doch ſelbſt ſeit Jahren nicht aus dem engen Bereich Angerbecks herausgekommen.
So rollte das Gefährt mehrere Stunden durch Feld und Wald, über Berg und Tal der Hauptſtadt zu, in der Fritz nun die nächſten Jahre ſich ſeine geiſtige Nahrung ſuchen ſollte. Die höchſte Anhöhe des Weges war erreicht. „Nun ſieh dich noch einmal um, mein Junge, das Land deiner Kindheit liegt hinter dir und wird mit all ſeinen Höhen und Tiefen dir jetzt entſchwinden. Daß du die Landſchaft in nicht ferner Zeit wieder findeſt, wollen wir verhoffen, deine Kindheit ſelbſt aber ſteigt ſo nie wieder vor dir auf, ſondern nur noch hinter dir. Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen kennſt du ja aus deinem Kinderfreund.“
Fritzchen war in dieſem Augenblicke noch weit entfernt, ſich über ſeine verlorene Jugend irgendwelche Gewiſſensbiſſe zu machen, biß vielmehr herzhaft in das ihm von der Mutter als Apfel zur Rute der Moralpredigt dargereichte Reiſebrot.
Den jenſeitigen Abhang hinunter ging nun die Fahrt, und die Roſſe hatten leichtes Spiel. Da lenkte der Fuhrmann Heinrich Brömmer das Handpferd nach rechts, denn er hatte einem andern Gefährt auszuweichen, das ihnen von unten entgegenkam. Es war eine leichte Kaleſche und trug außer dem Kutſcher nur einen einzelnen Herrn.
Nur ein Blick war es, den die beiderſeitigen Reiſenden unter ſich austauſchen konnten. Aber er genügte, um in den beiden Vehikeln einen Eindruck hervorzubringen, der den entgegengeſetzten Wegrichtungen vollkommen entſprach. Während der uns fremde Herr unter dem Blicke Frau Ottiliens gradezu in die Höhe wuchs, ſank dieſe unter dem ſeinigen um ebenſoviel in ſich zuſammen.
Beſagter Herr griff ſehr zuvorkommend nach dem Schirme ſeiner ſchwarzſeidenen Reiſemütze und neigte grüßend den von kurzgeſchorenem ſtrohgelben Haupt- und Barthaare mehr verunſtalteten als gezierten Kopf. Ein freundlich-höhniſches Grinſen verſchärfte ſeine ſpitzen Züge, trotz der auf ihnen ſich breit machenden ſtrotzenden Fülle – eines guten Lebens. Kurz, er grüßte mit Weltgewandtheit ſehr vom hohen Pferde herab.
Solange er ſeinen ſtechenden Blick auf Frau Ottilie heften konnte, ſaß dieſe zwar aufrecht da, doch bleichen Antlitzes und ohne den ihr geltenden Gruß zu erwidern. Große Überwindung mußte es ihr indes gekoſtet haben, denn kaum war die Kutſche vorübergefahren, als ſie allen Halt verlor und ſchluchzend ihr Angeſicht zwiſchen den Bettſtücken barg, daß ihrem Jungen vor Schreck ein Biſſen im Halſe ſtecken blieb, wie einſt dem Kaiſer Auguſtus bei der Nachricht aus dem Teutoburger Walde geſchehen ſein ſoll, der da drüben, jenſeits des Tales, ſeine blauen Umriſſe zeigte.
„Mutter, was haſt du? Was iſt dir?“, rief Fritz ſchluckend und würgend.
„O Gott, Junge“, ſtöhnte die ſonſt ſo ſtarke Frau, „du haſt ja keine Ahnung, was deinem Vater und mir der heutige Tag koſten kann, die Rolle Taler in meiner Taſche gar nicht gerechnet! Iſt es denn die Möglichkeit? War er das wirklich?“
„Wenn die Madam den Apthekenoberſten meinen, der da drinne ſaß“, ſagte Heinrich Brömmer, der nun auch auf den veränderten Zuſtand ſeiner Anbefohlenen aufmerkſam geworden war, „dennſo haben Sie ganz recht. Das war er, ich kenne ihn und habe ihn auch ſchon gefahren, s’iſt ein ekliger Kerl, brrr!“
Es war nicht ganz klar, wem der letzte ſchnarrende Laut gelten ſollte, aber die Pferde bezogen ihn natürlich auf ſich und hielten in ihrem Trabe inne.
„Ja, Brömmer, das iſt er, das iſt er wahrhaftig!“, rief Frau Kruſius aus voller Seele. „Was mache ich nun! O Himmel, was ſoll ich tun? Am liebſten kehrte ich ja auf der Stelle um! O Tobias, mein guter Tobias!“
„Sie ängſtigen ſich wohl um den Herrn Gemahl, Madam? Na, ich denke doch, wer im Notfalle eine ganze Stadt regieren kann, der wird auch mit ſo einem fertig.“ Hier zeigte Heinrich Brömmer mit der Spitze ſeiner Peitſche verächtlich über die Schulter zurück. „Mich wollte der Kerl mal um acht gute Groſchen prellen, als ich ihn bei ſcheußlichem Wetter nach dem Bahnhofe nach Altendorf fahren mußte. Wiſſen Sie, Madam, was ich da machte? Ich ließ ihm gar keine Zeit, auszuſteigen, haute auf meine Gäule, als wenn ich ihn vor mir hätte, der aber hinter mir im Wagen fluchte und zeterte, und fuhr ein großes Stück wieder zurück. Ich wußte nämlich, daß er mit dem Zuge fortwollte. So, ſagte ich endlich, Herr Medizinalrat, wir wollen uns um das Geld nicht ſtreiten, ich habe die acht guten Groſchen wieder abgefahren! Und dabei goß es, was vom Himmel runter wollte! Sehen Sie, da mußte das alte Krokodil doch klein beigeben, und ich ließ mir mein Geld erſt richtig auszahlen, ehe ich wieder umlenkte. Na, ſeien Sie man ohne Sorge, Madam, der Herr Kruſius hat ſeine Aptheke immer in gutem Schuß, und der Halunke wird ihm nichts am Zeuge flicken können. Herr Kruſius könnte doch auch bald ſein Vater ſein und iſt kein Kind mehr. Na, mir ſollte er wenigſtens nicht kommen!“
„Mancher trägt die Kinderjacke, bis man ihm ſein Leichenkleid bringt“, murmelte Frau Ottilie in ſich hinein. „Nur das Fränzchen iſt bei ihm, und ich ſitze hier wie die Henne, die ihren Entenküfen nachgackert!“
„Na, Madam, jetzt iſt’s noch Zeit, wenn Sie wirklich umkehren wollen. Meine Braunen überholen die alten Stadtkracken bis Angerbeck noch zehnmal, wenn’s verlangt wird.“
„Es geht ja nicht! Junge, Junge, um deinetwillen geht’s nicht! Du verſäumteſt die Aufnahmeprüfung. Aber Zeit deines Lebens mußt du dich dankbar dafür erweiſen, wie ſauer du deinen Eltern den heutigen Tag geworden biſt. Fahren Sie in Gottes Namen weiter, Brömmer, ich muß es ertragen. Vor Mitternacht werden wir ſowieſo nicht zurück ſein können.“ –
So ziemlich behielt dieſe Vorausſage Recht. Es war nur wenig vor Mitternacht, als Heinrich Brömmers Wagen, der durch das Abladen von Fritzchens Bettſtücken bedeutend an Behaglichkeit eingebüßt hatte, wieder vor der Apotheke zu Angerbeck hielt. Der Junge ſchlief in ihnen jetzt weich und warm den Schlaf des Gerechten, in den er ſich – müſſen wir verraten – eingeweint hatte, während ſeine Mutter ohne ſie draußen in der Nacht vom Froſt und Wagen geſchüttelt „auf der Landſtraße lag.“
Die Lichtſtrahlen, die noch allein aus den Fenſtern der Offizin ſchimmerten, ſammelten ſich für Frau Ottilie zu einem Brennpunkte, der ihr einen Stich ins Herz gab.
„Alſo ſchlafen kann er nicht! Oder ſollte er bloß auf mich gewartet haben?“
Mit ſteifen Knien, vor Froſt und Aufregung zitternd, ſprang ſie von ihrem harten Sitze herab.
„Wohl zu bekommen, Madam!“, rief ihr Brömmer nach und fuhr langſam durch das ſchweigende Städtchen ſeinem Anweſen zu.
Frau Kruſius legte zagend ihre Hand auf diejenige von Meſſing, die mit einer Querſtange in der Fauſt als Türgriff diente, und das Metall durchſchauerte ſie mit ſeiner Kälte wie eine Totenhand. Die Tür gab nach, und bei dem Klange der Hausglocke erſchien, der Gewohnheit von dreißig Jahren folgend, Herr Tobias Kruſius hinter dem Treſenfenſter.
„Gott ſei Dank! Im alten Trabe iſt er alſo noch!“
Aber daß nicht alles im Lote war, ſah ſie doch auf den erſten Blick. Sein ſonſt bleiches Geſicht war auffallend gerötet.
„Tobias, war er da?“, rief ſie in Haſt eintretend.
„Ah, du biſt’s, Ottilie! Allerdings, er war da“, ſagte der alte Apotheker nickend. „Was macht der Junge?“
„Nach Untertertia haben wir ihn glücklich gebracht. Im übrigen ſorge dich nicht um ihn, ich glaube, er iſt von uns allen vorläufig am beſten dran.“
„Oho! Fall’ nicht, Frau!“
Sie war auf etwas Schlüpfrigem ausgeglitten und bückte ſich nun, dieſes Etwas zu erkennen.
„Tobias! O du armer guter Tobias!“
Die Tränen ſtürzten ihr aus den Augen, und bitterlich ſchluchzend drückte ſie ſeinen grauen Kopf an ihr weiches türkiſches Umſchlagetuch und beachtete es nicht, daß ihr Kapottehut ſich ſeitwärts ſchob und die breite ſeidene Bandſchleife über die rechte Backe heraufkroch.
„Ja“, ſagte er einfach, nahm ihr ritterlich den Hut ab und legte ihn, denn ſonſt fand er nirgends ein paſſendes Plätzchen in der ganzen Offizin, auf die alte ehrliche Schweinshaut ſeines Doktors Hiskias Cardilucius.
In dieſem Ja lag alles. Und Frau Ottilie fühlte alles heraus, weſſen ein gequältes, totwundes Menſchenherz fähig iſt, ſeinem Schmerze Ausdruck zu geben.
Sie ließ unter Tränen ihren Blick durch die Offizin ſchweifen. Auf dem Rezeptiertiſche ſtand ein großer Kübel mit Waſſer inmitten wahrer Heeresſäulen von Flaſchen, Gläſern, Büchſen und Kruken, denen ſämtlich die gelben Schilder fehlten. Denn dieſe lagen aufgeweicht, die ſaubere zierliche Schrift, von der fleißigen Hand des Apothekers in ſo mancher Morgenſtunde mit Mühe gezeichnet, verwiſcht, zerkratzt, zerfloſſen in entſetzlichem Wirrwarr auf dem Fußboden hingeſtreut. Auf dem Treſen, den Tiſchen, den Börten, überall ſtanden die etiquetteloſen Gefäße in langen Kolonnen und grinſten Frau Ottilie an wie bleiche augenloſe Totenſchädel.
„Ja“, ſagte der alte Apotheker noch einmal, diesmal aber mit grimmigem Lachen, „da haſt du die Beſcherung! Herunter müſſen ſie, alle herrr – runter, denn ſie ſind nicht mehr zeitgemäß, grade wie ich, Frau, grade wie ich!“
„O mein Gott! Tobias, ich ahnte ja, daß ich fehlen würde! Ich ſah ihn an mir vorüberfahren; ſein boshaftes Lächeln verſprach mir nichts Gutes, und doch konnte ich nicht mit dem Jungen umkehren.“
„Mit dem Jungen umkehren“, wiederholte Herr Kruſius tiefſinnig, „davon ſprach er ja wohl auch.“
„Was? Wovon ſprach dieſer infame Menſch? Komm, Tobias, jetzt ſetzt du dich erſt einmal zu mir und erzählſt mir alles.“
„Pſt, pſt! Ottilie, ſetze dich nicht auf das Kind, ſieh doch, es ſchläft ſo gut unter meinem alten Schlafrocke.“
„Franziska hier auf dem Sofa?“, flüſterte jetzt ſtaunend Frau Kruſius in den Schatten des vorgeſtellten Lampenſchirmes hinein.
„Sie hat mir heute treulich geholfen und wollte durchaus auf dich warten. Endlich wurde ſie aber doch zu müde, und ich praktizierte ſie hier auf das Sofa, das ich nun doch wohl trotz des Herrn Reviſors Ukas bis morgen früh in der Offizin belaſſen muß.“
Zum erſten Male huſchte ſein altes freundliches Lächeln wieder über ſeine Züge, und Frau Ottilie, die ſolches bemerkte, warf einen dankbaren Blick auf das ſchlafende Mädchen.
„Und Hannchen?“ „Habe ich zu Bett geſchickt.“
„So ſetze dich in den Lehnſtuhl, Tobias, und hier iſt ja auch noch ein Plätzchen für mich, wenn ich die Büchſen abräume. Ja, um des Himmels willen, alter Menſch, ſage mir, wohin die Töpfe alle gehören!“
„Halt, halt, halt!“, wehrte er flüſternd, doch eindringlich ab. „Fränzchen hat für jedes Bört einen beſondern Platz angelegt, alſo ſtöre ihre Kreiſe nicht. Ich wäre wahrhaftig ohne das Kind nicht auf den Gedanken gekommen, auf dieſe Weiſe einer Verwechslung vorzubeugen.“
„Auf den Gedanken ſeid ihr beiden Kindsköpfe aber nicht verfallen, die Büchſen einfach ſtehen und die Schilder ſitzen zu laſſen! Auf dem Stuhle brauchen ſich die Dinger aber doch nicht gerade breit zu machen. Siehſt du, hier ſtehen ſie gerade ſo gut unter ihm. Und hier in der Fenſterecke ſteht ja auch deine Schmökepfeife, und wahrhaftig noch geſtopft! Die ſtecken wir dir erſt mal an! So, nun gib mir Klarheit in dieſe babyloniſche Verwirrung.“
„Hm“, brummte Herr Kruſius in die blauen Wolken ſeiner Schmökepfeife, „Ottilie, die ſchmeckt! Die hat mir den ganzen Tag gefehlt! Aber eigentlich biſt du ſchon klar genug ohne den mir möglichen Kommentar.“
„Im allgemeinen, ja. Doch ſprich dich aus, denn wenn dir alles auf dem Herzen liegen bleibt, wird dich dieſe Nacht der Alb drücken, und ſchlafen gehen möchten wir doch noch.“
Und der Apotheker gab Bericht über die Reviſion.
„So gegen elf Uhr kam er alſo herein –“, „gekrochen“, ergänzte Frau Ottilie.
„‚Mit Bedauern habe ich ſchon in Erfahrung gebracht‘, ſagte er händereibend, ‚daß ich Ihrer werten Frau Gemahlin meine Aufwartung nicht machen kann.‘“
„Der Schuft!“, fiel die werte Frau Gemahlin wegwerfend ein.
„Zunächſt fiel er über mein Pult da her, auf dem zum Unglück der Cardilucius aufgeſchlagen lag, beim zweiten Kapitel: Von der Tugend der ſtets grünenden Simplicien. ‚Herr Kruſius, ich will nicht hoffen, daß Sie Arcana brauen und vertreiben, Sie haben ſich lediglich an die Pharmacopoea Germaniae, vorgeſchrieben vom Hohen Fürſtlichen Medizinal-Collegio, zu halten.‘ ‚Ach, Herr von Spitznas‘, ſagte ich, ‚das Buch ſtudiere ich ja nur ſeiner Kurioſität halber.‘ ‚Sie kommen mir allerdings auch immer kurioſer vor‘, lächelte er giftig.“
„Ins Journal warf er natürlich keinen Blick, daß er nur ja nicht den kläglichen Ertrag der Rezeptur zu konſtatieren hatte!“
„Nein, das tat er freilich nicht. Er trat dicht an das Repoſitorium da und ſah ſich mit ſpöttiſchen Blicken meine ſelbſtgeſchriebenen Schilder an.“
„Aber in die Büchſen ſteckte der eklige Quengeler ſeine ſpitze Naſe nicht, um dir nicht den tadelloſen Zuſtand der Medikamente bezeugen zu müſſen?“
„Nein, da haſt du wieder recht! ‚Herr Kruſius, ich bitte Sie, das ſieht hier ja aus wie bei einem Tütchenkrämer! Das iſt durchaus nicht mehr zeitgemäß! Laſſen Sie ſich ſchleunigſt von Siegfried Buſchmann und Co. gedruckte Schilder mit Lapidarſchrift kommen! So ſchnell wie möglich räumen Sie mit dieſer Schmiererei auf!‘“
„Was? Das konnte er über die Lippen bringen, dir gegenüber? Tobias, das freche Ungeheuer läßt ſich ſelbſt von Siegfried Buſchmann und Co. ſchmieren! Ich möchte ihm ſchon einmal ſein Schuldbuch in Lapidarſchrift unter die Augen halten!“
„Dann kam er dort an das Sofa“, erzählte Herr Kruſius weiter, doch, da ihm das ſchlafende Kind wieder einfiel, leiſeren Tones. „Das wird ja immer gemütlicher bei Ihnen! Ein Sofa? Halten wohl mit Frau Gemahlin hier in der Offizin am ungeſtörteſten Ihr Schäferſtündchen? Hä, hä, hä – hä – hä.“
„Gib dir keine Mühe weiter, Tobias, du bringſt das Ziſchen dieſer Giftſchlange doch nicht natürlich heraus“, unterbrach ihn Frau Ottilie. „Nein, das iſt zu arg! Der Galgenſtrick ſollte ſich ſeine dunklen Stunden vorhalten, ſo würde ihm die Luſt vergehen, alte Leute zu verſpotten!“
„Pſt! Ottilie, das Kind! ‚Herr von Spitznas‘, ſagte ich, ‚ich bin ein alter Mann, was das anbetrifft, und einige Augenblicke der Ruhe tun mir gut. Ich muß ganz allein von früh bis abend am Platze ſein, denn einen Lehrling zu halten, wirft mein Geſchäft nicht ab.‘ ‚Aber Ihren Herrn Jungen auf die hohe Schule zu ſchicken, das wirft es ab!‘ ‚Das muß es abwerfen, und dafür quäle ich mich in meinen alten Tagen.‘ Sieh, Ottilie, indem kam das Fränzchen da mit ſeiner Büchertaſche in die Offizin geſprungen, denn die Schule war aus. Als es aber den fremden Herrn erblickt, der es ſo ſcharf und verkniffen anſieht, fährt es ganz verſchüchtert wieder zurück. ‚Wer iſt denn das Kind, ich meine, Sie haben jetzt nur noch den einen Jungen?‘, fragte er mich. ‚Es iſt die Tochter meines früheren Stößers, die Mutter iſt ihr geſtorben, darum haben wir ſie an Kindesſtatt angenommen.‘ Da lachte er laut auf: ‚Na, Herr Kruſius, für Ihre philanthropiſchen Narrheiten könnten Sie ſich einen Proviſor halten und täten beſſer daran, denn dann wäre Ihre Apotheke wenigſtens in Schuß!‘ ‚Herr von Spitznas‘, erwiderte ich, ‚was iſt bei meiner Apotheke nicht in Schuß? Die Schilder? Gut, ſie ſollen heute noch herunter! Das Sofa? Gut, es ſoll –‘“
„Es ſoll ſtehen bleiben, wo es ſteht!“, rief Frau Ottilie, ſprang von ihrem Stuhle auf und trat raſch an die umſtrittene Lagerſtätte, denn von dort hatte ſie ein verhaltenes Schluchzen vernommen.
„Tobias, das Kind wacht ja! Ich habe es munter gemacht mit meinem dummen Geſtöhne über die gemeine Kreatur!“
Das Fränzchen ſchlang ſeine Arme um den Hals ſeiner Pflegemutter und weinte laut auf.
„Fränzchen, Fränzchen, ſei doch nur ſtille! O Gott, Tobias, das Kind hat alles mit anhören müſſen! Sei ruhig, mein Herz! Der Mann iſt mir – uns ein Ekel, und was der ſagt, laß dich nicht kümmern. Sieh, mein Fränzchen, ich bringe dir ſchöne Grüße von Fritz aus der Taſche, in Stanniol eingewickelt! Der Junge läßt dir ſagen, er habe ein Stück von deiner Schokolade abgebiſſen, und das andere ſollteſt du dir ſchmecken laſſen.“
Das Mädchen ſchälte ſich vollends aus dem grauen Schlafrocke des Apothekers wie der Schmetterling aus der garſtigen Puppe, ſprang auf, warf ſich vor Herrn Kruſius nieder und barg ſchluchzend den Kopf zwiſchen ſeinen Knien. „Ach, laßt mich fort, laßt mich gehen, wie Fritz gegangen iſt!“
„Närrchen, dich können ſie doch nicht auf der hohen Schule gebrauchen!“ Er hob ſie auf und zog ſie auf ſeinen Schoß empor.
„Dann gehe ich zu meinem – richtigen Vater!“, ſagte Fränzchen, unter Tränen ſchluckend, ſehr entſchieden.
„Ich fürchte aber, der wird dich auch nicht gebrauchen können, mein – falſches Kind.“
„Nein, Franziska, das hat er mir ſelbſt geſagt draußen auf Sankt Severin“, beſtätigte Frau Kruſius, „leider aber nicht, wo in aller Welt man ihn jetzt zu ſuchen hätte.“
„Ach, am liebſten ginge ich zu meiner Mutter in den Himmel!“, ſeufzte das Mädchen, um vieles leiſer und reſignierter.
Deſto entſchiedener nahm ihre Pflegemutter das Wort: „Jetzt ißt du die Schokolade vorläufig, ſonſt ſchreibe ich morgen Fritz, daß du ſie verſchmäht haſt, und dann gehſt du zu Bett! Du biſt übernächtig, und nörgelnde Kinder kommen überhaupt nicht in den Himmel. – Steckte der Menſch ſonſt noch etwas heraus von Belang, Tobias?“
„Die Materialkammer fand er wieder zu feucht, ſie muß eine Treppe hoch gelegt werden.“
„Hm, das mag das Einzige ſein, was man ihm recht geben könnte. Den Kräutern und Salzen würde es gewiß gut tun, wenn man ſie trocken legte, deinen Beinen hingegen ſchwerlich.“
„Ottilie, ich bitte dich, was haben meine alten Beine noch mit dem Trockenlegen zu tun? Wollt ihr mich denn ewig in den Windeln belaſſen?“ Jetzt ſchmunzelte ſogar Herr Kruſius wieder.
„Du alter Wortklauber!“, ſagte ſein Weib. „Allmählich findeſt du dich wieder zurecht. Wie gut, daß du wieder einen wenn auch ſehr unpaſſenden Spaß machen kannſt. Bei deinem Aſthma aber wird es dir ſauer werden, um jede Priſe Krauſeminze, Pfefferminze, Althea oder Kamillen die Treppe hinauftanzen zu müſſen.“
„Dann ſchickſt du mich, Väterchen“, rief freudigen Auges nun Franziska, an ihrem ſüßen Gruße ſchleckernd, „die lateiniſchen Namen merke ich mir bald, und ich ſpringe ſchnell die Treppe hinauf!“
Herr Kruſius zwickte ſeiner Pflegetochter ins Ohr. „Jetzt ſpringſt du erſt mal ſchnell ins Bett, und wir gehen auch, Ottilie. Ah – morgen kann ich ja ausſchlafen.“
Frau Ottilie unterdrückte mit Gewalt ihre von neuem aufſteigenden Tränen. „Recht, Tobias! Die Wüſtenei bringen wir morgen in Ordnung und das Übrige mit Gottes Hilfe wohl auch einmal.“
Sie nahm ihr Umſchlagetuch, das Mädchen Hut und Reiſetaſche, und ſo zogen ſie ab.
„Das wird ja ein ausnehmend vergnügtes Wiederſehen werden bei der nächſten Reviſion“, murmelte ſie im Hinaufgehen. „Ich bin wahrhaftig nicht genußſüchtig, aber nach einer Theatervorſtellung des Herrn Theophil Xylander, trotz ſeines franzöſiſchen Rückzuges, ſehne ich mich ordentlich.“
Siebzehntes Kapitel
führt den verehrten Leſer in die fürſtliche Haupt- und Reſidenzſtadt und den „Letzten Seufzer“, vermittelt die Bekanntſchaft eines neuen Herrn und läßt einen neuen Stern am Dichterhimmel aufgehen.
„Elegante Equipagen mit goldenen Monogrammen oder gar Kronen an den Schlägen wurden von gallonierten Kutſchern vor das Ausgangsportal des Theaters gelenkt; die vergoldeten oder verſilberten oder gar maſſiv ſilbernen Beſchläge der Geſchirre blitzten im Scheine der Gaslaternen.“
So oder ſo ungefähr führt der rechte Romanſchreiber ſein verehrliches Publikum mit Eleganz in das abendliche „Milieu“ einer Großſtadt ein. Und wir bedienen uns gern der handlichen Schablone, um uns über die Schwierigkeit hinwegzuhelfen, unſer verehrliches Publikum aus dem ſechzehnten in das ſiebzehnte Kapitel unſerer Geſchichte, das will heißen: aus der ſtillen Apotheke im ſtillen Angerbeck in das Geräuſch und Getriebe der fürſtlichen Reſidenzſtadt – der Name tut ja nichts zur Sache – nennen wir ſie Fürſtenberg – hinüberzuführen. Gelungen iſt uns das ſicher, denn auch beim flüchtigſten Überfliegen der erſten Zeile vorliegenden Kapitels wird ſich auch der weniger aufmerkſame Leſer im klaren darüber geweſen ſein, daß ſie ſich auf Angerbeck nicht beziehen konnte.
So wären wir mitſammen glücklich drin, wenn auch nicht gerade in einer Großſtadt, aber das oben in Gänſefüßchen Angezogene gab es alles und gibt unſerm Fürſtenberg das Recht, ſich dreiſt wenigſtens in die Mittelſtädte des deutſchen Bundes einreihen zu laſſen.
Gut, revenons à nos moutons. Droſchkenkutſcher hielten mit ihrer beſcheidenen Fahrgelegenheit ſich mehr im Schatten, ſchauten aber erwartungsvoll nach einem Verdienſt von vier guten Groſchen aus, wozu ihnen das Gemiſch von Schnee und Regen, das der ſich gegen den Frühling ſträubende Winter vom grauen Wolkenhimmel auf das Pflaſter herabſchüttelte, alle Berechtigung gab.
Und da kamen auch ſchon die Erſten, Einzelnen, die trotz ihres weiteren Treppenweges vom hoh’n Olymp herab ſo glücklich waren, dem Anſturm auf die Garderobièren aus dem Wege gehen zu können, da ſie nichts mit ihnen zu tun hatten, denn ein weicher Filz oder eine bunte zerknitterte Schülermütze ſind bald aus der Rocktaſche gezogen. Solche Leute ſetzen keinen Wagenführer, auch den einfachſten nicht, in Nahrung. Sie wurden denn auch mit allſeitiger ſouveräner Verachtung entlaſſen.
Dann rauſchten ſeidene Gewänder unter weichen weiten Abendmänteln und wurden im Fond der Wagen zuſammen genommen. Glänzende Zylinder neigten ſich tief, um einem unliebſamen Zuſammenſtoße mit dem Verdeck auszuweichen. Beſorgte Mütter riefen nach ſchönen Töchtern, denn im Gedränge der Menge tauchten ſchmucke, goldbeſchnürte Huſarenuniformen, Cereviskäppchen und Verbindungsbänder auf. Kecke Schnurrbärtchen wurden von noch keckeren jungen Herren gezwirbelt, Sporen klirrten zum Abſchiedsgruße aneinander, korpulente alte Herren zwängten ſich an noch korpulenteren und älteren Damen vorbei, um auf dem Rückſitze ihres Gefährts in ein Nichts zu verſinken.
Auch die Droſchkenkutſcher kamen auf ihre Rechnung, denn Pferde- oder elektriſche Straßenbahnen und Fünfpfennigomnibuſſe waren in Fürſtenberg damals noch unbekannte Größen. Nur noch einzelne Wagen harrten an einem Nebenausgange des Theaters der bekannten Größen der Bühne, ſonſt lag der weite Platz bald vereinſamt da.
Ein Bedienſteter des Theaters erſcheint in dem Hauptportale des Gebäudes mit einem Kleiſtertopfe und zwei Zetteln, fährt mit ſeinem Pinſel ſehr deſpektierlich über die verblichene Majeſtät des Königs Lear, die bis jetzt zu beiden Seiten des Eingangs geprangt hatte, und überklebt ſie mit dem Infanten von Spanien – le roi est mort, vive le roi.
Er iſt der Mann, der Könige ab- und einſetzt, er iſt der Hauptmann, der drinnen auf der Bühne ſoeben dem großen Auditorium den Tod des Baſtards Edmund verkündigt hat: „Edmund iſt tot, Mylord!“ Der Laternenſchein leuchtet ihm bei ſeiner nächtlichen Arbeit, gönnt aber auch uns einen Blick in ſein Geſicht. In den Augen der Welt, der Fürſtenberger Welt, mag er eine ſehr untergeordnete Rolle ſpielen, uns aber nötigt er doch einiges Intereſſe ab. Uns, die wir in dieſer Geſchichte leider viel mehr mit dem gewöhnlichen Volke als mit den oberen Zehntauſend zu tun haben, iſt er nicht unbekannt und braucht ſich nicht erſt auf ſeine höfliche Art uns vorzuſtellen: „Ich bin Sie nähmlich Alwin Pfitzner aus Anneberk in Sachſen.“
Ja, es iſt wahrhaftig das Faktotum des fürſtlichen Theaterdirektors Theophil Xylander. Und es weiß ſich hier wie in der „Provinz“ außerordentlich nützlich zu machen, ſei es als Statiſt, als Mann aus dem Volke, als der hinter den Kuliſſen blitzende und donnernde Zeus hier im Schauſpielhauſe oder als dienender Geiſt in der Junggeſellenwirtſchaft ſeines Herrn daheim. Aber es weiß, ſeine glorioſere und einträglichere Zeit kommt auch wieder! Wenn der Frühling ſeine Herrſchaft endgültig angetreten und Sereniſſimum nach Wiesbaden, Karlsbad oder nur hinüber nach Pyrmont lockt, wenn die große Geſellſchaft ihm wie die Bienen ihrem Weiſel nachzieht und das fürſtliche Reſidenztheater in gähnender Leere ſein Daſein verträumt, dann geht auch Alwin Pfitzner „aufs Land“.
Doch ſoweit war es noch nicht, der Schnee zerrann ihm noch in ſeinem Kleiſtertopfe.
Prüfend warf er einen Blick auf ſeine vollendete Arbeit, und den Pinſel einem Königszepter gleich erhebend murmelte er: „So, verehrungswürdiges Publikum, lies einmal dieſe Herausforderung, ſieh nur die Schriftzüge!“
„Wär’ jede Letter eine Sonn’, ich ſäh nicht eine“, antwortete jetzt die Stimme des Herrn Theophil Xylander, der das ſeiner Leitung unterſtellte Theater ſoeben verließ.
„Ah, der Herr Direktor haben ſchon die Brille eingeſteckt!“
„Ja wohl, mein Alwin, aber heute gehe ich noch nicht nach Dover, mich im Meere zu erſäufen, nur zum alten Mettje in den ‚Letzten Seufzer‘, mir noch ein Tränchen zu zähmen, um den Bretterſtaub hinabzuſpülen. So ſchließ die Pforte zu, Cherub, und gute Nacht! In vierzehn Tagen reiſen wir.“
„Hurra, hurra! Kein beſſeres Wort kam heute über Ihre Lippen, Herr Direktor! Die Freiheit lebt auswärts und die Verbannung hier, Herr Direktor!“
„Mache mich mit deinem ewigen Herrn Direktor nicht noch nervöſer, als mich dieſer Winter wieder einmal gemacht hat, Menſch!“
„Nein, Ihr habt etwas in Eurem Weſen, das ich gern Herr – Direktor nennen möchte!“
Herr Theophil Xylander ſchritt lächelnd in die Nacht hinaus und ſtapfte ſchräg über den Theaterplatz, die im ausgefahrenen Pflaſter ſtehenden Pfützen ſorgfältig umgehend.
Der „Letzte Seufzer“ bemühte ſich, heute abend ſeinem Namen alle Ehre zu machen. Seine breiten erleuchteten Fenſter warfen einen gar freundlichen einladenden Schein auf die ſchmutzige Frongaſſe und den Altmarkt, deren Ecke er bildete.
In dem gewölbten Hausflur ſchüttelte ſich Herr Xylander auch wirklich mit großem Behagen den von Regentropfen und Schneeflocken flimmernden Oberrock aus und begab ſich durch das vordere geräumige Gaſtzimmer, an dem deutſchen Billard vorüber, auf dem einige junge Handlungsbefliſſene die Karoline hin und her jagten, und zwiſchen den zahlreichen, voll beſetzten Tiſchen hindurch in das kleinere Hinterſtübchen. Laute und ſtumme Grüße hatte er den Gäſten zu erwidern, und hinter ihm her warf mancher Beſucher der heutigen Theatervorſtellung einen bewundernden Blick; die Unterhaltung lenkte allgemein in das Lob ſeines „Lear“ ein.
Nur an dem einen Tiſchchen, das in der letzten der tiefen Fenſterniſchen ſtand, erweckte des Direktors Erſcheinen ein augenfälliges Mißbehagen. Ein junger Menſch nahm eiligſt ſeine Zigarette aus dem Munde, neigte ſich möglichſt weit in den Schatten zurück und vertiefte ſich ſo in ſeinen Bierſchoppen, daß von ſeinem Antlitze nicht viel mehr als die Ohren zu ſehen übrig blieb.
„Zum Donnerwetter, Herr Tränenreich, nehmen Sie es mir nicht übel“, brummte er hinter Herrn Xylander her, „wenn das ſo fort geht, reiße ich Ihnen aus! Eine Tarnkappe können Sie mir doch nicht für meinen Pennälerdeckel offerieren. Erſt hatte ich Mühe, mich vor meinem alten Angerbecker Schulmeiſter zu verkriechen, der gewiß meiner Alten eine Vorleſung über mich gehalten hätte, und jetzt kommt wieder dieſer Mime, der mich ſicherlich von der Apotheke zu Angerbeck her in gutem Gedächtnis hat! Was für Augen dem Menſchen im Kopfe liegen! Für etwas iſt der die Boden meines Glaſes wenigſtens gut, wenn man auch von dem ſchuftigen Mettje damit angeſchmiert wird!“
„Sie haben eine ungeheuer ſtarke Einbildung, junger Mann, wenn Sie annehmen, der fürſtliche Theaterdirektor würde ſich gütigſt Ihrer erinnern. Gedulden Sie ſich nur noch ein Weilchen, Kruſius, ich ſage Ihnen doch, daß ich hier ein unaufſchiebbares Geſchäft erledigen muß. Nachher führe ich Sie zum Lohne für Ihre hieſige Langeweile und Qual in die „Feuerkugel“, allwo Sie reichliche Entſchädigung finden werden. Reichliche! ſage ich, mein junger Freund. Doch – wo waren wir ſtehen geblieben? Ja ſo, alſo ſiebzig Jahr wird Ihr Herr Vater, ſagen Sie? Und vierzig von ihnen hauſt er ſo ziemlich ausſchließlich in Angerbeck! Das iſt allerdings ungeheuerlich lange, ich glaube, derartiges zu leiſten bin ich unfähig. Da muß Angerbeck doch ein reizendes Neſtchen ſein, wenn es Ihren Herrn Vater auf ſolche Dauer hat feſſeln können. Ich kann mir nun auch Ihren Wunſch erklären, dereinſt ſein Nachfolger zu werden.“
Der um etwa ſechs Jahre ältere Freund und Gönner des jungen Kruſius – denn daß dieſer es war, mit dem ſich Herr Tränenreich am kleinen Tiſche im „Letzten Seufzer“ unterhielt, konnten wir gleich bei ſeinen erſten Worten erraten – zwirbelte zierlich ſein blondes Bärtchen und ſah mit harmloſem Blick ſeiner hübſchen braunen, doch etwas verlebt dreinſchauenden Augen ſein Gegenüber an.
„Hm, nun ja, dieſen Wunſch hege ich eigentlich mehr meinem Alten zu Gefallen, denn im Grunde genommen iſt es doch ein verteufelt ledernes Neſt, dieſes Angerbeck. Aber er wäre um alle Schätze der Welt nicht daraus fortzubringen, er hängt zu ſehr an der Scholle, iſt zu ſehr Philiſter. Die Roſenſträucher und Obſtbäume in unſerm Garten hat er alle mit eigener Hand gepflanzt, beſchnitten, gepfropft oder okuliert.“
„Und ſein Nachfolger wird den Nutzen daraus ziehen“, murmelte Herr Tränenreich, Proviſor der fürſtlichen Hofapotheke zu – Fürſtenberg –
in einem Städtlein, deſſen Namen
des Dichters Höflichkeit verſchweigt.
„Was meinten Sie, Herr Tränenreich?“
„O ich meinte, Ihr Herr Vater iſt ein rechter Mann, den man achten muß!“, ſagte der Proviſor mit Nachdruck. „Der alte Herr wird bei ſolcher Genügſamkeit ſich auch ein hübſches Stück Geld auf die hohe Kante gelegt haben, wofür Sie ſich ihm zu großem Danke verpflichtet fühlen ſollten, Herr Filius!“
„Ne, Herr Proviſor, das hat er gewiß nicht, im Gegenteil! Da habe ich ſo manches munkeln hören; und ſo dumm, wie die Alten ſich einbilden, iſt nun unſereins auch nicht mehr. Ich glaube ſo ziemlich genau zu wiſſen, wie es in puncto pecuniae ſteht. Sehen Sie, meine Alte iſt die zweite Frau. Als ich einige Jahre alt war, ſind meine Stiefbrüder gekommen, oder vielmehr ſchriftlich haben ſie ſich nach ihrem Mündigwerden gemeldet und um Herausgabe ihres Mütterlichen ſehr höflich aber auch ſehr entſchieden gebeten. Und was meine Alte in die Ehe gebracht hatte, iſt nach Amerika gewandert, den beiden Brüdern nach, denn von der erſten Frau her iſt nichts mehr dageweſen!“
Der Proviſor der fürſtlichen Apotheke konnte nicht umhin, hier einige Hms und Ojehs einfließen zu laſſen, denen der Gymnaſiaſt mit ſarkaſtiſchem Lächeln die Bemerkung anfügte: „Ja, ich habe es mit auszupatſchen, denn die Alten halten mich, wie Sie wiſſen, verteufelt knapp im Taſchengelde!“
„Darüber laſſen Sie ſich keine grauen Haare wachſen, junger Mann! Kellnöhr, noch zwei Schoppen! – Sonſt aber haben Sie keine Geſchwiſter?“
„Nein, eigentlich nicht, das heißt – –“
Herr Tränenreich ſuchte durch Blick und Wort den ſtockenden Jüngling zum Weiterſprechen zu bringen: „Das heißt was? – Sind etwa noch andere – – noch andere – Verpflichtungen – aufgetaucht? Wie? – Kommt ja in den beſten Familien vor! Wie? Hahaha!“
Hier ſehen wir uns zu einiger Ehrenrettung des unreifen Jünglings genötigt zu bemerken, daß, wenn ihm auch nicht die ganze ſchurkiſche Bedeutung dieſer Worte ſeines Mentors aufging, ſich ſein Geſicht mit dunklem Rot übergoß. Im Geiſte ſah er durch den Dunſt, den Bier und Zigarren in und um ihn aufſteigen ließen, doch die fleckenloſen Geſtalten ſeiner braven Eltern vor ſich, und es ward ihm mitten in ſeiner burſchikoſen Renommage doch ſo ſchwül ums Herz, daß er dieſer Lage eiligſt abhelfen mußte, und das ziemlich grob.
„Blödſinn! Meine Eltern haben vor einigen Jahren ein Mädchen, eine Waiſe, an Kindesſtatt angenommen.“
„A la bonne heure! Alle Achtung! Und wie alt iſt das kleine Fräulein, wenn man ſo fragen darf?“
„Sie iſt zwei Jahre jünger als ich, alſo jetzt ſechzehn.“
„Hübſch? Was?“
„Hübſch? Hm ja, ich denke wohl, daß ſie nicht häßlich iſt.“
„Menſch, was für ein Ausdruck! Nicht häßlich! In Ihren Jahren! Haben Sie ihr – ihr – wie heißt ſie gleich?“
„Franziska“, kam es mit einigem Widerſtreben heraus.
„Fran–zis–ka! Teufel, der Name gefällt mir aus–neh–mend! Wenn das Kind ſelbſt ſo hübſch iſt, wie ſein Name, ſo iſt es allerdings ‚nicht häßlich‘. Ja ſo, haben Sie denn dieſer Fran–zis–ka, dieſer kleinen engelhaften Waiſe, nicht ein Bändchen Lyrik gewidmet? Haben Sie nicht derartiges an fühlender Bruſt, bei Ihrer eminenten Begabung?!“
„Nein, das nicht“, geſtand der Jüngling kleinlaut, „aber meinem Alten habe ich heute ein Gedicht gewidmet, durch das er ſich hoffentlich beruhigen läßt über das griechiſche Extemporale, das ich ihm mit etlichen vierzig Böcken zur Unterſchrift ſchicken muß!“
„Laſſen Sie deswegen den Kopf nicht hängen, junger Mann! I dummes Zeug, Ihr Herr Vater wird ſchon ein Einſehen haben und als weiſer Senex daran denken, daß er auch einmal jung war. Schießen Sie los, ich bin wirklich auf Ihre neue Kraftprobe geſpannt. Doch erſt ſtärken wir uns noch einmal! Was wir lieben!“
„Zur Erklärung muß ich vorausſchicken, daß mir mein Vater, kurz nach meinem erſten Fortgange aus Angerbeck, auch ein kleines Gedicht ſchickte, deſſen Ermahnungen durch die Verſe eingeleitet werden:
Wo ich geh und wo ich bin,
denk ich an meinen Benjamin.“
„Famoſe Anſpielung übrigens auf ſeinen jüngſten Sproſſen aus zweiter Ehe! Ja ja, Sie wundern ſich wohl, daß ich ein ſo ſattelfeſter Bibelhuſar bin! Meine Hochachtung für den alten Herrn ſteigt!“
„Daß mein Alter auch im ſtillen poetiſche Neigungen hegt, habe ich ganz allein aus dieſem Gedichte ſchließen können, deſſen Form mir allerdings mehr zuſagte, als ſein Inhalt. Darauf aber habe ich gebaut, ihn an der richtigen Stelle zu packen. Alſo hören Sie, bitte:
Das Gedicht vom Vater hab’ ich genommen –
Das Versmaß iſt etwas eigentümlich, es erinnert aber ſtark an die dritte Asklepiadeiſche Strophe.“
„Ah, Asklepios, Aesculapius, der Gott der Heilkunde! Sehr geiſtreich ausgedacht!“
Der Schüler ſah den Proviſor etwas zweifelnd und erſtaunt an. „Herr Tränenreich, verwechſeln Sie nicht den Dichter Asklepiades von Samos mit Ihrem Gotte Asklepios, den mein Vater in ſeinem Siegel hat, mit dem Schlangenſtabe, wiſſen Sie?“
„Ah ſo! O ich weiß wohl, junger Mann, ich meinte – es – es wäre eine – eine glückliche Ideenverbindung. Doch was wollten Sie ſagen von Ihrem Versmaße?“
„Dieſes Metrum habe ich angewandt, um eine gedämpfte Stimmung auszudrücken, um meine Rührung der Dankbarkeit kundzugeben. Alſo noch einmal:
Das Gedicht vom Vater hab’ ich genommen,
da wurde mir’s ſo beklommen
ums warme Herze mein!
Da tat ich daran denken:
Ach, könnt’ ich den Eltern ſchenken
’ne Zenſur von allem Makel rein!“
Zum Unglück für den leſenden Poeten umhüllte ſich die grinſende Viſage ſeines Zuhörers mit dichtem Zigarrenqualm. So ließ er ſich denn durch den ermunternden Zuruf: „Wundervoll! Rührend! Wenn da das väterliche warme Herze nicht zerſchmilzt!“, leider verleiten, ſein Poem weiter zum beſten zu geben.
„Jetzt geht es, dem Aufſchwung der Seele aus ihrer Betrübnis gemäß, in einfachen Jamben weiter:
Wie wollt’ ich fröhlich lachen,
wie würd’s mir Freude machen,
die Eltern froh zu ſehn!
Drum will ich mich beſtreben,
für ſie will ich nur leben,
dann wird es ſicher auch ſchon gehn!“
„Na, Kruſius, wenn das nicht gehen ſoll, geht überhaupt nichts mehr auf der Welt!“
„Meinen Sie, Herr Tränenreich?“ Der Jüngling kam in immer größeren Schwung.
„Ihr lieben Eltern aber,
laßt ab von allem Hader – –
o verflucht! Hier habe ich’s mit dem Reime verſehen! Warten Sie, wir machen’s anders:
Ihr lieben Eltern beide
laßt ab von allem Streite – –
Platen dürfte es zwar nicht hören –“
„I, Sie werden ſich doch nicht um ſolche Kleinigkeiten Skrupel machen! Große Geiſter, zu denen ich auch Ihren Herrn Vater nach allem rechnen muß, geniert das nicht! Weiter!“
„das gibt mir wieder Mut!
Doch laßt das Griech’ ſche fallen,
ach hört mein kindlich Lallen!
Dann wird noch alles werden gut!“
„Das Griechiſche fallen?“, warf der Proviſor der Hofapotheke Sereniſſimi verſtändnislos darein.
„Ja, Herr Tränenreich, das Griechiſche iſt nämlich bei uns nur fakultativ, und da es ſich ſo verteufelt ſchwer kapieren läßt, –“
„Ah ſo, jetzt verſtehe ich! Feiner Kopf! Darauf hin komme ich Ihnen ein Stück, Kruſius! ‚Doch laßt das Griech’ſche fallen.‘ Weiterrr!“
„Apotheker will ich werden,
und keine Macht der Erden
hält mich davon zurück!“,
fuhr der Schüler mit einer Stimme fort, die darauf ſchließen ließ, daß auch keine Macht der Erden ihn jetzt vom Weiterleſen zurückhalten würde, daß er ganz vergeſſen, wo er war, mit einer Stimme, die in bedrohlicher Weiſe die Aufmerkſamkeit der nächſten Tiſche auf und einige ſpöttiſche Bemerkungen der Gäſte nach ſich zog. Nichts konnte die Ekſtaſe dämpfen, und ganz vergeblich raunte Herr Tränenreich: „Pſt, Kruſius, die da drüben geht Ihr löbliches Vorhaben vor der Hand noch nichts an, mäßigen Sie ſich etwas, ich höre ſchon!“
„Nur darauf will ich achten
und immer darnach trachten,
dies iſt mein allerhöchſtes Glück!
Ich will jetzt mal ſtudieren!
Das wird zum Guten führen,
zum Guten nur hinaus,
daß ich mit frohen Blicken
kann in die Heimat rücken
und in das traute Vaterhaus!“
„Bravo, bravo, junger Mann! Ihr Vater müßte ja ein Herz von Stein haben, – und nach allem, was ich von ihm gehört, hat er nichts weniger als das – wenn es nicht von Rührung und Stolz auf ſeinen Filius überflöſſe! Und eine Lehrlingsſtelle in unſerer Apotheke verſchaffe ich Ihnen, darauf können Sie ſich verlaſſen! Übrigens habe ich dem Tonfalle Ihres Gedichtes abgelauſcht, daß es ſich ſogar zum Singen trefflich eignen würde und zwar nach der ſchönen Melodie: ‚Nun ruhen alle Wäldähr.‘ Sie können ſich darauf verlaſſen, es bricht ſich Bahn auf allen Gaſſen, das Lied wird ſicher populär!“
Und der Mentor machte den Anfang dazu, indem er zum größten Erſtaunen und Gaudium aller anweſenden Gäſte aus ſeiner Ecke herausbrüllte:
„Apotheker woll’n wir werden
und keine Macht der Erden
hält uns davon zurück!
Drauf woll’n wir luſtgen Finken
noch einen Kuhſchluck trinken,
Dann kriegt der ganze Kram Geſchick!“
Dem in großer Verlegenheit unter dem Gewieher der Menge daſitzenden Gymnaſiaſten war es eine wahre Erlöſung, als Herr Tränenreich plötzlich aufſprang, ihm zuflüſterte, er möchte hier auf ihn warten, und einem ſoeben das vordere Gaſtzimmer durchſchreitenden Herrn in das Hinterſtübchen folgte.
Kaum hatte der Proviſor den Rücken gewendet, als auch Fritz Kruſius aufſprang, ſeinen „Pennälerdeckel“ unter die Weſte ſchob und möglichſt harmlos dem „Ausgang“ zuſteuerte, um nicht wieder im Gaſthofe „Zum letzten Seufzer“ zu erſcheinen.
Wir laſſen es dahingeſtellt, ob er trotz des ſchlechten Wetters draußen auf dem Markte auf Herrn Tränenreich, der Spott mit ſeinen heiligſten Gefühlen getrieben, aber doch „das große Portemonnaie“ hat, warten wird, oder ob er auf eigene Fauſt und Rechnung die „Feuerkugel“ oder, der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb, ſeine „Bude“ aufſuchen wird, auf die nächtlichen Freuden und Unterhaltungen der fürſtlichen Reſidenz für heute verzichtend.
Wir laſſen es dahingeſtellt, denn wir haben anderes im Intereſſe unſerer Leſer zu verfolgen, und ſehen uns im nächſten Kapitel als ſtiller Beobachter ein wenig im Hinterſtübchen des alten Mettje um.
Achtzehntes Kapitel.
Herr Rektor Bartels will ſeine Lebensgeſchichte erzählen, wird aber von Herrn Xylander darin unterbrochen, der ſeine Rolle nachſtudiert. Was Herr von Spitznas und Herr Tränenreich ſich im Letzten Seufzer zu ſagen hatten.
Wie wir aus der Bemerkung des jungen Kruſius ſchließen konnten, traf in dieſem Stübchen Herr Theophil Xylander den Herrn Rektor Bartels aus Angerbeck an und zwar, wie wir jetzt ſehen, als einzigen Gaſt.
Letzterer ſprang beim Eintritte des Theaterdirektors von ſeinem Stuhle auf und ſtreckte dem Ankommenden beide Hände entgegen.
„Herr Direktor, ich wußte, daß dies ihr Stammtiſch iſt! Ihr König Lear war göttlich!“
Der alſo Gefeierte zeigte aber durchaus kein entzücktes Geſicht, erwiderte die Anrede nur mit einer kühl abweiſenden Verbeugung, ſah die dargebotenen Hände nicht und würdigte ſeinen ſchwärmeriſchen Verehrer durchaus keiner beſondern Beachtung, machte vielmehr Miene, ſich an einem anderen Tiſche niederzulaſſen, indem er murmelte:
„Hier bin ich wie in meiner Welt. Dies Plätzchen
hab’ ich mir längſt zum Liebling auserleſen.“
„Ah, wenn ich nicht irre, kommt morgen Don Carlos auf die Bretter. Aber, Herr Xylander, wollen Sie mir wirklich nicht die Ehre Ihrer Tiſchgenoſſenſchaft gönnen?“
„Mein werter Herr Soundſo, wollen Sie mir wirklich nicht die wohlverdiente Ruhe diesſeits des grünen Raſens gönnen?“, ſagte Herr Xylander, mit einem verzweiflungsvollen Seufzer am nächſten Tiſche niederſinkend.
„Ich verſtehe. Verzeihen Sie dem Kleinſtädter, den ſeine naive Begeiſterung hinriß, Ihnen läſtig zu fallen! Doch, antworten Sie mir ſanfter! Schicken Sie mich ſo nicht weg! Mit dieſer üblen Antwort möchte’ ich nicht gern entlaſſen ſein.“
„Der Knabe Don Karl fängt an –“, begann Herr Theophil dagegen zu zitieren, als Herr Rektor Bartels von neuen einfiel:
„Sie ſehen wenigſtens, daß auch ich ‚meinen Schiller in der Bruſt trage‘, wie Frau Ottilie Kruſius mit Moſenthal ſprechen würde.“
Da flog ein Blick des fürſtlichen Theaterdirektors zu dem aufdringlichen Gaſte hinüber.
„Was ſeh’ ich? Erſcheint von den Göttern geſandt dies Wunder! Antigone – der Herr Rektor – – aus Angerbeck hier? O jetzt verzeihen Sie meiner Abgetriebenheit, Herr – Herr –“
„Bartels aus Angerbeck, meines Zeichens ein Schulmeiſter.“
„Ganz wohl, Herr Rektor Bartels aus Angerbeck! Nein, ich war ja wohl ganz und gar der geblendete Gloſter! Jean, Oberſklave, eine Bouteille Rüdesheimer Berg und zwei Gläſer! Zum Teufel, Jean, reißen Sie Maul und Augen draußen auf, Trab, Trab! O Gott, das Leben iſt doch ſchön! Doch ſagen Sie, Herr Rektor, was verſchafft Sereniſſimi Haupt- und Reſidenzſtadt die Ehre, Sie zu dieſer ungewöhnlichen Zeit und Stunde in ihre gaſtlichen Mauern ſchließen zu können? Bin ich ſchon zu alt geworden, daß ich nicht mehr weiß, wie die Ferien fallen, oder haben Sie ſich gar zur Ruhe geſetzt?“
„Prinz, Sie ſpotten meiner!“, ſeufzte Herr Bartels nun ſeinerſeits. „Sich mit Frau und fünf Kindern in meinen Jahren und bei meinen Penſionsanſprüchen zur Ruhe ſetzen! Hat ſich was! Im Gegenteil – vorläufig unter uns geſagt – habe ich mich nach noch größerer Arbeitsgelegenheit umgeſehen, Probe abgelegt, mich bei zwanzig einflußreichen großen Tieren vorgeſtellt, hundert gute Ratſchläge eingeſteckt, mündliche und ſchriftliche. Sehen Sie dieſes Volumen!“
Er riß ein wirklich umfangreiches Bündel Papiere aus der Bruſttaſche und ſchlug mit der flachen Hand darauf, daß es klatſchte. „Regulative, Direktive, Miſſive, Inſtruktionen, lauter Räuber an des Lebens goldnem Baum! Ich finde nicht die Spur von einem Geiſt, und alles iſt Dreſſur!“
„Knurre nicht, Pudel!“, rief Herr Xylander lachend und hielt ſein Glas dem eifernden Schulmanne zum Anſtoßen hin. „Sie werden ja dem Staate ein Geſchlecht aufziehen, das –“
„Das nicht von Pappe iſt! Da können Sie recht haben. Ja, wenn das junge Volk nicht wäre, an das man ſeine letzte Hoffnung knüpfen könnte! Es iſt mir in den langen Jahren meiner Schulmeiſterei ein unverſiegbarer Jungborn geweſen, ſo daß ich oft in Zweifel bin, ob ich würdig genug ſei, daraus zu ſchöpfen, oder ob ich eigentlich den Mühlſtein am Halſe tragen müſſe. Aber das alte Volk, das alte Volk, Herr Direktor!“
Der Rektor ſchlug ſo gewaltig auf den Tiſch und ſeine Schriftſtücke, daß Jean ob des Gläſer- und Flaſchengeklirrs erſchrocken ſeinen Kopf in die Tür ſteckte.
„Ja, es iſt recht, noch eine Pulle ſollen Sie auftragen“, ſchrie ihn der erhitzte Gaſt an.
„So wollen Sie, wie ich vermute, Ihre Stellung wechſeln, Herr Rektor?“, verſuchte Theophil Xylander das Geſpräch in ruhigere Bahn zu lenken.
„Von Pontius zu Pilatus bin ich wenigſtens darum gelaufen, glückt’s nicht, ſo muß ich denken, –“
„Wir ſind vergebens hier geweſen“, zitierte der alte Mime weihevoll.
„Nein, das durchaus nicht, mein Herr! Nehmen Sie mir’s übel oder nicht, ſehen Sie, da obendrauf liegt der heutige Theaterzettel! Ich nächtige hier im Letzten Seufzer, drei Treppen hinten heraus, Numero ſiebenundzwanzig, und habe Sie als Lear geſehen! Hohem Konſiſtorio bin ich für die Einladung zur Probe auf jeden Fall dankbar. Glückt’s aber, und komme ich aus dem Angerbecker Exil heraus, um ſo beſſer, dann werde ich den Genuß öfter haben.“
„Nun, wie kam es denn, daß Sie ſich dieſes Exil und Ihren Beruf wählten?“, fragte der Schauſpieler von neuem ablenkend.
Der Rektor ſchlürfte ſehr bedächtig ſeinen funkelnden Rüdesheimer.
„Hm – ein vierzehn- – fünfzehnjähriger dummer Bengel tappt ja vollſtändig im Finſtern, wenn er vor ſeine Berufswahl geſtellt wird. Aber bei mir haben Sie zu Ihrer Frage doch eine Berechtigung, denn bei mir lag die Sache noch etwas anders, und eine Antwort macht ſich nicht ſo leicht im Handumdrehen. Es iſt eine Geſchichte, in die ich nicht allein verflochten bin. – Ach, Herr Xylander, ich ſchenke noch einmal ein!“ Er erhob ſich feierlich.
„Herr Xylander, Frau Ottilie Kruſius ſoll leben!“
Der Direktor gab ihm ſonderbarer Weiſe an Feierlichkeit nichts nach, und beide Herren tranken ſtehend auf das Wohl der Frau aus der Apotheke zu Angerbeck, und ſchweigend ſetzten ſie ſich.
„Aber Rektorchen“, unterbrach Herr Xylander zuerſt die ſchwüle Stimmung mit einem Scherzworte, „wie gut, daß Ihre Frau Gemahlin das nicht anzuhören hatte!“
„Würde rein gar nichts ausmachen, Herr Direktor. Frau Ottilie in der Apotheke iſt weder eine alte noch junge Flamme von mir, obwohl ſich unſere Bekanntſchaft nicht erſt von Angerbeck her datiert. Aber ich kann nicht an meine Geſchichte, meine Vergangenheit denken, ohne ihr meine beſondere Hochachtung zu zollen und zwar mehr, als ich das für gewöhnlich ſchon tue. Gegen ihre Erſcheinung muß ſelbſt Achtundvierzig zurückſtehen in meinem Leben und iſt nicht der Erwähnung wert.“
„So hat Frau Kruſius an Ihrer Biographie mitgearbeitet, in die Sie daher nicht jedem Neugierigen einen Einblick geſtatten können?“
„Allerdings, jedem Neugierigen nicht.“ Der Rektor nickte mehrmals wie in ſchweren Gedanken. „Aber Ihnen erzähle ich gern, wie das alles ſo gekommen iſt. Ja, mir iſt’s, als müßte ich’s Ihnen erzählen. Ich werde Sie indes von Ihrer Nachtruhe abhalten?“
„Von drei bis elf Uhr genügt einem Jüngling zu ſchlafen. Brennen wir die Friedenspfeife an. Jetzt ſollen Sie ſich öffnen, Prinz. In Worten erleichtert ſich der ſchwerbeladene Buſen.“
„Ich muß etwas weit ausholen, Herr Xylander, und mit meiner Studienzeit beginnen. Meine erſte Liebe war die Georgia Augusta zu Göttingen, und meine Bekanntſchaft mit ihr fällt in die Mitte der dreißiger Jahre. Gedenke ich ihrer, ſo geht mir altem Knaben das Herz auf. Was für einzig ſchöne Jahre waren das! Neben Ewald – nun heißt er ja gar ‚von‘ –, der nach der unglücklichen Geſchichte von anno ſiebenunddreißig jetzt doch wieder in Göttingen wirkt, nachdem ihm vom Könige von Württemberg ſo viel Ehre angetan worden, begeiſterte mich beſonders der große Herbart, Johann Friedrich Herbart, der dazumal ſeine zweite Glanzperiode in Göttingen feierte. Durch ihn neigte ich mich ſchon zu jener Zeit der Pädagogik und ihren Hilfswiſſenſchaften zu, obwohl ich nicht daran gedacht hatte, ſie zu meinem Lebensberufe zu wählen. Sie ſehen daraus, ganz Notnagel war die Schulmeiſterei nicht, mich daran aufzuhängen; doch ſoweit ſind wir noch nicht. Auch die Gebrüder Grimm, die ihr Reich in der Bibliothek hatten, nahmen ſich der jungen, wißbegierigen Studenten gern an. Gervinus war leider nur ein reichliches Jahr da, zeigte ſich aber – er war auch nicht viel älter als wir – mehr wie unſer Freund als unſer Lehrer.
„Auch das friſche, fröhliche und freie Burſchenleben – denn das vierte Jahn’ſche F kann ich ehrlich nur bedingungsweiſe gelten laſſen – genoß ich mit vollen Zügen, wenn auch mein Freundeskreis nur ein ſehr kleiner war. Ja, eigentlich hatte ich nur einen einzigen Freund, dafür aber auch einen, der hundert andere aufwog, mit dem ich ſozuſagen durch dick und dünn ging. Mein Friedrich von Schlabrendorf! Dir bring ich dieſes Glas!“
Wäre Rektor Bartels nicht ſo bei der Erinnerung an ſeinen einzigen Freund in Wehmut zerfloſſen geweſen, ſo hätte er jetzt eine auffallende Spannung in den Zügen Theophil Xylanders wahrnehmen müſſen. Letzterer aber war zu ſehr Mime, als daß er nicht ſogleich, nachdem der Rektor ſeine Naſe wieder aus dem Glaſe zurückgezogen hatte, mit der ruhigſten Miene von der Welt fragen konnte: „Schlabrendorf hieß Ihr achtungswerter Freund?“
„Ja, Friedrich von Schlabrendorf, Herr Direktor! Haben Sie ihn etwa auch gekannt?“
„Ich? O nein, wie ſollte ich zu ſeiner höchſt ehrenvollen Bekanntſchaft gekommen ſein? Erzählen Sie nur, bitte, weiter, Herr Bartels.“
„Es war ein herrlicher Menſch, und meine Schwärmerei für ihn erſcheint mir heute noch nach fünfundzwanzig Jahren ebenſo ſelbſtverſtändlich wie damals. Nicht allein in ſeinem Korps – er war Brunone –, ſondern bei allen Kommilitonen genoß er ein geradezu unbedingtes Anſehen durch ſein ritterliches, offenes, beſtimmtes aber dabei doch gewinnendes Weſen. Es kamen ihm allerdings auch körperliche Vorzüge zu ſtatten, er war hoch und kräftig gewachſen und hatte ein ſehr ſympathiſches Geſicht. Auf den Paukböden war er der beſte und darum gefürchtetſte Schläger, und niemand konnte in Mariaſpring die hübſchen Mädchen des Kreiſes Göttingen anmutiger im Tanze ſchwingen als er. Dazu kam, daß er von uns allen, die wir enger zuſammen hielten, der älteſte war und ſchon als ſolcher ſich eines natürlichen Anſehens erfreute.“
„Ein bemooſtes Haupt alſo!“, warf Herr Xylander lächelnd dazwiſchen.
„O nein, mein Herr Direktor. Er hatte auch nicht mehr Semeſter hinter ſich als wir andern, aber er hatte ſich erſt ſpäter dem Studium, und zwar der Jurisprudenz, zugewendet. Vorher hatte er ſich der Landwirtſchaft gewidmet und praktiſch auf einem Gute in der Nachbarſchaft Göttingens, in Bovenden, gelernt. Dieſes Gut gehörte damals dem alten Amtmann Diederichs, einem jovialen und ſehr gaſtfreundlichen Herrn. Nicht ſelten lud er eine Anzahl Studenten zu kleinen Abendgeſellſchaften ein, die namentlich zur Sommerzeit in dem herrlichen großen Garten – jetzt würde man ihn Park nennen – etwas ungemein Reizvolles hatten. Auch ich ward regelmäßig, wohl durch Empfehlung meines Freundes Schlabrendorf, mit einer Einladung beehrt, obwohl ich nur der Sohn einer einfachen Beamtenwitwe war, – mein Vater war ſchon einige Jahre tot – mich oft recht kümmerlich durchſchlagen und mir durch Nachhilfe-Unterricht ſelbſt nachhelfen mußte. Nun hören Sie, Herr Xylander, dieſer Amtmann Diederichs war der Vater – Frau Ottiliens!“
„Ottilie Diederichs“, murmelte der Direktor ſtill für ſich, „meine Ahnung!“ Und laut ſagte er: „Und ſie heißt jetzo Frau Kruſius! Nach alledem, was Sie ſoeben erzählten, hätte ich etwas Anderes erwartet.“
„Ich auch, und Sie ſelbſt auch, Herr Xylander! Doch ſo weit ſind wir noch nicht. Fräulein Ottilie war die älteſte Tochter des Amtmanns, etwa zwanzig Jahr mochte ſie damals zählen. Daß ſie ſchön war, bildſchön, brauche ich Ihnen nicht zu verſichern, Sie kennen ſie ja. Heute aber iſt Frau Kruſius nur ein ſchwacher Abglanz von einſt. Ihre ſchlanke anmutige Geſtalt hat ſie doch etwas eingebüßt, und ihrem klugen angenehmen Geſichte ſieht man’s doch nicht mehr an, daß es einer friſch erſchloſſenen Apfelblüte glich. Den wunderbarſten Reiz aber gaben ihr ihre dunkelblauen Augen und in eigentümlichem Kontraſt dazu ihr faſt blauſchwarzes, kaum auf ihrem zierlichen Scheitel unterzubringendes Haar. Dies beides hat am meiſten verloren an ihr, Herr Xylander! Ihre Augen ſind zwar immer noch ſcharf und klar, aber ihren alten Glanz hätten Sie ſehen müſſen! Sie haben ihn eingebüßt, wie das Haar ſeine Fülle, und ſchon manches Silberfädchen zieht ſich hindurch. Und ein Wunder iſt’s wahrlich nicht! Der Tränen und ſchlafloſen Nächte waren ihr mehr denn übergenug beſtimmt. – Herr Direktor, je tiefer ich in meinen Stoff hineingerate, deſto bedenklicher werde ich, ob ich recht tue, Frau Kruſius in meine Geſchichte hineinzuziehen!“
„Geheimniſſe, die über der Flaſche ausgeplaudert werden, verrät kein Richard von England.“
Beide Herren tranken ihre Gläſer aus und ſchüttelten ſich dann über den Tiſch hinüber die Hände.
„Ja, ja, ich vertraue Ihnen! Wie geſagt, mir iſt’s, als müßte ich zu Ihnen reden! – Die jüngeren Geſchwiſter Ottiliens wurden von einer Gouvernante, einer ſchrulligen und, wie mir ſchien, etwas hyſteriſchen Perſon, unterrichtet, denn von einer eigentlichen Erziehung konnte wohl kaum die Rede ſein. Herr Diederichs hatte viel mit der Verwaltung ſeines Gutes zu tun, intereſſierte ſich auch im hohen Grade für Politik, was ja in der erſten Regierungszeit Ernſt Auguſts nicht wunder nehmen konnte. Die Frau war nach längerem Siechtume einige Jahre vorher geſtorben. So lag auf Fräulein Ottilie trotz ihrer Jugend die Hauptlaſt, dem ganzen Hausſtande vorzuſtehen, und das hat ihr ſchon frühzeitig den Blick geſchärft und ihr Selbſtändigkeit verliehen. Eine Schweſter des Amtsrats kam nur ab und zu nach Bovenden von Göttingen, wo ſie verheiratet war, beſonders dann, wenn auf dem Gute die von mir erwähnten Geſellſchaften ſtattfanden.“
„Das, was Sie vorhin andeuteten, war unter dieſen Umſtänden etwas ſehr Natürliches: Friedrich von Schlabrendorf ward bei ſeiner idealen Lebensauffaſſung von dem ſchönen, ſtolzen und dabei doch ſo tüchtigen Mädchen nicht bloß völlig gefangen genommen, auch Ottilie konnte ſich dem ſieghaften Weſen des ritterlichen Eleven ihres Vaters nicht entziehen. Dem Amtmann ſelbſt entging die gegenſeitige Zuneigung der jungen Leute nicht, und im Grunde hatte er gegen eine Verbindung nichts einzuwenden, da auch er die Tüchtigkeit ſeines jungen Gehülfen zu ſchätzen wußte. Nur zu jung war ihm dieſer noch, und um die Neigung beider einer Probe auf ihre Beſtändigkeit zu unterwerfen und das fernere Zuſammenleben unter einem Dache zu verhindern, ſtellte er Schlabrendorf die Bedingung, noch einige Semeſter Jura zu ſtudieren, wie er es ſelbſt in ſeiner Jugend getan. Sehen Sie, das war der Grund, warum Schlabrendorf nach Göttingen gekommen war, wo ich ihn kennen lernte, – und ſoweit war alles gut und ſchön. –
Zu ſeiner eigenen Kinderſchar hatte Amtmann Diederichs nach dem Tode ſeiner Gattin auch eine junge weitläufige Verwandte aus Schleſien ins Haus genommen, etwa in Ottiliens Alter. Sie hatte keine Eltern mehr, und ihre näheren Familienglieder mußten wohl in dürftigen Verhältniſſen leben. In Bovenden ſollte ſie ſich ein wenig im Haushalt nützlich machen und beſonders Ottilien eine Geſellſchafterin ſein. Nun, wenn es wahr iſt, daß die Extreme ſich berühren, ſo hätte der Amtmann für ſeine Tochter keine geeignetere Genoſſin auswählen können. Sie war das gerade Gegenſtück zu ihrem Bäschen, obwohl ſie ebenfalls von den Grazien durchaus nicht kärglich bedacht worden. Den hohen ſtolzen Wuchs Ottiliens hatte ſie nicht, ſondern war kleiner, aber zierlich und ungemein liebreizend. Ihr Haar war blond und lockig, und ihre braunen Augen ſahen ſchelmiſch in die Welt hinein. Und ſo verſchieden waren die beiden Mädchen auch im Charakter. Röschen Sonnenburg nahm das Leben recht leicht –“
„Oh, oh, verzeihen Sie mein Ungeſchick, Herr Rektor!“
Der Schauſpieler hatte durch eine heftige Bewegung die beiden Weinflaſchen umgeſtoßen, daß nun die eine mit gebrochenem Halſe zwiſchen den Tiſch- und Stuhlbeinen umherkollerte, die andere aber hinter des Rektors Rücken vor den Füßen eines ſoeben eintretenden Herrn zerſchmettert ward.
„O ſchön geflogen, Vogel! Ins Schwarze, ins Schwarze! Hui!“, ſchrie Herr Xylander. „Bitte tauſendmal um Verzeihung, Herr Medizinalrat, daß ich Sie auf dieſe brutale Weiſe bewillkommnen mußte! Zum Glück waren die Flaſchen gerade geleert. Jean, wenn Sie Herrn von Spitznas bedient haben, bringen Sie mir eine neue und tragen die Trümmer ab. – Geſtatten Sie, meine Herren! Herr Medizinalrat von Spitznas – Herr Rektor Bartels aus Angerbeck.“
„Äh, äh, Herr Bartels – aus – äh – Angerbeck, aus – aus Angerbeck, höchſt merkwürdiges Zuſammentreffen das! Ah, ich meine das, das – mit der geſchleuderten Flaſche – äh –.“
„Herr von Spitznas“, lachte Theophil Xylander mit wahrhaft teufliſchem Grinſen, die Scherben mit der Fußſpitze bei Seite ſtoßend, „es war nur eine gefallene Flaſche, und mit Gefallenen pflegt man unter gewiſſen Umſtänden wenig Umſtände zu machen! Nein, Herr Medizinalrat, hätte ich die Flaſche geſchleudert, ſo wäre ſie“, – hier maß er mit einem impertinenten Blicke die Größe des neuen Gaſtes ab – „ſo wäre ſie etwa drei Ellen höher geflogen.“
„Äh, äh, immer ſpaßhaft, der Herr Direktor muß ſeinen natürlichen Menſchen wieder aufkommen laſſen nach dieſem ſüperben Lear heute abend. Aber laſſen ſich die Herren durchaus nicht meinetwegen ſtören! Ich wollte eine Kleinigkeit, äh – etwas Geſchäftliches hier erledigen. Äh – da ſind Sie ja –“, redete er unſern Bekannten aus der vorderen Gaſtſtube, den Gönner Fritzchens, an. „Kommen Sie, Herr Tränenreich, hier hinten an dieſen Tiſch. Wir wollen die Herren von ihrem gewiß ſehr intereſſanten – äh – Kunſtgeſpräche nicht ablenken. Wenn Sie ſpäter geſtatten, werde ich ſo frei ſein, auch noch – äh – etwas davon zu profitieren.“
Herr von Spitznas ließ ſich von Jean den Pelz abnehmen und zog ſich mit dem Proviſor zurück.
„Ein Wort mit euch noch insgeheim!“, zitierte Herr Xylander vernehmlich hinter den beiden her. „Gut, Jean! Jetzo begeben Sie ſich ſofort drei Treppen hoch, hinten heraus, in Nummer ſiebenundzwanzig und machen ein hübſches Feuer in den Ofen.“
„O bitte, Herr Direktor, laſſen wir das, ich ſchlafe gern kühl!“, wehrte der Rektor ab.
„Tun Sie, was ich ſage! ‚Toms friert. Dieſe kalte Nacht wird uns alle zu Narren und Tollen machen.‘ Ja, alſo, Herr Rektor, wo waren wir doch ſtehen geblieben? Richtig! Wie gefiel Ihnen im vierten Akte, ſechſte Szene:
‚Der Wuchrer hängt den Gauner;
zerlumptes Kleid bringt kleinen Fehl ans Licht,
Talar und Pelz birgt alles. Hüll’ in Gold die Sünde,
der ſtarke Speer des Rechts bricht harmlos ab; –
in Lumpen, – des Pygmäen Halm durchbohrt ſie.
Kein Menſch iſt ſündig; keiner, ſag ich, keiner;
und ich verbürg es, wenn – verſteh’, mein Freund, –
er nur des Klägers Mund verſiegeln kann.‘
Rechtfertigte ich Edgars Antwort:
,O tiefer Sinn und Aberwitz gemiſcht!
Vernunft in Tollheit!‘?
Hatte ich da die richtige Poſe, Herr Rektor?“
Herr Bartels aus Angerbeck ſaß ſtarr und riß die Augen auf. War das der ungewohnte Wein, daß er nicht mehr wußte, was er denken ſollte? War das derſelbe Xylander, dem jede Lobhudelei ein Greuel war? Forderte er ihn zu einer ſolchen nicht jetzt ſelbſt geradezu heraus?
„Gewiß, gewiß, Herr Direktor, ich ſagte Ihnen ja ſchon, wie wundervoll Sie ſpielten“, antwortete er laut, neigte ſich dann aber vor und flüſterte: „Zum Teufel, Herr Xylander, lupus in fabula! Ich muß Ihnen mitteilen –“
„Daß auch die übrigen Akteure ihre Sache nicht ſchlecht machten. Gewiß!“, fiel der Mime ein. „Denken Sie gleich an die erſte Szene, an die tiefſinnige Frage des Grafen von Kent!“
Er ſprang auf, warf ſich in Poſitur, und mit diaboliſchem Mienen- und Gebärdenſpiel fragte er nach der Tiefe des Zimmers hin:
„Iſt das nicht euer Sohn, Mylord?“
Vom hinteren Tiſche her ächzte ein Äh, äh, während der Rektor beſcheiden bemerkte, daß er ſich auf eine ſolch auffallend ſtarke Betonung der Frage nicht beſinnen könne.
„O ja, Kent betonte richtig, auch im zweiten Akte, zweite Szene:
‚Die Antipoden ſind ſich ferner nicht,
als ich und ſolch ein Schuft!‘
Auch die Damen haben doch Ihren Beifall, wie?“
„Gewiß! Zumal die liebliche Cordelia, aber –“
„Freilich! Die liebliche Cordelia! Welche Anzüglichkeit klang doch durch ihre Grazie:
‚Was Liſt verborgen, wird ans Licht gebracht,
wer Fehler ſchminkt, wird einſt mit Spott verlacht.‘“
Herr Bartels gab endlich die vergeblichen Verſuche auf, auch ſeinerſeits etwas zu der Unterhaltung beizutragen. An eine Fortſetzung ſeiner unterbrochenen Lebensgeſchichte war erſt recht nicht zu denken. So ließ er denn den Redeſchwall des nach ſeiner Meinung ohne Zweifel übergeſchnappten oder betrunkenen Schauſpielers ruhig über ſich ergehen.
Am hinteren Tiſche ging es nicht ſo dramatiſch her, auch nicht halb ſo laut. Nur dann und wann konnte der Rektor ein Ächzen und Krächzen vernehmen, wenn Herr Xylander gar zu ſtörend in die geſchäftlichen Kreiſe der beiden Herren einbrach.
„Sprechen Sie möglichſt, aber unauffällig leiſe, Tränenreich, der Herr dort iſt aus Angerbeck, wie ich hörte. Verdammter Zufall! Es kann Ihnen nicht recht ſein, wenn – nun, Sie wiſſen ſchon. Zum Henker, das Geſicht kommt mir bekannt vor! Bartels – Bartels?“
„Er iſt ein Lehrer, ich vernahm ſo etwas im Gaſtzimmer vorn.“
„Ein Schulmeiſter? Nein – kenne ich nicht“, meinte Herr von Spitznas geringſchätzend.
„Halten Sie ſich bereit, Tränenreich. Auf jeden Fall kündigen Sie ſofort Ihre hieſige Stellung. Werde auch mit Ihrem Prinzipal Doktor Hering ſprechen. Die Sache wird reif. Den Alten bekomme ich weich und hoffe, ihn ſehr bald zur Einſicht zu bringen, daß es ohne eine Hilfe nicht weiter gehen kann. Äh – äh – wenn dieſer ekelhafte aufgeblaſene Hanswurſt dort nur endlich ſeinen Schnabel hielte! – Benehmen Sie ſich in der ganzen Sache aber klug, das rate ich Ihnen wohlmeinend! Vor allem verderben Sie es mit der Frau nicht, ſie hat die Augen und den Verſtand für den Alten mit. Aber je ſchneller Sie die Apotheke wohlfeil machen, deſto beſſer für Sie. Vergeſſen Sie nicht, was ich Ihnen ſchon ſagte, daß ich noch einmal, aber zum letzten Male, Mühe und Geldkoſten aufwenden will, Ihnen eine anſtändige, auskömmliche und ſelbſtändige Stellung in der Welt zu verſchaffen. Verſcherzen Sie die Gelegenheit wieder durch Ihren Leichtſinn, ſo – äh – äh! Nein, hören Sie nur dieſen verrückten Tragöden!“
„– ſag ich mich los hier aller Vaterpflicht,
aller Gemeinſamkeit und Blutsverwandtſchaft!“,
erſcholl es vom vorderen Tiſche herüber.
„Verſcherzen Sie die Gelegenheit wieder durch Ihren Leichtſinn“, wiederholte der Medizinalrat ſeine Ermahnung, „ſo biete ich Ihnen keine mehr, darauf verlaſſen Sie ſich! Das Neſt iſt eigentlich viel zu ſchön für Sie! Übrigens möchte ich Sie auch darauf aufmerkſam machen, daß in der Apotheke zu Angerbeck auch ein kleines reizendes Mädchen heranwächſt –“
„Weiß ich, Herr Medizinalrat, eine angenommene Waiſe.“
„Ganz recht, ſie paßt ja vortrefflich zu unſerm Plane, hilft zehren und vertreibt Ihnen die Langeweile. Ein Dutzend ſolcher armen Kinder hätte man annehmen ſollen! Doch woher wiſſen Sie?“
„O Herr von Spitznas, ich habe Ihren Rat gut befolgt und mir den Knaben Fritz herangezogen. Da draußen ſitzt er und wartet auf mich, um mit mir der „Feuerkugel“ noch einen Beſuch abzuſtatten.“
„Hahaha, vortrefflich! Frau Ottilie wird ihre Freude an dem Herrn Söhnchen erleben! Iſt es Ihnen auch gelungen, den jungen Mann in der Ihnen angegebenen Richtung zu beeinfluſſen?“
„Vollkommen!“, lachte Herr Proviſor Tränenreich. „Apotheker will er werden, und keine Macht der Erden hält ihn davon zurück! Aber ich muß geſtehen, ich begreife Sie nicht recht in dieſem Punkte, Herr Medizinalrat.“
„Junger Mann, Sie begreifen manches noch nicht! Die Hoffnung müſſen wir dem Alten grünen laſſen, ſonſt kommt er oder eher noch die Frau möglicherweiſe auf den geſcheiten Einfall, die Apotheke noch ſo leidlich loszuſchlagen, und – Sie ſind drum! Denn das bilden Sie ſich nur nicht ein, daß ich dem alten Schwachkopf ſoviel zahlen werde, als das ſchöne Anweſen ſamt der Konzeſſion wert iſt! Und ſpäter läßt ſich der Wert leichtlich erhöhen durch die Anlage eines Bahnhofes für das Städtchen, an dem jetzt die Züge ſtolz vorüberſauſen, denn – ſeine Zeit iſt noch nicht gekommen. Hahaha! Verſtehen Sie jetzt, Sie – unſchuldsvoller Engel?“
Der Proviſor ſchaute bewundernd zu ſeinem Meiſter auf, während Herr Xylander deklamierte: „Derweil enthüll’n wir den verſchwieg’nen Vorſatz!“
„Äh, äh – dieſer greuliche Kerl! In Ihren Anſprüchen ſeien Sie zunächſt beſcheiden, machen Sie ſich angenehm und unentbehrlich, – Sie können das ja!“
„Ich danke dir, Burſch, du dienſt mir, und ich will dich lieben!“, klang’s herüber.
Jetzt lächelte Herr von Spitznas nur. „So, die Sache wäre abgemacht. Nun gehen Sie, und viel Vergnügen in der Feuerkugel.“
Herr Tränenreich empfahl ſich, ſchon jetzt ſehr vergnügt, der fürſtliche Theaterdirektor, an dem er vorüber mußte, repetierte aber ſeine Rolle:
„‚Kind, leb wohl!
Wir woll’n uns nicht mehr treffen, nicht mehr ſehn.
Und doch biſt du mein Fleiſch, mein Blut, mein Kind;
nein, eine Krankheit eh’r in meinem Fleiſch,
die mein ich nennen muß; biſt eine Beule,
ein Peſtauswuchs, ein ſchwellender Karfunkel
in meinem kranken Blut! –‘
Iſt dies nun gut geſprochen?“
„Herr Xylander, nehmen Sie mir’s nicht übel, ich halte nicht mehr aus!“, winſelte der Rektor. „Mir iſt ja das Verſtändnis des großen Briten durch Ihre dankenswerten Winke eigentlich heute abend erſt aufgegangen, aber – es iſt genug! Das Weintrinken bin ich auch nicht mehr gewohnt, und der Kopf iſt mir völlig eingenommen. Es wird die höchſte Zeit, daß ich meine Nummer ſiebenundzwanzig aufſuche.“
„Mein Geiſt beginnt zu ſchwindeln. Jean, Jean, der Herr Rektor wollen ſich zurückziehen! Fackeln, Fackeln!“, rief Herr Xylander in das jetzt faſt leere Vorderzimmer hinein.
„Geben Sie mir das Licht, Jean“, ſagte er dann ſehr ruhig, dem verſchlafenen Kellner den Leuchter aus der Hand nehmend.
„Sie, Herr Rektor, nehmen den Schlüſſel, Sie, Jean, beladen ſich mit unſern Kledagen, ſtecken mir aber in die Überziehertaſchen noch zwei Pullen, verſtanden? Und nun empfehle ich mich Ihnen ganz gehorſamſt, Herr Medizinalrat. Gern hätte ich noch länger die Ehre Ihrer werten Geſellſchaft genoſſen, allein die Rückſicht auf meinen ermüdeten Freund –“
„O, ich verſtehe, Herr Direktor! Äh – äh, wünſche den Herren eine wohlzuſchlafende Nacht.“ Kaum hatte ſich die Tür von Numero ſiebenundzwanzig hinter den beiden Herren geſchloſſen, ſo krallte ſich auch ſchon Rektor Bartels ohne eine Spur von Schlaftrunkenheit ſeinem Begleiter mit wuchtigem Griffe an beide Schultern.
„Mein beſter Herr –“
„Halt, nur noch einen einzigen Augenblick Geduld, mein beſter Herr! Übrigens, finden Sie es hier nicht ausnehmend gemütlich? Hören Sie, wie das Feuer bullert!“
Der Direktor hatte die Tür von neuem aufgeriſſen. „Ein Wort mit dieſem kundigen Thebaner. Jean, Jean, Oberſklave!“
Aus Numero ſechsundzwanzig erſchollen laute drohende Verwünſchungen, und in Numero achtundzwanzig flog ein harter Gegenſtand an die Tür, der Oberſklave Jean aber polterte die hölzerne knarrende Stiege wieder herauf. „Herr Direktor befehlen?“
„Sagen Sie mal, wer war der junge Herr, mit dem ſich der Medizinalrat ſo angelegentlich unterhielt?“
„Das war doch der Herr Proviſor Tränenreich aus der Hofapotheke drüben am Markte, unſer ſtändiger Mittagsgaſt.“
„So, danke. Wenn Sie nun die Treppe halb ſo laut hinunterſteigen, wie Sie heraufgekommen ſind, werden Sie ſich den Dank des geſamten Letzten Seufzers verdienen.‘
Neunzehntes Kapitel
läßt den Rektor Bartels weiter zu Worte kommen.
„Jetzo ſtehe ich Ihnen zu Dienſten“, wollte Herr Theophil Xylander bemerken, aber das Herzventil des gemarterten Schulmannes ließ ſich nicht mehr halten. Er hatte den fürſtlichen Direktor ſchon wieder mit beiden Fäuſten an der ſchwarzen Krawatte.
„Um des Himmels willen, das war ja dieſer – dieſer Spitzbube, von dem ich Ihnen grade erzählen wollte! O, ich kenne ihn wohl, ich kenne ihn ganz genau, auch wenn Sie ſeinen Namen nicht genannt hätten! Und ich laſſe mich hängen, wenn mich dieſer – dieſer –“
„Medizinalrat von Spitznas“, half Herr Xylander dem vor Überhitzung ſprudelnden, brodelnden Rektor ein.
„Meinetwegen – dieſer Medizinalrat von Spitzbube nicht auch gekannt hätte! Habe ihn doch auch öfter als Apothekenreviſor durch Angerbeck fahren ſehen. Na, da mag er ja wohl mich nicht geſehen haben, heute abend aber hat er mich geſehen, der Lump!“
„Der Medizinalrat, meinen Sie, Herr Rektor, vielleicht ſogar nächſtens Geheimer.“
„Mir ganz ſchnuppe! Geheimer oder gemeiner, ich nenne ihn ſchon jetzt beim richtigen Namen!“
„Der alte Mettje hat dieſe Siebenundzwanzig nicht grade luxuriös ausgeſtattet, ich denke aber, das alte Kanapee, das wir hier an den Ofen ſchieben wollen, wird uns dieſe Nacht noch überdauern. Noch ein paar Kloben auf die Flammen. So, ſetzen wir uns. Und bis dieſes neue Stearinlicht niedergebrannt iſt, wird mir wohl auch eins aufgehen, was denn eigentlich Ihr Friedrich von Schlabrendorf, Frau Ottilie Kruſius, Fräulein – Roſa Sonnenburg und dieſer Herr Medizinalrat von Spitznas mit Ihrer Karriere zu tun haben, denn von ihr wollten Sie mir ja wohl erzählen.“
„So lange brauchen Sie ſich nicht zu gedulden, wenn Sie mich nicht ewig unterbrechen wollen. Es nimmt mich allerdings wunder, daß Sie ſelbſt auf die Geſchichte zurückkommen, denn offen geſtanden –“
„Hielten Sie mich für übergeſchnappt!“, lächelte Herr Theophil. „Nein, ich werde Ihnen nicht wieder in die Rede fallen.‘
„So werde ich mich ſo kurz wie möglich faſſen, und Sie werden bald erfahren, daß dieſer Menſch ſehr viel mit meinem Leben zu tun hat, und nicht allein mit dem! Wo waren wir ſtehen geblieben?“
„Röschen Sonnenburg nahm das Leben recht leicht.“
„Sie haben ſich die Sache wider Erwarten gut gemerkt, Herr Direktor. Um aber dieſe Behauptung über Röschen Sonnenburg rechtfertigen zu können, muß ich doch wieder weiter ausholen, was Sie verzeihen wollen.“
„O, ich habe, wie geſagt, Zeit genug. Wenn Sie nicht müde ſind!“
„Durchaus nicht! Alſo. In unſerer Verbindung gab es einen jungen Herrn von Spitznas, eben jenen Spitzbuben, den Sie mir unten vorſtellten. Ich kannte niemand, der irgendwelche Sympathien für ihn gehegt hätte – außer Fräulein Sonnenburg und der verrückten Gouvernante. Wie der Menſch eigentlich zu der Ehre gekommen war, vom Amtmann Diederichs gleich uns nach Bovenden eingeladen zu werden, weiß ich nicht. Da er aber aus einer alten angeſehenen Familie ſtammte, ſo glaubte man, daß ihn Herr Diederichs deshalb berückſichtigt hätte. Schlabrendorf und mir war er ſtets ein Greul geweſen, und wir hatten, burſchikos zu reden, wenig Sums mit ihm gemacht, mußten ihn aber nun doch, wohl oder übel, als Gaſt unſeres freundlichen Wirts behandeln. Bei den jungen Damen ſpielte er mit großer Routine den angenehmen Schwerenöter, was ihm – wenn ich mich nicht ganz und gar irre – einſt von der hübſchen Hand Ottiliens eine Maulſchelle eintrug. Bei Fräulein Sonnenburg dagegen hatte er mehr Erfolg, ich traf das Pärchen eines Abends zufällig in zartem tête-à-tête in dem hinteren Gartenhäuschen. Mir ſchwante ſchon damals nichts Gutes, und ich machte meinem Freunde Schlabrendorf Mitteilung von dem, was ich wahrgenommen. Dieſer bat ſeine Braut – denn das war ja Fräulein Ottilie –, Röschen Sonnenburg vor dem Menſchen, dem wir alle nicht trauten, zu warnen. Ottilie ſtellte ſich ganz auf unſere Seite, allein ihre Bemühungen hatten nur den Erfolg, wie das gewöhnlich geht, daß Röschen gegen ſie verſchloſſen ward.“
„Den Teufel ſpürt das Völkchen nie, und wenn er ſie beim Kragen hätte“, ſeufzte Herr Xylander.
„Schlabrendorf ging noch weiter; er bat Herrn Diederichs direkt, den von Spitznas nicht weiter einzuladen. Der Amtmann willfahrte ihm, denn als gewiſſenhafter Mann hielt er ſich für das Schickſal ſeiner jungen Verwandten verantwortlich. Seit jener Zeit ſah uns Spitznas nur mit ſcheelen Blicken an; ich fühlte, wie er auf eine Gelegenheit wartete, ſich an uns zu rächen. Und dieſe ſollte ihm leider bald genug werden, denn es war gegen den Herbſt des Jahres ſiebenunddreißig. Der neue König Ernſt Auguſt hatte eigenmächtig das Staatsrecht von anno dreiunddreißig, das der gute Herzog von Cambridge –“
„’nen lütjen Püttje, Püttje dem Herzog von Cambrütje!“, rief Herr Theophil Xylander dazwiſchen und hielt dem Erzähler ſein Glas zum Anſtoßen hin.
„– dem Lande gegeben, aufgehoben und die alte feudale Verfaſſung wieder eingeführt, wie es hieß, um ſeinem blinden Sohne Georg die Nachfolge zu ſichern. Na, das wiſſen Sie ja ebenſo gut wie ich.“
„Weiß ich nicht ſo eingehend. Als Nomade, der ich früher ausſchließlich war, konnte ich mich nicht um die Sonderverfaſſung von einem Schock Potentaten kümmern.“
„Das läßt ſich allenfalls hören. Alſo die Oppoſition begann in den höchſten Kreiſen. Die verantwortlichen Staatsminiſter ſelbſt hatten das verhängnisvolle Dekret des Königs nicht unterzeichnet, wohl aber Scheele, der gar nicht auf die Verfaſſung verpflichtet war. Die Gährung wuchs, als Ernſt Auguſt alle Landesbeamten zwingen wollte, mit der Vergangenheit zu brechen und ſolches in Huldigungsreverſen zu dokumentieren. Da machte ſich unſer Profeſſor Dahlmann zum Rufer im Streite, zum Sprecher des Volksgewiſſens, indem er den berühmten Proteſt gegen das Willkürregiment des Königs entwarf, und ſechs ſeiner Kollegen ſchloſſen ſich ihm durch ihre Unterſchrift an. Die Namen der Göttinger Sieben werden mit Ehren genannt werden bis in die fernſten Tage, ſo lange das deutſche Volk es wert iſt, ſolche Männer beſeſſen zu haben!
Die Maßregelung aber ließ nicht lange auf ſich warten. Alle ſieben wurden ſofort ihres Amtes entſetzt, Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus ſogar des Landes verwieſen. Sie können ſich denken, daß von uns, der akademiſchen Jugend, dieſe ſieben Volkshelden mit Begeiſterung auf den Schild gehoben wurden. Und Schlabrendorf mit ſeinem hochgemuten Herzen ſtellte ſich wieder an unſere Spitze. Er verfaßte ein vertrauliches Rundſchreiben, das ich mit auf die Kneipe brachte, verlas und weiter gab, und worin er die Kommilitonen zum Zeichen unſerer Verehrung und zum Ausdruck unſerer Solidarität aufforderte, dem Profeſſor Dahlmann, als dem Urheber jenes Proteſtes, einen ſolennen Fackelzug zu bringen. Es war ein Vorhaben, das, wenn es zur Ausführung gekommen wäre, ohne Zweifel das ganze Land in Brand gebracht hätte!
Alle Maßnahmen waren getroffen, der Tag, die Stunde der Ehrung beſtimmt, die Feſtwagen für die Banner der Brunonia und anderer Verbindungen beſtellt, ein großer Teil der ebenfalls unzufriedenen, aufgebrachten Bürgerſchaft gewonnen, den Plan zu unterſtützen, da kam der große Putſch!
Am Morgen des für den Fackelzug beſtimmten Tages wurden Schlabrendorf und ich, als die Häupter der Verſchwörung, durch den Pedellen vor den akademiſchen Senat geladen. Das von meinem Freunde verfaßte Zirkular lag auf dem grünen Tuche vor dem Sitze des Rektors! Als dieſer es im allgemeinen mit ernſter Stimme und beſonderer Betonung im einzelnen verleſen, wußten wir, was die Glocke geſchlagen hatte. Natürlich war Schlabrendorf mehr treffend als vorſichtig in der Wahl ſeiner Ausdrücke geweſen und war es auch jetzt bei ſeiner Verteidigung, und ſo ward uns unſchwer ein crimen laesae majestatis aus dem Ding konſtruiert. Und da ſich meine ausgeſprochene Meinung vollſtändig mit der Schlabrendorfs deckte, wurden wir kurzerhand relegiert.
Nun, mein Freund Friedrich nahm die Sache ziemlich gleichgültig auf, denn er war reich, ich aber war als armer Teufel wirklich damals der Verzweiflung nahe, denn ich dachte mehr an meine alte gute Mutter denn an mich. Bald genug konnte ich über größerem Leid mein eigenes vergeſſen! Denn das Ding ſtand für Schlabrendorf trotzdem viel ſchlimmer.
Als er nämlich nachmittags von der Kneipe, wo unter den Studenten die größte Beſtürzung herrſchte, und der tiefſte Abſcheu gegen den gemeinen Verräter, den jedermann zu kennen glaubte, ausbrach, nach Hauſe zurückkehrte, erfuhr er von ſeinem Philiſter, daß zwei Polizeibeamten bei ihm Hausſuchung gehalten und ſeine ſämtlichen Schriftſtücke beſchlagnahmt hatten. Eine halbe Stunde ſpäter – es war im November und ſchon ziemlich früh dunkel – kam Schlabrendorf auf meine Bude, wo ich Trübſal blies. Ich kannte ihn an ſeinem großen feſten Schritte und eilte ihm mit der Lampe auf die Treppe entgegen, zitternd vor Aufregung. Als ich ihm aber ins Geſicht leuchtete, ſah er aus wie ſonſt, ruhig und ſtolz. Er ſchloß ſelbſt die Tür hinter mir und ſagte in ſeiner beſtimmten Weiſe: ‚Eberhard, du mußt mich jetzt nach Bovenden begleiten, ich habe noch mit meiner Braut zu ſprechen, denn dieſe Nacht reite ich, zunächſt über Adelebſen ins Heſſiſche, dann durch Weſtfalen nach Holland, und von dort ſchiffe ich mich nach Amerika ein. Durch den Entwurf meiner Anſprache, die ich heute abend Dahlmann zu halten gedachte, und mehr noch durch meine politiſchen Gedichte – politiſch Lied, ein böſes, böſes Lied! –, die ſamt und ſonders der Polizei in die Hände gefallen ſind, die auch hier wieder einmal ſchnelle zur Stelle war, habe ich mir in Bauſch und Bogen, ſchlecht gerechnet, etwa zehn Jahre Feſtung zuſammen gereimt. So ungefähr einen Überſchlag zu machen, hat mich doch mein Studium ſchon in den Stand geſetzt. Daß ich meine Braut darunter nicht leiden laſſen kann, verſteht ſich von ſelbſt. Und da das alte Mädchen wahrhaftig kapabel wäre, auf meine Freilaſſung mehr als ein Dezennium zu warten und ſich ihre Jugend um die Ohren zu ſchlagen, ſo iſt es beſſer, ich löſe mein Verhältnis zu ihr gleich jetzt.‘
Zum Glück hatte ich die Lampe auf den Tiſch zurückgeſtellt, ſonſt wäre ſie mir aus der Hand gefallen. Ich wußte wohl, wenn er ſo ſprach, war an ſeinem Entſchluſſe nichts zu ändern, und ſo warf ich mich denn eilends in meine Kleidung, und wir verließen das Haus.
Als wir eben aus dem Weender Tore gingen, hörten wir hinter uns das Getrappel eines Reitpferdes. Schlabrendorf drängte mich ſchnell hinter eine der alten Linden. ‚Gib acht, Eberhard, wer hier jetzt vorbeireitet. Der Gaul iſt nicht zu verkennen, ſieh dir genau das Geſicht des Reiters gegen den Himmel an‘, flüſterte er. ‚Ja‘, ſagte ich, ,das war er, Spitznas, an den ich ſoeben noch dachte. Ich habe nicht nur ſein Geſicht deutlich geſehen, es war ja auch der lege langbeinige Braune, den er ſich immer vom Poſthalter Peters pumpt. Zum Kuckuck, Spitznas war heute der einzige, der auf der Kneipe fehlte.‘
Schlabrendorf nickte nur befriedigt und brachte das Geſpräch auf etwas Anderes, indem er mir Weiſung gab, was ich mit ſeinen Büchern und ſonſtigen Sachen, die ihm lieb waren, anfangen ſollte. Ich wagte einzuwerfen, daß nun ja auch meines Bleibens nicht länger ſein könne. Aber er meinte: ‚Laß nur, Eberhard, mit dir wird ſich gewiß alles zu deiner Zufriedenheit andrehen laſſen.‘
Wir hatten das Dorf Weende hinter uns und ſahen von der letzten Anhöhe die Lichter von Bovenden. Auf das Amt konnte man auf zweierlei Weiſe kommen. Ging man auf der Northeimer Straße weiter, mußte man durch das große Tor und erreichte das Herrenhaus von der Vorderſeite. Das war unſer gewöhnlicher Weg. Von der Straße aber bog links ein Feldweg ab, nach der Leine zu; dieſer führte den hinteren Zaun des großen Gartens entlang, und eine kleine Pforte bot auch hier einen Eingang, die aber, wie ich wußte, abends und bei kühler Jahreszeit überhaupt meiſt verſchloſſen war. Trotzdem ſchlug Schlabrendorf ohne Zögern dieſen letzteren Weg ein. ‚Friedrich, wenn wir hier nur nicht vergeblich gehen‘, ſagte ich, ‚wer ſoll denn jetzt im November, bei dieſer Dunkelheit und Kühle, noch im Garten ſein!‘ Da lachte er ſo ein bißchen. ‚Mach dir keine Sorge, Eberhard, wir werden die Pforte offen finden.‘
Wir gingen alſo weiter, und – denken Sie ſich! – als wir ein gutes Stück an dem langen Zaune hin ſind und in die Nähe der beſagten Pforte kommen, ſteht da Poſthalter Peters ſein Brauner und knabbert an den letzten grünen Spitzen der Weißdornhecke! Die Zügel waren um den einen Pfoſten geſchlungen. Und als wir nun näher treten, ſteht eine lange dürre Weibsperſon, ebenſo ſtelzbeinig wie der Gaul, in der offenen Pforte und tätſchelt dieſem den Hals, verſchwindet aber ſofort nach dem Garten zu mit großen Schritten und einem leichten Juchzer, als ſie uns erblickt. Schlabrendorf mußte mit einem Blick die ganze Sachlage erfaßt haben. Am Sattelknopfe des Pferdes hing eine Reitpeitſche. Dieſe ergreifen und hinter dem Frauenzimmer her war eins. Ich glaubte nicht anders, als daß die Aufregungen des Tages meinen Freund verwirrt hätten, und eilte ihm nach, um ihn vor einer unüberlegten, unehrenhaften Handlung zu bewahren. Aber noch viel Schlimmeres, als ich der geſchwungenen Reitpeitſche nach erwartet hatte, ſollte ich ſchauen, als ich um das nächſte Gebüſch gekommen. Schlabrendorf drückt die verrückte hyſteriſche Erzieherin, wie ſie ſich ſchimpfte, an die Taxushecke und hält ihr ein Terzerol vor den papillotengeſchmückten Schädel! ‚Um des Himmels willen, Friedrich!‘, flüſtere ich haſtig, ‚mache keine Dummheiten!‘, und will ihm das Schießding aus der Hand nehmen. ‚Sei ruhig, Eberhard‘, ſagt er, ſelbſt ſehr ruhig, ‚noli turbare circulos meos, wenn aber das Fräulein hier‘, – Fräulein – ja, wie hieß ſie doch – Fräulein –“, unterbrach ſich der Rektor hier in ſeiner Erzählung – –
„Sagen wir Fräulein von Grumbkow“, meinte Herr Xylander, trank ſein Glas aus, ſtand auf und machte ſich an dem Ofen zu ſchaffen.
„Richtig! Fräulein von Grumbkow. Aber – Herr Direktor – zum Teufel, kannten Sie denn die Perſon?“
„Ich? Nicht im geringſten, aber Sie ſprachen doch unten im Gaſtzimmer ſchon von ihr.“
„Ah! Sehen Sie, man merkt, daß man alt wird. Jetzt hätte ich mich abſolut nicht auf ihren Namen beſinnen können.“
„Na, erzählen Sie darum nur weiter, ehe Ihnen die ganze Geſchichte in den Lethe fällt“, ſagte der fürſtliche Direktor, ſchenkte die Gläſer voll und ließ ſich wieder an Herrn Bartels’ Seite auf dem Sofa nieder.
„Schlabrendorf hält ihr alſo die Piſtole vor und ſagt: ‚Fräulein von Grumbkow, wenn Sie noch einen lauten Ton von ſich geben, ſind Sie ein Kind des Todes, ebenſo, wenn Sie irgend einen Anfall von Ohnmacht, Hyſterie oder dergleichen heucheln. Jetzt aber teilen Sie mir ganz leiſe mit, wo Herr von Spitznas iſt.‘
Das Weibsbild ſtand nun ſteif wie ein Stock an der Hecke, mit ſtieren Augen und vor Todesangſt verzerrter Viſage. Ja, ſie wagte nicht einmal zu flüſtern und wies nur mit ausgeſtreckter Hand auf das hölzerne Gartenhäuschen, deſſen Dach etwa dreißig Schritte weiter ſeitwärts über die Büſche hervorragte. ‚Da drin? Gut, ich dachte mir’s. Allein?‘ Fräulein von Grumbkow ſchüttelte nur ein wenig das bedrohte, löckchenumdrehte Haupt. ‚Sie bleiben hier auf dieſem Platze ſtehen! Eberhard, du haſt die Güte und faßt hier ebenfalls Poſto – es iſt der letzte Freundſchaftsdienſt, den du mir erweiſen kannſt – und gibſt acht, daß ſie nicht vorzeitig Lärm ſchlägt. Nötigenfalls ſchiebe der Löwin deine Fauſt in den Schlund! Sobald ich rufe, begleiteſt du die beiden Damen – denn Fräulein Sonnenburg wird dort zu finden ſein – durch den Garten ins Amthaus. Ich komme nach.‘
Ich ſehe ihn noch heute vor mir, Herr Direktor, wie er ſo dahin ſchritt, in ſeiner Rechten die Reitpeitſche ſchwenkend, ſtolz und beſtimmt, einem Feldherrn gleich auf eroberter Schanze.
Nicht zwei Minuten hatten wir zu warten, da kam auch wirklich Fräulein Röschen Sonnenburg, ſchluchzend, verwirrt, mit allen Zeichen der Beſchämung und Beſtürzung vom Gartenhauſe auf uns zu – doch, was iſt Ihnen, Herr Direktor?“
„Oh oh – o mein Gott!“, ſtöhnte Theophil Xylander und war in die Sofaecke zurückgeſunken.
„Herr Direktor, Sie erſchrecken mich! Ich werde ſofort den Arzt –“
„Halt! Dummes Zeug, das geht vorüber – mein alter Hexenſchuß! Sehen Sie, ich bin ſchon wieder ganz Ohr. Bitte ſehr, kümmern Sie ſich durchaus nicht weiter um mich und verzeihen Sie die Störung – ich glaube, Ihre Erzählung nähert ſich dem Kulminationspunkte!“
„Ich werde mich wenigſtens ſo kurz wie möglich faſſen, ſie dahin zu bringen.“
„Nein, nein, ich muß ſehr bitten, ſich nicht dabei zu überſtürzen und den Kauſalzuſammenhang Ihres Dramas nicht zu gefährden.“
„Weiter alſo. Ich lüftete in einiger Verlegenheit vor dem Fräulein meinen Hut, ſagte ein paar gewiß ganz unpaſſende Worte und forderte die Damen auf, mit mir ins Herrenhaus zu gehen, denn ich hatte Schlabrendorfs Ruf: ‚Fort!‘ vom Gartenhauſe her vernommen. Und ſo ſchnell kamen dieſe meiner Bitte nach, daß ich wahrhaftig Mühe hatte, mit ihnen Schritt zu halten. Nichtsdeſtoweniger fand die Grumbkow Atem genug, jetzt, wo ſie ſich ſicher fühlte, zu zürnen: ‚Und das bieten Sie mir, meine Herren! Mir, deren Oheim ein Jahr lang Gouverneur von Luxemburg war! Sie wiſſen wohl noch nicht, daß bei ſeinem Einzuge das Volk die Dächer abdeckte, um ſeine junge Gemahlin im Wagen ſitzen ſehen zu können? Und dieſe ſeine Gemahlin war die Couſine meines Vaters! Und nun dieſes! Mir dieſes!‘ Und in der Poſe einer antiken Heroine raffte ſie auf der Freitreppe ihre weitläufige Draperie, die um ſie herum wie auf einer Trockenſtellage hing, zuſammen, drehte ſich auf der oberſten Stufe um und ſagte groß: ‚Das iſt mein Tod, das iſt allerdings mein Tod.‘
Auf dem erleuchteten Hausflur angelangt, ſtürzten beide mit gradezu wahnſinniger Haſt die Treppen hinauf, ihren Zimmern zu, ſo daß mir nur übrig blieb, ihnen kopfſchüttelnd nachzuſehen, denn meine übernommene Aufgabe war ja ſowieſo erfüllt. Mit was für einem Geſichte aber ſollte ich jetzt vor den Amtmann, vor Fräulein Ottilie treten? Unſchlüſſig und überlegend ſtand ich einige Minuten in dem offenen Portale und horchte in den dunklen Garten hinaus, von wo ich verworrene Laute zu hören glaubte.
Da öffnete ſich hinter mir eine Tür, und wie ich mich umwandte, kam Fräulein Ottilie gerade auf mich zu geſchritten. ‚Herr Bartels‘, ſagte ſie zweifelnd, ‚ſind Sie es wirklich? Aber warum treten Sie nicht näher?‘ Ich ſtotterte denn nun wieder einiges konfuſe Zeug, daß ſie mir meine Erregung und Hilfloſigkeit wohl anmerken mußte. ‚Um Gotteswillen, es iſt etwas vorgefallen! Was iſt’s mit Friedrich, mit Herrn von Schlabrendorf?‘ Sie hält totenbleich ihre Augen auf mich gerichtet. ‚Beruhigen Sie ſich, Fräulein‘, entgegne ich möglichſt unbefangen, was mir aber ſchlecht glücken will, ‚Herr von Schlabrendorf wird gleich ſelbſt hier ſein. Er hat im Garten – er hat dahinten jemand getroffen, noch einiges zu verhandeln. –‘ ‚Haben Sie Fräulein Sonnenburg geſehen?‘, fragt ſie haſtig. ‚Allerdings, die Damen ſind ſoeben hier die Treppe hinauf nach ihren Zimmern gegangen.‘ Sie hatte mich aber gar nicht ausreden laſſen, ſondern war wie der Wind oben, und ich ſtand wieder da und konnte nur von unten zuhören, wie ſie vergeblich an Röschens verſchloſſener Tür rackelte und einige abgebrochene Worte hervorſtieß. Dann kam ſie wieder, mehr geflogen als geſprungen und ſtürmte in den Garten hinaus. Ich nun aber ihr nach. ‚Bleiben Sie, bleiben Sie, ich ſage Ihnen, Friedrich wird gleich kommen!‘ Ja, ſie hörte nicht und hielt im Laufe gerade auf das Gartenhaus zu. Da trat uns zu meiner großen Erleichterung Schlabrendorf am Ende der Taxushecke entgegen, und während ſich das Fräulein, meiner nicht achtend, ihm an die Bruſt warf, ſah ich, daß er die beiden Hälften der zerbrochenen Reitpeitſche zwiſchen die abgeblühten Roſenſtöckchen ſchleuderte. ‚Ich danke dir, Eberhard‘, ſagte er wieder ganz ruhig, ‚einen Schuß Pulver war der Lump nicht wert. Geh jetzt zum Herrn Amtmann hinein und erzähle ihm alles, was in Göttingen vorgefallen iſt.‘ ‚Auch das hier, Friedrich?‘ ‚Nein, nein, das überlaß mir‘, lächelte er, zog ſeinen Havelock ab, legte ihn über Ottiliens Schultern, umfaßte ſie und bog mit ihr in einen Seitenweg ein. Bald darauf vernahm ich einen ſchmerzlichen Aufſchrei des Fräuleins, von dem hinteren Wege her aber ſchlug der ſcharfe Tritt eines Pferdes an mein Ohr.
Herr Diederichs trat gerade aus dem Eßzimmer, als ich in das Haus zurückkehrte. Durch die geöffnete Tür erſcholl der fröhliche Lärm der jüngeren Kinder und das Geklapper von Tellern und ſonſtigem Eßgerät. Bald ſaß ich dem alten Herrn in ſeiner Arbeitsſtube gegenüber, und die Art, wie er meinem Berichte Verſtändnis entgegenbrachte, erleichterte mir meine ſchwere Aufgabe weſentlich. Aber froh war ich doch, als etwa nach einer halben Stunde Schlabrendorf eintrat, und Ottilie, zwar mit verweinten Augen, aber doch gefaßt, uns aufforderte, im Speiſezimmer einen Abendimbiß einzunehmen. ‚Geh mit ihr‘, flüſterte mir Schlabrendorf zu, ‚ich will dem Herrn Amtmann den Reſt erzählen.‘
Ich führte das Fräulein an ihren Platz und ſetzte mich ihr an der Tafel gegenüber. Den jüngeren Geſchwiſtern war offenbar die Zeit des Wartens zu lang geworden, ihr Geſpräch und Gelächter hörten wir aus dem anſtoßenden Kinderzimmer undeutlich herübertönen. So ſaßen wir allein an der großen öden Tafel, und es war mir ſehr froſtig und zugleich ſehr weh ums Herz, wenn mein Blick an dem todtraurigen Antlitze meines ſchönen Gegenüber haften blieb. Ich wagte nicht, mit einem gleichgültigen Worte eine Unterhaltung zu beginnen, die doch wie Hohn in dieſem Zimmer geklungen hätte, und würgte einige Biſſen hinab. Da nahm ſie ſelbſt das Wort: ‚Herr Bartels, ſeien Sie verſichert, daß es mir ſehr leid iſt, daß auch Sie mit in dieſe unglückliche Geſchichte verwickelt werden.‘ ‚O Gott, Fräulein Diederichs‘, antwortete ich aus Herzensgrunde, ‚was liegt an mir!‘ ‚Vergeſſen Sie nicht, daß Sie eine Mutter haben, für die ihr Sohn alles iſt.‘ ‚Ja, ja, es iſt wohl ſchlimm für meine gute Mutter, indes kann ſich für ſie und mich noch alles zum beſten fügen. Ich bin noch jung und geſund, fühle mich ſtark genug –‘, und was ſo dergleichen Redensarten ſind, ſetzte ich ihr entgegen. Sie unterbrach mich. ‚Ich will meinem Vater nicht vorgreifen, möchte Sie aber etwas fragen. Falls mein Vater auf Schlabrendorfs Vorſchlag einginge und Sie bäte, die Erziehung der tobenden ungezogenen Rotte da draußen zu übernehmen und – und mit unſerm Hauſe fürlieb zu nehmen, bis ſich Ihnen Beſſeres böte, würden Sie ja ſagen?‘
Ich lachte bitter auf. ‚Aber Fräulein, da iſt doch die Grumbkow, an deren baldigen Tod ich nicht recht glaube, obwohl ſie ihn vor einer halben Stunde feierlich prophezeite, und einen geſchaßten Studenten nimmt doch kein Menſch zum Erzieher ſeiner Kinder!‘ ‚Das muß ich natürlich meinem Vater überlaſſen. Daß die Grumbkow aber in unſerem Hauſe nicht bleiben wird und auch nicht kann, darüber ſind wir wohl alle im klaren.‘
Und nun muß mir einfältigem jungen Menſchen das paſſieren, Herr Direktor, daß mich die Rührung und das Mitleid mit dieſem Mädchen überkommt, und es fährt mir ſo heraus: ‚Ach, Fräulein, wie groß ſind Sie doch, ſich meiner kleinen Sorgen anzunehmen, während Sie ſelbſt –‘ Na, was ich eigentlich ſagen wollte, wußte ich wieder nicht recht, kam auch nicht weiter damit. Denn jetzt ſpringt ſie auf vom Tiſche, kann ſich nicht mehr halten und ſinkt laut aufweinend in den alten großen Sorgenſtuhl, der aus ihrer Mutter Zeiten noch am Fenſter ſtand. Himmelwetter, Herr, wenn ich daran denke, werden mir altem Kerl heute noch die Augen feucht! Ich ſpringe auch auf, trete vor ſie hin und will ſie, ſo gut ich’s vermag, tröſten. ‚O, faſſen Sie ſich, liebes wertes Fräulein, auch mit Ihnen kommt das alles noch ins Gleiche. Schlabrendorf iſt ein braver, treuer und ehrlicher Menſch!‘ ‚Ja, das iſt er‘, ſchluchzt ſie herzzerbrechend, ‚und darum weiß ich, daß alles aus iſt. Er hat mir mein Wort, meine Freiheit zurückgegeben und geht nach Amerika!‘ ‚Na, da iſt er vorläufig noch nicht‘, werfe ich ein, um nur etwas zu ſagen. ‚Sie ſind ſein Freund und wiſſen nicht, daß er alles durchſetzt?‘, antwortet ſie, ſich die Tränen trocknend, mit einem wehmütigen Stolz, daß ich innerlich froh bin, ſie ſich daran aufrichten zu ſehen. ‚Und muß ich ihm unter den obwaltenden Umſtänden nicht ſelbſt recht geben? Zu einem Tyrannenknechte oder Sträflinge iſt er doch zu gut. Lieber will ich alle Hoffnung auf künftiges Lebensglück von mir werfen, als ihn erniedrigt zu wiſſen. In meinem Gedächtnis ſoll er aufrecht ſtehen!‘
Sehen Sie, Herr Direktor, ſo war einſt Frau Ottilie Kruſius!“
„Glauben Sie, Rektor, ich hätte ſie mir anders gedacht?“ Theophil Xylanders Glas war längſt geleert, aber ſeine Augen leuchteten ihm. „‚Auch ein Klaglied zu ſein im Mund der Geliebten, iſt herrlich, denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.‘ – Fahren Sie fort.“
„Mit Schlabrendorf kam auch der Amtmann herein, zog ſeine Tochter an ſich und drückte ihren Kopf gegen ſeine Bruſt. Was die Beiden in dem alten Sorgenſtuhle ſich zu ſagen hatten, hörte ich nicht, denn Schlabrendorf nötigte mich wieder auf meinen Sitz an der Tafel zurück, ſetzte ſich neben mich, legte uns vor und erteilte mir noch dieſen und jenen Auftrag für Göttingen. ‚So willſt du gar nicht wieder nach der Stadt zurück?‘, fragte ich verwundert. ‚Daß ich ein Narr wäre!‘, lachte er. ‚Du weißt, Heinrich Heine iſt mein Fall nicht, und das läppiſch fade Zeug, was er über Göttingen auftiſcht, iſt’s erſt recht nicht. Aber heute ſpricht er mir doch ſehr aus der Seele, denn heute gefällt mir die Stadt mit ihren 999 Feuerſtellen und dem Hotel de Brühbach auch am beſten, wenn ich ſie mit dem Rücken anſehe. Komm, ich bringe dich jetzt ans Tor.‘
Bei meinem Abſchiede trat der Amtmann zu mir, hielt mir die Hand hin und ſagte: ‚Meine Tochter hat mit Ihnen ſchon über Ihre nächſte Zukunft geſprochen. Darf ich Sie bitten, ſich von morgen an als unſern Hausgenoſſen anzuſehen und die Erziehung meiner Kinder zu übernehmen? Sie werden daneben genug Zeit finden, ſich Ihren weiteren Studien widmen zu können.‘ Ich dankte ihm für ſein Vertrauen und ſchlug ein.
Von dieſer Stunde an bin ich Schulmeiſter geworden, Herr Xylander, und das war ja wohl die Pointe meiner langen Geſchichte.“
Zwanzigſtes Kapitel.
Herr Rektor Bartels hat immer noch das Wort.
Daß der fürſtliche Theaterdirektor Theophil Xylander auch in dieſem Augenblicke ſein für gewöhnlich ſo geiſtreiches Geſicht beibehielt, können wir leider nicht berichten. Im Gegenteil, er ſah den Rektor Bartels ziemlich einfältig an.
„Hm, die Geſchichte brachte es, als ein zuſammengeſetztes Drama, ja mit ſich, daß Sie von ſich ſelbſt blitzwenig erzählt haben, Herr Rektor, aber nun, da Sie endlich mit der Hauptſache herausgerückt ſind, laſſen Sie mich hilflos ſitzen und manche Frage offen. Selbſt mein Freund und Meiſter Roderich Benedix in Frankfurt am Main könnte noch nichts Rechtes daraus machen, und die eigentliche Pointe Ihrer langen Geſchichte bemühe ich mich vergeblich herauszubringen.“
Eberhard Bartels lachte. „Ja ja, das Leben ſpielt ſich oft nicht ſo regelrecht ab wie eine dramatiſche Handlung auf den Brettern.“
Herr Xylander ſtützte ſich auf die Sofalehne und blinzelte in die Flamme des Lichtſtumpfes.
„Sie haben recht, es ſcheint in dieſem Falle, Kataſtrophe und Peripetie ſind etwas durcheinander geraten. Aber – nehmen Sie mir meine Nacht- oder Morgenruhe nicht vollends! Verwandeln Sie nun aber die retardierenden Elemente in accelerierende; das Licht wird wahrhaftig doch allmählich alle, und das Morgengrauen läßt bei währender Jahreszeit doch noch ein bißchen lange auf ſich warten. Aber ganz egal! Laſſen Sie uns die Geiſterſtunde ausdehnen bis zum erſten Hahnenſchrei. Holz haben wir noch im Vorrat, rücken wir zuſammen am Ofen und ſtieren wir in die rote Glut, an der wir uns auch die Zigarren anzünden können. Ich ſage Ihnen, nichts geht beim Erzählen und Zuhören über den Platz am Herdfeuer.“
Die beiden alten Geſellen hockten denn auch vor der offenen Ofentür, und während hinter ihrem Rücken das armſelige Talgſtümpfchen immer mehr in ſich zuſammenſank, berichtete der Rektor weiter.
„Jenen Abend mußte ich alſo allein nach Göttingen zurückkehren, und es war ein trauriger Weg! Nicht, daß ich gegen Gott in meinem Herzen undankbar geweſen wäre für die beſſere Wendung in meinen eigenen Sachen. Hatte mir doch der Amtmann neben freier Station hundert Taler bar zugeſichert, eine damals für meine Verhältniſſe rieſige Summe; doch das trat jetzt zurück.
Der Herbſtſturm trieb mir einen Regenſchauer um den anderen in Geſicht und Nacken, zauſte die Erlen und Pappeln an der Leine gewaltig und umwirbelte mich mit den abgeriſſenen verwelkten Blättern. Dazu war es natürlich Stocknacht geworden, und mehr als einmal war ich in Gefahr, auf dem glitſcherigen Wege auszugleiten. Aber obwohl ich, auf meiner Bude angekommen, bis auf die Haut naß war, ſo hatte ich doch des Wetters nicht acht. In meinem Herzen tobte der Sturm noch grimmiger, und ich glaube wohl, daß mir damals auch die Wangen nicht allein vom Regen naß waren. Ich ſah immer noch die ſchöne ſtolze Ottilie Diederichs vor mir, wie ſie ſo ganz und gar zuſammenbrach und ſich dann wieder aufrichtete. Und dazu hatte mich mein Freund Friedrich von Schlabrendorf bis an die Pforte begleitet und Abſchied von mir genommen!“
Der Rektor ſtocherte gedankenvoll mit dem Feuerhaken in den glühenden Kohlen, und doch trieb ihn Xylander jetzt nicht zum Fortfahren, zum Accelerieren an.
„Ich habe ihn nicht wiedergeſehen ſeit jener Nacht. Er hatte mit einem Reitpferde des Amtmanns Bovenden verlaſſen, bald nach mir.“
„Und Roß und Reiter ſah ich niemals wieder“, zitierte der Schauſpieler gefühlvoll.
„O doch, das Roß wenigſtens. Andern Tags gegen Abend, als ich ſchon meine neue Stellung angetreten hatte, brachte es der Fährknecht aus Lippoldsberg zurück. Schlabrendorf war über Adelebſen ins Heſſiſche bis an die Weſer geritten, hatte ſich in Lippoldsberg überſetzen laſſen und dort nach dem Wege auf Karlshafen zu gefragt. Und gut war’s geweſen!
Zwei Polizeiſoldaten hatten im Dunkeln bis zum grauenden Morgen in Schlabrendorfs Bude zugebracht, wo ſie durch den Angſtſchrei der Wirtin, die mit dem Kaffeebrette vor ihnen erſchien, jeder aus einer Sofaecke aus ihrem geſunden Schlafe aufgeſcheucht wurden und das leere Bett betrachteten.“
„Und haben Sie wieder etwas von Ihrem Freunde gehört?“
„Ja. Etwa ein Jahr nach dieſen Ereigniſſen erhielt der Amtmann durch den deutſchen Konſul in Villa Rica in Minas Geraes einen Brief, in dem Schlabrendorf ſeine Erlebniſſe mitteilte. Einem Verwandten hatte er ſein Gut in der Altmark gegen eine geringe Summe verpfändet. Dieſes Geld aber hatte er durch einen ſchurkiſchen Yankee in der Zeit von ein paar Monaten vollſtändig eingebüßt, denn zu einem Geſchäftsmann war er nicht gemacht. Auf die Straße geworfen, hatte er zuerſt bei der Deutſchen Geſellſchaft in New York eine Anſtellung als Bureaudiener gefunden – Friedrich von Schlabrendorf! – war dann zum Straßenkolporteur einer Zeitung aufgerückt, hatte ſpäter deutſche Volkskalender und engliſche Traktätchen den Miſſiſſippi aufwärts verbreitet und dabei für einen Brooklyner Millionär ſeltene Käfer und Schmetterlinge für deſſen Sammlungen gefangen und präpariert. Dieſe letztere Beſchäftigung, die ihren Mann ernährte, hatte ihn nach Braſilien geführt. Er ließ durchblicken, daß er auch als Goldgräber ſein Glück verſuchen würde.
Geſchrieben hat er nach dieſem nie wieder, wohl aber erhielt Fräulein Ottilie Diederichs, längere Zeit nach dem Tode ihres Vaters, ein Kiſtchen, das eine eigentümliche koſtbare Porzellantaſſe, grün gemalt und mit ſehr ſtarken Goldarabesken geſchmückt, enthielt. Es war in Rio de Janeiro auf die Poſt gegeben und hatte von Braſilien her den Weg über das große Waſſer gefunden. Der Hofmarſchall Dom Pedros des Zweiten hatte ein Begleitſchreiben dazugelegt und gemeldet, daß Fredrego von Schlabrendorf, der Vorleſer Seiner Majeſtät, am Fieber des Todes verblichen ſei und die beifolgende Taſſe, ein Geſchenk des jugendlichen Kaiſers, dem Fräulein Ottilie Diederichs in Bovenden vermache.
In Bovenden war nun Fräulein Ottilie allerdings nicht mehr, das Kiſtchen hatte ihr nach Hannover nachgeſchickt werden müſſen, wo ſie bei ihrer nächſtälteſten Schweſter, die dort verheiratet war, wohnte. Das Gut war in andere Hände übergegangen, die beiden jüngſten Söhne beſuchten in Hannover die Schule.
Ich hatte ſeit etwa einem Jahre meine jetzige Stellung inne und war ebenſo lange auch verheiratet. Da erhielt ich zu meinem größten Staunen, aber auch zu meiner größten Freude eines Tages einen Brief aus Hannover, durch den Fräulein Ottilie anfragte, ob ſie uns beſuchen dürfe. Wie oft hatte ich meiner jungen Frau von meiner Studenten- und Hauslehrerzeit vorgeſchwärmt! Ich glaube, ſie kannte die alten Freunde ebenſo gut wie ich und war nun ebenfalls erfreut, Fräulein Ottilie Diederichs bei uns begrüßen zu können. Vor allem aber hoffte ich, daß letzterer der Aufenthalt in unſerm Heim, trotz aller Einfachheit, von Segen werden würde. Ich ſagte Ihnen, daß ich über ihre Anmeldung erſtaunt geweſen, denn ſeit der Abreiſe Schlabrendorfs hatte ſie ihren Schmerz ſtill in ihrem Buſen getragen, hatte niemandem geklagt, aber auch niemandem vertraut, was ſie drückte, wie ich es ja von ihr auch nicht anders erwartet hatte.
Meine Hoffnung täuſchte mich nicht. Mein Erſtgeborner, dem ja dann eine ganze Serie gefolgt iſt, war damals einige Wochen alt. Fräulein Ottilie hob ihn aus der Taufe, und ich beſtimmte, daß er Friedrich heißen müſſe. Er brachte es wirklich fertig, daß meine Frau auf unſern Gaſt ganz verteufelt eiferſüchtig wurde. Den ganzen Tag gab ſich Ottilie mit dem Jungen ab und ſang ihm mit ihrer wundervollen Altſtimme die niedlichſten Wiegen- und Kinderlieder vor, und das Kind hing an ihr mehr als an der Mutter. Von Schlabrendorf ſprach ſie in der Zeit ihres Aufenthaltes nie.
Eines Abends aber – meine Frau war nicht wohl und hatte ſich früher als gewöhnlich zur Ruhe begeben – trat ſie in meine Stube. ‚Herr Bartels, legen Sie einmal Ihre Feder in das Exercitium da, ich möchte gern mit Ihnen ein Wort ſprechen.‘ Ich ſetzte bereitwilligſt die Lampe von meinem Pulte auf den Sofatiſch, und ſie ſtellte ein Käſtchen vor ſich hin. ‚Iſt Ihre Pfeife ausgegangen, ſo ſtopfen Sie ſich erſt eine neue.‘ Ich tat ganz nach ihrem Geheiß. Und als ich nun in der Erwartung der Dinge ihr gegenüber ſaß, öffnete ſie das Käſtchen, entnahm ihr die ſchon erwähnte grüne Taſſe und legte das Schreiben des Braſilianers daneben. ‚Leſen Sie das.‘
„Auf dieſe Weiſe erſt erfuhr ich, was ich Ihnen von Schlabrendorfs Ende erzählte. Ich muß geſtehen, daß mir die Tränen die Buchſtaben vor meinen Augen verſchwimmen ließen. ‚O Gott, iſt es denn möglich!‘, rief ich erſchüttert, ‚dieſer herrliche Junge?‘ Sie aber ſtand auf, holte einen Fidibus aus dem Becher, brannte ihn über der Lampe an und hielt ihn mir auf den von neuem erloſchenen Pfeifenkopf. ‚Nun ſehen Sie ſich die Taſſe an und rauchen Sie ſich in Ihren Gleichmut zurück. Ich habe ihn und Ihren Rat groß nötig, deſſentwegen ich hierher gekommen bin.‘
Bis zu dieſer Stunde hatte Fräulein Diederichs meine volle Achtung und Verehrung genoſſen, von da an aber hatte ich Reſpekt vor ihr!“
Der Rektor ſchob wieder einige Buchenſcheite in den Ofen, ſchürte die Glut an und erzählte unaufgefordert weiter.
„Als ſie mir anſah, daß ich mich einigermaßen gefaßt hatte, ſagte ſie ganz einfach: ‚Herr Bartels, ich möchte heiraten, und Sie ſollen mir dazu helfen.‘ Ich ſage Ihnen, die Pfeife rutſchte mir zwiſchen den Knien durch, und mit meinem offenen Mundwerke muß ich einen furchtbar dämlichen Ölgötzen vorgeſtellt haben, denn ſelbſt in dieſem Augenblicke konnte ſie ein Lächeln nicht unterdrücken. ‚Und Sie erwarten von mir, daß ich Sie ernſt nehme?‘, ſchrie ich ſie mehr an, als daß ich ſprach, wie ſich’s einer Dame – und was für einer – gegenüber gehört. ‚Ernſt genommen ſein will mancher, der ſich ſelbſt nicht ernſt nimmt‘, gab ſie zurück. ‚Aber, bei dieſer Taſſe! Ich meine es ernſt. Tränen ſind genug auf ſie gefallen, und auch vorher habe ich mir faſt die Augen aus dem Kopfe geweint, das wiſſen Sie ſo gut wie ich. Aber ich müßte nicht Friedrich von Schlabrendorfs Braut geweſen ſein, wenn ich mir als alternde Jungfer nicht furchtbar überflüſſig in der Welt, um nicht zu ſagen, albern vorkäme. Dazu gehört mehr Talent, als ich zur Verfügung habe. Ehre meinen Geſchlechtsgenoſſinnen, die ledigen Standes doch den guten Hausgeiſt ſpielen und im Glücke anderer ihr eigenes finden können! Ich kann es nicht. Ich würde unrettbar in einem äſthetiſch-philoſophiſch-religiöſen Zirkel verſinken, wo man eine Taſſe Tee trinkt und dabei für die Tebus oder Tuareks Schnupftücher ſäumt, oder gar ein Tagebuch führen.‘“
„Das Weib ſoll ſich nicht ſelber angehören“, warf Herr Xylander dazwiſchen.
„‚Ich muß eine Stellung ausfüllen, wie er ſie mir zu geben vorhatte, und das iſt die Pietät, die ich, wie ich glaube, ihm ſchuldig bin. Ich will ehrlich ſein; ob ich je einen Mann lieben kann wie ihn, weiß ich nicht, aber glücklich machen, ſoweit wir armſeligen Menſchenkinder überhaupt das zu machen und zu ſein vermögen, möchte ich einen Mann, einen Mann, den ich achten muß, einen Mann, der in Bedrängnis iſt, einen Mann in ſchlechter Lage, einen hilfsbedürftigen ratloſen Witwer, mit einem Worte, einen ehrenwerten Mann, der eine Frau, wie es in den neumodiſchen Heiratsannoncen heißt, mit etwas Vermögen gebrauchen, aber auf Jugend und Schönheit weniger Anſprüche machen kann.‘ ‚Kein König brauchte ſich Ihrer zu ſchämen, Fräulein Ottilie. Und iſt das wirklich und wahrhaftig Ihr Ernſt?‘, rief ich aus. ‚Halten Sie mich für fähig, mit ſolchen Dingen Scherz zu treiben?‘, entgegnete ſie und legte Ober- und Untertaſſe aus Braſilien und das Schriftſtück des kaiſerlichen Hofmarſchalls in ihr Behältnis zurück. ‚Das Leben in meiner Schweſter Hauſe und in dem Ihrigen haben mir gezeigt, wohin ich gehöre.‘ ‚Nun‘, meinte ich, ‚einen ſolchen Mann, bei dem nicht eine, ſondern Ihre ſämtlichen geſtellten Bedingungen zutreffen, kenne ich: es iſt der Apotheker Tobias Kruſius allhier.‘
Da lachte ſie auch ſchon: ‚Dem Manne kann geholfen werden.
Ein oll Afteiker un Hawergrütte
ſind tau allen Dingen nütte.
O wie froh bin ich, daß Sie auf ihn verfallen ſind! Ihn gerade hatte ich im Auge! Trotz ſeiner fünfzig Jahre iſt er ein Kind, ein harmlos Kind, das ſich nicht zu helfen weiß.‘
Ich machte demnach meinen Freund Kruſius auf Fräulein Diederichs aufmerkſam und überließ ihm, alles Übrige, die weiße Weſte, den Frack und den Mut, zu beſorgen. Nach vierzehn Tagen war alles beſchafft, ſogar das letztere. Er faßte ſich ein Herz, und ſechs Wochen darauf war Hochzeit.“
Der fürſtliche Direktor drehte ſich nach dem Tiſche um. „Aus den Pullen iſt wahrhaftig der letzte Tropfen heraus! Noch nie iſt mir eine Leere vor meiner Szene widerlicher erſchienen. Ob wir den Menſchen, den Jean, noch einmal aus ſeinen Trinkgelderträumen reißen? Volle Berechtigung hätten wir dazu, trotz der Nummern ſechs- und achtundzwanzig nebenan.“
„Laſſen Sie ihn ruhen, Frau Kruſius nimmt Ihre Ovation als geſchehen an.“
„Dann weiter!“, ſeufzte Herr Theophil.
„Immer noch weiter? Wollen Sie aus der einen Nacht tauſend und eine machen? Es iſt nicht viel mehr zu berichten. Fräulein von Grumbkow reiſte richtig am andern Tage noch bei ihren Lebzeiten ab und machte Gebrauch von einer Freiſtelle in einem „adligen Fräuleinſtifte“, die ſchon lange vergebens auf ſie gewartet hatte. Der ſaubere Herr von Spitznas hütete einige Wochen das Zimmer, aber durch ſeine Philöſe ſprach es ſich unter der Hand aus, daß er zum Sitzen auf den harten Bänken der Hörſäle nicht disponiert ſei. Er betrat letztere überhaupt nicht wieder, da er die allgemeine Verachtung und ihre Folgen wohl fürchtete, ſondern wurde der Georgia Auguſta untreu. Herr Xylander, wir haben ja dieſes Purgament der Welt ſelbander hier im Letzten Seufzer heute, oder wie mir richtiger dünken will, geſtern abend vor uns gehabt und zwar als Vorgeſetzten des Apothekers Kruſius zu Angerbeck. Seine Stellung nützt er weidlich aus, ihn als Mann ſeiner Frau zu chikanieren, und Frau Ottilie macht ſich Gedanken darüber. Sie wollte ihren Tobias glücklich machen und hat das Gegenteil erreicht, indem ſie ihm das Scheuſal auf den Hals, wenn auch nicht gehetzt, ſo doch gezogen hat. Er hat es auch zuwege gebracht, daß die neue Eiſenbahn jetzt in einiger Entfernung an Angerbeck ohne Station vorüber führt.“
Der Rektor ſchwieg.
„Und – und Fräulein – Roſa Sonnenburg?“
„O von ihr hätte ich am liebſten geſchwiegen! Sie, das leichte lebensluſtige Ding, hatte der Menſch am unglücklichſten gemacht. Sie verließ, zu ihrer Ehre muß ich’s ſagen, aus eigenem Antriebe Bovenden, um die Gaſtfreundſchaft des Hauſes nicht mit Schande zu lohnen, und kehrte, ſoviel ich weiß, zu ihren Verwandten nach Schleſien zurück.“ – –
Es war gut, daß beim erſten Hahnenſchrei der Letzte Seufzer und die ganze fürſtliche Haupt- und Reſidenzſtadt noch ſchliefen. In einer närriſcheren Rolle hätten ſie ihren fürſtlichen Theaterdirektor noch nicht geſehen, als eben jetzt, wo er, ſeine beiden Stiefel in der Hand, in Strümpfen die Treppen hinabſchlich. – Der Rektor ſtreckte ſich behaglich knurrend auf ſeinem Lager in Nummer 27 aus. „Mögen ſie mich nun hier nehmen oder nicht! Ich glaube, von heute ab bin ich ein anderer Menſch.“
Einundzwanzigſtes Kapitel.
Frau Kruſius wird als Sachverſtändige vernommen und fühlt ſich in Angerbeck immer einſamer. Herr von Spitznas zeigt ſich beſorgt um das Wohl der Apotheke.
In dem Ringen zwiſchen Schnee und Regen bekam letzterer ſchließlich die Oberhand, bis auch er der Allſiegerin Sonne weichen mußte. Den Lerchen folgten die Schwalben und dem Frühlinge der Sommer, aber den von Frau Ottilie Kruſius erwarteten Sommergaſt, den Theaterdirektor Theophil Xylander, brachte er nicht mit nach Angerbeck.
Die in Lapidarſchrift gedruckten Büchſen-, Gläſer- und Krukenſchilder von Siegfried Buſchmann und Compagnie nahmen ſich in der Offizin des alten Apothekers recht deutlich und gleichförmig aus, die zierliche charaktervolle Eigenart, die ſonſt dem Raume an allen Ecken und Enden etwas Perſönliches, Liebevolles verliehen hatte, war ausgelöſcht. Zimmerleute und Tiſchler, Maler und Klempner waren in die Apotheke eingezogen, hatten wochenlang unter lautem Hämmern, Sägen und Hobeln und in Ölfarbengeruch, der die zarten Düfte der Offizin grob übertäubte, eine neue trockene Materialkammer, eine Treppe hoch, eingerichtet, und nur das alte ſtämmige Roßhaarſofa hatte, allen Einwendungen des Hausherrn zum Trotz, ſeinen alten Fleck behauptet.
Leider berechtigte auch das Befinden desſelben, des Hausherrn nämlich, Frau Ottiliens Renitenz und Unbotmäßigkeit zur Genüge. Tobias Kruſius hatte ſeit jenem verhängnisvollen Montage nach dem weißen Sonntage einen merklichen Stoß in ſeiner Geſundheit erlitten und einen Siebenmeilenſtiefelſchritt dem Ziele alles Fleiſches entgegen getan. Sein Aſthma nahm zu, und ſein Atem reichte nicht mehr aus, das Lötrohr bei den Analyſen und Lötungen zu bedienen. Nun, was ſeine alte Lunge nicht mehr vermochte, das übernahm die junge aufſtrebende Lebenskraft Franziskas.
Frau Ottilie mußte in ſtiller Wehmut lächeln, als ſie in ihrem türkiſchen Umſchlagetuche und in ihrem Sonntagshute auf die Hinterdiele der Apotheke trat und das junge Mädchen mit friſchroten Backen und glänzenden Augen am Werktiſche ſtehen ſah, eifrig an der Arbeit, Herrn Tobias die ziſchende Stichflamme entgegen zu blaſen.
Eigentlich war Frau Kruſius jetzt nicht in der Laune zu lächeln, und ihre Stirn war immer noch von ärgerlichen Fältchen durchzogen, als ſie das Türkiſche ablegte und zuſammenfaltete.
„Nun, Ottilie, wie war’s? Haben ſie dich auf dem Amtsgericht nicht gleich drin behalten in Numero ſicher?“, rief ihr ſcherzend ihr Mann entgegen.
„Wie du ſiehſt, nicht“, entgegnete ſie kurz, ſetzte ſich auf den Holzkaſten und hielt ihr Tuch und ihren Hut auf dem Schoße. „Aber jetzt habe ich mal die Leute wieder durchſchaut, warum gerade mich der Herr Amtsrichter als ſachverſtändige Frau und Zeugin vorgeladen hatte! Mich, die ich von Anfang an erſtaunt war über die Ehre, die man mir antat, aber durchaus nicht erfreut, wie ſich die Einfaltspinſel einbildeten! Bei der Frau Oberförſterin wollte natürlich keiner anſtoßen. Ich, die halbgebildete Frau, die ſelbſt kocht, wäſcht, plättet und auch wohl mal mit der Schanne eine Reiſe Waſſer über die Straße holt, wenn Not am Mann iſt, ich bin gut genug dazu! Dazu iſt keine ſo geeignet wie ich, und wenn ich auch ſonſt ſo tief unter ihnen ſtehe! Daß die Sache ſo ausfallen mußte, wie ſie ausgefallen iſt, hatte ſelbſtverſtändlich jeder vorausgeſehen bei der Wirtſchaft in der Oberförſterei.“
„Fränzchen, Poſaunenengel, ſpare deinen Atem! Du zerbläſt mir gar noch mein Platinaſchälchen, daß ich mir mit ſaurem Schweiße und dreißig Talern beſchafft habe!“
„Hahaha, ein Knallgebläſe bin ich denn doch noch nicht, Väterchen!“, lachte das Fränzchen, das Lötrohr abſetzend.
„Bitte, Kind, noch einen Augenblick die Reduktionsflamme!“
„Ja, Kruſius, du ſchaffſt dir viel unnützes Zeug an! Du befolgſt die chikanöſen Anordnungen des Herrn von Spitznas viel zu peinlich! Nicht einen Pfennig wird er dir darauf zu gute rechnen.“
„Teures Weib, das Geld iſt ſo beſſer angelegt, als auf mancher Bank. Wenn ich eher ſterben ſollte, als unſer Junge ſo weit iſt, die Apotheke zu übernehmen, ſo betrachte dieſe niedliche Urne als Fonds für meinen Leichenſtein, denn dir traue ich zu, daß du ein Übriges zu meinem Gedächtnis tun wirſt. Und bei Lebzeiten habe ich noch den Nießbrauch davon. Bei einer Entäußerung der Apotheke ſchließt du das Dingelchen natürlich aus dem Handel aus.“
„Schwatze doch nicht wieder ſolche Albernheiten, alter Miſelpeter“, ſagte Frau Ottilie unwillig, konnte aber nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten, und Franziska brach jäh mit dem Puſten ab, und auch in ihren hellen braunen Augen ſchimmerte es naß.
Herr Tobias aber lächelte gutmütig. „Grade fertig, Kind, ich danke. – Die alte Butterfrau aus Harderode hat alſo den Prozeß gewonnen, Frau?“
„Natürlich! Der große Buttertopf ſtand als corpus delicti auf dem grünen Tiſche, und der Amtsrichter forderte mich ſehr höflich auf, mein Urteil über die Güte oder Ungüte der Butter abzugeben. Ich ſah ja nun wohl, wie in dem Topfe die Maden kribbelten. ‚Mit Verlaub‘, ſagte ich, ‚um einen ſilbernen Löffel und einen Teller möchte ich bitten, da ich beides nicht von zu Hauſe mitgebracht habe, denn wenn man von Amtswegen einmal mein Gutachten verlangt, ſo muß ich der Sache auch auf den Grund gehen.‘
Die Herren lachten alle – außer dem Amtsrichter – ſchon wegen des ſilbernen Löffels – weißt du, Tobias –, aber die Frau Amtsrichter hatte doch nach einer Weile glücklich ſo ein altes Patengeſchenk aufgetrieben, das mir Drückeferken feierlichſt nebſt einem Teller überreichte. Aber die Blicke hätteſt du ſehen ſollen, Tobias, die mir die Frau Oberförſter Stukenberg zuwarf! Ein Glück war’s für mich, daß ſie ſo kurzſichtig wie ihr Mann weitſichtig iſt, denn ihre geſchleuderten Blitze verfingen und verzehrten ſich irgendwo in meiner Nähe, ohne mich zu treffen. Ich ließ mich auch nicht ſtören, nahm mit meinem Löffel ſo eine fingerdicke Schicht Butter mit dem Viehzeug ab, legte ſie auf den Tellerrand und fuhr abermals in den Topf, die zweite Lage zu holen. Na, das war denn die ſchönſte Butter. Ich nahm den Löffelſtiel, koſtete hier ein Stückchen und da ein Stückchen, roch auch daran, fand aber durchaus nichts Unrechtes mehr.“
„Und du haſt doch eine feine Naſe, Ottilie!“
„Ja, Gott ſei Dank, die habe ich. Ehe ich aber meine Meinung ausſprach, bat ich die Herren, feſtzuſtellen, wann die Butterfrau Kröſche aus Harderode die Butter in die Oberförſterei geliefert habe. Die Stukenberg wußte das nun nicht mehr, das Dienſtmädchen und die Kröſchen aber wußten es noch ganz genau und ſagten aus, daß es vor ſechs Wochen geweſen ſei. Die Frau Oberförſter hatte aber nicht bloß den Lieferungstermin, nein, auch die ganze Butter vergeſſen gehabt, wie das Mädchen bezeugen mußte und die Frau dann auch zugab. Na, es iſt ja im ganzen Neſte bekannt genug, wie es bei Stukenbergs hergeht. Ich war mir jetzt klar, was ich auf meinen Eid nehmen konnte. ‚Meine Herren‘, ſagte ich, ‚wenn die Butter nicht von der allerbeſten Sorte und vollkommen friſch geweſen wäre, ſo hätte ſie ſich unter ſolchen Umſtänden nicht halten können. Sie hat nur den einzigen Fehler, daß ſie nicht vor Fliegen in Acht genommen worden.‘
Die Stukenberg muß der Kröſchen die Butter und dem Gerichte die Koſten bezahlen, und die überglückliche alte Butterfrau hat mir unter Freudentränen, trotz meines Sträubens, die Hand geküßt, was mich denn auch wieder mit alledem ausſöhnt. Bei der Stukenberg bin ich natürlich in völlige Ungnade gefallen, was ja auch ſeine guten Seiten hat. Die geſellſchaftlichen Verpflichtungen wären wir mit der glücklich los, gerade wie mit der Frau Paſtorin Mönkemeyer.“
„Mit der Frau Paſtorin? Das iſt ja das erſte Wort, das ich davon höre!“
„Das habe ich dir nicht erzählt, weil du deinen Kopf mal wieder voll mit böhmiſchen Verben und perſiſcher Götterlehre hatteſt und doch nicht auf mich hörteſt. Aber über die hübſche weiße Decke, an der ich ſeit Wochen ſticke, haſt du dich wenigſtens gefreut.“
„Gewiß, gewiß! Kornähren und Weintrauben bilden die Kante, eine ſehr ſinnreiche Kante um einen Eßtiſch.“
„Eine noch ſinnreichere um den Tiſch des Herrn, denke ich. Es ſoll eine Altardecke werden. Siehſt du, Tobias, als ſich unſer Fränzchen da zum erſten Male für ſeinen Lebensweg mit Brot und Wein Stärkung erholte, da hätte die Decke eigentlich auf dem Altare liegen ſollen, aber die Frau Paſtorin hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht, weil die Sache nicht nach ihrem Geſchmacke war. Wir Frauen ließen uns auf ihre Anregung Muſter ſchicken, um das Paſſende in unſerm Kränzchen zu arbeiten. Es kam da ſo Verſchiedenes, uns allen aber gefiel die Ähren- und Weinkante am beſten, nur ihr nicht, denn ſie war ihr zu ‚realiſtiſch‘. Sie wollte durchaus eine Decke haben, die in den vier Ecken einen Löwen, Stier, Adler und Engel und in der Mitte einen Fiſch hatte. Was bedeutete es nur gleich –“
„Die Zeichen der vier Evangeliſten, Mutter“, gab Franziska dazu.
„Richtig, ſo war’s, Kind. Es freut mich, daß du ſo hübſch beim Unterrichte aufgepaßt und alles ſo gut behalten haſt.“
„Und der Fiſch hatte bei den erſten Chriſten eine heilige Bedeutung, da die Buchſtaben ſeines Namens in einer fremden Sprache – war es Griechiſch, Vater? – ihr Loſungswort angaben. Das habe ich aber wahrhaftig vergeſſen.“
„Nun, dabei braucht man ja dich nicht zu fragen, von wannen dir dieſe Wiſſenſchaft kommt!“
„Brav, Fränzchen!“, lachte Herr Kruſius. „Es iſt doch jammerſchade, daß wir nicht gründlicher Griechiſch zuſammen treiben konnten, das andere hätteſt du auch behalten.“ Und er ſetzte ihnen nochmals die Sache auseinander.
„Na, Mann, ich habe ja ſtille gehalten, und es wäre auch ganz ſchön geweſen, wenn ich der Frau Paſtorin Mönkemeyer gegenüber etwas weniger ignorant dageſtanden hätte. Aber wer kann denn von einem gewöhnlichen Menſchen erwarten, daß er ſich erſt den griechiſchen Spruch auslegt, wenn er zerſchlagenen Herzens an den Altar tritt, ſich eine Wegzehrung zu holen, die ihm hinweghelfen ſoll über die Trübſal und Verzweiflung, in die ihn ſeine eigene Unwürdigkeit zu ſtürzen droht? Brot und Wein ſind den Leuten doch verſtändlicher und ſtören ſie nicht in ihrer Andacht.“
„Ja, Ottilie, du haſt recht. Ihr habt alſo doch die realiſtiſche Decke gewählt?“
„Ich habe mich ſchließlich erboten, um den Streit aus der Welt zu ſchaffen, die Decke allein zu ſticken, aber die Frau Paſtorin guckt mich ſeitdem nicht mehr an. – Übrigens bringe ich dir noch eine Neuigkeit, Tobias, die dir ſehr nahe gehen wird. Als ich eben über den Markt gehe, winkt die Rektorin von ihrer Treppe mich lebhaft heran, zieht mich auf den Hausflur, umarmt mich mit Tränen – na, es waren Freuden-, nicht Schmerzenstränen – und teilt mir mit, ihr Mann habe ſoeben Nachricht erhalten, daß er nach Fürſtenberg verſetzt worden iſt. Und Karl, ihr Jüngſter, tanzt wie ein Indianer um uns herum und brüllt immer lauthals: ‚Hurra, wir ziehen im Möbelwagen fort!‘“
„Was du nicht ſagſt, Ottilie, Rektor Bartels fort!“
Frau Kruſius nickte gedankenvoll auf ihrem Holzkaſten und ſtrich mit der Hand ihr Türkiſches glatt. „Es wird einſamer um uns, Tobias. – Doch ein Gutes wird auch das für uns haben. Der Rektor muß unſern Jungen ins Haus nehmen, ſo können wir noch ein wenig hoffen, daß Fritz ſein Examen beſteht.“
Klinglingling tönte die Glocke der Haustür.
„Mann, das Geſchäft blüht! Ich aber will mich nun endlich abtakeln und nach dem Eſſen ſehen, und du, Franziska, ſammelſt ein Schüſſelchen Erdbeeren für den Vater zum Nachtiſch.“
„Pardon! Äh – äh –“, ſchnarrte es durch die nur angelehnte Mitteltür.
Herr Kruſius ſank leichenblaß auf ſeinen Stuhl zurück, Frau Ottilie dagegen ſprang wie von der Tarantel geſtochen von dem Holzkaſten in die Höhe, und Fränzchen drückte ſich ſcheu zur Hoftür hinaus.
„Oh, oh – äh, äh, – ich ſtöre doch nicht etwa? Sollte mir außerordentlich leid tun! Guten Morgen, meine Gnädige, guten Morgen, Herr Kruſius! Sie befinden ſich doch hoffentlich wohl – oder – äh – faſt will es mir ſcheinen, als ob ich – äh – das Gegenteil annehmen müßte? Sollte mir wahrhaftig ganz außerordentlich leid tun.“
Frau Ottilie hatte ſich ſchneller gefaßt, als ihr alter Tobias, obwohl es auch ihr diesmal keine geringe Anſtrengung koſtete. Sie trat neben ihn und umſchlang ihn mit ihrem Arme, wie eine Mutter ihr verſchüchtertes Kindlein hegt.
„Sie müſſen meinen Mann ſchon entſchuldigen, er leidet dann und wann an vorübergehender Schwäche, Herr Medizinalrat.“
„Äh – äh – Obermedizinalrat, meine Gnädige“, lächelte Herr von Spitznas, „doch unter alten Bekannten kommt ja darauf nichts an. Zum Glück alſo nur vorübergehende Schwäche?“
„Allerdings, ich fühle mich ſchon wieder wohl! Laß mich, Ottilie. Meinen beſten Glückwunſch, Herr Obermedizinalrat!“
Der Herr Obermedizinalrat ſchüttelte dem Apotheker biedermänniſch die Rechte. „Freut mich, freut mich wirklich außerordentlich. Auch Ihnen geht es gut, Madam?“
„Wie Sie ſehen, Herr von Spitznas, danke der Nachfrage. Aber dies iſt doch wohl nicht der geeignete Ort, den Herrn Obermedizinalrat zu empfangen –“
„O bitte, bitte, iſt ja ſehr nett hier! Äh – äh – wie ich ſehe, Lötrohranalyſe vorgenommen? Wohl gar einen Platinatiegel beſchafft, Herr Kruſius?“
„Herr Obermedizinalrat, Sie hatten ja ſo oft den Wunſch geäußert, daß ich glaubte –“
„Nun, nun, ich bitte nicht zu glauben, daß ich Sie zu ſo großen Ausgaben durchaus nötigen wollte. Äh – äh – gewiß nicht, iſt aber ſehr gut, werden noch manche Freude daran haben. Aber – wiſſen Sie, nun müſſen Sie ſich dazu auch die Werke von Berzelius, Harkort und Scheerer anſchaffen, um den rechten Nutzen daraus zu ziehen. Sie notieren ſich gewiß –“
„Gewiß, gewiß, Herr Obermedizinalrat, wenn Sie es wünſchen –“
„Ja, das wünſche ich allerdings zu Ihrer eigenen Freude“, fiel Herr von Spitznas ſanft lächelnd ein, während Frau Ottilie einen ſchweren Seufzer verſchluckte, ſich aber doch nicht verſagen konnte zu bemerken:
„Ich bitte noch einmal, Herr Obermedizinalrat, Sie bemühen ſich wohl gütigſt in die Offizin, in der auch das Sofa immer noch zu einem Schäferſtündchen winkt.“
Sie war den Herren vorangeſchritten und öffnete mit einladender Handbewegung die Offizin, um ſodann die bei ſolchen Reviſionen obligate Flaſche Rotwein aus dem Keller zu holen.
„Ei, ei, mein alter Freund, haben Sie wirklich Ihrer Frau Gemahlin mein Scherzwort ausgeplaudert? Äh – äh, laſſen Sie ja das Sofa auch fernerhin an ſeinem Orte, geben Sie ſich auf ihm der Ruhe hin, ſo oft Ihnen die Zeit ſolches erlaubt, Herr Kruſius. Ich bin heute ja leider ſelbſt Zeuge geweſen, daß Ihre Geſundheit – äh – äh – nicht mehr ganz ſo taktfeſt iſt. Und das bringt mich auf den eigentlichen Zweck meines heutigen Beſuches. – Nein, nein, ich will Sie heute nicht bemühen, mich durch die Offizin, das Laboratorium, die Kräuter-, Stoß- und Glaskammer zu führen! Es ſitzt ſich hier wirklich recht gut auf den Roßhaarkiſſen, und wir können in aller Ruhe von dem, was ich Ihnen ſagen wollte, plaudern. Sagen Sie mal, Herr Kruſius, hat ſich Ihr Sohn ſchon für einen Beruf entſchieden?“
Der alte Apotheker lächelte verlegen, denn heute wußte er wirklich nicht, was er aus dem außergewöhnlich freundlichen Benehmen ſeines Vorgeſetzten, den er ſonſt, wie der Star den Popanz, fürchtete, machen ſollte. Er wiegte den grauen Kopf hin und her.
„Hm, Herr Obermedizinalrat, Jugendtorheiten, haltloſe Hirngeſpinſte, poetiſche Phantaſtereien, brotloſe Künſte!“
„Die aber doch das Leben verſchönen, alter Freund! Sie wollen doch nicht an Ihrem Sohne die ideale Lebensanſchauung verdammen, die er ſicherlich von Ihnen geerbt hat, und der auch Sie bis ins Alter treu geblieben ſind! Laſſen Sie doch der Jugend das Vorrecht, das Leben in goldigem Lichte zu ſchauen.“
„O ja, das möchte ich ſchon, wenn nur der Bengel ſonſt ſeine Schuldigkeit täte! Er erklärt zwar, Apotheker werden zu wollen –“
„O meine werte Frau Kruſius“, rief Herr von Spitznas der Hausfrau entgegen, die ſoeben mit Flaſche und Gläſern in die Offizin eintrat, „vereinen ſich nicht in Ihrem Sohne in glücklichſter Weiſe Vater und Mutter, Idealismus und Praxis?“
„Poeſie und Proſa“, ſagte Frau Ottilie, den Präſentierteller feſt auf den Tiſch ſetzend, und wandte ſich ſofort wieder zum Gehen.
„O bitte, meine Gnädige, äh – äh – was ich heute Ihrem Herrn Gemahl mitteilen möchte, das können Sie – äh – es wäre mir wirklich ſehr lieb, wenn Sie ſich auch ein Gläschen einſchenkten!“
„Ich danke, ich trinke keinen Wein, außerdem ruft mich auch meine Pflicht in die Küche, ich möchte alſo um Entſchuldigung bitten.“
„Nein, nein, das kann ich heute nicht gelten laſſen. Ich will Sie nicht lange beläſtigen; Sie ſehen, mein Wagen wartet draußen, und ich möchte bald weiter fahren. Neulich habe ich lebhaft Ihrer gedacht –“
„Sehr ſchmeichelhaft.“
„O Madam, ſpotten Sie nicht! – Und meine heutigen Beobachtungen paſſen – leider! – trefflich zu meinen Gedanken. Ihr Sohn hat alſo den lobenswerten Entſchluß gefaßt, Apotheker zu werden. Da finde ich es ſehr natürlich, wenn Sie – äh, äh, vielleicht auch nur im ſtillen, den Wunſch hegen, ihn dermaleinſt hier in Ihrem ſo gemütlichen und reizenden Heim als Ihren Nachfolger zu wiſſen. Sie hängen doch, wie ich glaube beobachtet zu haben, mit ganzer Seele an der Apotheke zu Angerbeck, und es ruht wohl auch ein großer Segen auf dem Erbe der Väter. Wie? Habe ich nicht recht, Frau Kruſius?“
„Ach, Herr Obermedizinalrat, das iſt alles recht gut geſagt und vielleicht – auch gemeint. Aber Sie haben ſich ſelbſt überzeugen müſſen, daß mein Mann ſich eher Ruhe gönnen muß, als bis unſer Junge ſo weit iſt, die Apotheke übernehmen zu können.“
„Gewiß, gewiß, meine Verehrteſte, Ruhe muß ſich der Herr Gemahl gönnen, falls er anders die Freude erleben will, ſein hübſches Anweſen in den Händen ſeines Sohnes zu ſehen. Und das iſt’s nun endlich, worauf ich zukommen wollte. Ruhe gönnen müſſen Sie ſich, Herr Kruſius, aber ſich deshalb noch nicht zur Ruhe ſetzen! Das hielten Sie auch gar nicht aus, wie ich Sie kenne.“
„Und das könnte ich auch einfach nicht, Herr Obermedizinalrat. Mein Geſchäft wirft, wenn auch wenig, doch immer noch genug ab, meinen Hausſtand und die Ausbildung meines Sohnes beſtreiten zu können. Ein entſprechendes Kapital wird mir niemand für die Apotheke zu Angerbeck geben wollen.“
„Zu Tode rackern dürfen Sie ſich erſt recht nicht, dafür gibt Ihnen erſt recht niemand etwas. Drum mache ich Ihnen den Vorſchlag: Halten Sie ſich einen Proviſor.“
Frau Ottilie ſtand auf und trat an das Pult ihres Mannes. „Da Sie mich einmal zu Ihrer geſchäftlichen Beratung hinzugezogen haben, ſo erlaube ich mir, Ihnen dieſes Journal vor die Augen zu halten und Sie zu fragen, wie man von ſechs bis ſieben oder acht Rezepten, auf den Tag gerechnet, ſich einen Proviſor halten kann.“
„Weiß ſchon, meine verehrte Frau Kruſius, daß die Rezeptur nicht übermäßig lebhaft iſt –“
„Nein, im Gegenteil, Sie wiſſen, daß ſie übermäßig ſtill iſt!“
„Aber – äh, äh – ich bin zufällig, ganz zufällig in der glücklichen Lage, Ihnen einen jungen Mann zuweiſen zu können, deſſen Anſprüche ſo beſcheiden ſind, daß es Ihnen nicht allzu ſchwer fallen wird, ſich dieſe, wie ich leider aufs neue betonen muß, unbedingt nötige Hilfe zu nehmen. Wenn Sie auch warteten, bis Ihr Sohn die Schule abſolviert hat, ſo würden Sie gerade ihn doch nicht als Lehrling annehmen wollen, denn erſtens wäre das keine Erleichterung für Sie, und zweitens – na, wie ſagt Schiller, gnädige Frau? Der Mann muß hinaus! Es bietet ſich Ihnen eine Gelegenheit, Herr Kruſius, ſich Ihren Lebensabend zu erheitern und zu verlängern, die Sie ſich nicht entgehen laſſen dürfen.“
Über des alten Tobias ehrliches Geſicht ging ein kleines Leuchten. „Ach, Herr Obermedizinalrat, für mich dürfte ich’s nicht wagen, aber in Rückſicht auf meine Familie wäre es doch vielleicht das beſte, auf Ihren gütigen Vorſchlag einzugehen. Wenn ich nur ein bißchen mehr Einnahme hätte!“
Herr von Spitznas klopfte ihm ſehr kordial auf die Schulter. „Mein lieber alter Freund! Es iſt nicht vielleicht, nein, es iſt beſtimmt das beſte, was Sie tun können. Sollte es Ihnen zeitweilig wirklich ein wenig knapp in der Kaſſe ausſehen, ſo rechnen Sie auf meine perſönliche Hilfe! Man iſt ja“, – hier traf ein verbindlicher Seitenblick Frau Ottilies – „gottlob in der Lage.“
Frau Ottilie zuckte es wohl in der Hand, wie es ihr einſt – nach dem Bericht des Rektor Bartels – in Bovenden gezuckt haben mochte, aber ſie war ihr jetzt gebunden, dieſem perfiden Schurken gegenüber, dem Vorgeſetzten ihres ahnungsloſen Mannes. Und ſo beſchränkte ſie ſich denn auf den allgemein üblichen geſellſchaftlichen Ton, ohne jedweden Knalleffekt:
„Die jungen Herren von heute ſind anſpruchsvoller, als mein beſcheidener Mann je geweſen iſt, Herr Obermedizinalrat. Das müßte ja eine ganz beſondere Ausnahme ſein –“
„Iſt es auch, iſt es auch!“, eiferte der Reviſor, ganz hitzig in die Höhe fahrend, ſetzte ſich aber wieder langſam in die Roßhaarkiſſen zurück. „Das heißt – äh – äh, der junge Mann, den ich im Auge habe, hat – äh, äh – ſo – ſo mancherlei Verpflichtungen gegen mich, äh – daß es nichts als eine – eine Art – äh – Gegenleiſtung, wollen wir mal ſagen, für mich, verſtehen Sie, für mich ſein würde, wenn er Ihnen – äh ſeine Dienſte – einige Jährchen wenigſtens – leiht, bis Sie mit der Ausbildung Ihres Sohnes über den Berg ſind.“
Die Haustürklingel rief den Apotheker an den Treſen, und während er den verlangten Zitwerſamen in einer Kruke mit Syrup verrührte, beugte ſich Herr von Spitznas zu Frau Ottilie hinüber: „Frau – Kruſius, Sie haben viel Einfluß auf Ihren Gatten. Sorgen Sie dafür, daß er mein Angebot annimmt! Bis jetzt habe ich als Freund und – alter Bekannter geſprochen, aber Sie werden auch verſtehen, daß ich als Beamter für die tadelloſe und ſachgemäße Verwaltung der mir unterſtellten Apotheken verantwortlich bin. Die Einſtellung eines Proviſors iſt meine conditio sine qua non.“
„Tobias, es muß gehen“, ſagte ſie darauf, ihren zurückkehrenden Mann trotz der Anweſenheit des Reviſors umarmend, und ihm in die Augen ſchauend, ſetzte ſie hinzu: „Wir wollen es mit Gottes Hilfe tun!“
In ihrer Betonung des Namens Gottes lag etwas, das dem Obermedizinalrat nicht gefiel, und ein Gefühl von Kälte kroch ihm trotz der gepolſterten Sofalehne den Rücken hinab. Er meiſterte aber ſeine Unbehaglichkeit und ergriff ſein Glas. „So wäre die Sache zu Ihrem Beſten abgemacht, Herr Kruſius. Laſſen Sie uns anſtoßen auf Ihr hoffentlich noch recht langes Wirken! Ihr Wohl eingeſchloſſen, meine Gnädige!“
Zweiundzwanzigſtes Kapitel.
Hundstagsferien. Der neue Stern glänzt zum andern Male am Dichterhimmel und verſchwindet in der Tiefe. Das ewig Weibliche. Herr Kruſius wird Prinzipal. Giftpflanzen.
Feriae caniculares! Geht uns Alten das Herz nicht auf bei dem Worte? Hundstagsfreiheit! Ungezählten jüngeren Generationen iſt von verſtändigen und erfahrenen Vätern und Müttern die Schulzeit als das heitere, durchſichtige Präludium einer ſchwierigen, verworrenen Fuge hingeſtellt worden, die ſich allgemach wieder in das Tempo grave eines Trauermarſches auflöſt. Den Jungen wäre ſolches Lob noch viel unverſtändlicher, als es ſowieſo ſchon iſt, hätte das Präludium nicht auch ſeine Pauſen. Hundstagsferien, drei Takte Pauſe für Manual und Pedal! Aufatmen! Freiheit, drei lange Wochen – unſere Geſchichte ſpielt ſich im vorigen Jahrhundert ab –, von denen nur die letzte Hälfte der letzten nicht ganz ungetrübt iſt, denn dann beginnt wieder das ängſtliche Zählen und Spannen, den rechten Einſatz nicht zu verpaſſen.
Und können wir Alten den Jungen eine Freude an den Ferien mißgönnen? Setzt ſich nicht auch in unſerer Erinnerung unſer vergangenes Leben in ſeiner ganzen Länge zuſammen aus den Augenblicken, den Stunden, den Tagen oder Wochen der Freiheit, der Ausflüge, der Reiſen, der Sommerfriſchen, gegen die das ewige Einerlei des Berufes und Amtes in ein Nichts zuſammenſchrumpft?
Können wir es Fritz Kruſius verdenken, daß er den drei mitreiſenden Angerbecker Philiſtern die halbe Ausſicht aus der gelben Poſtkutſche benahm, in der er an ſeinem Vaterhauſe vorüber ſeinen Einzug in Angerbeck hielt? Zuerſt zeigte ſich von ihm ſeine blaue, ſilberbeſtreifte Sekundanermütze, in der er diesmal erſcheinen konnte, denn er ſchwenkte ſie weit zum Fenſter des Wagens hinaus, und Vater Tobias erwiderte den Salut aus dem Fenſter ſeiner Offizin mit ſeinem rotbaumwollenen Sacktuche.
An der Poſt ſtanden Frau Kruſius und Franziska und nahmen den Herrn Gymnaſiaſten und ſeine Reiſetaſche in Empfang.
„Sieh nur, Fränzchen, der Junge iſt wahrhaftig in dem letzten Vierteljahre wieder um einen halben Kopf gewachſen!“, ſagte Frau Ottilie, als ſich Fritz beim Ausſteigen bückte, um ſeine Blauſilberne nicht am Verdecke des Wagens hängen zu laſſen.
Er hatte es wohl vernommen und richtete ſich ſofort darnach ein.
„Guten Abend, Mutter! Kreuzdonnerwetter, ich bin froh wie der ſelige Noah, aus dem Kaſten kriechen zu können und das ſtumpfſinnige Pecus campi hinter mir zu laſſen!“
Da ſtand er mit waagerecht ausgeſtreckten Armen, aber nicht etwa, um ſeine Mutter in ſie zu ſchließen. Nein, bewahre! Er ſtrich mit ihnen wie im Blindekuhſpiel ſuchend durch die Luft, über den Kopf Franziskas hinweg.
„Fränzchen, wo ſteckſt du denn zum Donnerwetter? Ach! Da unten biſt du?“
„Höre, mein Sohn, das Donnerwettern verbitte ich mir zunächſt allen Ernſtes! Die Jahre, in denen du ſtehſt, erklären zwar ſolche Flegeleien und Schülermucken, rechtfertigen ſie aber deshalb durchaus nicht. Merke dir das, und nun guten Abend, mein Junge!“
Alſo übernahm Frau Ottilie die Wucht der auf einmal wieder über ſie hereinbrechenden Erziehungsverantwortlichkeit.
Daß Fritzchen durch dieſe „Standpauke“ auf offener Straße, vor dem Poſthauſe, merklich geknickt wurde, können wir nicht behaupten. Wenigſtens ließ ſeine Herablaſſung, mit der er Franziska die Hand und den Gruß: „Guten Abend, Kleine!“ hinunterbot, nicht darauf ſchließen, auch nicht, daß er ſich’s gern gefallen laſſen wollte, als ihm „die Kleine“ die Reiſetaſche zum Tragen abnahm.
Aber „die Alte, die ſich am beſten zum Gefangenentransporteur eignete“, wie Fritz ſtirnrunzelnd bei ſich und zum Glück für ſich nur dachte, kam wieder dazwiſchen.
„Das fehlte noch! Es müßte ſich ja hübſch machen, wenn das Mädchen in ſeinem hellen Tarlatanfähnchen dir großem Schlagetot deine große ſchwere Taſche nachſchleppte, in die du gewiß wieder allerhand Schwindel, nur keine Bücher gepfropft haſt! Abſichtlich habe ich Hannchen nicht mitgenommen, um bei dir den Größenwahn nicht noch größer zu ziehen, trag deine Taſche alſo gefälligſt ſelber, Herr Sohn!“
Fritz fügte ſich, wenn auch knurrend, in ſein Fatum. –
„Da, Tobias, bringe ich dir deinen hoffnungsvollen Sproſſen.“
„So, ſo. Na, guten Abend, mein Junge!“, rief’s hinter dem Rezeptiertiſche. „Ottilie, der Bengel iſt jetzt wahrhaftig ſo groß wie du! Alſo – was machen die Verba auf μι? Wie heißt euer Paradigma?“
„Τίϑημι, Vater!“
„Gut! Und habt ihr das Compoſitum ἀποτίϑημι auch ſchon gelernt?“
„O ja, Vater! Hinſetzen, ‑legen, ‑ſtellen.“
„Sehr gut!“
„Aber Tobias, der Junge hat Hunger, und mit deiner Etymologie haſt du noch keinen Menſchen ſatt gemacht!“
„Ruhig Blut, Frauchen! Der Menſch lebt nicht vom Brot allein! Wenn einer auf dies Schriftwort ſchwört, ſo biſt du es doch.“
„Aber von ſolch einem Jungen iſt es zu viel verlangt, daß er–“
„Im Augenblick! Du kannſt ihn immer noch früh genug zum Carnaliten erziehen. Alſo gut, hinſetzen – und was iſt demnach eine Apotheke?“
„Ein Ort, wo man – wo man –“
„Mann, um des Himmels willen! Wenn du dich nicht vor dem Jungen genierſt, ſo denke doch an das Fränzchen da! Du verfällſt wieder ganz in deinen alten Schmöker Cardilucius!“
„O durchaus nicht, liebe Ottilie. Junge, behandle die Wortbildung medial, um deiner Mutter gegenüber die Äſthetik nicht zu verletzen!“
Fritz verſtand. Er warf ſich lachend auf das Roßhaarkanapee, das immer noch ſeinen alten Platz hatte, und rief: „Eine Apotheke, Mutter, iſt ein Ort, wo man ſich ſetzen kann!“
Herr Kruſius aber klopfte ſeiner Frau auf die Schulter und ſchmunzelte: „Kuckſte, Frau? Der wird erſt noch! Ich wollte ihm nur auf praktiſche Weiſe auf den Zahn fühlen, ob wir etwa das Schul- und Penſionsgeld gänzlich zum Fenſter hinausgeworfen haben oder nicht. Aber ich kann dir zur Beruhigung konſtatieren, daß er das Seinige vor ſich gebracht hat, und nun nimm du ihn hin.“
„Jawohl, nachdem du ihn mit deinen Elogen noch blaſierter gemacht haſt, ſoll ich ihn nehmen! Und ein Wunder iſt’s nicht, wenn ich keinen Eindruck mehr auf ihn mache.“
„Ottilie, ich bitte dich! Auf wen machteſt du keinen Eindruck! Zumal auf welchen Jungen mit deinem Landſchinken und der deliziöſen Mettwurſt!“ – –
Fritz Kruſius ſtand in der erſten Ferienwoche, der ſchönſten, die auch die Freiheit noch nicht zur Gewohnheit gemacht hatte und ihn jede Stunde mit Bewußtſein genießen ließ. Frau Ottilie hatte auch Franziska für heute von den häuslichen Pflichten entbunden, und ſo zogen die beiden wie einſt als Kinder in den hellen Sommertag hinein, die Höhe des Stadtberges hinauf, vorüber an der Deipenkuhle, durch den Schatten der Eichen und der Manen des erhängten Schneiders Wehrbein, in die lichtgrünen Buchenwälder, immer höher hinauf, den weißgrau ſchimmernden Kalkfelſen entgegen, die gleich den Trümmermauern einer gewaltigen Rieſenburg die letzte Höhe des heimatlichen Geſichtskreiſes krönten, ſieben an der Zahl.
Blauſchwarze, mit zartem Hauch bereifte Heidelbeeren luden zum Naſchen ein und gaben Fritz Anlaß, ſich in Ritterlichkeit gegen ſeine Dame zu üben, indem er ihr die ſchönſten auf einem breiten Blatte bot. Ja, wo hatte er denn eigentlich früher ſeine Augen gehabt? Im ſtillen gab er jetzt ſeinem Freunde und Gönner Tränenreich recht, hielt ſich für einen entſetzlichen Stockfiſch und das Mädchen für – rieſig hübſch.
Fränzchen trug nicht mehr die grünlackierte Blechtrommel am geſtickten Bande, dafür aber ein zierliches Handkörbchen, in das ihnen Frau Ottilie das Vesperbrot gepackt hatte. Das ſollte aber erſt droben auf der ſteinernen Kanzel in Angriff genommen werden, ſo oft auch Fritz begehrliche Blicke darauf richtete.
Dieſer behielt dafür aber ebenfalls das Beſte in petto und schlug heimlich an ſeine mit zwei Pappdeckeln geſchirmte Bruſt, zwiſchen denen er dieſes Beſte in der Taſche geborgen trug und mit ſeinem Herzblut wärmte! Dort oben ſollte das Mädchen ſchon Augen, Ohren und Mund – das exquiſit ſüße Mäulchen aufſperren, das war ihm gewiß!
„Du, Franziska, das war doch eigentlich rieſig nett von meinem Alten, wie er mich geſtern abend empfing! Das hat mir effektiv imponiert! Mit dem läßt ſich überhaupt beſſer kramen, als mit der Alten, meinſt du nicht auch?“
„Ich meine, Fritz, daß du nicht ſo ſprechen darfſt, daß ſich das ein Kind überhaupt nicht herausnehmen darf, ſo von ſeinen Eltern zu ſprechen!“
„Ein Kind! Ein Kind! Ich merke, du tuteſt auch ſchon ganz mit meiner Alten in ein Horn! Mein Alter behandelt mich eben nicht mehr als ein Kind, und das empfinde ich mit Genugtuung. Gerade das hat mich quasi gerührt von ihm. Im erſten Augenblicke war ich übrigens beinahe erſchrocken über ſein Ausſehen. Du, iſt der Mann gealtert! Er hat, er hat – wie wir Lateiner ſagen – faſt eine facies Hippocratica, ein hippokratiſches Geſicht aufgeſetzt. Euch mag das wohl nicht ſo auffallen, weil ihr ihn alle Tage ſeht, aber mich, wie geſagt, hat es verflucht ſonderbar berührt, und nur ſeine noble Art, mich nach Gebühr zu nehmen, verwiſchte den wenig angenehmen Eindruck etwas.“
Da ſaß das Mädchen auf dem Stumpf einer gefällten Buche und ſchlug die Hände vor das Geſicht und ſchluchzte.
„O Gott, Fritz, mich berührt es ebenfalls ſehr ſonderbar, was und wie du es ſagſt! Deine gelehrten Ausdrücke verſtehe ich nicht, wenn ich auch das Meinige bei Herrn Rektor Bartels gelernt habe, der ja nun auch fort iſt! Ich weiß nur die lateiniſchen Namen der Kräuter auf den Kaſten in der Materialkammer. Aber daß du ſehr, ſehr leichtſinnig und lieblos ſprichſt, das verſtehe ich doch! Meinſt du, uns wäre es entgangen, wie der Vater verfallen iſt ſeit ein paar Jahren ſchon! Seit der Herr Reviſor aus der Reſidenz da war, hat es ſchon angefangen! Meinſt du, wir hätten ſein liebes altes gutes Geſicht nicht von Tag zu Tag mit Sorgen welken ſehen, wenn wir auch kein lateiniſches Wort dafür wiſſen? Meinſt du, dem Vater wäre die Ruhe in ſeinem Alter nicht groß nötig, die er ſich nur nicht gönnt, daß du auf der lateiniſchen Schule etwas Tüchtiges lernen kannſt? Und ſo dankſt du ihm ſeine Güte und Aufopferung! Fritz, ich ſage dir“, – das Fränzchen ſprang auf mit erhobener Rechten – „du haſt nichts dazu getan, daß der Vater nicht ſchon da unten auf Sankt Severin ſchläft! Aber die Mutter! Hätte ſie in ihrer Fürſorge nicht die Klagebriefe über dich, die von der Schule und aus der Penſion ſo oft gekommen ſind, vor ihm verborgen gehalten und ihren Kummer allein getragen, höchſtens einmal mir ihr Herz ausgeſchüttet, wer weiß! Der Empfang geſtern abend wäre wenigſtens ganz anders ausgefallen, darauf kannſt du dich verlaſſen. Der Vater hätte dich nach Gebühr genommen und ein anderes Geſicht aufgeſetzt, als – als das, dem du ſoeben einen ſo häßlichen lateiniſchen Namen gabeſt! Auf den Knien ſollteſt du es deiner Mutter danken, daß ſie dich nur auf ihre ſpaßige Art angefaßt hat, die ſie doch erſt hinter ihrem Kummer und Herzeleid hervorſuchen mußte!“
Da ſtand nun der große Junge feuerrot im Geſicht, und es war ihm ſo heiß um den Kopf, daß er die Blauſilberne abnahm und ſich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr.
„Hm, hm, Franziska, Fränzchen – Lork, du haſt eine verdammt gute Schule gehabt, einem den Standpunkt klar zu machen, das merke ich immer mehr. Nach deiner Weiſe magſt du auch nicht ſo ganz unrecht haben –“
„Was, Fritz? Nicht ſo ganz unrecht? Nein – ganz und gar, vollkommen recht habe ich!“
„Nun ja, Kröte, allerdings haſt du vollſtändig recht. Aber – ſo ganz einfach liegt die Sache doch nicht, wie du ſie eben auffaßt. Sitze du einmal in ſo einer harten, engen Schulbank, unmittelbar unter den unbarmherzig ſcharfen Argusaugen eines verknöcherten Paukers! Ja, die Erſten haben es beſſer, die ſitzen hinten und können mogeln nach Belieben! Aber ich, ganz vorn! Und nun hagelt es bei einem Proloco etwa hundertundfünfzig der verzwickteſten ſterilen griechiſchen Verbformen im Singular, Dual und Plural, im Aktiv, Medium oder Paſſiv, im Präſens, Perfekt, Futurum, Imperfekt, Plusquamperfekt und Aoriſt, im Indikativ, Konjunktiv oder Optativ über dein ſchutz- und faſſungsloſes Haupt herunter! Während man eine Form, nur eine Form glücklich herausgewürgt und zu Papier gebracht hat, ſind einem die folgenden drei ſchon vollſtändig entgangen, und dann ſitzt man da mit einem dicken Kopfe! Sind da etwa zwanzig, dreißig, auch vierzig Böcke etwas Unnatürliches und Unerhörtes? O Fränzchen – Kleine, nur einmal mache das durch, und dein Prökel vergeht dir gründlich!“
„Fritz“, meinte das Mädchen im Weiterſteigen, doch etwas unſicher gemacht von der überzeugenden, den Stempel der Wahrheit an ſich tragenden Verzweiflung des Schülers, „können deine Lehrer mehr von dir verlangen, als was du mit ehrlichem Fleiße leiſten kannſt?“
„Sie können leider alles verlangen, das iſt ja das Leidweſen! Was ſich ſo ein Pedant in Dezennien eingepaukt hat, das erwartet er von uns erbarmungswürdigen Pennälern nach Semeſtern!“
„Aber es gibt doch gewiß auch Schüler unter ſo vielen, mit denen die Lehrer zufrieden ſein können“, wagte Franziska noch einmal ſchüchtern einzuwerfen.
„Streber, verdammte Streber und Speichellecker!“, rief mit dem Ausdruck des höchſten Ekels der Sekundaner, einen Augenblick verſchnaufend vom Klettern und von ſeiner Entrüſtung.
„Guck uns beide jetzt an, Mädchen, wie wir, eine Waſſermaus und eine Kröte, jetzo ſteigen frei nach Goethe dieſen ſteilen Berg hinan. Selbſt du beugſt dein ſchlankes Figürchen, um in die Höhe zu kommen, und tateſt doch eben noch ſo ſtolz, als hätteſt du ein Lineal verſchluckt! Mit krummem Rücken ſteigt ſich’s eben am leichteſten, das wiſſen alle Kriecher und Schmierer gar wohl. Aber abwarten, was aus ihnen wird! Alexander von Humboldt iſt von ſeinen Herren Lehrern für ſchwachſinnig gehalten worden, und Gottfried Bürger – er war ein Dichter, Franziska! –“
„O ich kenne ihn gar wohl, Fritz! ‚Lenore fuhr ums Morgenrot‘ und ‚Hoch klingt das Lied vom braven Mann‘ habe ich beim Herrn Rektor lernen müſſen.“
„Allerdings! Und ‚Frau Schnips‘, das dich der Rektor Bartels wohl nicht hat memorieren laſſen. Na, alſo der Dichter Gottfried Bürger hat die dritte lateiniſche – von griechiſch gar nicht zu reden – Konjugation nicht einmal kapieren können, die ich ſchon beim Rektor intus hatte! Und um noch einen Dichter zu nennen: Walter Scott, von dem ich ſchon viel geleſen habe – du, Ivanhoe müßteſt du unbedingt kennen –, iſt noch als Student in Edinburg ein Schafskopf – natürlich nach Anſicht der aufgeblaſenen Herren Profeſſoren – geweſen. – Weißt du, wer die ſchöne Chriſtusſtatue in der Angerbecker Kirche gemacht hat, ich meine das Original dazu natürlich?“
„Nun, Thorwaldſen, denke ich.“
„Und daran denkſt du recht. Aber das haſt du wohl nicht dabei gedacht, daß der Schöpfer dieſes Kunſtwerkes drei Jahre ſeiner Schulzeit in derſelben Klaſſe hat hocken müſſen! Ja, mein Kind, das ſind Tatſachen!“
Jetzt blieb Franziska aufatmend ſtehen und ſtemmte die Fäuſtchen in die Seiten.
„Um den erſten Schritt zu künftiger Größe zu machen, iſt alſo vor allem nötig, daß ein Bengel möglichſt dumm und faul iſt!“, ſpottete ſie.
„Kannſt du mir einen einzigen Primus omnium nennen, dem die Nachwelt Kränze flicht?“
„Nein, Fritz, dazu langt meine Gelehrſamkeit nicht aus. Es wird ſchon ſolche geben, du kennſt eben nur die Ausnahmen. Über andere Leute will ich mich mit dir auch nicht herumſtreiten, ich ſpreche bloß von dir und deinem beſonderen Falle. – Fritz!“, – hier trat ſie dicht vor ihn hin und blickte ihm tief in die Augen – „Fritz! Kannſt du deinen Leichtſinn vor deinen Eltern, nicht vor mir, verantworten? Denke dich mit deinen unreifen, kindiſchen, ja, kindiſchen Anſichten – das ſage ich dir, trotzdem ich jünger bin als du – denke dich am Sarge deines Vaters ſtehen! Und du ganz allein haſt das Glück und das Leben deines Vaters in der Hand! Müßteſt du da nicht vor Scham, Reue und Verzweiflung in die Erde ſinken!“
In die Erde ſank nun Fritz nicht, aber auf die Erde ſank er vor dieſem Worte, dieſem Tone und dieſem Blicke des reinen, jungen – Kindes! Sein auf den Sumpf des eigenen Unwertes gegründetes prunkhaftes Gebäude eitler Träumereien rutſchte ihm vor dieſem Wort und Blick wie ein Kartenhaus zuſammen.
Der große Junge lag auf dem Geſichte und heulte und ſchluchzte ſteinerweichend.
„O ihr habt es gut! Ihr habt es zehntauſendmal beſſer als ich, du und die Mutter“, – er ſagte wirklich Mutter –, „ihr habt immer eure Schuldigkeit an ihm getan und braucht euch keine Vorwürfe zu machen! Aber ich, aber ich!“ –
Das Mädchen hatte ſich neben ihn geſetzt und ſtreichelte nun ſeinen zerzauſten Haarbüſchel glatt. „O ich freue mich, Fritz, daß du doch noch Einſicht haſt und beſſer biſt, als ich zu hoffen wagte! Sieh, es iſt ja noch nicht zu ſpät! Paß auf, der Vater erholt ſich wieder, er lebt wieder recht auf, wenn du ihm Freude machſt. Willſt du mir’s verſprechen, Fritz, bloß mir?“
„Ja, Franziska! Dir verſpreche ich’s, ganz – ganz heilig! Und du ſollſt ſehen, o – ich ochſe!“
„Groß geſchrieben oder klein?“, lächelte ihn Fränzchen reizend an.
„Nimm beide Lesarten an“, lachte er ſchon wieder unter Tränen. „Aber, Franziska, wenn ich mein Wort ehrlich halte, da – da biſt du mir wohl auch wieder gut?“
„Ja, – dann will ich’s ſein“, antwortete ſie und ſchlug in die ihr treuherzig gebotene Rechte ein. „Doch nun komm, Fritz, du wollteſt mir ja noch ſo mancherlei zeigen!“
„Ach, Franziska, ich weiß nicht – faſt ſchäme ich mich jetzt – doch – nein, gar ſo klein ſollſt du von mir nicht denken! Geleiſtet habe ich manches, wovon du bisher nichts wiſſen konnteſt. Alſo vorwärts! –
Bald ſtanden ſie am Ziele ihrer Wanderung. Turmhoch ragten die rieſigen Steinblöcke in ihrer unmittelbaren Nähe neben ihnen aus dem kurzen Graswuchs empor, in ihrer teilweiſen Verwitterung die abenteuerlichſten Geſtalten bildend. Die Wärme der Sonne, die merklich von ihnen zurückgegeben wurde, machte die ſonſt recht bedrohlich thronenden Koloſſe faſt behaglich und lud zum Sitzen in einer der großen Niſchen am Fuße des nächſten Felſens ein. Franziska machte auch Miene, ſich auf einem Steinbrocken niederzulaſſen. Fritz aber wußte hier oben beſſer Beſcheid, er warf der Gefährtin ſchon wieder – einen mitleidigen Blick zu.
„Scheu in des Gebirges Klüften barg der Troglodyte ſich! Nein, Mädchen, zu dem, was ich vorhabe, paßt das Loch nicht. Gib mir die Hand und den Korb und ſieh nicht nach rechts und nach links. Sind wir ſo weit mit hungrigem Magen gekommen, ſo können wir noch einige Minuten länger warten, deſto beſſer wird’s uns ſchmecken!“
Trotz ihrer ängſtlichen Weigerung ließ ſich Franziska doch von ihrem Ritter vorwärts ziehen. Auf ſchmalem Felſengrat ging’s in die Höhe, und das Mädchen mußte wirklich einige Male die Augen ſchließen, um nicht vom Schwindel ergriffen zu werden.
„Fritz, Fritz! Wenn das die Mutter ſähe!“
„Dummes Zeug, auf den Bergen wohnt die Freiheit!“, rief der Junge, der in ſeinem alten Selbſtbewußtſein auch wieder beträchtlich geklettert war. „Bravo, Fränzchen! Hurra! Da wären wir! Nun mach die Augen auf und ſieh dich um!“
Zum Umſehen war nun allerdings der Ort angetan, und dem Fränzchen entfuhr ein Ausruf des Entzückens. Die beiden jungen Menſchenkinder ſtanden auf einer Warte, einem Raſenplatze in Geſtalt eines Dreiecks, das nach der linken Seite völlig offen war und einen Blick weit, weit hinaus ins Land bot, die rechte dagegen war von noch weit höheren Wänden ſchirmend umbaut. Am merkwürdigſten aber nahm ſich die dritte, am weiteſten über das Tal vorſpringende Seite dieſes Dreiecks aus. Hier lehnten ſich zwei gewaltige Felstürme in ihrem oberen Teile eng aneinander, unten einen Durchgang laſſend, durch den der friſche Wind pfiff. Fritz wies auf die Öffnung.
„Dort hindurch darfſt du jetzt noch nicht. Erſt nehmen wir hier auf dieſer großen Steinbank Platz und eſſen. Vacuus venter non studet libenter erſcheint mir richtiger als die gewöhnliche dumme Lesart, die ihre Richtigkeit allerdings nach dem Eſſen beibehält. Rücke heraus, wenn ich bitten darf! Wenn ſich Herz und Augen laben, will der Magen auch was haben. – Gerade ſo harmlos wie dieſe famoſe heimatliche Blutwurſt nimmt ſich hier im hellen Sonnenſcheine unſer Ruheplatz aus. Aber – ſchaudere nicht – in grauer Vorzeit brachte man dem Odin hier andere Speisopfer dar, – vom Blute gefangener und geſchlachteter Feinde troff dieſer Stein, den die alten Engern gerade recht dazu fanden, die in ihre Gewalt geratenen Franken zur höheren Ehre ihrer Götter abzumurkſen.“
Fränzchen ſchauderte aber doch und ſprang entſetzt auf, ihre Röckchen abklopfend von dem Mooſe, das ſolch grauſiger Dünger genährt.
„Mach keinen Blödſinn, Fränzchen, ſetz dich wieder auf den Opferaltar und iß ruhig deine geräucherte Rotwurſt. Ich will dir zu gefallen von meinem Programm ein Stück vorweg nehmen und die alten Greuelſzenen im Lichte der Poeſie verklären. Siehſt du, hier entnehme ich meinem Buſen ein Epos: Die Reiſe nach dem Ith. In freundſchaftlicher Erinnerung widmet dieſe Verſe ſeinem teuren Freunde Guſtav Tränenreich – der Verfaſſer.“
Fritz ſchlug mit flacher Hand auf das alſo lautende Titelblatt und ſah Franziska triumphierend an. „Der Verfaſſer, Franziska!“, wiederholte er mit erhobener Stimme.
„Ja, ich höre ſchon, der Verfaſſer“, ſagte das Mädchen und aß ruhig weiter, aber im Stehen.
„Und dabei ahnſt du nichts?“
„Ahnen? O Gott, Fritz, ſoll denn etwa noch Schrecklicheres hier paſſieren?“
„Paſſieren ſoll allerdings hier etwas! Etwas Erhabenes, Großartiges!“, rief der Schüler, ſprang auf und ſtellte ſich hoch auf den alten Opferſtein, öffnete ſein Manuſkript und begann mit ungeheurem Pathos: „Alſo, Franziska, jetzt höre und ſtaune! Zweiter Geſang, Vers ſiebenundfünfzig:
‚Freier hob ſich die Bruſt den Gefährten, das Herz ihnen pochte
Höher. Sie wußten ſich frei von allem Zwange der Pauker,
Die ſie ſo oft geknechtet, von denen ſie vieles erduldet!
Wahrlich, es wäre kein Wunder, wenn oft ein blühender Jüngling
Unterginge vor Gram ob viel erduldeten Jammers.
Doch von allen Laſten auf Erden trägt eines Schülers
Duldſames Herz die größten und bricht doch nimmer zuſammen!
Denn mit Phlegma und Ruhe, die einzigen Mittel der Rettung,
Sieht er verachtend herab auf die kleinliche Rache der Pauker.
Freilich bedarf es dazu auch mancher kleinen Zerſtreuung,
Die den Schüler heraus aus der Schule in höhere Sphären
Zieht, daß er nicht verkommt im ganz gewöhnlichen Leben.
So gewährte die Reiſe auch unſeren Freunden Erquickung.
Hoch entrückt den ſtetigen Qualen des dumpfen Werktags –‘
achte auf den ſchweren bezeichnenden Spondäus, Franziska! – ‚des dumpfen Werktags‘ –
‚ſtanden ſie nun, dem Himmel nahe, in ſchwindelnder Höhe.
Trotzig und dräuend, gewaltig, zerklüftet, umſtarrten ſie Felſen –‘
Iſt die Szenerie hier nicht aufs feinſte gemalt, Mädchen?
‚Von der Warte erſchloß ſich ihnen herrlicher Ausblick:
Über dem Tale zur Linken erſtreckte ſich breit das Odfeld. –‘
wieder ein breiter Spondäus –
‚Schon vor alter Zeit trug’s große Feld dieſen Namen.
Heidniſch iſt er ja auch und abzuleiten von Odin,
Dem unter heiligen Eichen hier Opfer dargebracht wurden. –‘
Ja, zum Donnerwetter, Mädchen, du hörſt wohl gar nicht zu? Laß doch jetzt die albernen Blumen in Ruhe!“
„O ſieh nur, Fritz, dieſen herrlichen Strauß! Orchis, rote Nelken und blauer Enzian, von dem Herr Rektor immer ſagte, daß er ſelten ſei! Du mußt ihm einige Exemplare mitnehmen mit einem ſchönen Gruß von mir. Was wird er Augen machen und ſich freuen!“
„Und zu den Verſen ſagſt du nichts?“
„Ja, Fritz, waren denn das Verſe? Sie reimten ſich doch nicht einmal.“
Der Scholar ſtieg mitleidig lächelnd von ſeinem Parnaß hernieder. „Zu hoch, zu hoch, ich hätte mir’s ſagen können! Da gibt doch Herr Tränenreich ein anderes Auditorium ab wie du!“
„Herr Tränenreich? Das iſt ja ein wunderlicher Name! Wer iſt denn das?“
„Ein Freund von mir und gebildeter Mann!“, antwortete Fritz mit Nachdruck.
„Und wer der Dichtkunſt Stimme nicht vernimmt,
iſt ein Barbar, er ſei auch, wer er ſei.“
Franziska hatte gar nicht Acht auf ſeine Worte, fühlte keine Zerknirſchung über ihre Verworfenheit, ſondern hielt die Hand über die Augen und blickte in die Ferne.
Fritz nahm noch einen Anlauf. „Alſo gereimte Verſe möchteſt du hören, Kleine?“
„Ach Fritz, ich möchte jetzt wirklich gar nichts hören, nur ſehen! Guck, was für ein ſpitzer Bergkegel ſich da über dem Walde in blauer Ferne erhebt! Er ſcheint die Ruinen einer Burg zu tragen!“
„Das iſt die Homburg, Mädchen. Einen Augenblick! Auch auf ſie habe ich die bezüglichen Verſe zur Hand! Ja ſo“, ſagte er für ſich, – „die Muſe ſchweigt! – Komm, Schloßprinzeſſin, jetzt will ich dir das Schönſte zeigen, was du hier zu ſehen bekommen kannſt, obwohl ich nach allem vorausſetzen darf, daß du auch dem nicht das nötige Verſtändnis entgegen zu bringen vermagſt. Schließ die Augen wieder und reich mir die Hand, mein Leben, komm auf mein Schloß mit mir! Nein, nein, du brauchſt keine Angſt zu haben, diesmal geht’s auf breitem Pfade, nur deine Überraſchung ſoll überwältigender werden! Immer die Augen zu!“
Ein Windſtoß fuhr ihnen entgegen, der des Mädchens leichten Strohhut ihr in den Nacken ſetzte und ihre Kleider flattern ließ, daß Fritz ſeiner ganzen Kraft bedurfte, ſeine ihm vertrauende Begleiterin vor- und aufwärts zu ziehen.
„Fritz, Fritz, wohin führſt du mich!“, rief Fränzchen zwiſchen Schrecken und Behagen. „Hu, das bläſt, als ſollte einem die Seele himmelan auf- und davonfliegen!“
„‚Nur durch das Morgentor des Schönen drangſt du in der Erkenntnis Land!‘ Noch drei Schritte, und nun – Augen auf!“
Das Fränzchen machte allerdings große Augen, denn unmittelbar ſtand es vor einer gähnenden Tiefe, in der die Kronen der hundertjährigen ſtolzen Buchen, auf die ſein Blick ſenkrecht hinabfiel, niedrigem Buſchwerk glichen.
„Was ſagſt du dazu, Kind?“
Das Kind ſagte vorläufig nichts dazu, ſondern drückte ſich einen Schritt rückwärts an die ſichere Wand der einen der beiden Felstürme, durch deren Zwiſchenraum ſie hierher gelangt waren. Dann entfuhr ihm ein Ausruf des Entzückens.
„O Fritz! Das iſt wunderbar ſchön! Kaum zum Anſehen iſt es. O dieſe ſchauerliche Tiefe, und doch – wie hoch noch bauen ſich die Felſen über uns auf!“
„Nicht wahr? So großartig hätte ich’s mir ſelbſt nicht gedacht!“
„Du? Ich denke, du kennſt dieſes Fleckchen hier?“
„Nun ja, eigentlich aber doch nicht ganz“, druckſte der große Junge, „ich will dir’s nur geſtehen. Wenn ich mit meinen Karnuten, wie ſich die A… – Mutter auszudrücken beliebt, hier war, fand ich immer die Courage nicht, bis ſoweit mitzugehen, und ſie haben mich deshalb ausgelacht. Aber heute, wo ich dir’s zeigen wollte, iſt es mir ganz leicht geworden!“
Sein Auge ſah nicht hinaus in die Ferne, ſondern hing mit Entzücken an des Mädchens zarter jugendlich ſchlanker Geſtalt, wie ſie ſich hell abhob von dem dunklen Felſentore.
„Fränzchen“, ſagte er leiſe, „du biſt eine richtige Schloßprinzeſſin! Ich glaube auch, daß Rektor Bartels recht behält, weißt du – das – ewig Weibliche. – Hier auf dieſen Felſen wenigſtens paßt es vortrefflich – und auch da unten vorhin.“
Das Mädchen wurde über und über rot. Schnell aber faßte es ſich und lachte: „Bei dieſem Felſenneſte will ich dir nicht widerſprechen, und das von da unten – nun, das muß ſich erſt ausweiſen! Deine Verſe zeigten ja noch keine Beſſerung! Und wie ſagteſt du doch, als ich ſie deshalb nicht leiden mochte? War’s nicht: Zu hoch, zu hoch? He?“
„Sticheln könnt ihr Frauenzimmer alle gut, das muß man euch laſſen! Aber du bringſt mich im rechten Augenblicke und am rechten Orte auf die Verſe zurück. Ich werde dich auch noch heben! Sieh hier die Buche an! In ihrem hohlen Stamme, der ſich wie eine Kanzel aus der Felswand herauslegt und über der Tiefe hängt wie ein Schwalbenneſt, ſtand auf unſerer beſungenen Reiſe mein Freund Püſter – er will Paſtor werden – und hielt dem Walde da unten eine Predigt. Ich ſchauderte, als ich’s von dort hinten durch das Felsloch mit anſehen und anhören mußte.
Jetzt ſtelle ich mich ſelbſt hinein!“
„Fritz! Um Gotteswillen! Das darfſt du nicht!“, rief das Mädchen angſtvoll und ſtreckte die Hände nach ihm aus. „Das darfſt du nicht! Der Baum iſt ja ganz morſch!“
„Unſinn! Seine Wurzeln ſind kerngeſund, wie könnte er ſich ſonſt da draußen an dem Aſte ſo ſchön belaubt haben. Laß mich los, Mädchen, ich ſtelle mich hinein! Das iſt das beſte Mittel, dich hier feſtzuhalten, denn du ſollſt jetzt weiter hören.“
Damit ſtand der Schlingel wahrhaftig auf ſeinem gefährlichen Rednerpult und zog von neuem ſein Bündel Manuſkripte aus der Rocktaſche.
„Da irrſt du ſehr, Fritz! Ich laufe allein hinunter, und ſollte ich Hals und Beine brechen! Dann holten ſie dich wenigſtens nicht allein mit zerſchmetterten Gliedern nach Hauſe. Komm, lieber, lieber Fritz, ſtelle dich wieder dahinten auf den Opferſtein, und ich will ſtill ſein wie ein Opferlamm. Dort lies mir vor, ſo lange du willſt! O Gott, wie kannſt du einem die Freude an dem Ausblick hier verderben!
Der Jüngling in Apoll aber war zu ſehr hingeriſſen und in Ekſtaſe, als daß er gemerkt hätte, welch eine beißende Kritik in ihren Worten lag. Er breitete die Arme weit aus über der grünenden, rauſchenden Tiefe, er gab nicht acht, wie ihm einige loſe Blätter ſeiner Dichtungen aus den Händen hinunterflatterten zu denen der Buchen im Tale.
„Wie tief liegt unter mir die Welt!
Kaum ſeh ich noch die Menſchlein unten wallen!
Wie trägt mich meine Kunſt, die höchſte unter allen,
So nahe an des Himmels Zelt!“
Mitten in ſeine Verzückung hinein aber rief Franziska: „‚So ruft von ſeines Turmes Dache der Schieferdecker!‘ Die Mutter zitiert das öfters. Übrigens mache ich dich darauf aufmerkſam, daß du jetzt mindeſtens die Hälfte deiner Papiere ſchon über den Wald da unten verſtreut haſt. Guck, da fliegen wieder zwei!“
„Was? – O – O – verdammte Geſchichte! Wahrhaftig, da unten! Es wirbelt alles durcheinander!“
„Kommſt du nun zurück auf den Opferſtein?“
„O verfluchtes Pech! Ja, ja, ich komme ſchon! Der ganze dritte und der halbe vierte Akt von Bertran de Born zum Teufel! Und die Zueignung, Mädchen, die Zueignung ebenfalls flöten!“
Aus der hohlen Buche Bauch war Fritz mit einem Satze; ſein koſtbares poetiſches Reſiduum war ſchon an ſeiner ſchmerzzerriſſenen Bruſt geborgen. „Meine Manuſkripte muß ich wieder haben! Ich muß ſie haben, ehe ſie der Wind verweht!“
Es hätte jetzt wirklich nicht viel gefehlt, ſo wäre der Poet den zwiſchen und in den Baumkronen tief zu ſeinen Füßen flatterhaft tanzenden und ſchaukelnden Ergüſſen ſeiner ſtillen Stunden nachgeflogen! Ohne Rückſicht auf ſeine Begleiterin wollte er durch das Windtor davon ſtürzen.
Da trat ihm dieſe in den Weg und verſperrte ihm ſo den Ausgang.
„Fritz, nimm Vernunft an! Ehe du da unten biſt, iſt doch das meiſte verloren. Und wenn du ſo ohne Beſinnung über die Felſen raſeſt, biſt auch du noch dazu verloren! Fritz, lieber Fritz! Sollte dir hier der liebe Gott nicht ein Zeichen gegeben haben, daß du die Dichterei aufgeben oder wenigſtens auf eine ſpätere Zeit verlegen ſollſt? Sich, ich habe ſo meine Gedanken dabei gehabt. Es mag ja alles recht ſchön und gut ſein, was du da auf deinen Papieren haſt; das, was du mir vorlaſeſt, konnte mir allerdings nicht gefallen. Aber ſag, wenn du all die Zeit und Mühe, die du auf die Verſe verwendet haſt, für die Schule gelernt hätteſt, würdeſt du da nicht wenigſtens zwanzig Fehler in deinen ſchlimmen Arbeiten, von denen du mir erzählt haſt, weniger gemacht haben und mit zu den guten Schülern gerechnet werden? Ich glaube doch, das iſt vorläufig die Hauptſache, wenn du dein mir feierlich gegebenes Verſprechen wirklich halten willſt. Später kannſt du ja noch genug dichten, und dann geht’s und wird’s auch beſſer; denk mal, wenn du erſt als Apotheker in der Roſenlaube im Garten ſitzen kannſt, mit der langen Pfeife, im Schlafrock, im Hauskäppchen, und ich –“
Hier wurde das Mädchen wieder einmal rot und brach ab. Fritz aber hatte über dem Geplauder ſeine fliegenden Blätter ganz vergeſſen. „Weiter, Fränzchen! Was wollteſt du noch ſagen, Prinzeſſin?“
„Ach, das gehörte ja nicht dazu, Fritz. Komm jetzt, einmal wollen wir uns die Ausſicht noch anſehen, dann aber müſſen wir fort und an den Heimweg denken.“
„Kleine, wenn du jetzt nicht fortfährſt in dem, was du ſagen wollteſt, ſo ſuche ich meine Blätter da unten doch noch zuſammen, und ſollte es bis morgen früh dauern!“
„Ach Fritz, ich wollte ſagen: ‚und – und – ich – dir dann eine Taſſe Kaffee herausbringe – und du – mir vorlieſt, was du geſchrieben haſt.‘ Na, ſiehſt du, das paßte ja nicht dazu.“
Der Schüler ſtieß einen Jauchzer aus, griff in ſeine Bruſttaſche, und die beiden Pappdeckel flogen mit ihrem ſämtlichen noch übrigen Inhalte in den Abgrund. – –
Gerade zur Abendbrotszeit kamen ſie nach Hauſe. Welch eine Überraſchung aber ſeiner heute noch wartete, hätte ſich Fritz nicht träumen laſſen! An der Seite ſeines Vaters ſaß ein neuer Tiſchgaſt, den Fritz nie und nimmermehr hier in Angerbeck erwartet hätte: Herr – Tränenreich, ſein Freund und gebildeter Mann! Hatte er ihn nicht vor zwei Stunden oben auf den Klippen erſt dem Fränzchen als Muſter hingeſtellt, wie mit Verſtändnis in die Tiefe einer – ſeiner Seele einzudringen ſei? –
Und doch! Einen ſcheußlich unangenehmen Stich empfand er beim plötzlichen Anblick deſſen, der ſo gar nicht, aber auch ganz und gar nicht in die Apotheke zu Angerbeck paßte, trotz ſeiner ihm ſo oft glänzend bewieſenen Freundſchaft und Opferwilligkeit.
Verwirrt und erſtaunt ſuchte er unwillkürlich auf dem Antlitze ſeiner Mutter nach einer Erklärung dieſes ſonderbaren Beſuches, fand indes dasſelbe ſo eben und glatt, wie eine nur von innen zu öffnende Tapetentür, ohne jede Handhabe.
Wohl aber hielt ihm Herr Tränenreich jetzt ſelbſt eine ſolche in Geſtalt ſeiner biederen Rechten entgegen, in die er nun doch einſchlagen mußte. Und Herr Tränenreich benahm ſich ſeinem Namen gegenüber parodoxer denn je, er lachte ſo vergnüglich, daß er den unangenehmen Beigeſchmack im Gefühle des Jünglings wie mit einer pikanten Sauce übergoß und für den Augenblick auch übertäubte.
„Herr Tränenreich!“
„Nicht wahr, mein junger Freund, das hätten Sie nicht erwartet, mich inmitten Ihrer väterlichen Burg und Ihres Ferienidylls auftauchen zu ſehen! Ah, Pardon! Hier darf ich wohl auch Fräulein Fran–zis–ka begrüßen?“
„Fräulein Zrovnal“, ſagte Frau Kruſius kurz und ſcharf. „Alſo unſern Sohn kennen Sie ſchon, Herr Tränenreich?“
„O gewiß, gewiß!“, verſicherte der Proviſor aus der fürſtlichen Hofapotheke, dabei aber Franziska unentwegt anſtarrend. „Ich habe mir ſchon oft das Vergnügen gemacht, den jungen Herrn auf unſern botaniſchen Exkurſionen an die ausgiebigſten Fundſtellen zu führen!“
„Nach Giftpflanzen?“
Fritz entfärbte ſich, und doch ward es ihm leichter ums Herz, er konnte freier atmen, wie nach einem die ſchwüle, ſtickige Luft reinigenden Donnerſchlage. Jetzt verſtand er ſeine kluge Mutter wieder, der auch dieſer gewandte Herr kein X für ein U vormachen konnte, und er triumphierte innerlich trotz ſeiner eigenen ihn niederdrückenden Scham, daß ihr ſcharfes Auge und ihre Menſchenkenntnis den Sieg davon getragen hatten.
Herr Tränenreich blieb aber äußerlich Herr der Lage. „Gewiß, gnädige Frau, iſt die Toxikologie einer der intereſſanteſten Zweige der ganzen pharmazeutiſchen Wiſſenſchaft, – nicht wahr, Herr Prinzipal?“
Fritz fühlte einen neuen Stich. Herr Tränenreich war alſo der neue Proviſor für die Apotheke zu Angerbeck und nicht bloß ein zufälliger, vorübergehender Beſucher!
Tobias Kruſius ſchmunzelte bei dieſer zum erſten Male in ſeinem ganzen langen Leben ihm geltenden Titulatur und warf ſeiner Ottilie einen kinderfrohen übermütigen Seitenblick aus ſeinen zuſammengekniffenen Äuglein zu.
„Allerdings, Herr Proviſor, und in der Beziehung wird Ihnen die Umgegend von Angerbeck eine ſelten ſchöne Ausbeute liefern –“
„Was? Seh’ ich recht? Haben Fräulein Fran–zis–ka –“
„Fräulein Zrovnal, muß ich bitten!“, ſagte Frau Kruſius jetzt ziemlich grob.
„Pardon! Haben gar Gentiana germanica, blauen Enzian, hier in Angerbeck gefunden! Oh, dürfte ich nicht um ein Sträußchen davon bitten?“
„Bedaure“, ſagte Franziska mit ſolcher Ruhe, daß ihre Pflegemutter lächeln mußte, „der Enzian iſt für meinen alten Herrn Rektor beſtimmt, wenn Sie aber mit einer Pechnelke fürlieb nehmen wollen –“
„Hahaha! Fräulein verſtehen allerliebſt zu ſcherzen! Danke ſehr!“
„Ja“, fuhr Herr Kruſius, der Prinzipal, fort, „ich werde Ihnen – ach ſo, beide können wir ja leider nicht zuſammen umherſchweifen –, ich werde Ihnen aber die Fundſtellen beſchreiben, wenn Sie in Ihrer Freizeit mit der Botaniſiertrommel losziehen wollen. Ja, als ich noch jünger war, ſtand ich morgens um drei Uhr auf und kam um ſieben ſchon reich beladen zum Kaffee heim. Denn zu dieſer Zeit hat der Apotheker immer die meiſte Ruhe. Entweder liegen die Patienten nach ſchlecht verbrachter Nacht in lethargiſcher Erſchöpfung oder erquickendem Morgenſchlummer.“
„Oder brauchen keine Medizin mehr“, lächelte Herr Tränenreich und ſah die ihm gegenüberſitzende Franziska ſo auffallend an, daß dieſe aufſtand und ſich mit der Teekanne zu ſchaffen machte.
„Da haben Sie auch recht! Alſo am Angerbache aufwärts, im Wiemelsgrunde, finden Sie die Waſſerlobelie und Ledum pallustre, rechts den Abhang am Wiemelsberge hinauf, zwiſchen den Wacholderbüſchen, ſteht mancherlei, Lolium temulentum, Juniperus Sabina, Arum maculatum, weiter hinauf im Gebüſch Paris quadrifolia und verſchiedene Solaneen, wie Datura stramonium und Hyoscyamus niger, dann auf der Heide Andromeda polifolia, beſonders aber zwiſchen den Kalkklippen des Ith – ihr waret ja wohl heute dort, Fränzchen? – die Atropa Belladonna. Ja, jetzt botaniſiere ich bloß noch in meinem Cardilucius nach den immergrünenden Simplicien“, ſchloß der Prinzipal mit einem Seufzer.
„Es wird mir ſicherlich große Freude machen, Herr Prinzipal, Ihnen Ihre alten Bekannten, die Sie jetzt nur gedörrt zwiſchen dem Löſchpapier liegen haben, in jugendfriſchen Exemplaren eintragen zu können, zumal, da ich hoffe, Fräulein Fränzchen – Fräulein Zrovnal“, verbeſſerte er ſich ſchnell – „wird mir nach den ſchwerer aufzufindenden Stellen als freundliche Führerin dienen.“
„Dieſer übereilten Hoffnung geben Sie ſich lieber nicht hin, Herr Tränenreich, denn Fräulein Zrovnal iſt in erſter Linie für mich da und in zweiter für meinen Mann. Solange die Ferien noch dauern, kann ſich der Junge in Ihren und ſeinen Mußeſtunden für Ihre Führerſchaft revanchieren. Übrigens finden Sie giftiges Zeug genug im Garten und in den Hecken, wie Hundspeterſilie, Schierling, Eiſen- und Fingerhut, Hahnenfuß und Goldregen.“
Und der Sekundaner Fritz konnte ſich nicht enthalten hinzuzufügen: „Und im Waſſergraben, gleich hinter unſrer Scheune, ſteht eine Maſſe Sumpfläuſekraut, Pedicularis pallustris.“
Dreiundzwanzigſtes Kapitel.
Rektor Bartels knüpft ein Verhältnis zu einer Gräfin an, und Frau Sophie Bartels verlieſt ein Schreiben aus Angerbeck.
Auch die Haupt- und Reſidenzſtadt Fürſtenberg hielt mit ihren Rivalinnen gleicher Größe und Bedeutung gleichen Schritt, wuchs an ihrer Bevölkerung von Jahr zu Jahr und ſtrengte ſich auch nach Kräften an, ihrem Zuwachs auf dem Gebiete des leiblichen und geiſtigen Wohlbefindens gerecht zu werden und auf dem laufenden zu erhalten.
Die alten Ringmauern und Gräben waren in grüne, ſchmucke Anlagen und Spaziergänge umgewandelt, die die Vorſtädte nicht mehr vom Stadtkern ausſchloſſen, ſondern mehr an ihn heranzogen. Auf dem Theaterplatze und vor dem fürſtlichen Reſidenzſchloſſe ſpendeten monumentale Brunnen ihr plätſcherndes, kühles Naß aus der neuen ſtädtiſchen Waſſerleitung. Straßenkehrmaſchinen und Sprengwagen halfen den Ärzten bei ihrer wichtigen Aufgabe, Epidemien vorzubeugen und überhaupt den Geſundheitszuſtand auf eine in der Statiſtik günſtig lautende Ziffer zu bringen, und Schutzleute machten alle Anſtrengungen, ihre Bezeichnung zu verdienen.
Auch der ſtädtiſche Schulausſchuß mußte immer tiefer in den allerdings auch immer mehr anſchwellenden Stadtſäckel greifen und für neue ausreichende Bildungsſtätten und Lehrkräfte der heranwachſenden Geſchlechter ſorgen.
Neben der neueſten Bürgerſchule, die ſogar das fürſtliche Reſidenzſchloß an Größe und Anſehnlichkeit überragte, ſtand aber noch ein altertümliches, aus der Kloſterzeit ſtammendes Gebäude mit grauen Mauern, faſt quadratiſchen Fenſtern und einer ſchon recht ausgetretenen Schwelle. Nun, wenn es auch nicht mehr für die Schuljugend der Neuzeit ausreichte, ſo erfüllte es den Zweck ſeiner jetzigen Beſtimmung vollauf, trotz der „ganzen Serie“ Kinder des Herrn Rektor Bartels, deſſen Amtswohnung es bildete. Die Mauern waren ſo dick und die Fenſterniſchen infolgedeſſen ſo tief, daß der Vorüberſchreitende nur wenig von den ſchlohweißen Vorhängen im Innern erſpähen konnte und das Haus einen öden, mürriſchen Eindruck machte, das heißt von außen!
Im Gegenſatze zu der lärmvollen Schule, in der ſich eben die künftigen Bürger, Stadtväter, Beamte und Handwerker einer kommenden Zeit zum Unterrichtsbeginn anſammelten und vor dem Stillſitzen noch einmal die jugendlichen kraftſtrotzenden Glieder regten, lag das alte Haus träumeriſch da. Aber auch erſt ſeit kurzem! Denn vor fünf Minuten noch hatte der weite Hausflur und die hölzerne Doppeltreppe gedröhnt von den Tritten und Sprüngen der Söhne, Töchter und Penſionäre der Rektorfamilie, die auch ihre verſchiedenen Bildungsanſtalten aufſuchten. Nur Friedrich, der Erſtgeborne, war als junger Architekt einem Neubau in einer der Vorſtädte zugeeilt.
Als endlich die Haustür hinter den beiden Letzten, Emma und Karl, zugeworfen war, atmete Frau Sophie Bartels auf und ſetzte ſich an den Kaffeetiſch zu ihrem Manne, der ſich heute ein Stündchen länger Ruhe gönnte als gewöhnlich, denn der Briefträger hatte ſoeben zwei Briefe gebracht, auf die er geſpannt war.
Der erſte war an ihn gerichtet und in der Stadt aufgegeben. Sein Inhalt war nur kurz, erregte aber eine große Verwunderung, als ihn der Rektor ſeiner Frau folgendermaßen vorlas:
„Sehr geehrter Herr Rektor!
Nach langem Schwanken, ob dieſer Weg, den ich einzuſchlagen im Begriffe bin, nämlich mich in einer perſönlichen Angelegenheit an Sie zu wenden, der richtige iſt, bitte ich Sie ganz ergebenſt, mir, ſobald es Ihre Zeit erlaubt, die Ehre Ihres Beſuchs behufs einer Unterredung zu geben, die für mich von größter Wichtigkeit ſein wird. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen läſtig fallen muß, aber mir bleibt keine andere Wahl. Das unbedingte Vertrauen, das ich zu Ihnen habe, möge dieſen Schritt einer Unbekannten vor Ihnen rechtfertigen.
Fürſtenberg, den 23. Juli 18...
Vor dem Petritore No. 24. Gräfin Milowska.“
„Was lieſt du da, Eberhard, eine Gräfin?“, fragte Frau Sophie erſtaunt. „Mann, wie kommſt du zu der Ehre? Und vor dem Petritore? Iſt das nicht das vornehmſte Viertel?“
„Dort wohnt lauter reiches Volk, allerdings“, antwortete der Rektor, den Kopf ſchüttelnd. „Und wie ich, gerade ich, zu der Ehre komme, von einer reichen Gräfin eingeladen zu werden, iſt mir vollſtändig unerfindlich. Sophie, nötigenfalls laß ich mich von dir ſcheiden!“
„Ja, das wäre dir altem böſen Kerl gewiß recht! Jammerſchade, daß du nicht zehn Jahr jünger biſt!“
„Na, Spaß beiſeite! Das wahrſcheinlichſte iſt mir, daß die Perſon –“ Rektor Bartels tippte ſich mit der Fingerſpitze an die Stirn und ſtarrte die ihm fremden Schriftzüge an.
„Das kann ich mir nicht denken, Eberhard. Jedenfalls haſt du doch die Pflicht, wenigſtens einmal hinzugehen und dich zu erkundigen, was an der Sache iſt. Vielleicht handelt es ſich darum, einen Jungen in Penſion zu nehmen. Und ſeit Fritz Kruſius fort iſt, könnten wir ganz gut noch einen gebrauchen, zumal einen –“
„Hahaha“, lachte der Rektor, „du kommſt mit deinen praktiſchen Anſichten immer zur rechten Zeit! Ja, du kannſt wieder einmal recht haben. Ich dachte nicht daran, obwohl es das Nächſtliegende iſt!“
„Natürlich dachteſt du nicht daran, ſondern bloß an dich! Das kommt aber daher, daß ihr Männer, ſo alt und kröppelig ihr auch werdet, immer noch eitel ſeid!“
„Wiedermal den Nagel auf den Kopf getroffen, Sophiechen! Gewiß iſt’s ein ungeratener verwöhnter Bengel, mit dem ſie nichts anzufangen weiß. Na, in der Beziehung kann ſie allerdings unbedingtes Vertrauen zu mir und auch zu dir haben. Abgemacht! Vor dem Petritore Numero 24. Werde heute nachmittag der Gräfin Milowska meine Aufwartung machen.“
Der Rektor notierte ſich die Adreſſe in ſeinem Taſchenkalender.
„Nun weiter, Sophie, jetzt kommſt du an die Reihe! Dazu werde ich mir aber eine Morgenpfeife leiſten, dann kann ich beſſer zuhören und habe doppelten Genuß.“
„Ja, das iſt immer ein beſonderer Genuß für dich, wenn Frau Ottilie Kruſius aus Angerbeck ſchreibt! Darüber vergißt du alles und mich zuerſt!“
„Nur meine Pfeife nicht, bitte“, lächelte der Rektor, dicke Wolken paffend. „Alſo los!“
„Der Brief iſt überhaupt an mich gerichtet, es fragt ſich ſehr, ob du ihn hören darfſt!“
„Aber, Sophiechen, habe ich dir nicht auch Einſicht gewährt in meine Beziehungen zu der ſchönen, reichen, vornehmen Gräfin vor dem Petritore?“
„Ach, deine geſchäftlichen Quengeleien intereſſieren mich blitzwenig!“
„Aber doch der reiche Penſionär!“
„Den ich ganz allein ſatt füttern muß! Na, Alter, nun höre zu:
‚Meine liebe Rektorin!
Was Ihr Mann uns neulich von unſerm Fritz geſchrieben, daß ſein Prinzipal, der Herr Doktor Hering, recht mit ihm zufrieden iſt, iſt uns eine große, große Freude, die uns über ſo manche Widerwärtigkeiten hinweg hilft. Ich kann Ihnen ſagen, daß mein guter Mann, trotz ſeines immer noch wenig zu lobenden Befindens, förmlich überſprudeln kann von gutem Humor, und ich will nur hoffen, daß ſein geſunder Geiſt auch von wohltätigem Einfluß auf ſeinen gebrechlichen Körper werden wird.
Liebe Bartels, Sie wiſſen eine Mutter zu erkennen, wenn die Sorge um die Kinder, mehr als anderen Unbeteiligten lieb ſein kann, ihr ſtereotypes Thema iſt, und Sie und Ihr Mann ſind mir auch in allen Fragen, die die Kinder betreffen, ein Gerichtshof in letzter Inſtanz. Wie ſoll ich nur gleich die Sache, in der ich Ihres Rats und ebenſo Ihrer Hilfe bedürftig bin, am rechten Ende anfaſſen? Nun, am beſten iſt es immer noch geweſen, ein Übel an der Wurzel anzugreifen, ſo tu auch ich hiermit: Tränenreich! Dieſer Name ſagt alles, qualitativ und quantativ, wie mein Tobias ſich etwa in dieſem Falle dunkel ausdrücken würde. Damit Sie mich aber verſtehen: Tränenreich heißt unſere forſche Stütze der Apotheke zu Angerbeck, Tränenreich iſt der Proviſor, der uns nun etwa vor Jahresfriſt von dem Geheimen Obermedizinalrat von Spinas beigegeben worden.‘“
„Tränenreich?“, rief der Rektor in die Lektüre hinein. „Dieſen ſonderbaren Namen muß ich doch ſchon gehört haben! Richtig, jetzt beſinne ich mich auch, wo! Im Letzten Seufzer, Frau, als ich damals bei meiner Probe dort logierte! Ja, ja, da ſaßen die beiden, dieſer alte Spitzbube und der junge Menſch, zuſammen und tuſchelten miteinander. – Doch laß dich nicht weiter unterbrechen.“
Und Frau Sophie fuhr fort:
„Ich ſehe Ihren Rektor heute noch wie leibhaftig in meines Mannes altem Lehnſtuhl ſitzen, wie er aufhorchte, als wir ihm das freundliche Angebot des Herrn von Spitznas mitteilten, uns einen jungen Mann zu ſchicken, und wie er dem alten Heiden Vergil zum Worte verhalf mit ſeinem Timeo Danaos et dona ferentes. Und recht hat er behalten!
Ich würde dem jungen Manne aber Unrecht tun, wenn ich ihm die Fähigkeit abſpräche, ſich angenehm zu machen. Zunächſt hat er ſich, als er noch in dortiger Hofapotheke als Proviſor ſein Weſen trieb, bei unſerm Fritz, der ja damals noch die Schule beſuchte, als Mäzen und Mentor Verdienſte erworben.“
„Guck, Sophiechen, den hat der infame Bengel mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt!“
„Wie ſich ſeine Erziehungskunſt aber bewährt hat, haben wir ja leider an dem Jungen erleben müſſen. Denn daß er ſein Examen mit Fallen und Aufſtehen doch noch beſtanden hat, das haben wir nur Ihrem Rektor und Ihnen zu verdanken, und jetzt preiſe ich Gott, daß er Sie von Angerbeck entführt hat, was mir erſt als ein ſchwerer Schlag erſchien. Fritz iſt in Ihrer Pflege und unter dem ſcharfen Auge und der nötigenfalls derb zupackenden Hand meines alten Freundes Bartels beſſer aufgehoben geweſen, als in ſeiner früheren für einen Jungen durchaus unpaſſenden ſogenannten liberalen Penſion, in der die einfältigen Burſchen mit Herr angeredet wurden und ihnen ein faſt unbeſchränkter Kredit, zu Laſten der Quartalsrechnung und ihrer Wohlanſtändigkeit natürlich, gewährt wurde. Ich weiß immer noch nicht, wie ich Ihnen Ihre Freundſchaft danken ſoll, zumal auch der Junge einen ſo entſetzlich ſtarken Appetit beſitzt, daß ich bei ſeinen Mahlzeiten und Frühſtücksbroten immer an meine alte engliſche Grammatik denken muß mit dem wunderſchönen Satze: Children and animals never have food enough. Auf Ihre Koſten werden Sie ſchwerlich gekommen ſein, und ich freue mich, daß er jetzt ſeine langen Beine unter die Tafel der Hofapotheke ſtecken kann, auch um Ihretwillen.
Ein Glück iſt es aber, daß dieſer Herr Tränenreich nicht mehr dort iſt. Trotz allem und allem will ich den Menſchen noch lieber hier haben, als unſern Jungen noch unter ſeinem Einfluſſe wiſſen. Zu dieſen beiden angeführten Gründen ſeiner Beſſerung kommen aber noch zwei andere.
Unſer alter Drückeferken behauptet, in ſeinem ganzen Leben nicht betrunken geweſen zu ſein, aber ohne ſein Verdienſt, da es ihn immer vor dem Übermaße geſchüttelt habe. Ob das wahr iſt, weiß ich nicht. Aber als Mädchen habe ich einſt in Göttingen in einem Flohzirkus wohl eine herzliche, kindliche Freude an den behenden, hochgelahrten Tierchen gehabt, jedoch bei Leibe nicht den Wunſch, ſie mit nach Hauſe nehmen zu dürfen. Jetzt werden Sie verſtehen, wenn ich Ihnen ſchreibe, daß Fritz ſeinen Freund, für den er nach jugendlicher Art ſchwärmte, nur mit Ingrimm hier im Hauſe weiß. Ich hoffe, dieſes Unbehagen iſt ihm ein Sporn, ſobald wie möglich ſein ſich geſtecktes Ziel zu erreichen, ſelbſt Tränenreichs Stellung einnehmen zu dürfen, obwohl ich für meine Perſon die Erfüllung gerade dieſes Strebens nicht ausſchließlich für ſein Glück halte. Meinem Tobias gönnte ich allerdings, dieſe Freude noch zu erleben. Er hat ſich ganz in den Gedanken eingelebt, die Apotheke zu Angerbeck ſeinem Sohne hinterlaſſen zu können, denn er prophezeit ihr einen großen Aufſchwung in künftigen Zeiten. Nun, qui vivra, verra. Es iſt nicht gut, wenn der Vater dem Sohne um zwei Menſchenalter voraus iſt.
Als vierten und letzten Grund, der mich zugleich zu meinem eigentlichen Anliegen führen wird, glaube ich gemerkt zu haben, daß in unſerm Jungen, ihm ſelbſt vielleicht noch nicht deutlich bewußt, ein ganz klein wenig Eiferſucht auf Herrn Tränenreich, nämlich Franziskas wegen, ſchlummert. Halten Sie mich nicht für eine Gans von Mutter, liebe Sophie, wenn ich ſage, das wäre an ihm das Schlechteſte nicht, und ich wäre imſtande, ihm dafür allerhand Dummheiten nachzuſehen! Was das Mädchen wert iſt, habe ich noch mehr als früher erkannt, ſeit dieſer – dieſer Menſch Tränenreich hier iſt.
Darum aber kann ich das Mädchen nicht hier laſſen!
Ach, lieber Gott, wie leicht wirft doch die Feder einen Satz aufs Papier, den man ſich ſcheut auszuſprechen, geſchweige denn ſeiner ganzen Bedeutung nach auszudenken! Aber ich habe mir ein Herz gefaßt und habe es getan und weiß, was dieſer Entſchluß zu bedeuten hat! Mein Tobias wird am meiſten darunter leiden, ſein Fränzchen wird ihm überall fehlen, und er ſträubt ſich auch dagegen und meint, das Fränzchen ſei ja noch ein Kind. Ich aber ſage, es iſt kein Kind mehr, und ich muß das beſſer wiſſen. Dieſer Herr von Spitznas iſt ein feiner Diplomat, das muß ihm der Neid laſſen. Es macht ſich alles wie von ſelbſt, eins zieht das andere nach ſich in einfacher Konſequenz. Sie werden denken, das einfachſte wäre, Mosje Tränenreich zu kündigen. Dann aber wäre es mit der Angerbecker Herrlichkeit rein ganz aus. Der Menſch verſteht es wirklich, ſich unentbehrlich zu machen, und die Umſtände kommen ihm zu ſtatten. Mein Mann iſt wirklich nicht mehr imſtande, der Apotheke allein vorzuſtehen, ein anderer Proviſor würde viel mehr Anſprüche machen, die wir nicht erfüllen könnten, es fehlt ſo ſchon überall! Außerdem fürchte ich, die Chikanen würden wieder anheben, mit denen uns wunderbarer und mir bis jetzt noch unerklärlicher Weiſe der Reviſor verſchont hat, ſeit er ſeinen Protegé hierhergebracht. Und verkaufen können wir auch nicht, abgeſehen davon, daß mein Mann ſolches ſchwerlich überſtehen würde. Kein Menſch gäbe uns ſo viel, daß wir unſere Hypotheken- und leider auch andere in der letzten Zeit aufgelaufene Schulden bezahlen und noch leben könnten! Ja, liebe Frau Bartels, ich ſchreibe es Ihnen ehrlich, unſere Finanzlage iſt miſerabel, ſchon ſeit der neuen Bahn fing’s fühlbar an. In letzter Zeit aber hat uns ein neuer Schlag getroffen. Sie wiſſen doch, daß im Lande allerorten die neue Separation durchgeführt worden iſt, ſo auch hier in Angerbeck. Früher konnten wir für unſere Ländereien, die dicht bei der Stadt lagen und in gutem Zuſtande waren, einen ganz leidlichen Pachtbetrag einnehmen. Die ſind uns gegen ein zwar ſehr großes, aber in ſeiner jetzigen Verfaſſung völlig wertloſes Gelände umgetauſcht worden! Es zweckentſprechend zu verbeſſern und nutzbar zu machen, dazu fehlen uns aber eben die Mittel. Wie zum Hohne erſtreckt es ſich in langer, öder Ausdehnung eine gute halbe Stunde von hier den Bahndamm entlang! Ich glaube beſtimmt, auch dahinter iſt der Herr von Spitznas zu ſuchen. Ihr Mann, liebe Sophie, wird mir noch mehr als Sie nachfühlen können, was ich bei dieſem Gedanken leide. Den Verkauf unſerer ſchönen alten Felder hatte ich mir als letzten Rettungsanker aufgehoben, aber wer ſoll uns für die neuen etwas geben? So müſſen wir auf unſerm Poſten ausharren, ſo lange es Gott gefällt, und ich habe auch immer noch das Zutrauen zu ihm, daß er beſſer weiß als wir, was uns gut iſt.“
Frau Sophie Bartels mußte hier mit dem Leſen ausſetzen, denn vor ihren Augen flimmerten die Schriftzüge ihrer Freundin kraus durcheinander, und die Blätter zitterten ihr zwiſchen den Fingern. Der Rektor aber war aufgeſprungen, rauchte ſtärker denn je und rief nach der Peitſche des Herrn Friedrich von Schlabrendorf weiland Vorleſers ſeiner braſilianiſchen Majeſtät Dom Pedro des Zweiten. Nach dem Gebrauche ihres Taſchentuches konnte Frau Rektor fortfahren:
„Was uns Gott aber deutlich genug unter die Hand gibt, müſſen wir ſelbſt beſorgen. Das Mädchen muß alſo fort. Am liebſten würde ich Sie und Ihren Mann bitten, nun auch Franziska zu ſich zu nehmen, aber das ginge ſchon der vielen Jungen wegen nicht an, und – dieſes Vorhaben würde auch an dem ſtarren Kopfe Fränzchens ſcheitern. Ich habe in dieſen Tagen immer an ihren ja jetzt ganz verſchollenen Vater denken müſſen, wie er uns das Stadtſpektakel mit ſeiner Narrenjacke machte. Das Mädchen erklärt mit aller Entſchiedenheit, daß es ſich ſein Geld jetzt ſelbſt verdienen will. Mit Seufzen muß ich ihm im ſtillen recht geben. Und nun komme ich endlich geradezu mit meiner Bitte heraus: Tun Sie ſich um nach einer paſſenden Stellung für Franziska, und das ſo bald wie möglich. Ein Jahr lang habe ich meine Angſt und Sorge um das Kind getragen! Ihr Mann hat Beziehungen und Gelegenheiten in Ihrer großen Stadt genug, er wird ſchon das Richtige herausfinden. Fritz ſoll vorläufig nichts davon erfahren!
Angerbeck, den 23. Juli 18…
Ihre Ihnen immer dankbare Ottilie Kruſius.“
Frau Sophie legte, ohne ein Wort hinzuzufügen, ihren Brief zuſammen, und der Rektor ſtellte ſeine erloſchene Pfeife in die Ecke und ging in ſeine Schule hinüber. Aber ſeine Gedanken gingen mit ihm und ließen ihn zu keiner rechten Andacht bei ſeiner Arbeit kommen. Immer ſtand ihm Frau Kruſius in ihrer Not vor Augen, dieſe Frau Kruſius, die einſt ſo ſchöne Ottilie Diederichs in Bovenden, die ſtolze Braut ſeines herrlichen Freundes Friedrich von Schlabrendorf, die den Apotheker Kruſius geheiratet hatte, um ihn glücklich zu machen! Er ſann hin und her, wie ihr zu helfen ſei, wie er ihren beſonderen Wunſch erfüllen könne, aber er kam zu keinem rechten Reſultat.
Nach der Nachmittagsſchule putzte Frau Sophie ihren Mann mit beſonderer Sorgfalt heraus, denn ſie wollte mit ihm bei der reichen Gräfin vor dem Petritore Ehre einlegen.
Herr Bartels konnte ſchon wieder ſcherzen. „Sophiechen, das Hauptverdienſt an meiner bevorſtehenden Eroberung wird die Nachwelt dir zuzuſchreiben haben, du erleichterſt mir den Sieg ungemein. Wundere dich aber nicht, wenn ich auf die reiche Gräfin einen Eindruck mache, der mir geradezu die Pflicht auferlegt, ihn auszunutzen! Du hätteſt mich ſollen doch lieber als Vogelſcheuche laufen laſſen! Wenn ich in den Letzten Seufzer gehe, gibſt du dir nicht halb die Mühe.“
„Das fehlte auch noch! Für euer altes räuchriges Bierlokal und den alten Mettje biſt du lange gut genug!“
„Danke ſehr, Madam! Der alte Mettje ſoll übrigens auch ſteinreich ſein.“
„Ja, das glaube ich eher als nicht, er hat ſeine Schäfchen lange genug geſchoren.“
„Na, ſage nur dreiſt ſeine Schafe! Alſo, empfehle mich, ſo bis zur Schummerſtunde werde ich mich wohl aufhalten in Numero 24 Vor dem Petritore!“ –
Übertrieben hatte der Rektor wahrlich nicht, Frau Sophie wartete ſogar lange vergeblich mit dem Abendbrote, guckte zwanzigmal aus dem Fenſter die Kloſtergaſſe hinunter und lief dazwiſchen ruhelos im Hauſe umher, und ihre Kinder und Penſionäre hatten es heute abend nicht vom beſten! Endlich, endlich – es war faſt neun Uhr geworden – hörte ſie ihres Mannes bekannten Schritt auf der Treppe.
„Na endlich! Ich muß ſagen, das iſt ja höchſt rückſichtsvoll für deine Frau, ſo lange zu bleiben. Vor dem Petritore kannſt du doch unmöglich bis jetzt mit der Perſon geſeſſen haben!“
„So? Wer ſagt dir denn, daß das unmöglich iſt? Ich komme allerdings direkt von dort, habe dafür aber auch ein gutes Geſchäft gemacht, Frau. Beſorge jetzt die Kinder, ich werde in meiner Stube auf dich warten und dir das Nähere auseinanderſetzen.“
Trotz des angekündigten guten Geſchäftes hatte der Rektor ſehr ernſt geſprochen.
„Aber Mann, willſt du nicht mit uns eſſen? Wir haben nur auf dich gewartet“, meinte Frau Sophie.
„Nein, ich danke. Schwupp flog die Tür ſeines Arbeitszimmers hinter ihm zu.
Natürlich hatte auch Frau Bartels nun keinen Appetit mehr und überließ dem jungen Volke allein das Feld, mußte aber doch der Ordnung halber im Eßzimmer aushalten, bis die Mädchen in der Küche und in der Wohnſtube und die Jungen in ihren Räumen bei ihrer Arbeit waren. Dann ging ſie zu ihrem Manne, der im Halbdunkel des Sommerabends noch ohne Licht in der Sofaecke ſaß und rauchte.
„Mann, ſag mir nur um Himmelswillen, was du haſt! Ich bin ganz ängſtlich geworden!“
„Dazu iſt kein Grund vorhanden, nein, wahrhaftig nicht! Sieh, Sophiechen, als du heute mir den Brief aus Angerbeck vorlaſeſt, übermannte dich die Rührung, das Mitgefühl mit anderer Leid. Gerade ſo iſt es mir auch heute nachmittag gegangen! Mich oder uns perſönlich betrifft es nicht, was mich ernſt geſtimmt hat.“
„So iſt die Gräfin unglücklich?“
„Ja, ſehr, trotz ihrer äußeren glänzenden Verhältniſſe!“
„Ein ungeratener Junge macht ihr gewiß das Leben ſchwer? Iſt ſie verwitwet?“
„Ja, Sophie, eine Witwe iſt ſie“, ſagte lächelnd der Rektor, „aber derartig war das gute Geſchäft, das ich meinte, nicht! Sie hat uns keinen reichen Penſionär zuzuweiſen, ſondern iſt zu ihrem Leidweſen kinderlos.“
„Na, Eberhard, wenn ſie weiter keine Schmerzen hat, ſo möchte manch einer mit ihr tauſchen! Ich kenne genug Leute, die ſeelenfroh ſind, keine Kinder zu haben!“
„Sie hat aber leider noch andere Schmerzen, die ſie mehr drücken als Einſamkeit, Armut und Krankheit. Welcher Art die ſind, das freilich – –“
„Möchteſt du mir nicht ſagen?“
„Ach, vielleicht ſpricht ſie ſpäter ſelbſt einmal mit dir, ich –“
„Nein, Eberhard, ich mag mich nicht mit andrer Leute Sachen bemengen, eine neugierige Evastochter haſt du in mir noch nie gefunden! Bitte, behalte deine oder vielmehr ihre Geheimniſſe für dich! Geht das gute Geſchäft mich etwas an, Eberhard?“
„Allerdings! Ganz beſonders dich, Sophiechen, kleine Pique-Dame!“, lachte der Rektor.
„Ich bin durchaus nicht piquiert, mein Herr!“, erwiderte Frau Sophie verächtlich. „Geſpannt bin ich nur, wozu ich für gut genug befunden werde!“
„An Frau Ottilie zu ſchreiben, heute abend noch meinetwegen, daß ich durch meine Beziehungen eine Stelle für Franziska gefunden habe! Na, was ſagſt du nun, Schatz?“
„Bei deiner unglücklichen Gräfin doch nicht etwa?“
„Jawohl! Bei meiner unglücklichen Gräfin, der dadurch ein Teil ihres Kummers und Herzeleids abgenommen wird! Eine höchſt angenehme und einträgliche Stellung als Geſellſchafterin und Reiſebegleiterin! Eine Stellung, wie ſie dem Kinde nicht ein zweites Mal geboten wird!“
„Aber, Eberhard, kennſt du die Dame genügend? Kannſt du’s verantworten?“
„Ich verantworte es! Ich habe die Dame gründlich kennen gelernt, darauf kannſt du dich verlaſſen!“
„Gut, dein Wort ſoll mir genügen! Ich habe mir ja den ganzen Tag den Kopf vergeblich zermartert, wie der Kruſius und dem Kinde zu helfen ſei, ich ſchreibe.“
„Mir ging’s nicht beſſer, Sophie. Dieſe Hilfe kommt uns von Gott! Und um nun Frau Kruſius und ihrem alten Tobias den Trennungsſchmerz etwas zu verſüßen, teile ihnen auch mit, daß ich auf der Straße Doktor Hering, den Hofapotheker, getroffen habe, der wieder des Lobes voll über den Jungen war. Nicht nur im Geſchäft benimmt er ſich gut und anſtellig, ſondern er ſtudiert auch fleißig bei ſeinem Lämpchen auf der Bodenkammer, um ſich ſchon jetzt auf ſein Examen vorzubereiten. Eine Wandlung zum Guten iſt mit dem phlegmatiſchen Bengel vorgegangen, und ich glaube, ſeine ſcharfſichtige Mutter hat nicht mit ihren Vermutungen fehlgeſchoſſen.
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Franziska Zrovnal tritt ihre Stellung an und wird beinahe arretiert.
Nach vierzehn Tagen etwa fuhr eine elegante Equipage die Kloſtergaſſe hinunter und hielt vor dem Rektorate an. Der Kutſcher öffnete den Schlag und war einer Dame beim Ausſteigen behilflich, die ſofort hinter der ausgetretenen Schwelle des alten Hauſes verſchwand.
Frau Sophie Bartels mußte ſchon um dieſen Beſuch wiſſen, denn ſie kam der eintretenden Dame auf halber Treppe entgegen und führte ſie nach ausgetauſchter Begrüßung in ihre Staatsſtube.
„Heute müſſen Frau Gräfin ſchon mit mir fürlieb nehmen, denn mein Mann iſt leider in der Schule.“
„O das tut gar nichts, Frau Rektor, im Gegenteil“, erwiderte lächelnd die Gräfin Milowska, ihren ſchwarzen Witwenſchleier zurückſchlagend, „wir Frauen machen derartige Geſchäfte auch am liebſten unter uns ab. Sie ſind doch gewiß ſo liebenswürdig, mich zu begleiten? Nicht wahr, der Zug läuft kurz vor drei Uhr ein?“
„Im Augenblick ſtehe ich Ihnen zu Dienſten, gnädige Frau. Wir werden die Zeit richtig inne halten. Bitte um Entſchuldigung!“
Während ſich Frau Sophie zur Ausfahrt rüſtet, gewinnen wir ein wenig Zeit, die Gräfin Milowska näher kennen zu lernen. Obwohl in tadelloſe Trauergewandung gehüllt, muß ſie doch an dem Leben leichter zu tragen gehabt haben als Frau Sophie Bartels, die etwa mit ihr in gleichem Alter ſteht, und leichter, als ihr uns zu Gehör gekommener Brief und das tiefe Mitgefühl des Rektors vermuten laſſen. Ihr reiches blondes Haar, das unter dem ſchwarzen Hütchen hervorquillt und durch den Schleier ſchimmert, umgibt ein noch friſches rundes Geſicht mit Grübchen in den Backen und einem kleinen roten lächelnden Munde. Auch ihre kleine, etwas volle Geſtalt, die von dem Trauerkoſtüm knapp umſchloſſen wird, läßt in keiner Weiſe des Lebens grimme Not erkennen. Nur die Augen geben Herrn Rektor Bartels recht, wenn anders wir uns in Menſchenkenntnis mit ihm meſſen wollen. Es iſt ein Paar hübſcher brauner Augen, aber bald blitzen ſie auf wie ein lodernd Flackerfeuer, bald liegen ſie unheimlich ſtarr und ſtill wie ein von der erſten dünnen Eisdecke überzogener dunkler See. Ja, nur die Augen laſſen darauf ſchließen, daß die Gräfin nicht nur lächelnde, ſonnendurchſtrahlte Sommertage, ſondern auch trübe, bitterfroſtige Winternächte geſehen und durchlebt haben muß.
Frau Sophie iſt fertig und folgt der Gräfin zum Wagen, der ſich wieder in Bewegung ſetzt und in der Richtung nach dem Bahnhofe davon rollt. –
Nur noch wenige Minuten hatten die Damen auf dem Perron zu warten, während welcher die Gräfin Milowska in nervöſer Unruhe auf und ab trippelte und die ruhigere Rektorin in lebhaft geführter Unterhaltung an ihrer Seite hielt; dann brauſte der erwartete Zug in die Halle ein.
Er brachte ein junges, ſchüchternes, ängſtlich ſich umſchauendes Mädchen mitten in das Gewühl, in das rückſichtsloſe Drängen und Schieben, das Hin- und Herfluten Hunderter gänzlich unbekannter gleichgültiger Menſchen, das doch gewaltig gegen das beſchauliche Stillleben Angerbecks abſtach.
Aber Frau Sophie Bartels hatte ſchon ihre Augen offen gehalten und eilte nun auf die Erwartete zu. „Grüß dich Gott, Fränzchen! Da haſt du dich alſo glücklich hergefunden! Und ſieh, hier iſt auch deine Frau Gräfin, die es recht gut mit dir meint!“
Die Gräfin Milowska ſchloß das hübſche Geſchöpfchen in ſtürmiſcher Umarmung an ihr Herz und ſetzte es dann, das Mädchen natürlich, in den Fond ihres Wagens neben die Frau Rektor, ſich ſelbſt aber auf den Rückſitz, und freute ſich über dasſelbe wie ein Kind über ein neues Spielzeug; ſodann gab ſie dem Kutſcher Befehl abzufahren. Und das Fränzchen ſaß da, wie eine richtige Schloßprinzeſſin, und es war jammerſchade, daß in dieſem Augenblicke Fritz Kruſius nicht zugegen war. Ja, der mußte in dieſem Augenblicke eine Merkurialſalbe verreiben und hatte ſeinen Ärger über die immer wieder fortrollenden Queckſilberkügelchen und keine Ahnung davon, daß die, an die er dachte, keine zwei Minuten von ihm als Schloßprinzeſſin vorüberfuhr!
Dieſe aber ſchmiegte ſich an ihre alte Freundin aus Angerbeck, an das Stückchen Heimat in dieſer lärmvollen Fremde. Bald ſollte jedoch auch dieſes entſchwinden, denn die Kutſche bog jetzt in die Kloſtergaſſe ein und hielt wieder vor dem Rektorate. Am liebſten wäre Franziska der Frau Sophie Bartels nachgeſprungen, aber mit der Hand, die ſie eben zum Abſchiede ausgeſtreckt hatte, drückte ſie das aufſteigende Wehgefühl des Verlaſſenſeins in ihre Bruſt zurück und kämpfte die Tränen mutig nieder.
Und ſie ließ es ſich gefallen, daß die Gräfin, die ſich nun an ihrer Seite niederließ, dieſe Hand ergriff und zärtlich drückte, gar nicht, wie ſie es ſich von einer Gräfin vorgeſtellt hatte.
„Mein liebes Fräulein, es mag ein ſchlimmes Ding ſein, das Heimweh, das ich Ihnen anſehe, aber tröſten Sie ſich mit mir. Ich möchte Sie darum beneiden! Sie ſind immer noch viel glücklicher daran, als ich in Ihren Jahren war. Mir iſt meine Heimat ſo früh genommen worden, daß ich gar kein Heimweh kennengelernt habe, und das iſt das allerſchlimmſte.“
Und die vornehme Dame an ihrer Seite ſeufzte ſo tief, daß das Mädchen darob das eigene Weh vergaß, und die reinen Kinderaugen jetzt voll Mitleid das erſte Mal der Gräfin ins Antlitz ſchauten.
„Ja, mein Kind, ich habe viel Schlimmes im Leben erfahren von Jugend auf und manche Enttäuſchung erlebt, wo ich glaubte und vertraute! Unſere kurze Bekanntſchaft aber läßt mich noch einmal hoffen. Werden Sie mich mit der Zeit ein wenig lieb haben können?“
„Ich will es gewiß nicht an Eifer fehlen laſſen, gnädige Frau, mir Ihre Zufriedenheit zu erringen“, entgegnete das junge Mädchen beſcheiden, „doch brauche ich gewiß viel Nachſicht, denn ich fühle recht wohl ſelbſt, daß mir dazu noch manches fehlen wird.“
„O geben Sie ſich nur, wie Sie ſind, Franziska, das wird mir immer das liebſte ſein.“
Das Treiben der Stadt hatten ſie mit dem harten Straßenpflaſter hinter ſich gelaſſen. Grüne wohlgepflegte Gärten mit ſchmucken Villen löſten es jetzt ab, und bald bog die Equipage durch das eiſerne Gittertor in Numero 24 Vor dem Petritore ein.
Eine alte polniſche Köchin, Maruſchka mit Namen, hatte den Kaffee bereitet und einen großen Strauß friſcher Blumen aus dem Garten auf den Tiſch geſtellt, und nach einem halben Stündchen führte Gräfin Milowska ihre neue Hausgenoſſin ſelbſt die teppichbelegten Stufen in die Manſarde hinauf und überwies ihr ein reizendes Zimmerchen, deſſen Fenſter den ſchönſten Ausblick in die grüne Herrlichkeit der Gärten und auf die blauen Berge in der Ferne geſtatteten.
„Da ſteht ſchon Ihr Reiſekorb wohlbehalten, ſo richten Sie ſich ganz nach Gefallen ein, und ich hoffe, mit der Zeit werden Sie ſich auch hier recht wohl fühlen. Bis zum Abendbrot ſind Sie ganz Ihrer Freiheit überlaſſen, dann aber bitte ich um Ihre Geſellſchaft.“
Und nun ſtand das junge Mädchen allein.
Ihre Blicke flogen wohl über die elegante zierliche Ausſtattung des Raumes, der nun ihr ausſchließliches Reich ſein ſollte. Aber das Weh in ihrer Bruſt ſtieg gerade jetzt, wo eine andere in ihrer Stelle vielleicht bewundernd zwiſchen dem niedlichen Schreibtiſche, dem noch niedlicheren Nähtiſchchen und der plüſchſchwellenden Cauſeuſe umhergetrippelt wäre, mit überwältigender Heftigkeit herauf.
Aufſchluchzend ſetzte ſie ſich auf ihren alten ehrlichen Reiſekorb aus der Angerbecker Apotheke und barg ihr Geſicht in beiden Händen. Das Kniſtern und Knarren des Rohrgeflechts erinnerte ſie lebhaft daran, wie ihr alter Pflegevater, der ſie doch mit Schmerzen hatte ziehen laſſen, ihr in der hinteren Stube behülflich war, den Korb zu packen, und auf dem Deckel kniete und ſich bemühte, den widerſpenſtigen niederzuzwingen, der all die Sachen, die die Mutter mit ſorgender Liebe hineingelegt, kaum zu faſſen vermochte.
Das mahnte ſie nun wieder an ihre Pflicht, den Korb ſobald wie möglich ſeines Inhalts zu entleeren, wie ihr die Mutter auf die Seele gebunden. Ja, ſie machte ſich Vorwürfe, daß ſie ihre Kleider und Hüte in ſo kindiſcher, unüberlegter Weiſe zuſammendrückte.
Sie ſprang alſo auf, wiſchte ſich die Tränen ab, nahm den Schlüſſel aus ihrem Geldtäſchchen und öffnete den Korb.
Wie ſorgfältig war doch alles geordnet, wie war doch die Liebe bedacht geweſen, es ihr in der Fremde an nichts fehlen zu laſſen! Es koſtete ihr ordentlich Überwindung, den Inhalt, den die treue Hand der Mutter ſo zweckmäßig geſchichtet hatte, einzureißen. Und wie wenig paßten in ihren Augen ihre einfachen, wenn auch zum Teil ganz neuen Kleidungsſtücke in den gleißend fournierten Schrank und die auch innen polierten Schubladen! Ihr Nadelbuch, die Zwirnzöpfe, die Seidenröllchen, die kleine Schere, das Büchschen mit Haken und Öſen, das ihr Herr Tobias Kruſius auf ſeiner Drehbank eigenhändig gedrechſelt hatte, kamen in die Fächer des Nähtiſches.
Doch was lag da noch, in einer Ecke des Korbes? Eine Tüte? Und in der Etiquette ein Verschen von der ausgeſchriebenen, zierlichen Hand des Apothekers?
„Gutes Fränzchen, dieſe Feigen
ſollen meine Liebe zeigen.
Wenn du biſt uns weit entrückt,
und wenn dich das Heimweh drückt,
dann ſchieb eine in den Mund,
denn davon wirſt du geſund.
Sie ſind gut, das glaube mir,
nicht nur gegen Zahngeſchwür.
Gegen böſen Huſten nützen
die zwei Stängelchen Lakritzen.
Haſt du dich einmal geſchnitten,
ſo muß ich dich ernſtlich bitten,
brauche gegen ſolches Laſter
dieſes Briefchen Engliſch Pflaſter,
und iſt dir’s im Magen dumm,
Natrum bicarbonicum.
Aufs neue ſtürzten ihr die Tränen aus den Augen, und die Kehle war ihr wie zugeſchnürt. Sie achtete nicht mehr des Sofas Seidenplüſch, ſondern warf ſich auf die Polſter und weinte bitterlich. Welch eine Liebe ſprach doch aus den kleinen wertloſen Gaben und aus dieſen komiſchen hausbackenen Verſen, die, ach! ſo wenig ihren Zweck erreichten! –
Ihre jugendliche Spannkraft ſiegte aber doch über ihre Erſchlaffung, die Tränen hatten ſie erleichtert, und ſie war ſogar imſtande, eine Feige in das noch zuckende Mäulchen zu ſchieben und am offenen Fenſter die kühlende und erquickende Abendluft, die aus dem grünen Blättermeere da draußen aufſtieg, in vollen Zügen einzuatmen. Ruhiger vollendete ſie dann ihre Aufgabe, ſich einzurichten, und ſie war gerade damit fertig, als Maruſchka erſchien, um ſie zum Tee zu rufen.
Mit fröhlichem Geplauder ihrer Gnädigen die Zeit zu vertreiben, dazu war ſie allerdings noch nicht aufgelegt, aber dieſe ſchien auch ſolches gar nicht zu vermiſſen, ſondern übernahm ſelbſt die Unterhaltung, erzählte dem jungen Mädchen von ihrem Gute an der polniſchen Grenze, von ihren Reiſen, machte Pläne für das künftige Jahr, kritiſierte mit großer Sachkenntnis das neueſte Modenjournal und wußte ihr ſo allmählich ihre Schüchternheit zu nehmen. Franziska zeigte ſich aufmerkſam und dienſtwillig, räumte nach beendetem Abendbrot den Tiſch ab, und als ſie ſich gegen zehn Uhr von ihrer Herrin zum Schlafengehen verabſchiedete, konnte ſie ſich ſchon leidlich heimiſch fühlen, obwohl ſie ſich ſagte, daß zu dem leichten Ton der Gräfin die einfachen Mitteilungen, die ſie aus ihrem Leben in dem ſtillen Angerbeck und der noch ſtilleren Apotheke hätte zur Konverſation geben können, nicht recht paſſen wollten.
Auf ihrem einſamen Zimmerchen freilich ward ihr wieder recht weh ums Herz. Wie war doch die Gräfin Milowska, obwohl ſie ihr gegenüber auch nicht den geringſten Stolz gezeigt hatte, ſo ganz anders als Frau Ottilie daheim!
Sie kramte die lieben Sächelchen, die ſie mit aus der Heimat gebracht hatte, noch einmal aus, ſich an ihrem Anblicke zu tröſten, öffnete die Schranktüren, ſtrich leiſe an den Nähten ihrer Kleider nieder, die Stich für Stich von dem Fleiße zweier Hände zeugten, die ſich jetzt daheim, in weiter Ferne, wohl ineinanderlegten, für ſie zu beten – und auch für Fritz, dem ſie ja jetzt ganz nahe war, dem ſie die Grüße aus der Heimat bringen konnte, ſobald die Gelegenheit dazu kam. Sie las noch einen Abſchnitt aus dem Neuen Teſtamente, dann legte ſie ſich zur Ruhe. Und der Schlaf, der treue Verbündete der Jugend, nahm das weinende Mädchen liebreich und ſanft in ſeinen Arm, ließ die Tränen verſiegen und trug es hinüber in die blumenreichen Gefilde ſeines Traumreiches. – –
Drei Tage danach ſaß ſie in den Vormittagsſtunden am Bette ihrer Herrin und las ihr den neueſten Roman vor, den die Damen tags vorher ſich aus der Leihbibliothek geholt hatten. Aber unruhig und unaufmerkſam warf die Gräfin den Kopf auf den Kiſſen und preßte von Zeit zu Zeit mit beiden Händen ihre Schläfen. Franziska hielt endlich mit Leſen inne.
„Wünſchen gnädige Frau, daß ich aufhöre? Dann möchte ich mich gern in der Küche beſchäftigen.“
„Ja, liebes Kind, ſchonen Sie Ihre Lunge, ich vermag nicht mehr zu folgen, aber Maruſchka wird auch ohne Sie fertig, ich für mein Teil habe doch keinen Appetit. O dieſe gräßlichen Kopfſchmerzen! Ich will Ihnen etwas ſagen, machen Sie lieber einen Spaziergang bei dem ſchönen Wetter, und holen Sie mir eine Schachtel Migränepulver. Gehen Sie vom Petritore aus die Promenade rechts bis zur Oſterſtraße, und dieſe führt Sie direkt auf den Markt, dort werden Sie die Hofapotheke ſchon zu Geſicht bekommen. Sie ſchnappen ſo zugleich die beſte Luft, die dieſes Neſt zu bieten vermag. Ich werde verſuchen, noch einige Zeit zu ſchlafen.“
Franziska hatte wirklich Mühe, ihrer Herrin ein teilnehmendes Geſicht zu zeigen, trotz der Vorwürfe, die ſie ſich ſelbſt machte. Fabelhaft ſchnell ſtand ſie zum Ausgange bereit.
„Ach, liebes Kind, ſo arg iſt’s nicht“, ſagte die Gräfin gutmütig, „nehmen Sie ſich Zeit! Sie müſſen auch mein hartnäckiges Leiden erſt gewohnt und, wie meine ſonſtige Umgebung, gleichgültig dagegen werden! Kommen Sie erſt wieder, wenn Sie der Hunger heimtreibt, ich denke, ein paar Stunden Ruhe werden mir auch gut tun.“
So war die erſehnte Gelegenheit, Fritz Kruſius die Grüße aus der Heimat zu überbringen und günſtigſten Falls einige Minuten mit ihm von Angerbeck zu plaudern, doch eher gekommen, als ſich das Fränzchen gedacht!
Das junge Mädchen ſchritt durch die ſtädtiſchen Anlagen auf den ſauberen, wohlgepflegten Wegen dahin, an wunderherrlichen Teppichbeeten, Kinderſpielplätzen, dem langgeſtreckten Teiche, der ein letztes Überbleibſel des alten Feſtungsgrabens war, vorüber, und die Welt ſah ſo freundlich aus! Zum erſtenmal ging ſie allein, und noch nie hatte ſie die Wohltat der Einſamkeit – trotz aller ihr entgegenhaſtenden oder ‑bummelnden Menſchen ſo empfunden wie jetzt. Die Gräfin hatte recht. Wie atmete es ſich doch hier ſo wonnig in der vom Sonnenſchein des Spätſommertages durchzitterten und vom grünen Laubwerk des Gebüſches und vom Waſſer erfriſchten Luft! Und wie konnten mit ihr ihre Gedanken ſo ungezwungen ſpazieren gehen!
„Ach, wenn es doch meine lieben Pflegeeltern in der Apotheke zu Angerbeck auch ſo gut hätten, wie ich es jetzt haben kann!“, dachte ſie. „Mütterchen wird ſich wohl wieder mal den vom vielen Wirtſchaften ſchmerzenden Rücken reiben und ſich erſchöpft für einen Augenblick auf den Binſenſtuhl in der Küche ſetzen, neue Kräfte zu ſammeln, und der Vater wird ſich in Haus, Hof und Garten zu ſchaffen machen oder auf der Hinterdiele an ſeiner Werkbank ſtehen. Ach, wer bläſt ihm nun das Lötrohr! Herr Tränenreich gewiß nicht! Der geht höchſtens im Garten herum, holt ſich die Auguſtäpfel vom Baume, um ſie zu eſſen, und die roten und gelben Roſen von den Sträuchern, um ſie den jungen Damen zu ſchenken, die gern von ihm in der Offizin bedient wurden! Na, mir könnte er ja geſtohlen werden. Und meine Gräfin! Ich hätte nicht geglaubt, daß es Menſchen gäbe, denen das Leben ſo leicht gemacht iſt. Ach Gott, und ich gerate wohl auch ſchon dahin, am Nichtstun Gefallen zu finden!“
Sie bog jetzt von der Promenade in die Oſterſtraße ein, an deren Ecke einige blaumützige Gymnaſiaſten ſtanden mit ihren Schulbüchern unter dem Arm. Obwohl ſie ſich ſicher ſchon als Herren fühlten, benahmen ſie ſich durchaus nicht ſo, denn ſie ſtießen ſich einander in die Seiten und gafften den „niedlichen Käfer“ ohne eine Spur von Europens übertünchter Höflichkeit an. Dafür aber wurden ſie von einem ſolchen Blicke ſouveräner Verachtung geſtreift, daß ſie wie begoſſene Pudel um die Ecke abſchoben und Franziska ſelbſt erſtaunt war über ihre Kühnheit ſowohl, als deren Wirkung.
Ihre hierdurch erzeugte übermütige Stimmung hielt aber nur bis zum Markte an. Denn da drüben leuchtete ihr ſchon in großen goldenen Buchſtaben entgegen: Fürſtliche Hofapotheke. Jungfräuliche Schüchternheit hemmte ihre Schritte, und langſamer ging ſie an den Häuſern weiter, ſtatt geraden Wegs den Markt zu durchqueren. Sie mußte wieder an Herrn Tränenreich denken, deſſen frühere Wirkungsſtätte ſie nun betreten ſollte. Was für ein Menſch würde ſie wohl nach ihrem Begehr fragen? Konnte es nicht ein ähnlicher widerwärtiger Geck ſein? Und einen ſolchen ſollte ſie gar um eine Zuſammenkunft mit dem Lehrling Fritz Kruſius angehen? Aber was half ihr Zögern? Im Notfalle mußte ſie ſich auf das Migränepulver beſchränken.
Da ſtand ſie in der Offizin, und heimatlicher Geruch von den tauſenderlei Medikamenten umfing ſie! Aber was war die Apotheke zu Angerbeck gegen dieſen glänzenden Raum, was ihres alten Pflegevaters einfacher hölzerner Rezeptiertiſch mit ſeiner durch ein halbes Jahrhundert lange Arbeit polierten Eichenplatte gegen dieſe blitzende prunkende Marmortafel mit den hohen glänzenden Meſſingwaagen! Der ganze Weinkeller daheim barg nicht halb ſo viel Flaſchen, wie hier in künſtlichen Pyramiden nur zur Schau und Weckung der Kaufluſt aufgebaut waren! Die weißen Porzellanſchilder der Schiebladen und Kaſten nahmen ſich noch ganz anders aus, als die Papierzettel mit der neuen Lapidarſchrift in Angerbeck!
Dank der Mittagsſtunde war Franziska eine Minute des Alleinſeins vergönnt, alle dieſe Herrlichkeiten zu überblicken. Da ging eine Tür, und aus dem anſtoßenden Raume eilte eine langaufgeſchoſſene Geſtalt herbei, machte eine blitzſchnelle linkiſche Verbeugung über den ſchmalen Marmortreſen und fragte: „Womit kann ich dienen, gnädiges – –“
Aber nun hallte die Offizin wieder von dem glockenhellen Lachen des jungen Mädchens und dem Geklirr eines zerbrochenen Glashafens, in den der Stiefelabſatz des aufs höchſte überraſchten Lehrlings gefahren war. Das Lachen brach denn auch jäh in einem Aufſchrei ab.
„Schloßprinzeſſin! Fränzchen! Donnerwetter, Franziska! Schad’t nichts! O die verfluchten Blutegel! Menſchenkind, wo kommſt du her! Ach, die Bieſter rücken ja nach allen Himmelsgegenden ab! Warte, Fränzchen, ich muß doch erſt einen andern Hafen mit Waſſer holen. Ich muß dich vor allem erſt bitten, hier aufzupaſſen, daß die verdeubelten hirudines nicht ganz und gar das Weite ſuchen!“
Am liebſten wäre ja nun das Fränzchen auf und davon gelaufen. Aber konnte ſie Fritz im Stiche laſſen, nachdem ſie durch ihr überraſchendes Erſcheinen dieſes gräßliche Unheil angerichtet hatte? Während Fritz hinausſtürmte, zog ſie eilends ihren Handſchuh aus und kauerte nun hinter dem Ladentiſche, die kleinen ſchlüpfrigen Ausreißer, die ſich bei jeder Berührung zu dicken unförmlichen Ballen zuſammenzogen und, ſobald ſie ſich frei fühlten, wieder wie Nattern ſchlängelten, immer wieder in die größte Tiefe der auseinanderfließenden Waſſerlache zu einem Knäuel zu häufen und ſie vor den ſcharfen Glasſplittern zu bewahren.
Von dieſer angenehmen Beſchäftigung ward ſie plötzlich durch eine tiefe Baßſtimme aufgeſchreckt. „Nanu, was iſt denn das? Was geht hier vor?“
Ein Herr mit grauem Vollbart ſtand hinter ihr und ſtarrte ſie verwundert durch ſeine goldene Brille an. O, ſie hätte vor Scham in die Erde ſinken mögen; alle die Büchſen und Flaſchen um ſie her hoben einen tollen Tanz an.
„Ich – ich – o Gott – ich habe Unglück gehabt! Bitte, – ſeien Sie nicht böſe!“, ſtammelte ſie purpurübergoſſen.
„Ja, mein Fräulein, da muß ich doch ſehr bitten! Zum Kuckuck, wie kommen Sie hier hinter den Ladentiſch?“ Und der Herr warf auf die Geldſchieblade einen auffälligen Blick, der in Fränzchens Augen die Tränen hervorlockte.
„Und der Schlingel, der Kruſius, paßt nicht auf den Dienſt! Nun, ein Schutzmann wird wohl eher zu erreichen ſein!“
„O lieber – lieber Herr! Haben Sie Erbarmen! Fritz war ja eben hier und hat mich gebeten, auf die Tiere da zu achten.“
„Fritz!? Hm, der Bengel zeigt ſich ja von einer ganz neuen einnehmenden Seite. Was haben Sie eigentlich mit dieſem Fritz zu tun, meine – Dame?“
Nun aber trat zu ihrer Beſchämung ihr jungfräulicher Zorn, und während ihr die Tränen über die Wangen rannen, ſchluchzte ſie: „Was denken Sie von mir, Herr! Fritz Kruſius iſt ja mein – Bruder!“
„Oh, oh, oh, da muß ich allerdings tauſendmal um Entſchuldigung bitten, mein liebes Fräulein. Aber ſehen Sie, davon konnte ich ja keine Ahnung haben“, erwiderte mit ſanftem Brummen Herr Hofapotheker Doktor Hering und ließ mit freundlichem Wohlwollen ſeine Blicke auf dem hübſchen Mädchen ruhen, das ſich trotz ſeiner Aufregung bezwang und keinen Schritt vor- oder rückwärts tat, um die ſich ihr zu Füßen windenden Blutſauger nicht zu zertreten.
„Da muß ich Ihnen ja noch recht ſehr dankbar ſein, daß Sie das offenbare Ungeſchick Ihres Bruders nach Kräften gut zu machen ſuchten und Ihren Kleiderſaum der greulichſten Tunke preisgaben.“
„O nein, ich war ganz allein ſchuld, ich hatte Fritz durch mein Kommen ſo erſchreckt, daß er mit dem Fuße an das Glas ſtoßen mußte.“
„Na, wer wird aber vor ſo einer kleinen niedlichen Schweſter erſchrecken!“, lachte Herr Doktor Hering gutmütig. „Bitte, ſtehen Sie noch einen Augenblick ſtill, ich werde Sie gleich befreien.“
Und nun lag ihr der Herr Prinzipal zu Füßen und las ihr die zappelnden offizinellen Ringelwürmer von den zierlichen Knöpfſtiefeln ab und lachte ſo herzlich dazu, daß Fränzchen trotz ihrer Verwirrung mit einſtimmen mußte und Fritz, der mit dem neuen Glasbehälter eben zurückkam, dieſen beinahe vor Staunen wieder fallen gelaſſen hätte.
„Kruſius, kommen Sie und laſſen Sie die Viecher nicht vollends verſchmachten, ſonſt übernehme ich keine Garantie, daß ſie ſich nicht an Ihrer Schweſter ſchadlos halten!“
Franziska ſprang mit einem Angſtſchrei drei Schritte weit und ſchüttelte ſich.
„Danken Sie Ihrem Schöpfer, Kruſius, daß Ihnen ein ſo ſauberer Fürſprecher erſtanden iſt! Das kommt davon, wenn man den Hafen da ſtehen läßt, wohin er nicht gehört! Leſen Sie die Scherben zuſammen. – So, da wäre der Schaden geheilt, und nun bitten Sie Ihre Fräulein Schweſter um Verzeihung, ſie in falſchen Verdacht gebracht zu haben. Gewiß möchten Sie ſich jetzt ein wenig Ihrem Beſuche widmen. Die Herren werden ſowieſo gleich vom Tiſche aufſtehen und kommen.“
Und ſchmunzelnd entließ er die „Geſchwiſter“.
Fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Fritz Kruſius gerät in die Klemme. Der Rektor Bartels ruft wieder nach der Peitſche ſeines Freundes Schlabrendorf. Alwin Pfitzner ergreift vor Franziska die Flucht.
Fritz nahm das Mädchen bei der Hand und riß es förmlich zur Tür hinaus.
„Du, Prinzeſſin, erſt mußt du einmal mit ins Laboratorium kommen, ich habe da noch – ich war ja beim Experimentieren – o Schock Schwerenot, meine Sauerſtoffretorte!“
Er ließ ſie los und ſchoß ſo raſend davon, daß Franziska ihm nur mit größter Wagehalſigkeit durch den halbfinſteren Gang, den kleinen Hof und über viele Stufen folgen konnte.
„So, ſchon zu ſpät! Da haben wir die Paſtete auch hier!“ Blaugrauer Dunſt erfüllte das Laboratorium. „Einen Augenblick bleib zurück!“
Er ſtürzte ſich, wie der brave Mann in die Etſch, in die wogenden Qualmballen, nicht achtend der Gefahr, ſodaß dem Fränzchen angſt und bange um ihn ward. Schon ſtand es im Begriffe, ihm zu folgen, als er wieder auftauchte, und hoch in ſeiner Linken ſchwang er ein Buch mit freudigem Winken.
„Fritz, was für einen Schrecken haſt du mir wieder eingejagt, und es ſind doch gewiß bloß Gedichte!“
„Der Koller legt ſich mit den Jahren!“, ſagte der Lehrling der fürſtlichen Hofapotheke, das dem verheerenden Elemente entriſſene Buch Franziska gewichtig vor das Näschen haltend.
„‚Aber im ſtillen Gemach entwirft bedeutende Zirkel ſinnend der Weiſe, beſchleicht forſchend den ſchaffenden Geiſt, prüft der Stoffe Gewalt, der Magnete Haſſen und Lieben.‘
Ich bin noch mit einem blauen Auge weggekommen, es iſt mein Rezeptbuch! Siebenhundertundelf Rezepte, die ich ſo ziemlich alle intus habe! Was für ein Schweinigel der Spitznas iſt, weißt du doch noch von Angerbeck her, und der iſt unſer Prüfungskommiſſar! Da heißt es ordentlich auftappen! Na, mein Prinzeps iſt ebenfalls bei dem Rummel, der kennt ihn ja auch, den Spitznas meine ich jetzt. Da du mir blühend geſund erſcheinſt, intereſſieren dich die Rezepte wohl weniger. Hier habe ich aber auch Mittelchen auf dem Gebiete der Kosmetik, z(et) B(e): Unguentum Chinae pomatum, eine ausgezeichnete Haarpomade, Schloßprinzeſſin! Recipe Medullae bovis lotae –“
„Hahaha! Imponiere mir nicht mit deinem Rindermark!“
„Hm, damit wäre alſo kein Geſchäft zu machen, du Naſeweis! Sieh aber hier, an mir ſelbſt probat erfunden! Cera ad barbam!“
„Das kenne ich allerdings nicht. Was iſt das?“
„Göſſel, merkſt du mir die großartige Wirkung nicht an?“ Mit martialiſcher Gebärde zupfte er ſich an den Mundwinkeln.
„Hahaha! Bartwichſe wohl gar! Nun hören Sie aber auf, mein Herr!“
„Bitte, tritt näher, der Qualm hat ſich ziemlich verzogen.“
Auf dem Tiſche in der Mitte des Laboratoriums zitterte eine einſame Spiritusflamme, die mit ihrem blaßblauen Scheine auch weiter kein Licht in die Sache brachte, und über ihr hing an einem eiſernen Halter eingeklemmt der lange Hals einer zertrümmerten Glasretorte. Der ganze Raum aber war wie die Städte Herkulanum und Pompeji mit einem Aſchenregen überſtreut.
„O Himmel, Junge, was iſt denn das?“
„Manganſuperoxyd, MnO2, und Kaliumchlorat, KClO3, Kleine“, ſagte der junge Chemiker mit der ruhigen Sicherheit eines Fachmannes. „An dem Chaos hier biſt du aber gerade ſo ſchuld, wie an der Blutegelaffäre. Ein Glück für dich, daß die Choſe noch ſo gnädig abgelaufen iſt. Hätte ich mehr von dem Zeug hineingetan, wäre uns womöglich die ganze Bude in die Luft gegangen.‘
„Warum haſt du denn aber auch die Spirituslampe brennen laſſen?“
„Das war noch gut, denn ſonſt wäre das Unglück noch viel ſchneller eingetreten, kleine Neunzigmalgeſcheite!! Dann wäre das kalte Waſſer aus der pneumatiſchen Wanne ſehr bald in die heiße Retorte hinaufgeſtiegen und hätte ſie ebenfalls zerplatzt. Du könnteſt aber mal hier deinen berühmten Ordnungsſinn zeigen und ein wenig die Spuren meines infernaliſchen Schaffens beſeitigen, ehe es anderweit ruchbar wird. Hier haſt du einen Beſen, und dort liegt auch ein Flederwiſch. Und dann erzählſt du mir dabei, wie du eigentlich hierherkommſt. Mich aber entſchuldige, wenn die Starrheit über dein Auftauchen mich von neuem mit doppelter Gewalt befällt.“
Damit ſtülpte er den Dämpfer auf die Spirituslampe und warf die Trümmer der Retorte in den Scherbenkaſten. Dann ſah er ſich nach einer paſſenden Sitzgelegenheit um und entdeckte ſie in der Saftpreſſe, die er quer vor den Eingang ſchleppte.
„So, Fränzchen, Cerberus wird nichts gegen mich ſein, den Zu- und Ausgang dieſer Hölle zu bewachen. Du kannſt alſo ungeſtört dein zwiefach Werk betreiben.“ Mit ſeinem Rockärmel ſäuberte er die beiden Wangen der Preſſe, ſetzte ſich darauf, hielt ſein Rezeptbuch auf dem Schoße, baumelte mit den Beinen und ſah „die Kleine“ allerdings mit ſolch ungeheucheltem Staunen an, daß ſie trotz ſeiner grenzenloſen Unverſchämtheit wieder lachen mußte.
„Das iſt viel auf einmal verlangt! Da erlaube wenigſtens, daß ich meinen Hut abſetze und mein Kleid aufraffe, denn die Blutegellache mit dem entſetzlichen Mulm hier würden mir einen ſchönen Hammel aufhängen. Dein Herr Prinzipal wurde übrigens zuletzt ſo rieſig nett, daß ich doch das Lachen nicht halten konnte. Und dann mußte ich ja auch an deinen famoſen Satz bei Rektor Bartels denken, weißt du?“
„Weiß ich nicht, dazu habe ich zuviel famoſe Sätze verbrochen.“
„Wie du hirundines und hirudines verwechſelt und überſetzt hatteſt: Die Blutegel haben einen ſchnellen Flug.“
„Laß die Toten ruhen, Mädchen, und löſe lieber meinen Starrkrampf!“
„In den Beinen ſcheinſt du ihn ja nicht zu haben, bloß in den Händen“, ſagte Franziska anzüglich und ſchaffte eifrig an der Säuberung des Laboratoriums und der Aufklärung ihres Geſellſchafters. Wenn ſie von der Güte und den mancherlei Sorgen der Eltern redete, zumal von dem wenig befriedigenden Geſundheitszuſtand ihres Pflegevaters, ſo ſah ſie dabei den großen Jungen immer recht eindringlich an, kam aber auf Herrn Tränenreich die Rede, ſo hatte ſie ſich in die dunkelſten Winkel zu bücken.
Endlich war ſie fertig und hielt Fritz ihre beſchmutzten Hände entgegen.
„Dort iſt Aqua destillata naturalis in Maſſe“, ſagte Fritz und wies auf ein großes Regenwaſſerfaß, das erhöht in einer Ecke des Raumes unter dem Ausflußrohre einer Dachrinne angebracht war. „Drehe nur den Hahn auf, Seife und Handtuch haſt du da ebenfalls.“
Er ſaß ganz zuſammengekauert auf der Preſſe, ließ den Kopf ſinken und vergaß ſogar das Eſelausläuten.
Franziska trat auf ihn zu, ſchüttelte ihr aufgerafftes Kleid wieder in Ordnung, ſetzte ihren Hut auf den Scheitel und klatſchte in die geſäuberten Hände.
„So, mein Herr und Gebieter, nun bitte ich, mich hinaus zu laſſen, denn meine Gräfin könnte doch den gewünſchten Schlaf nicht gefunden haben und auf mich und ihr Migränepulver warten.“
„Laß deine Gräfin auf den Teufel warten!“, knurrte Fritz und ließ ſein Auge durchbohrend auf ihr ruhen. „Was denkſt du nun eigentlich über Herrn Tränenreich?“
„Was ſoll ich denn über den denken?“
„Wenn du von ihm ſpracheſt, biſt du immer meinen Blicken ausgewichen. O, ich habe es wohl bemerkt! Ich will wiſſen, wie er ſich gegen dich benommen hat!“
„Koloſſal liebenswürdig, wenn du es denn durchaus wiſſen mußt!“
Sie ſetzte einen graziöſen Knicks vor die Fruchtpreſſe, und der Schalk guckte ihr aus den Augen. „Er iſt ein äußerſt liebenswürdiger junger Herr und durchaus nicht ein ſolch bärbeißiger Cerberus wie du! Nun muß ich aber wirklich gehen.“
„Mädchen, mache mich nicht raſend! Au! O verfluchtes Pech!“
Wie aus der Piſtole geſchoſſen war er von ſeinem Hochſitze herunter, denn durch ſeine heftige Bewegung waren die beiden eichenen Wangen der Preſſe zuſammengerutſcht und hatten ſeine hinteren Fleiſchteile zwiſchen ſich geklemmt. Er rieb ſich dieſe alſo erſt, ehe er auf das Mädchen weiter losfuhr.
„Alſo dieſer Luftikus, dieſer dreimal deſtillierte Windhund gefällt dir wirklich!“
„Menſch, laß mich los! Man könnte ſich ja vor dir fürchten! War denn Herr Tränenreich nicht einſt dein Ideal, das du mir dummer Gans auf den Klippen des Ith als Muſter vorgehalten haſt?“
„War er, war er einmal!
‚Auf die Unſchuld ſchielt der Verrat mit verſchlingendem Blicke, mit vergiftendem Biß tötet des Läſterers Zahn!‘“
„Den Spaziergang von Schiller haſt du ja von der Schule her auch noch ſo leidlich intus. Daß ich mich aber von Herrn Tränenreich nicht habe verſchlingen oder vergiften laſſen, ſiehſt du wohl zu deiner Beruhigung.“
„Seitdem ich hier ſitze und er dort, hat er verdammt viel in meiner Achtung verloren, Franziska! Meine Alte – meine Mutter hätte mir wahrhaftig keinen größeren Gefallen tun können, als dich hierher zu ſchicken! Mir iſt der ſchwerſte Stein vom Herzen gefallen, daß du nicht mehr in Angerbeck biſt.“
„So, nun das freut mich zu hören, Fritz, ich fürchtete ſchon, ich käme dir recht ungelegen.“ Franziska errötete faſt, wie vorn in der Offizin vor Herrn Doktor Hering.
Fritz ſah es und lachte vergnügt und ſchob die Saftpreſſe zur Seite. „Darf ich denn, wenn ich meinen freien Nachmittag habe, dich auch einmal bei deiner Gräfin vor dem Petritore beſuchen?“
„Warum nicht? Wenn du artig biſt und Zeit und Luſt haſt. Doch ich denke, dein Examen –“
„Na ja! Aber immer kann doch der Menſch auch nicht ochſen. – Aber du, Schloßprinzeſſin, noch eins! Warum haſt du meinem Prinzeps vorgemöbelt, ich – ich wäre dein Bruder?“
Das Fränzchen blieb auf dem Hofe ſtehen, trotz der Eile, nach Hauſe zu kommen, und war jetzt wieder auf einmal blaß. „Ah – verzeihe, daß ich vergeſſen hatte, was du mir ſchon früher ſo oft vorgeworfen haſt“, ſagte ſie ganz kleinlaut, und Fritz glaubte zu bemerken, daß es feucht in ihren Augen ſchimmerte. – „Aber, – was hätte dein Herr denken ſollen, wenn du von einem fremden Mädchen verlangt hätteſt, dir deine Blutegel zuſammen zu leſen. Ich konnte ihm doch nicht in der Eile erklären, daß ich in der Angerbecker Apotheke vor vielen Jahren bloß als ein armes Waiſenkind aufgenommen wurde. Und hier hinten ins Laboratorium hätte ich doch erſt recht nicht mitgekonnt und Ordnung machen.“
„Aber, Fränzchen, du verſtehſt mich ja gar nicht! So habe ich’s wahrhaftig jetzt nicht gemeint, wie damals als einfältiger, dummer und niederträchtiger Bengel! Aber Kinder und Narren, du und ich nämlich, ſprechen doch die Wahrheit. Es iſt mir nicht lieb, wenn du mich deinen – Bruder nennſt! Freilich, beim Prinzeps vorn konnteſt du gar nichts Geſcheiteres tun.“
„Na alſo!“, erwiderte das Fränzchen, auffallend ſchnell getröſtet. „Und wie iſt’s bei meiner Gräfin?“
„Da biſt du ſelbſtredend meine liebe kleine – Schweſter!“
„Na alſo! Nun bitte ich aber endlich um mein Migränepulver.“ – –
Zu derſelben Stunde, als Franziska Zrovnal die letzte Untat des Lehrlings in der fürſtlichen Hofapotheke verwiſchte, trat aus einer Buchhandlung am Altmarkte der Rektor Eberhard Bartels und wollte ſich nach Hauſe begeben. An der Frongaſſenecke aber ſtieß er auf einen weißbärtigen Herrn, der ſoeben den Letzten Seufzer verließ.
„Ei, mein lieber Rektor, daß ich Sie hier treffe, kann wahrlich nicht beſſer paſſen!“
„Geſegnete Mahlzeit, Herr Juſtizrat, womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ja, ſehen Sie, ſchon zweimal habe ich abends da drin beim alten Mettje vergeblich auf Sie gewartet. Sie müſſen es ſich alſo gefallen laſſen, wenn ich Sie hier mitten auf dem Markte anfalle. Sind Sie etwa wieder in ihr altes miſanthropiſches Laſter verfallen?“
„O dieſes nicht! Es lebt ſich doch hier in Fürſtenberg ein ganz Teil behaglicher als in Angerbeck. Nein, ich konnte mit dem beſten Willen kein Stündchen erübrigen.“
„So, ſo. Bin gegenwärtig auch mit Geſchäften überhäuft, und Sie ſollen mir als Beirat dienen in einer Sache, die mich möglicherweiſe noch ſehr in Anſpruch nehmen kann.“
„Ich? Aber Herr Doktor Former, ich –“
„Sind Sie etwa nicht mit Angerbeck und den dortigen Verhältniſſen bekannt geworden? Oder haben Sie dort auch bloß als olle Unke hinter der Schulmauer geſeſſen?“
„Um Angerbeck alſo handelt ſich’s? Nun, wenn ich imſtande bin –“
„Kennen Sie die Verhältniſſe in der dortigen Apotheke näher?“, ſchoß der Juſtizrat Doktor Former gerade auf ſein Ziel los. Er war einer der geſuchteſten Rechtsanwälte der Hauptſtadt.
„Allerdings, ziemlich genau ſogar“, antwortete der Rektor, und eine böſe Ahnung ſtieg in ihm auf. „Indes, ich – indiskret möchte ich nicht gerade ſein.“
„Papperlapapp! Was heißt indiskret! Wenn wir Rechtsverdreher um jede zarte Diskretion uns herumdrücken wollten, erreichten wir überhaupt nichts! Beruhigen Sie ſich aber; wenn der alte Kruſius etwa gar ein Freund von Ihnen iſt, ſo iſt mir das um ſo lieber. Mehr hineinreiten können Sie den Mann unmöglich, dazu ſitzt er zu tief in der Kreide. Nur nützlich ſein können Sie ihm. Mein Wort darauf!“
Und aus den alten ſcharfen Juriſtenaugen des kleinen Herrn leuchtete ein ſo unverkennbares Wohlwollen, daß der Rektor erwiderte: „Gut, ich werde Ihnen Rede und Antwort ſtehen, der Apotheker Tobias Kruſius iſt mein Freund.“ Und er ſchloß ſich dem langſam im Schalten der Häuſer weiter wandelnden Anwalt an.
„So muß ich Sie zunächſt fragen, ob Sie wiſſen, daß der Apotheker ſehr verſchuldet iſt?‘
„Ja, das weiß ich leider!“
„Er hat ſo bedeutende Verpflichtungen, daß ich bezweifle, ob er ſeine Apotheke wird halten können, wenn ihm nicht anderweit Hilfe kommt. Das ſchlimmſte aber iſt, daß der allergrößte Teil ſeiner Forderungen ſich in einer Hand vereinigt. Da haben wir zunächſt die erſte Hypothek von fünftauſend Talern, die –“
„Ich weiß, die hat der alte Mettje da drin ſeit vierzig Jahren auf der Angerbecker Apotheke ſtehen.“
„Hatte ſie, hatte ſie einmal, alter Freund! Jetzt aber hat ſie eben derſelbe Herr, der auch die übrigen Rechte geltend machen kann.“
„Der Schw… – der Herr von Spitznas alſo!“, fuhr der Rektor auf.
„Pſt, pſt! Ich muß Sie doch ernſtlich bitten, hier keinen Straßenauflauf zu verurſachen. Gehen Sie ruhig weiter, an der Ecke dort kehren wir ganz harmlos plaudernd um. Ich ſage Ihnen, ich rede im Vertrauen und im Intereſſe Ihres Freundes mit Ihnen. Aber erſtaunt bin ich, Sie ſo eingeweiht zu finden!“
„Beſter Herr, wie iſt denn das möglich? Ich meine das mit der Hypothek. Der alte Mettje war doch ganz ſicher und hat ſeit vierzig Jahren regelmäßig ſeine Zinſen bekommen!“
„Die Geſchichte iſt ſehr einfach zugegangen. Mit der Aufbringung dieſer Zinſen hat es in der letzten Zeit doch wohl etwas gehapert. Der Herr, den Sie nannten, hat ihrem Freunde das Kapital um ein Prozent billiger angeboten, aus reiner Gefälligkeit natürlich, und Herr Kruſius hat ebenſo natürlich zugegriffen.“
Trotz der Mahnung des Juſtizrats blieb Eberhard Bartels von neuem ſtehen, ballte die Fäuſte und ſtöhnte: „Deine Peitſche, deine Peitſche, Schlabrendorf!“
Doktor Former zog ihn vorwärts. „Was Sie mit der Peitſche dieſes Herrn meinen, weiß ich nicht. Wenn Sie ſich aber noch ein einziges Mal Ihren Gefühlen in dieſer auffallenden Weiſe hingeben, laſſe ich Sie hier ſtehen und der Sache ihren Lauf. – Die übrigen Schulden machen etwa den Gegenwert der Angerbecker Apotheke voll, wie ich vermute. Es ſteht alſo ſchlimm, ſehr ſchlimm, und wenn dieſer Gläubiger mir den Auftrag geben ſollte, den Handel zum Austrag zu bringen, müßte ich leider, leider meiner Pflicht genügen! Bis jetzt bin ich nicht an ihn und die Wahrung eines Amtsgeheimniſſes gebunden, denn das, was ich Ihnen mitteilte, hat mir der alte Mettje ſelbſt ausgeplaudert, den der Herr von Spitznas mit ſeinen Wechſeln und Schuldverſchreibungen, die er ihm unter die Naſe gehalten, erſt gefügig gemacht hat. Man kann’s ihm ja nicht verdenken, der Kerl hat ſogar um ſeine Hypothek Angſt bekommen, ärgert ſich nun aber doch über die Geſchichte. Nun ſagen Sie mir, wiſſen Sie einen Rat, dem Herrn Obermedizinalrat ſeine Forderungen abzutreiben?“
Herr Bartels blieb die Antwort ſchuldig und ging in tiefem Sinnen an der Seite Doktor Formers.
„Ich ſah Sie kürzlich in Begleitung der Gräfin Milowska. Ja, ja, leugnen Sie nicht! Ich weiß, dieſe iſt reich und auch wohltätig. Sie hat dem Krankenhauſe ein Freibett geſtiftet. Haben Sie Beziehungen zu ihr, könnten Sie ſie nicht zu einer Befriedigung des Gläubigers vermögen, zumal ſie doch immer eine Sicherheit für ihr Geld behält?“
„Nein“, ſagte der Rektor barſch.
„Herr, Sie ſind ja ſehr kurz angebunden, wenn es ſich um eine mögliche Rettung Ihres Freundes handelt.“
„Dieſe Möglichkeit laſſen Sie aus dem Spiele, wenn ich bitten darf.“
„Wie Sie wollen! Beſitzt der Apotheker Kruſius außer ſeinem eigentlichen Anweſen noch andere Objekte von Wert?“
„Eine großartige Fläche Heideland, Herr Juſtizrat!“, lachte Eberhard Bartels bitter auf, „die ihm durch die Separation neuerdings zugefallen iſt und zwar an Stelle ſeiner früheren ſchönen Wieſen und Felder!“
„Und wo liegt das neue Land, wenn ich fragen darf?“
„An der neuen Bahn.“
„Was ſie ſagen! Ei der Tauſend, an der neuen Bahn alſo!“
„Ja, und kein Menſch wird ihm auch nur fünfhundert Taler für die ganze Gegend geben wollen! Und ich bin überzeugt, daß er dieſen Segen ebenfalls dem ſaubern Herrn Gläubiger zu verdanken hat, der im Landesausſchuß für Volksökonomie ſitzt!“
„Hahaha! Nun, wenn das keine Ironie des Schickſals iſt, ſo – –“
Der Juſtizrat ſchnappte mitten in ſeinem Heiterkeitsausbruche ab, ließ alſo den Rektor in Zweifel darüber, was für eine Ironie und ein Schickſal er meinte, und zupfte ſeinen Begleiter am Ärmel. „Ich glaube, das gilt Ihnen, denn ſolch niedlicher Bekanntſchaften kann ich mich leider nicht rühmen. Das junge Mädchen hat ſchon zweimal einen Anlauf auf uns gemacht und ſcheint ſich nicht heranzugetrauen.“
Herr Bartels wandte ſich nach der bezeichneten Richtung um und ſah Franziska Zrovnal von der Apotheke her ſich ſchüchtern nähern.
„Ah, verzeihen Sie, Herr Juſtizrat, die Kleine gehört allerdings ſozuſagen zu mir! Denken Sie ſich, ſie kommt nicht nur aus der fürſtlichen Hofapotheke dort, ſondern auch aus der Angerbecker. Auf einen Augenblick muß ich ſie doch begrüßen! – Ja – aber – was iſt denn das nun?“
Dieſe letzte Frage wurde durch das eigentümliche Benehmen der jungen Dame hervorgelockt, die jetzt nichts weniger als ſchüchtern an den beiden Herren vorübereilte, ohne ſie weiter zu beachten. Und als dieſe nun ihr nachſahen, bemerkten ſie eben noch, wie eine lange Geſtalt hinter der Frongaſſenecke verſchwand.
„Höchſt ſonderbar!“, ſagte der Rektor kopfſchüttelnd. „Was muß dem Kinde ſo plötzlich ins Krönchen gefahren ſein?“
Sie ſtanden an der beſagten Ecke, das junge Mädchen war ſchon weit entfernt, und den langen Menſchen ſahen ſie überhaupt nicht mehr.
„Höchſt ſonderbar!“, ſagte auch der Juſtizrat kopfſchüttelnd. „Kannten Sie den Mann?“
„Daß ich nicht wüßte.“
„Der gehört zu meiner Bekanntſchaft, und ich möchte wetten, daß er’s eigentlich auf mich abgeſehen hatte. Es ſieht aber wahrhaftig aus, als hätte er vor der jungen Dame das Haſenpanier ergriffen.“
„Wer war es denn?“
„Einer meiner Klienten, ein Schauſpieler oder ſo etwas Ähnliches. Das Hoftheater wird ja nächſtens wieder ſeine Pforten auftun, und ſo wird auch das Perſonal aus der Provinz zurückgekehrt ſein.“
„Wahrhaftig! Sie haben recht, Herr Doktor. Jetzt entſinne ich mich auch des Menſchen. Daß mein Fränzchen ſeiner habhaft werden möchte, ſcheint mir ſehr natürlich, er iſt ein Freund ihres verſchollenen Vaters.“
„Ihres Vaters, ſagen Sie?“
„Ja, ſie iſt von Kruſius und ſeiner Gattin als Halbwaiſe in’s Haus genommen.“
„Und ſie heißt?“
„Franziska Zrovnal.“
„Hm, ein eigentümlicher Name! Glauben Sie, daß er mehrfach auftritt?“
„Hier herum wohl ſchwerlich! Der Vater ſtammte aus Böhmen.“
„Danke, Herr Rektor, für Ihre ſchätzenswerten Mitteilungen, ich will Ihnen nun nicht länger läſtig fallen und wieder an mein Pult zurückkehren."
„Inwiefern Ihnen meine Mitteilungen ſchätzenswert erſcheinen, kann ich leider nicht einſehen. Eigentlich habe ich Ihnen doch gar nichts berichten können! Aber, was Sie in der Angelegenheit tun können, –“
„Wiſſen Sie, was ich wenigſtens tun kann? Den Herrn Geheimen Obermedizinalrat ein Jährchen unter allerhand Bedenken hinhalten und zuletzt zu ihm ſagen: Mein Verehrteſter, Ihre Sache erſcheint ſehr ausſichtsreich und einträglich, aber – ſie iſt mir zu dreckig!“
Damit ſtapfte Herr Juſtizrat Doktor Former ſeinem Bureau zu. – –
„Das kinſtleriſche Bedirfnis der Brovinz hammer wieder ämal befriedigt, Herr Juſtizrat, un ganz Schleswig-Holſtein vor unſerer Rampe gehabt. Nu kennten mr ſucceſſifeh uns unſern brifaten Ahngelegenheiten weihen!“
So tönte es dem Anwalt aus ſeinem Wartezimmer entgegen, und das Faktotum Theophil Xylanders erhob ſich als erſter und alleiniger Klient von der Bank.
„Und vor einem jungen Dinge bekommen Sie das Lampenfieber und reißen aus, Sie Prahlhans!“, lachte der Juſtizrat. „Ich habe Sie wohl bemerkt!“
„In’n Letzten Seifzer bin ich neingemacht un zum Hintertir’l wieder naus!“, ſagte Alwin Pfitzner aus Annaberg pfiffig. „Nu, Herr Juſtizrat, kennt’n mr?“
„Treten Sie ein, ich glaube einen Schritt vorwärts gekommen zu ſein.“
Sechſundzwanzigſtes Kapitel.
Fritz macht ſich bei der Gräfin Milowska angenehm und erhält ein Freibillet. Fränzchen bemengt ſich mit verdächtigen Leuten und verpaßt darüber beinahe den Schnellzug.
Fritz Kruſius fand wirklich an vielen ſeiner freien Nachmittage Zeit, ſich Vor dem Petritore Numero 24 einzuſtellen, und die Luſt dazu hatte er noch viel öfter. Bei den Damen wußte er ſich ſo recht von der liebenswürdigſten Seite zu zeigen; er machte es wie der Mond, der ſanfte, freundliche Sohn der Erde, der ſeiner Mutter auch immer nur ſein breites heiteres Geſicht zeigt und ſo den Schein erweckt, als habe er gar keine dunkle Kehrſeite.
Bei den Abendmahlzeiten der Gräfin Milowska war er ein gern geſehener Gaſt, er brachte „Leben in die Bude“ und ſorgte für die Unterhaltung und gutes Wetter, denn er hatte den ſehr nützlichen Aberglauben, zu letzterem Zwecke ſtets reinen Tiſch zu machen, wobei ihm ſein von Frau Ottilie ſchon rühmend anerkannter Appetit recht gute Dienſte leiſtete. Auch als Führer auf den Spaziergängen in die ſchöne nähere und weitere Umgebung Fürſtenbergs machte er ſich angenehm und nützlich. Für ihn kam dabei hauptſächlich die weitere in Betracht, und er entwickelte eine großartige Virtuoſität im Beſchwatzen der Gräfin, die gerade keine Freundin von anſtrengenden Fußwanderungen war, ihm doch immer wieder über Tal und Hügel, durch Feld und Wald nachzukriechen.
So mußten die ermüdeten Damen oft genug, ſtatt ſich in einem eleganten Kaffee- oder Konzertgarten zu erholen, mit einer elenden Dorfſpelunke fürlieb nehmen und ſich hier mit einem Glaſe Kirſchwaſſer oder einer Satte dicker Milch begnügen. Für das Fränzchen waren dieſe Streifereien aber trotzdem ein Hochgenuß, ſie konnte ja mit Fritz nach Herzensluſt von Angerbeck plaudern! Und daß ſie nicht blind war für die Schönheiten der Natur, wiſſen wir ebenfalls.
Herr Tränenreich aber war für beide nunmehr eine abgeſchloſſene, überwundene Sache, ſie erwähnten ihn mit keinem Worte.
Ein Glück für die jungen Leute müſſen wir es nennen, daß der liebe Gott auch hier, wie der Bayer ſpricht, der Geiß den Schwanz nicht zu lang wachſen ließ. Sie wären ohne Sinn und Verſtand in die Welt hinausgelaufen, wenn die Gräfin Milowska ihnen nicht immer als Hemmſchuh angehangen hätte. Und ein Glück für Fritz und mehrere unſerer Freunde, die wir im Verlaufe unſerer Geſchichte kennen gelernt haben, war es auch, daß er nach einiger Zeit wieder mehr Muße für ſeine doch recht bedenklich unterbrochenen Studien fand, denn die Gräfin ging auf Reiſen und nahm natürlich das Fränzchen mit ſich. – –
An dieſer Stelle können wir uns füglich eine Ruhepauſe zum Atemſchöpfen in unſerm Bericht geſtatten. Die Gräfin Milowska laſſen wir mit ihrer jungen Begleiterin ziehen, zunächſt auf ihr ſchleſiſches Gut in die Waſſerpolackei, dann nach Wien, an das Adriatiſche Meer und nach Italien, wo ſie die Stätten wieder aufſuchte, wo ſie einſt ihren kranken Gemahl gepflegt hatte. Wir überlaſſen Fritz Kruſius in ſeiner Offizin, ſeinem Laboratorium und ſeinem Dachkämmerchen ſich ſelbſt und ſeinen Büchern, denn das iſt das beſte für ihn. Der Rektor Bartels gebraucht uns auch nicht, ſeine Schule weiter in Schwung zu bringen und ein Geſchlecht zu erziehen, das „nicht von Pappe“ iſt. Was der Juſtizrat Doktor Former unter Beihilfe des närriſchen Sachſen aus Annaberg zuſammenformt, werden wir zu ſeiner Zeit und noch früh genug erfahren. Aber auch in Angerbeck rückt der Uhrzeiger ohne unſer Zutun allmählich und unmerklich der Stunde entgegen, die uns wieder in die alte Apotheke Einkehr halten läßt. Die Alten laſſen wir älter werden und die Jungen weiter heranreifen und nehmen unſere Erzählung erſt wieder nach Jahr und Tag auf, wenn unſere Feder notwendig gebraucht wird, den Ereigniſſen, denen wir noch in unſerem Buche Raum gewähren müſſen, ihren Gang weiter vorzuſchreiben. – –
Die Gräfin Milowska hatte die Wintermonate in der Reſidenzſtadt Fürſtenberg zugebracht. Aber zur Zeit, als das fürſtliche Hoftheater geſchloſſen wurde und Herr Theophil Xylander, ſeinem alten Gebrauche gemäß, mit ſeinem Künſtlerperſonal in die Provinz abzuziehen gedachte, rüſtete man ſich auch in der Villa Numero 24 vor dem Petritore wieder zur Abreiſe. Denn die Gräfin wollte ihrer Nerven wegen diesmal ein Nordſeebad beſuchen, und zwar hatte ihr der Arzt zu Helgoland geraten.
Sie wollte Franziska und Fritz zuvor noch eine Freude machen und hatte letzterem zur Abſchiedsvorſtellung im Theater ein Billet geſchenkt, denn er wurde – wie wir aus ſeiner früheren Bemerkung gegen Herrn Tränenreich und den uns bekannten Worten Frau Ottiliens: „Unſere Finanzlage iſt miſerabel“ ſchließen können, „verteufelt knapp im Taſchengelde gehalten.“ Der junge Pharmazeut genoß alſo die Ehre, von einer Loge des erſten Ranges aus, neben dem Fränzchen an der Brüſtung ſitzend, den Götz von Berlichingen in Szene gehen zu ſehen, während ſich ſeine Gönnerin mehr im Hintergrunde hielt und von hier aus ihre Freude an den Angerbecker Kindern hatte.
Schon vor dem Aufziehen des Vorhangs ſchwelgte Fritz in nie gekannter Seligkeit, daß er, der arme Apothekerlehrling, in dem blendenden Lichterglanze mit dem ſchönen Mädchen, das die Welt geſehen hatte, plaudern durfte! Wie ein Sieger über Tauſende ließ er ſeine Blicke ſchweifen über die vielen Operngucker, die ſich aus den gegenüberliegenden Logen und dem Parkett da unten auf die richteten, die Schulter an Schulter mit ihm ſaß und ihn allein freundlich anlächelte.
„Du, Schloßprinzeßchen, wenn’s einen großen Krach tut, ſo erſchrick bei Leibe nicht, dann bin ich nämlich bloß vor Überhitzung geplatzt wie meine Sauerſtoffretorte damals. Weißt du noch?“
„Aber Fritz, wirſt du denn nie und nimmer vernünftig? Du wäreſt doch jetzt alt genug dazu!“
„Ha, guck nur! Die Kerle ſind noch viel älter als ich! Wie ſich die Hyperboreer die Hälſe ausrenken nach der neu aufgehenden Sonne!“
Und Fränzchen, ſein Fränzchen, das gar keine Ahnung davon hatte, daß ſo viel Aufmerkſamkeit ihm galt, lachte ihn aus.
„Du, am liebſten gäbe ich dir augenblicklich vor verſammeltem Volke einen – einen Kuß“, flüſterte er dicht an ihrem Ohre.
„Da hört doch alles auf! Du ſchämſt dich wohl gar nicht!“ Sie rückte ein Stück von ihm ab.
„Nein, durchaus nicht, Fränzchen, ich fürchte nur, daß ich damit das Haus der Philiſter in ſeinen Grundfeſten erſchüttern und zum Zuſammenſturz bringen würde.“
„Nun laß aber die Albernheiten“, wehrte ihm Franziska, „man hört ja nichts von der Muſik.“
Kaum war die Ouverture verklungen und die fränkiſche Herberge eröffnet, als Fritz ſeine Nachbarin wieder anſtieß. „Sieh mal den langen Kerl an, der eben noch ein Glas Branntwein verlangt, iſt das nicht der billige Jakob aus Sachſen vom Angerbecker Schüttenhofe? Dieſes breitgezogene Maul iſt echt und kein Blendwerk von Schminke und Tuſche!“
Auch Franziska erkannte jetzt den Sachſen Alwin Pfitzner, den Freund ihres Vaters, der ihr gewiß von dieſem hätte berichten können, und der ihr doch ſo ſchändlich entlaufen war! Was für einen Grund mochte er haben, ihr nicht Rede ſtehen zu wollen? War ihr Vater geſtorben oder gar – –. Über ihre klaren Augen legte ſich ein trüber Schleier. Der Begräbnistag ihrer ſeligen Mutter tauchte aus längſt vergangener Zeit mit allen Einzelheiten vor ihr auf und ließ ſie alles um ſich vergeſſen. Sie ſah ihren Vater in der bunten Narrenjacke und den wüſten ſangen Haaren an dem ſchwarzen Sarge im Angerbecker Schloſſe ſtehen und fühlte wieder ſeinen Blick aus den ſchönen dunkeln traurigen Augen auf ſich ruhen. Ja, was war aus ihm geworden? Wie gern hätte ſie den Mann dort auf der Bühne einmal geſprochen, der ſie einſt als „Onkel Alwin“ um den friſchen Grabhügel ihrer Mutter in kindiſchem Spiele gejagt hatte! Nur an die trübſten Tage ihrer Kindheit konnte ſie bei dieſem luſtigen langbeinigen Geſellen Sievers denken, der durchaus die Bamberger prügeln und den Fürſten die Haut über die Ohren ziehen wollte. Es war eine Wohltat für ſie, daß im Zuſchauerraume das Gaslicht eingedreht war und Fritz jetzt nur Augen und Ohren für die Szene hatte, die ſich ſoeben aus der Herberge in Schwarzenberg in die im Walde verwandelte.
Ein anderer Bekannter trat auf und trug ihr einen nicht gerade gelinden Fußtritt auf ihren eleganten Lackſchuh ein.
„Guck, Prinzeßchen, das iſt er ſelber, Xylander, er ſpielt den Götz! Ein feudaler Kerl! Sieh nur, ſeine Augen blitzen bis hier herauf!“
Hätten die beiden Zeit und Sinn dafür gehabt, die Gräfin hinter ihnen zu beobachten, ſo würden ſie bemerkt haben, daß dieſe jetzt auch ihre beſonderen Gedanken haben mußte; ſie hatte ſich weit in den Schatten der Logenecke zurückgelehnt, verfolgte aber mit geſpannten Blicken das Spiel des Ritters und ſeines Buben Georg. Nur einmal war es Franziska, als wenn ſich ein ſchwerer Seufzer hinter ihr vernehmen ließe. Als ſie ſich umwandte, lächelte ihr aber Gräfin Milowska freundlich zu und bedeutete ihr durch Zunicken, ſich der Bühne wieder zuzuwenden.
In buntem Wechſel zogen die Szenen durch die Akte, und niemand im weiten Rund folgte mit größerem Anteil dem Gange des Meiſterwerks als die beiden Kinder Angerbecks. Nur als ihr Spezialfreund Alwin Pfitzner ſich aus dem rebelliſchen Bauern Sievers in Götzens Freund Selbitz verwandelt hatte, machte Fritz ſeine ſchöne Nachbarin gebührend und nachdrücklich auf dieſen Umſtand aufmerkſam, auch auf die Gefahr hin, ſie in ihrer Aufmerkſamkeit zu ſtören.
„Sag mir nur, Fränzchen, wo und wie hat dieſer Menſch ſein anderes Bein untergebracht, noch dazu eins von ſolch phänomenaler Länge! Und dabei ſpringt er herum, als wäre er als Stelzfuß auf die Welt gekommen. Der Kerl nötigt mir doch eine gewiſſe Achtung ab.“
Alwin Pfitzner aus Annaberg verſtarb im dritten Akte als tapferer Hans von Selbitz, erſtand im vierten gleich dem ſagenhaften Vogel Phönix aus ſeiner Aſche und zwar als Gerichtsdiener, ließ ſich im fünften Götz zuliebe als Zigeunerhauptmann erſchießen, um als Älteſter des heimlichen Gerichts endlich ſeine vielſeitige Wirkſamkeit zum Abſchluß zu bringen, das heißt auf der Bühne. Denn dem guten Gedächtnis unſerer verehrten Leſer wird noch erinnerlich ſein, daß er erſt nach dem Heimgange ſeines Chefs die Pforte des fürſtlichen Hoftheaters zu ſchließen pflegte.
Fritz Kruſius aber müſſen wir es zur Ehre nachrühmen, daß er ſeine weitere Verwunderung über den chamäleonartigen Sachſen für ſich behielt und ſich und Franziska damit nicht weiter um den Genuß des Schauſpiels brachte. Ihm war es alſo beſonders zu danken, daß, als der Vorhang fiel, das Fränzchen mit feuchtſchimmernden Augen wie in Verzückung daſaß. Auch ihn ſelbſt hatte das Ende des ehrlichen Götz zu mächtig ergriffen, als daß er imſtande geweſen wäre, jetzt noch durch irgend eine alberne Redensart die Weihe dieſer Stimmung unzart aufzuheben. Er begnügte ſich daher, Franziska beim Arme zu nehmen und ſie der Gräfin Milowska zuzuführen.
Aber war denn das nun wirklich die Gräfin Milowska, der eine Tragödie etwas ſehr Alltägliches war, die ſo reizend über die neueſten Erſcheinungen auf dem Gebiete der Mode, der Promenade, des Stadtklatſches, der faſhionablen Geſellſchaft plaudern, die die aufregendſten Rührſzenen der Leihbibliotheksliteratur mit kaltlächelndem Gleichmute hinnehmen konnte? War ſie es, die ſich hier im Hintergrunde der Loge vergeblich abmühte, ihr krampfhaftes Schluchzen unter ihrem zuſammengeknüllten, mit der neunzackigen Krone geſchmückten Batiſttüchlein zu erſticken? Erſt die erſtaunt und fragend auf ſie gerichteten vier Augen vermochten es, ihr die Faſſung einigermaßen zurückzugeben.
„Kommt, Kinder“, ſagte ſie, ihre Tränen trocknend, „es iſt ein Trauerſpiel.“
„Geſtatten Sie, gnädige Frau“, konnte ſich Fritz nicht enthalten, beim Verlaſſen der Loge zu bemerken, „Goethe hat den Götz nicht eigentlich als ein ſolches aufgefaßt und bezeichnet.“
„Liebe Unſchuld, das habe ich auch nicht ſo gemeint. Sie haben wohl die Güte, uns unſere Mäntel und Shawls zu holen.“
Fritz ſtürzte ſich in das Gewühl der Garderobe, ganz im unklaren, was die Gräfin denn ſonſt gemeint habe, brachte das Verlangte herzu und die Damen an ihren Wagen, Fränzchen noch einmal verſtohlen, aber ſehr herzhaft die Hand drückend.
Dieſe riß ſich jedoch plötzlich los und ſprang gegen den Ausgang zurück, denn über die Köpfe der zunächſt Stehenden hinweg hatte ſie denjenigen Alwin Pfitzners auftauchen ſehen. Und er hatte ſie auch erkannt, ſie war deſſen ſicher. Als ſie jedoch mit Mühe ſich einen Weg durch die ihr entgegendrängende Menge gebahnt hatte, war der Platz leer, und wieder mußte ſie unverrichteter Sache von ihrem Vorhaben abſtehen, um nicht der Gräfin Veranlaſſung zu ihr peinlichen Fragen zu geben.
„Fritz“, flüſterte ſie dieſem zu, der höchſt erſtaunt daſtand, „wenn du einmal dieſes Schauſpielers, du weißt – des billigen Jakobs, habhaft werden ſollteſt, ſo frage ihn – doch nein, ſo ſage mir’s lieber, wo ich ihn ſprechen kann. Ach, ich möchte ſo gern –“
„Nun, iſt es den Herrſchaften gefällig, ſich jetzt zu trennen?“, rief die Gräfin aus ihrem Wagen, und Fränzchen mußte einſteigen. „Auf Wiederſehen morgen!“ – –
Am nächſten Tage hielt derſelbe Wagen am Hauſe Vor dem Petritore Nr. 24. Auf dem Kutſcherbocke lehnte ein großmächtiger Koffer, und auch Fränzchens kleinerer Reiſekorb hing zwiſchen den Riemen hinter dem Fond. Kiſtchen und Schachteln, Handtaſchen und Pakete, zuſammengeſchnallte Regen- und Sonnenſchirme füllten den ganzen Rückſitz. Nach einſtündiger Vorbereitung war die Gräfin ſoweit fertig, daß ſie ihrer Maruſchka die letzten Verhaltungsmaßregeln geben konnte. Wegen der etwa nötigen Korreſpondenz wies ſie die Waſſerpolackin an Herrn Rektor Bartels, denn dieſe ſelbſt konnte weder Geſchriebenes leſen, noch Geleſenes ſchreiben.
Vor dem Bahnhofe ſchwenkte ſchon Fritz Kruſius, auf eine Stunde beurlaubt, ſeinen Hut und ſprang dann dienſtbefliſſen heran, den Damen beim Unterbringen des Gepäcks hilfreich zur Hand zu gehen und ein Abſchiedswort mit Franziska auszutauſchen.
Zwei Hände mehr waren wirklich recht willkommen, denn an dem Gepäckſchalter ging’s heut erſchrecklich eng her. Allerhand abenteuerliche Geſtalten, Damen und Herren, bemühten ſich, ihre Habſeligkeiten loszuwerden und unter die Garantie der Bahnverwaltung zu bringen. Während der Kutſcher nebſt einem hergewinkten Dienſtmanne ſich mit dem Koffer der Gräfin abquälte, nahm ſich Fritz des kleinen Korbes, des alten Bekannten aus ſeinem Vaterhauſe, an und ſuchte für denſelben mit ſeinen Ellenbogen einen ihm gebührenden Platz auf der Annahmebank zu erzwingen.
„Eng iſt die Welt, und das Gehirn iſt weit.
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume ſtoßen ſich die Sachen!“
So ließ ſich vor ihm eine theatraliſche Stimme vernehmen, eine Stimme, die Fritz erſt am Abend vorher gehört hatte. Und vor ihn ſchob ſich der hellgraue Rücken eines Sommerüberziehers in der vertikalen Länge eines Handtuchs und ſchnitt ihm jede Ausſicht auf die Gepäckannahme ab. Ingrimmig führte er das klaſſiſche Zitat weiter:
„Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken,
wer nicht vertrieben ſein will, muß vertreiben!“
Der Eigentümer des hellen Überziehers hatte ihm mit der Ausſicht auch zugleich alle Hochachtung vor den mimiſchen Leiſtungen des geſtrigen Abends genommen, und zornesrot gab er der unter dem langen Rocke verborgenen, aber ihm doch paſſend erſcheinenden Stelle mit der Ecke des väterlichen Reiſekorbes einen Stoß.
„Holla, mei guteſtes Herrchen, ſin Se nor gemitlich un halb ſo uhngeſchtim! Erſcht kommen mir ahn de Reihe!“ Und Alwin Pfitzner lachte den erboſten Pharmazeuten mit der ganzen Ausgiebigkeit ſeines Mundes an. „Na, gewen Se her, das Kärbchen bringen mr ſchont noch unter. Ei herrjemerſch, klebt da nich än ahler Zettel mit der Aufſchriſt Angerbeck? Ne, is es denn meglich! Sein Se nich der junge Herr aus der Aptheke zu Angerbeck, wo mir nu nächſtens Quattier belegen tun? Un hier machen Se wie än gewehnlicher Sterblicher än Backträger wie Begaſus im Joche! So, ich tu mit ahnſacken, mei liewes Kind. Der Vogel un der Ochs an einem Seile! Na, hawwen Se noch mehr von die Sorte?“
Statt eine Antwort zu geben, ſtürzte ſich Fritz Kruſius durch die ſchon ungeduldig ſchimpfenden Leute zurück und ſprang auf Franziska los, die ſoeben mit der Gräfin Milowska vom Billetſchalter kam.
„Fränzchen! Schnell, ſchnell! Der Sachſe, das Bühnenchamäleon, ſteht dort und kommt auch nach Angerbeck, der Glückliche!“
Die Gräfin war ihrem Schickſale überlaſſen, obwohl nur noch wenige Minuten am Abgange des Schnellzuges fehlten. Mit den gelöſten Fahrkarten in der Hand machte nun auch Franziska einen Anſturm auf die Gepäckannahme und befand ſich ſchneller, als ſie ſelbſt gehofft, an der Seite Alwin Pfitzners, denn dem hübſchen jungen Mädchen machten die reiſigen Männer ritterlich und ohne Murren Platz. Kaum aber hatte der Sachſe ſie erkannt, als er mit mimiſcher Gewandtheit ſein Geſicht in die gräßlichſten hypochondriſchen Falten legte und ſich auffallend mit ſeinen Gepäckſtücken zu ſchaffen machte.
„Hier haben Sie das ganze Gerümpel, Mann, habe noch Zeit bis zu meinem Zuge, werde erſt mein Billet beſorgen.“
„Gut“, ſagte der Beamte, „wo aber ſind die Billets zu dieſen Sachen? Bitte, her damit, es eilt!“
Fränzchen hatte wahrhaftig Glück gehabt, denn das Verlangen betraf der Gräfin und ihre eigenen Gepäckſtücke. Und doch war ſie in einer verzweifelten Lage! Während ſie mit der Rechten die gewünſchten Karten hinreichte, drang ſie mit der Linken dem hinter ihr ſtehenden Fritz zwei Schachteln ihrer Herrin auf, um ſogleich ſich mit derſelben Hand an die hellgrauen Schöße des enteilenden Sommerüberziehers zu hängen.
„Ich bitte, Herr Pfitzner, einen Augenblick!“, rief ſie vor Aufregung zitternd, glühende Röte im Geſichte. Ihr Blick aber war ſo kindlich flehend auf den ſich widerwillig umſchauenden Sachſen gerichtet, daß dieſer wirklich nicht umhinkonnte, ihr zu willfahren, und ſtill hielt, bis die Fahrkarten in ihre Hand zurückgelegt waren.
Es war ſchwer zu unterſcheiden, wer von den beiden Menſchenkindern in größerer Verlegenheit daſtand, Franziska, die die umſtehenden Herren mit wohlgefälligem Lächeln, die umſtehenden Damen mit unverhohlenem Mißvergnügen unter ihre Blicke nahmen, oder der vielgewandte Alwin Pfitzner aus Annaberg, der von den Herren beneidet, von den Damen bedauert wurde. Der Mime aber war doch dank ſeines Berufes der erſte, der ſich, wenn auch nicht von dem Griffe des jungen Mädchens, ſo doch mit einem Scherzworte aus dem Banne der Befangenheit befreien konnte.
Er blickte lachend auf die beiden Fahrkarten in der Hand Franziskas.
„Fränzchen, wenns de reiſen tuſt, ſo fahr nor zweeter Klaſſe, un wenns de –“
„Nein, nein, Herr Pfitzner, Sie ſollen mir mit Ihren Späßen nicht entſchlüpfen.“
„So erinnert ſich das Freilein wärklich noch gitigſt meiner Wenigkeit?“
„Ja, ja! Kommen Sie, ſtehen Sie mir Rede, wo iſt mein Vater? Wie geht es ihm?“, flüſterte ſie haſtig, denn die Gräfin Milowska ſchritt ſuchend in der Halle auf und ab, und eine große Ungeduld ſprach aus ihren Bewegungen, was ihr wirklich niemand verübeln konnte, denn der Schnellzug war ſchon abgerufen.
Der Mime warf ſich großartig in Poſitur, im Hamlet hatte er die paſſende Ausflucht gefunden: „Ihr vernehmt mit nächſtem mehr: Ich liebte Euren Vater – –“
„O Gott, Erbarmen, Sie greulicher Menſch! Lieber, lieber Onkel Alwin! Ich werde ohnmächtig!“
„Prinzeſſin, wenn du nicht fix machſt, geht die Fuhre ohne dich heidi, was mir ja ganz recht wäre“, ſagte ihr zur Seite Fritz, der ſie auch auf einen Augenblick aus dem Geſicht verloren gehabt hatte.
„Schnell, ſchnell! Ich bitte Sie um alles in der Welt! Lieber Onkel Alwin, ſagen Sie es mir, ich muß fort!“
„Na, wo wärd er denn annerſch ſein als in Hambork“, rückte der alſo in die Enge Getriebene in ganz gemütlicher ſächſiſcher Proſa heraus. „Un gut, ſehr gut wärd’s em wol ooch gehen.“
„O mein Gott, wo kann ich ihn finden? Wir kommen ja auch nach Hamburg! Ach, Frau Gräfin winkt ganz böſe. Ja, ja, ich komme jetzt! Wo iſt mein Vater?“
Sie hörte aus einem entſetzlichen Wortſchwalle nur eins heraus, das ihr einigen Fingerzeig bieten konnte: Sankt Pauli! Zwar wie wenig tröſtlich!
Sie ließ den Überzieher, den ſie immer noch unbewußt zwiſchen den Fingern gehalten, fahren, wandte ſich noch einmal, rief: „Grüßen Sie Angerbeck!“, und ſtürmte hinter ihrer Herrin her auf den Perron hinaus.
„Aber Kind, wie ſhocking!“, puſtete Gräfin Milowska ganz außer Atem, „welch eine Angſt Sie mir machen! Was hatten Sie denn nur mit dem gräßlichen Menſchen zu tun?“
„Verzeihen Sie, gnädige Frau, er gehört zum Theaterperſonal und iſt ein alter Bekannter von Angerbeck her. Er reiſt jetzt hin, und ich habe ihm Grüße an Vater und Mutter aufgetragen.“
„Eine merkwürdige Bekanntſchaft, das muß ich ſagen“, erwiderte die Gräfin etwas anzüglich. Das Coupé war eben erreicht.
„Lebe wohl, Fritz, ich wünſche dir Glück zu deinem Examen, und ich werde auch für dich –“
„Schnell einſteigen, meine Damen, wenn Sie noch mit wollen!“, ſchnarrte der Kondukteur.
Fränzchen ſah noch flüchtig das ſchmerzliche Lächeln des Zurückbleibenden und das Schwenken ſeines Hutes, und dann ging’s in die weite Welt!
„Heiliges Bech!“, atmete Alwin Pfitzner derweil in der Halle auf, „das Mädel tat mr eklig eiheizen! Na, for meinswegen! Wenns ſie en wärklich treffen tut, mag er ihr ſelber Mitteilung von ſein Geſchäft machen, ich hawwe mei großes Maul redlich zugetnepft gehalten un hawwe mr niſcht vorzuwerfen in dieſer Ahngelegenheit.“
Siebenundzwanzigſtes Kapitel.
Franziska reiſt mit ihrer Gräfin nach Helgoland, erhält drei Briefe auf einmal und fällt dem alten Kapitän in die Arme.
Auf dem Deck eines großen Vergnügungsdampfers, der morgens acht Uhr eine der Landungsbrücken von Sankt Pauli in Hamburg verlaſſen hatte, herrſchte ein reges Leben, denn das klare Wetter wirkte ausnehmend auf die Reiſeluſt ein, und die Aktionäre der Schiffahrtsgeſellſchaft konnten mit dem Befunde der Kaſſe ſehr zufrieden ſein.
Gruppenweiſe ſtanden oder ſaßen die Paſſagiere in fröhlichem Geplauder beieinander, und die Aufwärter und dienenden Geiſter des Stewards hatten Mühe, ſich zwiſchen ihnen hindurch zu ſchlängeln und den vielfachen geäußerten Wünſchen Rechnung zu tragen. Etliche brutale Goddams und ungeduldige Fauſtſchläge zweier rückſichtsloſer Engländer – denn wo wäre eine Vergnügungsreiſegeſellſchaft vollſtändig ohne dieſe ſtereotype Spezies – erſchütterten den Gleichmut der Kellner und die grüngeſtrichenen Bänke, auf denen ſich die Gentlemen langgelegt hatten. Deutſche Inländer benahmen ſich ein gut Teil beſcheidener, waren dafür aber deſto heiterer, und ihr Gelächter erreichte oft eine beträchtliche Höhe.
Am Heck beluſtigten ſich zwei hoffnungsvolle Sprößlinge eines jüdiſchen Ehepaars damit, die maſſenweis auftauchenden Tümmler erſt mit Weißbrotſtückchen anzulocken und ihnen dann auf die ſchwärzlichen Köpfe zu ſpucken. Weniger boshaft zeigten ſich drei kleine Mädchen einer mecklenburgiſchen Fetthammelfamilie, die ſich und den weißen Seemöwen am Steuerbord die Freude machten, ihren Mundvorrat den unermüdlichen Seglern auf die tanzenden Wellen in möglichſt kleinen Portionen aufzutiſchen, und den Tieren hiermit Gelegenheit boten, ihre erſtaunliche Geſchicklichkeit und Ausdauer im Auf- und Niederſchießen und Erſchnappen der winzigen Bröcklein vorzuführen.
Wißbegierige Ferienreiſende fragten die zuvorkommenden Schiffsbeamten, die augenblicklich nichts weiter zu tun hatten, nach der Bedeutung der verſchiedenen Seezeichen, Baken und Tonnen oder nach dieſem und jenem Punkte der beiderſeitigen Ufer des Elbſtromes.
Auf einer Bank des Mitteldecks, die den Vorteil bot, daß ſie im Bereich der Wärmeausſtrahlung der großen Eſſe lag, und zugleich Schutz gegen die ſich immer mehr aufmachende friſche Briſe gewährte, ſaßen unſere beiden Bekannten, die Gräfin Milowska und ihre Geſellſchafterin Fräulein Franziska Zrovnal.
Da nun bekanntlich ein friſcher Waſſerwind ungemein anregend auf die Eßluſt wirkt, zumal wenn man ſich, wie unſere Damen, ſchon einige Wochen in Norderney aufgehalten hat, ſo gab man ſich dem angenehmen Geſchäfte hin, die zierlichen belegten Brötchen, die Franziska ihrer Handtaſche entnahm, aufzuzehren.
Während die weißen Zähnchen des jungen Mädchens emſig die ihnen zugewieſene Funktion ausübten, ſchweiften die hellen braunen Augen unabläſſig über den breiten Strom nach dem rechten Ufer hinüber, von wo ihnen faſt ebenſo freundlich die prächtigen Villen und reizenden Landhäuſer der reichen Hamburger Kaufherren aus dem üppigen Grün der Blankeneſer Berge und Hügel entgegenlachten. O, dies nordiſche friſche deutſche Land gefiel dem Angerbecker Kinde doch noch beſſer, als der unter Sonnenglut und Staub ſchmachtende, gealterte Süden, den es vor einem Jahre geſchaut.
Die mächtige, hinter ihnen liegende Handelsſtadt, von der jetzt die Kirchtürme einer nach dem anderen verſchwanden, das hirnverwirrende Treiben und Jagen, die ſonderbar fremdländiſchen, tauſendfach verſchiedenen Geſtalten, die glänzenden Schauläden der belebten Straßen, der überall zur Schau getragene Reichtum, das vornehme Leben an der Alſter, am Jungfernſtieg, das überwältigende Schauſpiel des regen und doch faſt geräuſchloſen Verkehrs im Hafen ſelbſt, den die Damen am Abend vorher von der Elbhöhe herab betrachtet hatten, alles dies war wohl geeignet geweſen, unſere junge Freundin in Erſtaunen und Verwunderung zu verſehen. Aber dieſe Fahrt, gleichſam aus den irdiſchen Schranken in die Unendlichkeit hinaus, war doch noch mehr nach ihrem Sinn.
Sie dachte daran, wie ſie einſt als kleines Mädchen an Fritzens Seite am Bergeshange auf dem Raſen gelegen und in die blaue Weite des Himmels mit den goldenen Wolkenſäumen geſchaut hatte. Sie ſtand wieder oben auf den ſchroffen Klippen des Ith, und Fritz zog ihr die Hände von den Augen ab und ließ ihr zum erſtenmal eine Ahnung aufgehen von der Größe der Welt. Und wie war doch jener Geſichtskreis ſo beſchränkt im Vergleich zu dieſem!
Das Waſſer wurde immer breiter, das Land verſank mehr und mehr hinter ihm. Vorüberziehende Ozeandampfer und Segelſchiffe brachten mit ihren ſich ſenkenden Wimpeln Grüße aus den fernſten Gegenden des Erdballs. Die ſchaukelnde Bewegung der Wogen machte ſich auch auf der Bank des Mittelſchiffes bemerkbar.
„Hoffentlich haben wir uns nun genügend gegen die Angriffe der Seekrankheit gewappnet“, ſagte die Gräfin. „Ich fürchte nämlich, ſie wird heute bei der hochgehenden See ihre Opfer fordern, und ich bin leider nicht ſehr ſtandhaft, wie ich aus früherer Erfahrung weiß. Wollen Sie noch ein wenig auf Deck bleiben, Franziska, ſo tun Sie es. Ich aber ziehe doch vor, mich in die Kajüte zurückzuziehen. Aber halt! O du Himmel, wie kann man nur ſo vergeßlich ſein! Warten Sie mal, ich hatte doch – ich hatte ja eine Extrafreude für Sie aufgehoben. Geben Sie mir meine Taſche! So, da haben Sie den Brief des Herrn Rektor Bartels, den mir der Kellner heute morgen übergab. Ich mochte Ihnen durch die Aufregung der Abreiſe die Freude daran nicht verderben. Bleiben Sie oben, ſo laſſen Sie ſich die Blätter ja nicht vom Winde entreißen, und wickeln Sie ſich gehörig in den Tartan, es pfeift wirklich jetzt recht unangenehm.“
Die Gräfin legte ſelbſt beſagtes Schutzmittel um die Hüften des jungen Mädchens und tauchte unter dem Treppenverſchlage in die Tiefe des Schiffskörpers.
Da ſtand nun Franziska, den Brief des Rektors, ihres väterlichen Freundes, feſt zwiſchen den Fingern, allein und atmete mit tiefen Zügen die reine ihr entgegenſtrömende Seeluft ein, die ihr das warm zum Herzen treibende Blut kühlen ſollte. Sie blickte nach einem recht einſamen Plätzchen auf dem Deck aus, wo ſie ſich ungeſtört dem Leſen hingeben konnte. Ei, dort vorn am Bugſpriet, auf der Ankertaurolle, mußte ſich’s gut ſitzen und träumen laſſen, denn des blaſenden Windes wegen hatten ſämtliche Paſſagiere das Vorderdeck geräumt.
Sie begab ſich alſo gegen den Wind ankämpfend an das auserleſene Plätzchen, ließ ſich jedoch nicht gleich nieder, ſondern lehnte ſich auf die Reling und blickte in die weite, weite Waſſerfläche hinaus. Eine ſolche Ausſchau hatten ihr der Steuerbord und das Achterdeck doch noch nicht gewährt!
Frei, frei! Sie ſtreckte die Rechte aus und jauchzte dem Meere entgegen. Und wenn auch ihre Stimme verhauchte in dem Rauſchen der Wogen und dem Brauſen, das durch das Takelwerk ſtrich, ſo erregte ihre Geſtalt doch die Aufmerkſamkeit des alten Kapitäns auf der Kommandobrücke. Sein ſcharfes Auge hing mit Wohlgefallen an dem ſchlanken anmutigen Mädchen da vorn, unter deſſen wollenem geſtrickten Strandmützchen der kecke Wind ein Löckchen nach dem andern hervorzerrte, und das den Plaid eng um die Knie geſchlungen hatte, dem ungeſtümen Geſellen zu wehren.
„Ein verteufelt hübſches Kind! Es ſollte fünf Schuh tiefer hängen, da gäbe es eine Galjonsfigur ab, deren ſich in der alten und neuen Welt kein Fahrzeug rühmen könnte!“
Franziska ſtand immer noch am Bug, an deſſen ſcharfem Vorſteven die ſich ihm entgegenwälzenden, ſchaumgekrönten Wellen ſich brachen und den ſchnellen Flug des Schiffes durch ihre Bewegung ſcheinbar verdoppelten. Es war ihr, als würfe ſie ſich ganz allein den anſtürmenden Elementen entgegen, über die ſie triumphierend dahinzog. O wer doch ſo, alles Widrige überwindend, ſeinem Ziele entgegenzuſtreben vermöchte, wie dies gute Schiff!
Vorläufig aber ſtrebte dies Schiff der „Alten Liebe“ entgegen, deren Leuchtturm und Bollwerk jetzt vor ihm auftauchten. Fränzchen kam dieſe Unterbrechung ihrer Fahrt und ihrer Gedanken recht, ſie wußte ſelbſt nicht warum. Sie ſteckte den Brief, den ſie ſoeben hatte öffnen wollen, in ihr Täſchchen, um ihn bis dahin aufzuheben, wo man ungeſtört ſeinen Kurs auf Helgoland weiter verfolgen würde.
Die Schiffspfeife ertönte in langgezogenem Tone, das einförmige Arbeiten der Maſchine verlangſamte ſich, hörte dann ganz auf, ſetzte mit einer Drehung der Schaufelräder nochmals ein, und das Fallreep raſſelte nieder. Einige Waren wurden unter großem Getrampel der Laſtträger gelöſcht, einige neue Reiſende, die bis Cuxhaven den Landweg vorgezogen hatten, wurden eingenommen. Wieder tönte die Pfeife, und weiter ging die Fahrt.
Fränzchen wog gedankenvoll ihren Brief in der Hand und ſetzte ſich auf die Taurolle. Was wird er enthalten? Eine Bangigkeit hatte ſie beſchlichen, zögernd entnahm ſie ihrem Ledertäſchchen auch eine kleine Stickſchere und ſchnitt langſam den Umſchlag auf.
Faſt wäre es ihr doch geſchehen, trotz der Warnung der Gräfin, daß der Wind ihr ein Blatt entführte, denn ein ſolches lag loſe den anderen bei. Glücklicherweiſe aber erwiſchte ſie es noch an einer Kiſte, und bei näherer Betrachtung desſelben war wenigſtens ein Teil ihrer Sorgen entflogen. Es war ein blau liniiertes Papier, ſicherlich aus Emma Bartels’ Diarium geriſſen, das von Fritz Kruſius mit ſeiner genial liederlichen Schrift anfangs nur in der Mitte bedeckt war, alſo Verſe verriet. Und Franziska las:
„Hurra, hurra, hurra!
Ex sunt examina!
Das Wunder, es geſchah!
Ich habe die IIa!
O wäreſt du mir nah!
Dich grüß ich, Franziska,
herzlich et cetera!
Spitznas dulcamara!
Ah! Ich bringe in der Eile wirklich nicht genug Ah’s zuſammen, um in dieſer beengenden poetiſchen Form dir alles mitteilen zu können! Der Kerl hatte effektiv die beſte Abſicht von der Welt, mich durchfliegen zu laſſen. Und wenn ſolches trotzdem nicht geſchehen, ſo war’s ſeine Schuld nicht. Aber er faßte mich nicht, weder in der Chemie, noch in der Botanik, noch in der Pharmacopöe. Als alles nichts verſchlug, ging er auf die Kosmetik über trotz des Murrens der anderen Herren. Na, da war ich erſt firm! Du weißt doch, Cera ad barbam! Ich hatte alles intus! Und damit habe ich ihn ganz gehörig eingeſeift! Er notierte ſich ſogar ein Rezept, jedenfalls zum eigenen Gebrauche, der Lappſack! Dann habe ich an ihn eine Pulle Eau de Cologne gewendet, aus Cedern-, Bergamott-, Lavendelöl, Cinnamom und Spiritus Vini gebraut, und ſchließlich machte ihn meine Stiefelwichſe (die das Rhinozeros auch noch zur Kosmetik rechnete) aus Elfenbein, Vitriolöl, Tran und Regenwaſſer ſo geſchmeidig, daß er ſeine Ruppigkeit endgültig einbüßte und er mich als Helden aus der Kammer hervorgehen laſſen mußte.
Viele tauſend Grüße und K…, mein Kind Franziska.
Auf ewig dein Fritz.
P. S. Mein Prinzeps hat mir vierzehn Tage Urlaub zur Erholung verſprochen, die ich jedenfalls in Angerbeck zubringen werde.“
Das Kind Franziska ſaß auf ſeiner Taurolle, ſchlang die gefalteten Hände um ſeine Knie und atmete hoch auf. „Gott, o Gott! Dir ſei Lob und Dank! Ich glaube ganz gewiß, daß der närriſche Junge ſich nicht halb ſo freut wie ich. Er kann’s auch nicht, er weiß in ſeiner Sorgloſigkeit gar nicht, wie das in Angerbeck ausſieht.“
Golden lag der Sonnenſchein vor ihr auf dem grünen Waſſer der Nordſee und den weißen Schaumkronen der Wogen, die ſich unter ihr am Bug des Schiffes in munterem Spiele überſtürzten, weiter hinaus ſich aber majeſtätiſcher ausnahmen und unendlich lange Wellenberge und Täler bildeten. Fränzchen empfand gar nicht, wie das Schiff zu ſtampfen begann und ſie in ſanftem Schwunge an die zehn Fuß hoch auf- und niederſchaukelte. Leuchtenden Auges blickte ſie in die leuchtende Ferne. Die Inſeln Neuwerk und Buſchſand, das letzte Feuerſchiff und die rote Tonne waren paſſiert, und nichts mehr unterbrach die Meeresfläche.
„Jetzt das andere! Hoffentlich ſind die übrigen Nachrichten ebenſo gut.“
Sie faltete die Blätter auseinander. Das war ja die bekannte liebe Handſchrift der Mutter! Ihr Blick fiel auf die Überſchrift: „Mein lieber Freund Bartels.“
„Ja, was iſt denn das? Dieſer Brief iſt alſo gar nicht an mich gerichtet!“
Sie griff nochmals in den Umſchlag und fand ein Schreiben des Rektors.
„Meine liebe Franziska!
Sollte dir dieſer Brief vor demjenigen deiner lieben Mutter an mich unter die Hand kommen, ſo lege ihn vorläufig beiſeite, denn du würdeſt ohne jenen nicht verſtehen können, was ich dir zu ſagen und zu raten habe.“
Eiskalt lief es Franziska über den Rücken. „Mein Gott, es iſt etwas Schlimmes! Meine Bangigkeit war alſo doch nicht unbegründet.“ – Und nun las ſie, was die Mutter dem Rektor ſchrieb:
„Angerbeck, den 23. Juni 18…
Mein lieber Freund Bartels!
Daß ich mich niemals mit einer beſonderen Frömmigkeit gegen Sie oder irgend jemanden aufgeſpielt habe, werden Sie mir ohne weiteres beſtätigen. Ich darf darum annehmen, daß Sie mich nicht der Heuchelei beſchuldigen werden, wie Bildad von Suah und Zophar von Naema den Unglücksmenſchen Hiob, wenn ich Ihnen mitteile: in den letzten Tagen oder vielmehr Nächten iſt das Buch dieſes frommen Dulders meine einzige Lektüre geweſen bis an den grauen Morgen. Mehr aber, als das Solaröl gekoſtet, habe ich doch dabei herausgeſchlagen für mich ſowohl, als auch für meinen Tobias, welchen, um es kurz zu ſagen, der Schlag gerührt hat. Doktor Kraft und ich haben ihn nach Kräften eingerieben mit Linimentum Saponis compositum und camphoratum. Und ich muß genanntem Herrn Gerechtigkeit widerfahren laſſen und der Wahrheit gemäß berichten, daß er, obwohl ſich ſeine Pro- und Diagnoſen nicht bloß mit der Krankheit meines armen Mannes, ſondern ſehr viel öfter auch mit Türkenloſen und portugieſiſchen Staatsanleihen beſchäftigten, diesmal ſeine volle Schuldigkeit getan hat. So habe ich mit ſeiner und des guten Gottes Hilfe den Patienten ſoweit hergeſtellt, daß eine augenblickliche Gefahr wohl von ihm abgewendet worden iſt. Den vollen Gebrauch ſeiner Gliedmaßen allerdings wird er kaum wiedererlangen, wenigſtens den ſeiner linken Seite nicht.
Ihm aber iſt ſein Zuſtand das Schlimmſte nicht, ſondern nur ein Symptom des Schlimmeren. ‚Wenn die Leiden kommen, ſo kommen ſie wie einzelne Späher nicht, nein, in Geſchwadern.‘
Unſer alter, greulicher, böſer Geiſt, der Herr Geheime Obermedizinalrat von Spitznas, um ihm ſeinen ganzen ihm gebührenden Titel zu geben, hat in höchſteigener Perſon die Schlinge angezogen und meinen armen Tobias mit einem Ruck auf ſein Krankenlager geworfen. Zum erſten Juli hat er uns unſere Hypothek, die er vor etwa zwei Jahren vom alten Mettje übernommen hatte, nebſt allen ſonſtigen Schulden gekündigt. Werfen Sie, lieber Freund, nicht dieſelben unnützen Fragen auſ, wie es möglich war, dieſem Gottſeibeiuns ſich zu überliefern, ihm zu trauen, von ihm Darlehen anzunehmen, wie ich das getan habe! Das iſt ja gerade das Furchtbare bei der Sache, daß uns kein andrer Ausweg übrig blieb, als uns dem Menſchen auf Gnade und Ungnade zu ergeben, bis ihm die Saat zur Ernte reif erſchien. Nun, darüber können wir uns beruhigen: Gnade kennt dieſes Untier nicht! Und das iſt mir noch das tröſtlichſte, ich ſehe mich und meinen Tobias lieber von ihm vernichtet, als zu ſeinen Füßen um Schonung betteln. Sie ſehen uns alſo dicht vor unſerm gänzlichen Ruin.
Ich bin überzeugt, daß Spitznas mit ſeinem Günſtling Tränenreich unter einer Decke ſteckt, geargwöhnt habe ich es lange. Und gut haben ſie ſich in die Hände gearbeitet, das muß ich ſagen. Mein fleißiger Mann ſtellte ſich, wie Sie ja wiſſen, vielerlei ſelbſt her, bei dieſem Jünglinge aber iſt davon keine Rede. Er behauptet, auf ſeine Weiſe billiger zu wirtſchaften. O ja, auf ſeine Weiſe hat er auch recht, indem er die in ungebührlicher Höhe bei den Drogenhandlungen kontrahierten Schulden nicht zu bezahlen braucht. Ich glaube, die Apotheke zu Angerbeck wäre dem jungen Menſchen ganz mundrecht. Aber noch nie wäre ein Anweſen ſo zur Unzeit verſchleudert worden, wenn der Streich gelingt! Meines Tobias einziger Lebenswunſch iſt ja, daß unſer Junge ſie erben möchte, wie er ſie ſelbſt von ſeinem Vater ſelig hat.
Fritz ſteht nun im Examen, und auch davor bange ich. Iſt doch auch dieſer gräßliche, heilloſe Kerl Prüfungskommiſſar! Bewahre der liebe Gott in Gnaden meinen Mann vor einer neuen Hiobspoſt, ſo oder ſo – und wenn er ihn zu ſich nehmen müßte.
Eberhard Bartels! Ich habe nie mit Ihnen wieder von Bovenden geſprochen. Wenn ich aber alles dies und jenen verhängnisvollen Abend überdenke, muß ich mit Gewalt ein frevelhaft Bedauern unterdrücken, daß es nur eine Reitpeitſche war, mit der – – – Eberhard Bartels, verſtehen Sie nun, warum ich das Buch Hiob leſen muß?
Bei alledem betrachte ich es doch noch als ein Gottgeben, daß dieſer Menſch Tränenreich ſo aushält. Ich glaube, ſo recht wäre ſein Gönner doch nicht mit ihm zufrieden, wenn er ihn immer ſehen könnte. Über eine ſehr ſchwere Zeit hat er uns, und wenn auch bloß durch ſeine Anweſenheit und ſeine dummen Schnurren, hinweg geholfen. Denken Sie ſie, neulich ſitzt er vor meines Mannes Bette und läßt zwiſchen ſeinen Knien auf dem Fußboden einen ſelbſtgefertigten Hampelmann tanzen! Schließlich ſtellte es ſich heraus, daß er ihn an zwei langen Haaren hängen hatte, die er mir im Vorübergehen aus Ungeſchick, wie er unter zehnmaliger Entſchuldigung ſagte, – ich muß aber bemerken, mit affenartiger Geſchicklichkeit –, ausgeriſſen hatte. Ebenſo iſt er in allerhand Kartenkunſtſtückchen, mit denen er ſich auf der Bettdecke meines Mannes produziert, groß. Aber – das Fränzchen kann er ihm nimmer erſetzen, wenn ich auch weniger über ihn zu klagen habe, ſeit das Mädchen fort iſt und er ihr nicht mehr überall nachlaufen und ihren Pfad mit Roſen beſtreuen kann, die er hier zu dieſem Zwecke erſt in den ſchönſten Exemplaren aus dem Garten ſtibitzte. Letzterer iſt indes dieſen Sommer auch nicht beſſer dran. Für jede nur einigermaßen erſchloſſene Roſe hat Herr Tränenreich ſofort Verwendung! Nur mit Mühe bringe ich dann und wann ein Sträußchen für Tobias zuſammen, muß aber dann ſchon ſehr früh aufſtehen. Tränenreichs Knopfloch hat Moos angeſetzt, und nie haben die Töchter Angerbecks und der Umgegend ihren Müttern ſo bereitwillig den kleinen Tagesbedarf aus der Apotheke geholt als zur Zeit der Roſen und Herrn Tränenreichs.
Wie froh bin ich um Franziskas willen, daß das Kind jetzt mit ſeiner Gräfin auf Reiſen gegangen iſt und ſich die ſchöne Welt anſehen kann und in ſeinen jungen Tagen nicht mehr mit uns Trübſal zu blaſen braucht. Mein alter Tobias begnügt ſich ſchon mit mir. Ach, wohl hundert Mal hat er in dieſer Zeit mit ſeiner geſunden Rechten meine Hände geſtreichelt und mich ſeine Sonne genannt, die ihm den Abendhimmel vergoldet, er weiß ja nicht, welchen Stich er mir damit ins Herz tut. Ich bin doch eine alte eitle Perſon, mein Freund, nicht wahr?
Da ſchreibe ich nun und ſchreibe! Und mit meinem ganzen langen Sermon bezwecke ich weiter nichts, als mein Herz zu erleichtern. Sie ſind ja der einzige, dem ich es ausſchütten kann, der mich ganz verſteht. Hilfe kann ich von Ihnen nicht erwarten, wie damals mit dem Fränzchen, ſo gönnen Sie mir wenigſtens dieſe Erleichterung. Doch halt! Morgen kommen die Schauſpieler. Auf die Gefahr hin, daß Sie mich für albern halten, muß ich Ihnen ſagen, ich komme mir wie ein verzweifelter Spieler vor, der ſein Letztes auf ſeine letzte Karte ſetzt. Ich komme mir ſelbſt recht töricht vor, und doch ahnt mir, als ſollte dieſer Theophil Xylander noch einmal in mein Leben eingreifen.
Vor etwa vierzehn Tagen erſchien zu meinem größten Staunen plötzlich ſein Faktotum, der närriſche Sachſe. Ich ſaß gerade in meiner tiefſten Kümmernis über meinen Tobias und habe darüber ganz verſäumt, ihn nach ſeinem alten Freunde Benedikt zu fragen. Aber ich werde morgen nicht ermangeln, vielleicht weiß er etwas. Dem Direktor und ihm habe ich Quartier auf die Zeit ihrer Gaſtſpiele verſprochen, trotz des undefinierbaren Benehmens bei ihrem letzten Hierſein. Die Räume ſtehen ja doch leer, und ich werde mich, ſo Gott will und meine Ahnung mich nicht trügt, auf andere Weiſe an Herrn Xylander ſchadlos halten. Dieſer Pfitzner iſt noch gerade ſo einfältig, wie vor Jahren, nur ſcheint ſich ſein Blödſinn anders zu äußern. Denken Sie ſich, als er hier war, hat er ſich von Hannchen einen alten Glauberſalzſack geben laſſen und eine Hacke, hat ſich nach unſeren prächtigen Ländereien an der Bahn erkundigt und iſt dorthin abgezogen wie ein Schatzgräber, unter dem Vorgeben, Mineralien für einen Freund zu ſammeln. Ja, wenn der uns Gold aus dem alten dürren Heideboden ſchürfen könnte!
Sie merken wohl, daß mir die Hände zu zittern anfangen, und ein Wunder iſt’s nicht. Es iſt zwei Uhr morgens. Mein Tobias ſchläft ſeit zwei Stunden ruhig nebenan, nachdem er ebenſolange vorher über die Verknüpfbarkeit allerhand ſich ſelbſt gegebener Begriffe phantaſiert hat; auch Perſonen brachte er in Verbindung, wie Cardilucius und Spitznas, Gräfin Milowska und Xylander, Spitznas und Gräfin Milowska, auch – Fritz und Franziska.
So will ich mich auch noch auf zwei, drei Stunden der Ruhe hingeben, ich werde meine Kräfte genugſam gebrauchen müſſen. Morgen kommen die Schauſpieler. – Grüßen Sie die Ihrigen
von Ihrer Ottilie Kruſius.“
Daß Franziska dieſen Brief ihrer Pflegemutter nicht ſo glatt und in ſolcher Gemütsruhe zu Ende las, wie wir es konnten, liegt wohl klar auf der Hand. Oft ruhte er ihr zwiſchen den feſtgekrampften Fingern auf dem Schoße, während ihre ſonſt ſo hellen braunen Augen auf das Meer ſtarrten, deſſen leuchtende Schöne und Majeſtät ſie nicht mehr ſahen. War es die Bewegung des Schiffes oder ihre eigene, daß ſich ihr die Zeilen ineinander ſchlangen und ſie genötigt war, wie ein ABC-Schütze mit der Fingerſpitze Ordnung in das Wirrſal und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen und ſomit den Herzenserguß Frau Ottiliens endlich zu ihrem geiſtigen Eigentum zu machen?
O Gott! Da fuhr ſie nun hinaus zu ihrem Vergnügen, immer weiter, immer weiter vom Lande, von Angerbeck hinweg, wo ihr alter Pflegevater auf ſeinem Krankenlager ſich vergeblich nach ihr ſehnte, wo ihre brave Pflegemutter ſich Tag für Tag die müden Hände abarbeitete bis in die Nacht hinein, bis ſie zitterten.
„O, hätte mir doch die Gräfin den Brief ſchon in Hamburg gegeben, hätte ich ihn wenigſtens vor Cuxhaven geleſen! Ich wäre ihr bei der Alten Liebe davon gelaufen, ja ganz gewiß! Das wäre ich! Und jetzt kann ich nichts, rein gar nichts tun und muß hier ſitzen und – – nein, wenigſtens will ich meine Gräfin aufſuchen und ihr ſofort ſagen, was ich ihr unter dieſen Umſtänden ſagen muß, daß ich keinen Tag länger –“
Sie erhob ſich ſehr energiſch von ihrem Taubündel, aber – o Himmel! – was war das – ſie taumelte, ſie knickte zuſammen, als ob ihr die Knie gebrochen wären. Ein Niedertauchen des Schiffsſchnabels warf ſie auf ihren früheren Sitz zurück.
„Auch das kann ich alſo nicht einmal!“, ſtöhnte ſie jammernd in ihrer eigenen Hilfloſigkeit. „So muß ich hier wirklich ausharren, bis dieſe entſetzliche Fahrt zu Ende geht! – Doch – ich habe ja noch nicht geleſen, was Herr Rektor Bartels ſchreibt, er wollte zu der Sache auch etwas ſagen.“
Sie barg Frau Ottiliens Schreiben in ihrer Handtaſche und entnahm ihr dasjenige des Rektors. Nochmals überflog ſie den ihr ſchon bekannten Eingang und las dann das weitere:
„Für dich, liebe Franziska, iſt der Brief deiner guten Pflegemutter ja nicht berechnet, und ich fürchte, ſie wird mir ernſtlich böſe ſein, wenn ſie erfährt, daß ich ihn dir geſchickt habe. Doch du biſt ein verſtändiges Mädchen, wirſt alles Beiwerk des Schreibens als ſolches anſehen. Du wirſt auch einiges nicht verſtehen, zerbrich dir darüber den Kopf nicht, mit der Hauptſache hat das nichts zu tun, und dieſe wirſt du erfaſſen. Mit kleinen Liebesdienſten, wie du ſie dir vielleicht ausmalſt, iſt hier nicht zu helfen, und mit der Torheit, deiner Gräfin Milowska auf und davon zu gehen, die ich dir allenfalls zutraue, erſt recht nicht. Ruhig Blut, Fränzchen! Dein guter Engel gibt dir ein anderes Mittel in die Hand. So höre!
Der treue Gott hat dich in ſeiner unauffälligen, uns ſo einfach erſcheinenden Weiſe nach Hamburg geführt, ich glaube, gerade zur rechten Zeit. Das gibt mir die Zuverſicht zu Ihm, daß Er dir auch zu weiterem helfen wird.
Ich war bei dem Juſtizrat Doktor Former und bat ihn um ſeinen Rat. Und er war glücklicherweiſe in der Lage, mir ſolchen geben zu können. Du erinnerſt dich vielleiht noch von Angerbeck her eines Schauſpielers namens Pfitzner, wenigſtens hat mir Frau Kruſius erzählt, daß ihr ihn am Begräbnistage deiner ſeligen Mutter auf Sankt Severin getroffen habt. Das iſt zwar ſchon ſehr lange her, tut aber nichts zur Sache. Dieſer Mann ſteht im Auftrage eines Hamburger Herrn mit dem Doktor Former in Unterhandlung wegen des Ankaufs von Ländereien an der Bahn von Waldhauſen nach Altendorf. Dieſe Sache muß Geheimnis bleiben, damit nicht ein anderer dazwiſchen kommt. Dich allein, Mädchen, darf ich darin einweihen. Nun, biſt du nicht ſtolz? Der Hamburger Herr hat früher ſelbſt an der Bahn gearbeitet, iſt dann in Limmer bei Hannover in den Asphaltbrüchen tätig geweſen und hat da Vergleiche angeſtellt zwiſchen den Geſteinsarten. Er hat gefunden, daß bei den Bahndurchſtichen in der Nähe Angerbecks dieſelben geologiſchen Verhältniſſe zu Tage getreten ſind, wie in Limmer. Dieſe Entdeckung aber hat er ſorgfältig für ſich behalten, da er damals noch nicht die Mittel hatte, ſie auszubeuten. Jetzt nach Jahren iſt er ein vermögender Mann und geht nun damit um, bei Angerbeck Asphaltlager aufzuſchließen. Um ſicher zu gehen, hat er kürzlich ſich Proben des Geſteins von deines Pflegevaters neuem Lande, das ihm in der Separation zugeteilt worden, kommen laſſen. Sieh, das hat deine liebe Mutter geſchrieben. Alwin Pfitzner hat es beſorgt. Nun, mein Fränzchen, eine kleine Ahnung, wer dieſer Hamburger Herr wohl ſein könnte, iſt dir gewiß ſchon aus dieſen Mitteilungen aufgeſtiegen, daß du nun nicht zu ſehr erſchrickſt, wenn ich dir jetzt ſage: Dieſer Herr iſt dein Vater Benedikt Zrovnal.“ – –
Der Rektor Eberhard Bartels hatte die Wirkung dieſer ſeiner Mitteilung doch unterſchätzt. Das Fränzchen ſchnellte förmlich von ihrem Sitze in die Höhe, und da ſie auf dem ſchwankenden Schiffe und mit ihren zitternden Knien keinen Halt fand, ſtürzte ſie natürlich, zum Glück aber in die Arme des alten weißbärtigen Kapitäns, der ſich zu ſeiner Erholung auf ein Stündchen von ſeinem Poſten hatte ablöſen laſſen, jetzt, da das Schiff auf offenem Meere fuhr.
„Erſchrecken Sie man nicht vor dem alten Seebären, mein ſchönes Kindeken!“ Seine kleinen ſcharfen Äuglein blitzten das junge Mädchen, das ihm hilflos im Arme lag, ſo luſtig aus den roten Backen an, daß es ſeinen Schrecken bald überwand. „Das muß ja ein verdammt intereſſanter Brief ſein, woll gar en Liebesbrief, der das Fräulein ſo beſchäftigt, daß es darüber ganz und gar die Seekrankheit vergißt und ſich den geeignetſten Platz hier auf der Back ausſucht, ſie zu kriegen. Nein, nein, mein liebes Kind, kommen Sie man, hiſſen Sie die Segel, ich meine es gut mit Ihnen und lichte Sie gern von hier nach der Kuhl, wo das Stampfen doch nicht ganz ſo eklig iſt. Habe Sie ſchon lange geſichtet und mich über Ihre Seefeſtigkeit gewundert.“
Das errötende Mädchen, ſeine Unfähigkeit, auch nur einen Schritt vorwärts zu machen, wohl fühlend, ließ ſich denn auch von dem freundlichen Seemanne mehr tragen als führen, bis ſie auf dem Mittelſchiffe wieder die grüne Bank erreichten.
„Ich danke Ihnen vielmals, Herr, nun laſſen Sie mich, bitte, hier, es iſt mir ſchon viel beſſer. Ich möchte –“
„Ja, ja, Sie möchten nun gewiß Ihren Brief, den Sie ſo feſt in Ihrem Händchen zuſammendrücken, noch einmal von vorn anfangen“, lachte der Kapitän. „Nun, ich will Sie nicht weiter ſtören, hier in der friſchen Luft ſitzt ſich’s immer noch beſſer als in der Kajüte, denn da unten iſt es jetzt fürchterlich. Sie würden dort noch mehr ſtolpern als hier oben, überall liegt jemand im Wege. Ihre Frau Mutter oder gnädige Madam, die vor Cuxhaven hier neben Ihnen ſaß, iſt auch dabei.“
„Ach, mein Gott!“, rief Franziska ganz erſchrocken, „an die gnädige Frau habe ich ja gar nicht mehr gedacht! Da muß ich mich doch ſofort nach ihr umſehen!“
„Stopp! Hier geblieben! Wollen Sie wohl!“ Damit zog ſie der Kapitän von der erſten Treppenſtufe wieder auf das Deck zurück.
„Liebe Unſchuld, das iſt wirklich nichts für Sie da unten. Sie können rein gar nichts tun. Ehe Sie zu Ihrer Gnädigen über die ſchlickerigen Planken vordringen können, müſſen Sie erſt über die beiden karierten Engländer und ein halb Dutzend anderer Herren wegſteigen, die Unmaſſe jetzt wenig liebenswürdiger Frauenzimmer noch gar nicht gerechnet. Aber gucken Sie dahinten ſteuerbords! Ganz dahinten kommt etwas Langes in Sicht. Haben Sie’s?“
Franziska mußte dem freundlichen Manne den Gefallen tun und ſcharf auslugen, und in der bezeichneten Richtung ſah ſie etwas Langes aus dem Meere auſſteigen.
„Das iſt ſchon Helgoland. Sie werden bald das Ober- vom Unterlande und die Düne unterſcheiden können. Sehen Sie ganz oben in der Mitte die kleine Spitze aufgehen? Das iſt der Leuchtturm, und rechts davon erhebt ſich noch ſo ein Zahnſtocher. Da iſt ſchon manch junges Pärchen, das ich hergebracht habe, mit einem ſchnellen Satze in ſein Glück geſprungen oder – ins Unglück gerannt, je nachdem, es iſt nämlich die Kirche. – Für mich wird’s nun aber Zeit, meinen Poſten wieder anzutreten. Hat mich bannig gefreut, liebes Kind!“ Damit ſchaukelte ſich der alte Herr wieder auf die Kommandobrücke hinauf.
Franziska aber ſaß ſchon wieder, ehe er oben war, über ihren Brief geneigt.
„Haſt du dich genügend gefaßt, meine liebe Franziska?“, fuhr der Rektor in ſeinen merkwürdigen Aufſchlüſſen fort. „Nicht wahr, nun zweifelſt du auch nicht mehr, daß der Herr es würdig hinaus führen wird, was er ſo wunderbarlich begonnen? Aber eine Schwierigkeit iſt noch zu überwinden, und dieſes iſt dir vorbehalten.“
Ihre Augen leuchteten wieder auf. O alles, alles wollte ſie daranſetzen, ihre teuren Pflegeeltern aus der Not zu reißen! Sie wollte ſich des Vertrauens wert zeigen!
„Juſtizrat Former konnte mir keinen Aufſchluß geben, wo dein Vater wohnt, was er iſt, womit er ſich ſein Vermögen erworben, das er zum Teil durch dieſen Schauſpieler bei ihm deponiert hat. Darüber hat ſich der Sachſe von Anfang an in Schweigen gehüllt.“
Franziska ſaß in bangen Gedanken und ließ den Kopf ſinken. Sie hatte ja ſelbſt erfahren, wie ſchwer dem Freunde ihres Vaters beizukommen war. Er mußte wohl ſeine Gründe haben, ſo heimlich zu tun, und das einzige, was ſie vernommen, Sankt Pauli, deſſen wüſtes Toben ſie geſtern abend ſelbſt von der Elbhöhe aus, nur von ferne, gehört, machte ſie ſchaudern. Hatte doch die Gräfin einen weiten Umweg mit ihr gemacht um dieſen Schwefelpfuhl, wie ſie den Hamburger Stadtteil genannt hatte! Und da hinein, mitten hinein ſollte ſie!
„Fränzchen, mein ſchüchternes Mädchen, dir werden wohl ſchwere Bedenken vor der Aufgabe kommen, deinen Vater aufzuſuchen, ich kann es dir vorempfinden. Zu finden wird er wohl ſein, nötigenfalls mit Hilfe der Polizei. Doch wie du ihn antreffen wirſt, das weiß nur der liebe Gott und Alwin Pfitzner. Kein anderer kann dir abnehmen, was dir zu tun gebührt. Ein weiteres raten kann ich dir nicht, du wirſt ſelbſt das richtige treffen. Doch was du tuſt, das tue bald. Und ſomit ſei Gott befohlen und herzlich gegrüßt von deinem alten Lehrer und Freunde
Eberhard Bartels.
P. S. Der Junge, der Fritz, ſchmiert ſoeben noch neben mir etwas zuſammen, was er mit in den Umſchlag legen will. Dafür bin ich alſo nicht verantwortlicher Redakteur. Von der Krankheit ſeines Vaters habe ich ihm noch nichts geſagt. Es würde der Reif allzu bald auf ſeine Blüten fallen. Früh genug noch wird er’s in Angerbeck finden!“
Franziska barg ihren Brief, faltete die Hände und ſah auf gen Himmel.
„Du guter Gott, ich danke dir, daß du mich ſchwaches Mädchen zum Werkzeug deiner Gnade machen willſt. Nur laß es nicht zu ſpät ſein.“
Achtundzwanzigſtes Kapitel.
Helgoland. Die Gräfin Milowska will die Kurtaxe ſparen.
Endlich, endlich fuhr das Schiff in einem ſtolzen Bogen zwiſchen Inſel und Düne ein, und auf der Reede Helgolands lag das bisher ſo heftig ſchwankende Fahrzeug, das manchem ſeiner Fahrgäſte die Seele aus dem Leibe zu ſchütteln gedroht hatte, ruhig, wie auf feſten Grund gebaut.
Alles atmete erleichtert auf; mit was für Geſichtern es aber jetzt die engen Kajütentreppen heraufquoll, das feſtzuſtellen, überlaſſen wir gern den Witzbolden der noch zu paſſierenden Läſterallee und halten uns nur an die Geſtalten, die uns angehen.
Jetzt ihrer Gräfin noch irgendwie zu Hilfe zu kommen, war Franziska unmöglich gemacht durch den ſchon erwähnten Menſchenſtrom, der ſo ſtark war, daß ſich das große Schiff auf die Steuerbordſeite neigte. Denn hier legten die kleinen weitbauchigen Kähne an, die Paſſagiere nach dem Unterlande auszuſchiffen. Es blieb ihr alſo nur übrig, am Ausgange der Treppe ſtehen zu bleiben und auf ihre Herrin zu warten.
Der Kapitän war auch von ſeiner Höhe herabgeſtiegen und wollte freundlich nickend an ihr vorüberſchreiten. Da faßte ſich das junge Mädchen ein Herz. „Herr Kapitän, wann fahren Sie nach Hamburg zurück?“
„Haben Sie vielleicht etwas mitzuſchicken, liebes Fräulein?“
„Nein, ich ſelbſt möchte wieder mit zurückfahren, ſo bald wie möglich!“
„W–a–s! Sie treiben gewiß Ihren Scherz mit mir altem Seehunde. Noch nicht einmal betreten haben Sie die Perle der Nordſee und denken ſchon ans Ausreißen! Die Kirche ſollten Sie ſich wenigſtens für künftige Fälle erſt einmal in der Nähe anſehen. Ei, ei, dieſe übergroße Sehnſucht iſt ſicherlich auch auf Rechnung Ihres Briefes zu ſetzen!“
„Nun, ans Land werde ich wohl müſſen, wenn Sie nicht ſofort wieder nach Hamburg umwenden laſſen.“
„Allerdings, liebes Kind, das müſſen Sie auf jeden Fall, denn wir legen erſt morgen mittag wieder hier an und dampfen um ein Uhr nach Hamburg zurück. Heute geht’s noch weiter bis zur Inſel Föhr, wo wir die Nacht vor Anker liegen bleiben. Sollten Sie alſo wirklich die Abſicht haben, mich wieder zu beehren, ſo haben Sie doch Zeit, ſich Helgoland anzuſehen – Sie werden ohnedies bald damit durch ſein – und auch mal nach der Düne und um das Eiland herum zu fahren. Sollte mich aber freuen, Sie wieder zu treffen! Vergeſſen Sie die Kirche nicht!“
„Das nenne ich ja ſehr rückſichtsvoll, Fräulein!“, ſagte hier die Gräfin Milowska, die unter den letzten die Treppe keuchend erklommen hatte. „Ihretwegen konnte ich wohl da unten ſterben und verderben, während Sie hier ganz gemütlich mit dem Schiffsperſonal ſchwatzen und es von ſeinen Pflichten abhalten.“
Der Kapitän zog ſchmunzelnd ſeinen Kopf ein und empfahl ſich ſchleunigſt, Franziska aber, der das Blut in die Wangen ſchoß, ſuchte nach entſchuldigenden Worten. „O gnädige Frau, ich wäre wahrhaftig gern gekommen und hätte mich nach Ihnen umgeſehen, während ich aber meine Briefe las, wurde das Schwanken ſo arg, daß ich keinen Schritt zu gehen vermochte. Hätte mich der alte Herr nicht bis hierher geführt, ſo ſäße ich gewiß jetzt noch da vorn auf dem Tau.“
„Das müſſen demnach recht feſſelnde Briefe geweſen ſein, daß Sie darüber alles vergaßen!“
„Ach ja, die Briefe, gnädige Frau, ich – ich möchte Ihnen ſagen, ich möchte Sie bitten –“
„Einſteigen, meine Damen, das letzte Boot geht ab!“, rief ein Schiffsmann in die Verlegenheit des jungen Mädchens hinein.
„Nun auch das noch!“, ſeufzte die Gräfin, die ängſtlich dem vorletzten Boote nachſchaute, das von den Wellen wie ein Spielball auf und ab geſchleudert wurde.
Aber auch dieſe Prüfung und das Spießrutenlaufen in der Läſterallee wurden überſtanden, und auf dem feſten Boden erlangte die erregte Dame ſehr ſchnell die Herrſchaft über ſich ſelbſt und damit auch über ihre Umgebung zurück.
„Ein ſolches Benehmen hätte ich wirklich nicht von Ihnen erwartet, Franziska“, nahm ſie ihr unterbrochenes Thema wieder auf in demſelben Augenblicke, als ihr rechter Fuß noch auf den Bohlen der Landungsbrücke ſtand, der linke aber ſchon Sand unter ſich fühlte.
„Gewiß und wahrhaftig, gnädige Frau Gräfin, ich hätte mich doch zu Ihnen geſchleppt, ich wäre trotz der Schwäche, die mich überfallen hatte, die Treppe hinuntergekrochen, wenn mir nicht der Herr Kapitän geſagt hätte, es lägen da unten ſo viel Menſchen, auch Männer – quer über den Gang –“
„Nun ja, Kind, das iſt allerdings wahr, ich ſah ſelbſt etwas Derartiges von weitem, trotzdem ſich mir alles vor den Augen drehte. Sie hätten es aber nicht erſt ſo weit kommen laſſen ſollen. Na, es iſt nun vorbei. Den Gepäckſchein haben Sie wohl bei der Hand, der Mann dort ſcheint noch Gäſte aufnehmen zu wollen.“
Ein blau- und ſchlauäugiger hochgewachſener Frieſe mit blondem Ziegenbarte trat heran und zog höflich ſeine Lederkappe.
„Iſt den Herrſchaften vielleicht ein Zimmer gefällig, Leuchtturmſtraße, Eckhaus direkt am Falm, mit wunderbarem Blick auf das Meer und die Düne?“
„Ich bliebe lieber im Unterlande.
„Bedaure ſehr, der gnädigen Frau nicht dienen zu können, unten iſt zur Zeit alles doppelt beſetzt. Sie werden ſich ſchon nach dem Oberlande bemühen müſſen, allwo auch die Luft am reinſten iſt, es gibt dort keinen Tang, ſehen Sie, wie hier. Riechen Sie ihn? Nicht wahr, abſcheulich! Es ſoll zwar nicht gerade ungeſund ſein, aber –“
„So wollen wir auch das noch auf uns nehmen! Wir gedenken einige Zeit hier zu bleiben. Unſern Koffer –“
„Nehme ich auf mich! Bitte einen Augenblick um Geduld, gnädige Frau, da kommt ſchon das Paſſagiergut.“
Franziska händigte dem Manne den Schein aus, den ſie neben ihren Briefen in der Taſche getragen. Die letzten mahnten ſie mit aller Macht, ihren Verpflichtungen der Heimat, den Eltern gegenüber nachzukommen, ſo ſchwer es ihr auch ankam. Der trotzige rote Felſen da vor ihnen ſchien ihr leichter einnehmbar, als der Gräfin vorzubringen, was ihr Herz bedrückte. Jetzt aber mußte es geſchehen!
„Gnädige Frau, ich bitte Sie, rechnen Sie bei Ihrem hieſigen Aufenthalte nicht auf mich, ich muß mit dem nächſten Schiffe, das morgen mittag fährt, nach – nach Hamburg zurück.“
„Mädchen! Sind Sie denn ganz von Gott verlaſſen!“, rief Gräfin Milowska mit ſo entſtellten Gebärden aus, daß es den Anſchein hatte, als kehrte die eben überſtandene Seekrankheit in bösartigem Rückfalle wieder.
„Nach Hamburg wollen Sie? Nach Hamburg! Sie ſind wohl nicht recht bei Troſte! Mich wollen Sie hier auf dieſem Felſeneilande, in dieſer traurigen Öde“ – es war gerade Hochſaiſon! – „allein ſitzen laſſen? Darum habe ich mir eine Geſellſchafterin genommen? Nein, um keinen Preis laſſe ich Sie ziehen, und ſollte ich den engliſchen Gouverneur um Hilfe gegen Sie falſche Perſon anrufen!“
„Sie haben mir ſelbſt den Brief gegeben, der dieſe Bitte veranlaßt, gnädige Frau.“
„Ach was da! Gnädige Frau! Ich bin durchaus keine gnädige Frau, wenn Sie mir mit ſolchen Alfanzereien kommen. O Himmel, ich glaube, ich muß hier vier Wochen am Nervenfieber liegen, ſtatt die Badekur genießen zu können!“
„O bitte, gnädige Frau, beruhigen Sie ſich doch! Die Herren dort an der Landungsbrücke ſehen ſchon her.“
Franziska weinte ſtill in ihr Taſchentuch, die Gräfin aber ſchleuderte ihr, nachdem ſie Atem geſchöpft, von neuem ihre Entrüſtung entgegen. „Die Herren? Ihnen wäre es doch nur recht, Ihr Lärvchen durch ein bißchen Flennen intereſſant zu machen! Nach Hamburg wollen Sie? Ich möchte wiſſen, was Sie in dieſem verrufenen Häuſerhaufen zu tun hätten! Sie zeigen ſich wirklich von einer ganz anderen Seite, als ich von Ihnen gewohnt bin. Nein, ich will nicht bloß eine Geſellſchaft an Ihnen haben, ich bin auch für Ihr leibliches und geiſtiges Wohl verantwortlich. Ja, wenn Sie mich gebeten hätten, Sie nach Hauſe reiſen zu laſſen! Es kann überall etwas vorkommen –“
Die letzten ſehr philoſophiſch gehaltenen Worte bildeten, wenn wir uns der muſikaliſchen Kunſtausdrücke bedienen dürfen, dem Inhalte nach einen Übergang vom Furioſo zum Ritardando und Soſtenuto, weshalb Franziska einzuwerfen für gut hielt: „Von Hamburg wollte ich natürlich weiter reiſen mit Ihrer gütigen Erlaubnis, nach Hauſe, gnädige Frau, es iſt dort Krankheit und große Not eingezogen.“
Zu einer Antwort fand die Gräfin jetzt keine Zeit; der Helgoländer Hoſpes ſtand mit dem Koffer auf ſeinem breiten Rücken vor ihnen, ſie durch die Straßen des Unterlandes und über die einhundertdreiundneunzig Stufen der großen Treppe ihrer in Ausſicht genommenen Wohnung zuzuführen.
Auf jedem der vier Abſätze gab die Gräfin ihrem künftigen Hauswirt hinreichend Zeit und Gelegenheit, auch ſeine Laſt abzuſetzen und ſich auszuruhen, denn ſie ſelbſt ſank auf jeder der erklommenen Stationen auf die Steinbank nieder, um zu verſchnaufen und mit dem Manne den Preis für Wohnung, Kaffee und Frühſtück zu vereinbaren. Franziska hielt ihre tränenden Augen in die ſich immer weiter auftuende Ferne gerichtet. Der wunderbare Ausblick, den der Falm oben bot, kam ihr aber nicht zum Bewußtſein, denn in der engen Apotheke zu Angerbeck, am Krankenlager ihres alten Pflegevaters weilten ihre Gedanken, die die Gräfin doch nicht am Reiſen hindern konnte. –
Der Wirt hatte den Damen die beiden kleinen Zimmer angewieſen, den Reiſekoffer darin untergebracht und empfahl nun die Fremden der Obhut ſeiner Frau. Es war wirklich ein angenehmer Aufenthalt, dieſes Stübchen, auf deſſen weißgeſcheuerten Dielen der weiße Streuſand behaglich unter jedem Schritte knirſchte. Und wenn auch die auf Leinwand gezogenen Tapeten an den dünnen Holzwänden leiſe ſchwankten, ſo war doch ſelbſt der Luftzug, der drinnen von dem Seewinde draußen übrigblieb, ſo ſchmeichelnd und fächelnd, ſo gleichmäßig durch alle Fugen ſich ſchmiegend, daß er keinen Gedanken an Erkältung aufkommen ließ, ſondern mehr wie eine gute Ventilation wirkte. Und betreffs der ſchönen Ausſicht von den Fenſtern aus hatte der Hausherr auch nicht übertrieben, und der kräftig duftende Kaffee war ebenfalls ſein Geld, nämlich, wie es auf dem dritten Podeſt der Treppe ausbedungen war, einen Schilling wert.
Alle dieſe Umſtände zuſammen bewirkten, daß ſich die Gräfin Milowska ſehr bald in einer viel beſſeren Stimmung befand, als nach dem Vorangegangenen eigentlich zu erwarten ſtand. In ihrer Gemütlichkeit ſtörte ſie jetzt nur noch das ſtille, traurige Geſicht Fränzchens mit ſeinem verhaltenen Schmerz und den Augen, die davon zeugten, daß die Gedanken hinter ihnen nicht hier waren.
„Franziska, nun ſeien Sie endlich vernünftig! Ich war ja wohl ein wenig heftig gegen Sie, aber war das ein Wunder? Kaum haben wir den Fuß ans Land geſetzt nach dieſer ſchrecklichen Fahrt, reden Sie von Umkehren! Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich davon denken ſoll. Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen einſchleichen, durchaus nicht! Aber die Beweggründe zu Ihrem ſonderbaren Benehmen könnten Sie doch füglich meiner Beurteilung unterbreiten. Sie ſehen gewiß irgendwo zu ſchwarz, die Jugend iſt ja immer etwas exzentriſch.“
Franziska ſtand auf, holte ihre kleine Ledertaſche vom Nagel und legte vor ihrer Herrin den Brief Frau Ottiliens auf den Tiſch. Denjenigen des Rektors ihr zu geben, hielt ſie eine gewiſſe Scheu, der Gedanke an ihren Vater, ab. Dann ſetzte ſie ſich an eins der Fenſter, legte ihren Kopf auf den Arm und weinte. Sie dachte an den Tag, an dem ſie zum erſtenmal in das Haus der Gräfin gekommen und der Trennungsſchmerz ihr noch neu war. Sie glaubte die Stimme des alten Apothekers zu hören, der ſie aus weiter, weiter Ferne freundlich rief, ſie fühlte die blauen Augen Frau Ottiliens auf ſich ruhen, die aus dem bekümmerten ſorgenvollen Geſichte ihr doch gleich zwei Sternen erſchienen. Sie dachte auch an Friz und an ſein letztes Opus, an ſein glücklich beſtandenes Examen. Gewiß hatten die Eltern die frohe Botſchaft auch ſchon erhalten, gewiß weilte Fritz ſelbſt ſchon bei ihnen und konnte ſich nützlich und angenehm machen, während ſie, auf deren Schultern eine ſo große Verantwortung laſtete, hier auf Helgoland müßig ſaß.
Nein, um keinen Preis wollte ſie ſich zurückhalten laſſen! Ja – mochte die Gräfin da auf ihrem Sofa auch noch ſo vernehmlich ſtöhnen und die Taſſen nervös zuſammenſchieben, ſie wollte doch ihren Willen haben!! Der Tiſch ward heftig zurückgeſtoßen, daß der Sand auf den Dielen nicht behaglich, nein, unwillig knirſchte – ja, komm nur, Gräfin, ich will dir trotzen!
Die Gräfin riß ſie an den Schultern in die Höhe. „Franziska! Warum haben Sie mir Ihr Vertrauen nicht gleich geſchenkt, warum haben Sie mir den Brief, dieſen Brief, nicht gleich, nicht gleich in Hamburg gezeigt?!“
„Aber gnädige Frau, wie konnte ich das, Sie haben mir –“
„Richtig, richtig! O Gott, ich bin ja ganz allein ſchuld!“ Die gnädige Frau huſchte in der kleinen Stube von einem Fenſter zum anderen, daß der Sand wirbelte, und fächelte ſich in Haſt trotz des ausgiebigen Luftzuges, der durch die Wände drang, mit dem Briefe der Frau Ottilie Kühlung zu.
„Ja, ich habe bloß an mich gedacht! Ich wollte mich nicht um meine gute Stimmung in Hamburg vor unſerm Aufbruch bringen laſſen, denn Sie ſind immer eine Stunde ungenießbar, wenn Sie einen Brief geleſen haben. Diesmal war es falſch von mir, ich – ich, o Franziska, Kind, ſein Sie mir nicht böſe wegen dieſer Sache und – wegen des anderen. –“
Das Fränzchen war ganz ſtarr über dieſe plötzliche und merkwürdige Umwandlung der Gräfin. „Sie konnten ja das alles auch nicht wiſſen.“ Damit drückte ſie die ihr dargebotene Hand und mußte es über ſich ergehen laſſen, daß die Gräfin ſie an ihren hochgehenden Buſen preßte und einen Tränenſtrom über ihren Scheitel ergoß.
„Nein, ich konnte das nicht wiſſen, darum eben hätte ich nicht ſo vorſchnell ſein ſollen! Aber ſagen Sie mal, der Brief Ihrer Pflegemutter iſt ja nicht an Sie, er iſt ja an den Rektor Bartels gerichtet.“
„Ja, und Herr Rektor Bartels hat mir auch dazu geſchrieben und mir mitgeteilt, wie er darüber denkt, wie das Geld aufgebracht –“
„Von mir hat er nichts geſchrieben?“
„Nein, gnädige Frau.“
„Mein Gott, er weiß doch, daß ich Geld habe! Warum denkt der Mann nicht an mich? Und wie aus dem Briefe hervorgeht, hat er doch ſchon lange um die Not gewußt, und mir ſagt er kein Sterbenswort!“
„Aber, gnädige Frau, wir können Sie doch unmöglich –“
„Ganz ſtill, Kind! Von dem Gelde will ich kein Wort mehr hören, das bitte ich mir ernſtlich aus. Fünftauſend oder zehntauſend Taler waren es ja wohl? Die treiben wir auf. Ach, ich kann Ihnen gar nicht ausdrücken, nein, wahrhaftig, ich kann’s nicht, wie mir dieſe Sache – na, um Ihrer Eltern willen mag ich nicht gerade ſagen, erwünſcht iſt – indes, ich habe doch eine große Freude über dieſe Gelegenheit! – Was ſagten Sie, wann geht das nächſte Schiff nach Hamburg zurück?“
„Morgen nachmittag um ein Uhr.“
„Gut, morgen nachmittag um ein Uhr reiſen wir hier ab!“
„Wir, gnädige Frau?“, rief Franziska erſchrocken.
„Allerdings, wir, gnädiges Fräulein!“ Und die Gräfin Milowska, die eben erſt in Tränen aufgelöſte, ſetzte ihrer Geſellſchafterin einen in Anbetracht ihrer Wohlbeleibtheit doch ſehr zierlichen Knicks hin, daß Franziska trotz allem lächeln mußte.
„Na, nun ſind Sie ja wieder mein gutes, liebes Kind“, ſagte die Gräfin und ſtreichelte Fränzchen die Wangen. „Wiſſen Sie, ein wahres Glück iſt’s, daß das Schiff erſt morgen fährt, es wäre zu viel auf einmal! Haben Sie übrigens Nachricht von Ihrem Fritz, Ihre Frau Mama ſchreibt recht beſorgt um ſein Examen. Und dann – ſagen Sie mal – ich habe ja den Brief nun einmal geleſen – wer iſt denn dieſer – dieſer – hm – dieſer Herr – na, wie heißt er gleich – Herr – Schmerzensreich, nicht wahr?“
„Herr Tränenreich“, verbeſſerte das Fränzchen in großer Verlegenheit.
„Richtig, Herr Tränenreich. Doch kommen Sie, Kind! Das können Sie mir alles draußen erzählen. Hüllen Sie ſich auch in Ihren Plaid, wir machen jetzt einen Rundgang durch das Oberland. Ich habe das Bedürfnis, mich einmal recht ordentlich durchblaſen zu laſſen von dieſem nervenſtärkenden Seewinde. Wir wollen dem Sonnenuntergange von der Nordſpitze aus zuſehen, das beruhigt! Unterwegs läßt ſich’s angenehm plaudern. Morgen vormittag machen wir dann noch eine Rundfahrt unten herum und beſuchen die Düne mit, und dann – ade, Helgoland, ein ander Mal ſehen wir uns wieder! Wir ſparen dabei die Kurtaxe.“
Sie gingen die enge Straße hinauf, beſichtigten den Leuchtturm und die Kirche mit ihrem ſchönen Friedhofe, und Fränzchen war froh darüber. Denn nun konnte ſie doch morgen ihrem alten Kapitän davon berichten.
Die Gräfin hatte bis zur Nordſpitze alles Wiſſenswerte aus ihrer jungen Begleiterin herausgeholt, lachte über den Blitzjungen, den Fritz, und erzürnte ſich über dieſen Herrn von Spitznas und ſeinen Protegé. Nur von der Geldangelegenheit wollte ſie durchaus nichts weiter hören, ſodaß Franziska es für jetzt aufgeben mußte, das hochherzige Anerbieten dankend abzulehnen. Im Grunde ihres Herzens war ſie ja ihrer Herrin für dies Zartgefühl dankbar, denn von ihrem Vater zu ſprechen, hätte ſie nicht vermocht. Ja, wir dürfen es nicht verſchweigen, daß es ſogar Augenblicke gab, in denen ihr die Verſuchung nahte, die helfende Hand, die ihr die Gräfin bot, anzunehmen und ganz von ihrem Vater abzuſehen und ſich und ihm vielleicht ein Wiederſehen zu erſparen, das beiden Teilen – – Ach, ſie konnte dieſe Vorſtellung nicht zu Ende denken. Aber was der Gräfin ſchon aufgefallen war, das erſchien ihr doch jetzt auch beachtenswert. Warum hatte Herr Rektor Bartels ihrer Herrin, deren Reichtum er ja kannte, mit keinem Worte Erwähnung getan? Nein, der Rektor ſollte recht behalten; ſie wußte, was ſie, ſie ganz allein, zu tun hatte! – –
Am nächſten Tage zeigte ſich das Meer ſo unſchuldig lächelnd, daß die Rundfahrt, der Beſuch der Düne und die Rückreiſe nach Hamburg im wahren Sinne des Wortes glatt verliefen. Die Flut kam wirkſam zu Hilfe, und das Schiff legte, wie der freundliche Kapitän, der ſich freute, das Fränzchen noch einmal wiederzuſehen, vorausgeſagt hatte, pünktlich acht Uhr abends an der Landungsbrücke von Sankt Pauli an. Eine Viertelſtunde ſpäter befanden ſich die Damen nebſt ihrem unnötig mitgeführten großen Reiſekoffer wieder in ihrem Hotel am alten Jungfernſtieg, um hier die nötige Erholung zu ſuchen für die Weiterreiſe am andern Morgen.
Die Gräfin Milowska hatte ihren Nerven doch etwas zu viel zugemutet, und nach einem kurzen Abendimbiß begab ſie ſich zur Ruhe, nicht ohne Franziska zu ermahnen, ihrem Beiſpiel zu folgen, denn morgen habe man noch einen großen Tag vor ſich und übermorgen einen noch größeren.
Franziska lehnte in dem offenen Fenſter des Salons, der die beiden Schlafräume trennte, und ließ ihre Blicke über das bunte Treiben unter ſich, über das Becken der Binnenalſter bis zur Lombardsbrücke und zum Alſterdamm ſchweifen, aber ein ruhiges Behagen an dem ſo reizvollen Bilde fand ſie nicht. Wechſelvoll wie das Leben da draußen waren auch ihre Gedanken. Wie die kleinen Dampfboote und bunten Gondeln auf dem Waſſer hin und her zogen und die ſonſt ſo glatte Fläche durchfurchten und zum Schäumen brachten, ſo kreuzten ſich auch in des jungen Mädchens Seele widerſtreitende Gefühle und wühlten ſie auf.
Sollte ſie noch einmal einen Verſuch machen, die Gräfin aufzuklären? Sollte ſie ihr das Vorhaben, ihren Vater aufzuſuchen, mitteilen? War es nicht das natürlichſte von der Welt, wenn die Tochter ſich nach ihrem Vater umſah? Konnte ſie ein Geldopfer von ihrer Herrin annehmen, wenn ihr eigener Vater, der doch ältere Rechte und Pflichten dazu hatte, imſtande war, ein ſolches zu bringen? Aber war das wirklich der Fall? Und auf welche Weiſe konnte er ſich ein ſo beträchtliches Vermögen erworben haben? Durfte ſie, ehe ſie ſich davon überzeugt, der Gräfin gegenüber vielleicht gar ihren Vater bloßſtellen? War es nicht doch ein Unrecht gegen ihre Pflegeeltern, die zur ſicheren Hilfe bereite Hand ihrer Gräfin auf’s ungewiſſe hin zurückzuſtoßen?
Alle dieſe Fragen beſtürmten und ängſtigten ſie von zwei Seiten her.
„Nein, ich ertrage dieſe Zweifel nicht länger! Zum andern Male darf ich Hamburg nicht verlaſſen, ohne mir Gewißheit verſchafft zu haben. Es iſt die letzte Gelegenheit, die mir das Schickſal bietet. Erſt habe ich mich glücklich geprieſen, daß mich der Himmel zu einem ſchwachen Werkzeuge ſeiner Gnade machen wollte, ich habe Gott gebeten, mich zu meinem Vater zu führen, und jetzt, da ich dem Ziele ſo nah, ſollte ich kleinmütig zurückſchrecken? Ich kann, ich darf nicht anders handeln! Klarheit um jeden Preis!“
Entſchloſſen machte ſie ſich zum Aufbruche bereit, horchte an dem Schlafzimmer ihrer Herrin und ſchlüpfte, da ſie keinen Laut vernahm, davon.
Neunundzwanzigſtes Kapitel.
Sankt Pauli.
So nahe dem Ziele, wie ſie meinte, war nun Franziska allerdings noch nicht. Das ward ſie ſchon auf dem großen Flur des Hotels gewahr, wo die Schwierigkeiten, die ſie von dieſem Ziele trennten, bereits anhuben.
Jean, der Oberkellner, machte ein ſo impertinentes Geſicht, als ſie allein die Treppe herunterkam, und ein ſo gemeines Grinſen zog ſich bis in ſeine Koteletten hinein, daß ihr bei dieſer Wahrnehmung das Herz ſtockte und ſie inne ward, welch einen gewagten Schritt zu tun ſie vorhatte.
Faſt wäre ſie ſpornſtreichs wieder hinaufgerannt, aber nur ein kurzer Augenblick fand ſie ſchwankend. Entſchloſſen trat ſie auf den Mann zu und ſchaute ihm ſo geraden Blicks in die unverſchämte Viſage, daß eine merkwürdige Veränderung in dieſer eintrat, denn alle waagerechten Falten und Fältchen verwandelten ſich urplötzlich in ſenkrechte, ſogar die kleinen frechen Augen ſenkten ſich in tiefſter Devotion.
„Gräfin Milowska hat ſich zur Ruhe begeben, ich werde noch einen Spaziergang machen und habe den Salon offen gelaſſen. Teilen Sie das dem Stubenmädchen mit. Es ſoll zur Hand ſein, wenn die gnädige Frau klingelt.“
„Zu dienen, gnädiges Fräulein, wird beſorgt!“
Da ſtand ſie nun auf der Straße in dem ſchon angebrochenen Abende und wußte vorläufig noch nicht, wie ſie ihr Vorhaben angreifen ſollte. Sankt Pauli! Der einzige Anhalt, den ſie hatte, und was für einer!
Ach, der Kellner Jean war wohl der erſte geweſen, der ſie mit frechem Blicke angeſtarrt hatte, aber er blieb nicht der einzige! Das mußte ſie ſchon auf dem alten Jungfernſtieg erfahren! Nur ſchnell fort von hier, nach Sankt Pauli!
Das beſte war, den Weg, den ſie kurz zuvor zu Wagen gemacht hatte, jetzt zurückzuſuchen. Sie bog daher beim Alſterpavillon links in die Großen Bleichen ein und verfolgte den langen Straßenzug nach dem Zeughausmarkte zu. Hier, in der Gegend des Geſchäftsverkehrs, ging ſie wirklich noch ſicherer als unter den ariſtokratiſchen Tagedieben und bummelnden Laffen am Alſterbaſſin.
Erſt in der Nähe des Zeughausmarktes huben die mancherlei Beläſtigungen wieder an und mehrten ſich, je weiter ſie ſich der Grenze des Hamburger Weichbildes näherte und die Dunkelheit zunahm. Übermütige, angeheiterte, ja betrunkene Matroſen, einzeln und in Trupps, kreuzten ihren Weg. Wieder war ſie nahe daran umzukehren, zumal ihr aus der Ferne das dumpfe verworrene Getöſe einer großen Volksmenge entgegendrang und das mißtönige Zuſammenklingen der verſchiedenſten Melodien auf den verſchiedenſten Muſikinſtrumenten nicht gerade zum Weiterſchreiten einlud.
An der Ecke des Zeughausmarktes entwand ſie ſich mit einem leiſen Aufſchrei dem Griffe eines beſonders zudringlichen jungen Menſchen, lief aber dabei gerade in die ausgebreiteten Arme ſeines Gefährten hinein, der ob ſeines Glückes ſo unbändig lachte, daß er zum Glück für das halb ohnmächtige Mädchen alsbald von der derben Fauſt eines Schutzmannes beim Kragen genommen und wie ein Mehlſack ausgeſchüttelt wurde, wobei er alle ſeine Gelüſte einbüßte und ſich ſchleunigſt mit ſeinem Kumpanen aus dem Staube machte.
„Verdeubeltes Volk hier herum, Fräulein, ſeien Sie froh, daß ich eben um die Ecke bog, denn Sie ſcheinen mich nich von die jewöhnliche Sorte zu ſin. Machen Sie man, daß Sie nach Muttern kommen.“
Franziska hatte ſich bei dieſen väterlichen Worten einigermaßen gefaßt. „Ach, Herr, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe!“
„I dummes Zeug, ein Herr bin ich nich, man bloß ein Schutzpoliziſte. Das iſt bei mich Dienſtſache, un dafor bedankt ſich hier herum kein Deubel nich! Wo wohnen Sie denn, Fräuleinchen?“
„Ach, ich wohne ja auf dem Jungfernſtieg!“
Fuit! pfiff der Schutzpoliziſte als Zeichen ſeiner ſteigenden Hochachtung. „Da haben Sie ſich woll verlaufen in dies Malefizviertel?“
„Nein, nein, ich bin zwar ganz fremd hier, möchte aber jemand in Sankt Pauli auſſuchen.“
„So, ſo, ſo, na da kommen Sie hier richtig rin. Wo hat denn dieſer Jemand ſein Domizil?“
„Das weiß ich ja leider nicht, ich wollte mich erſt auf einer Polizeiwache danach erkundigen.
„Richtig, richtig, das iſt das einzig Richtige in dieſem Kaſus. Nu kucken Sie mal, hier um die Ecke herum, ſehen Sie die Laterne da? Nich die rote, beileibe nich! Nee, die blaue! Das is meine Wache, un da jehen Sie man dreiſte rin, un wenn der Jemand nich aus der Welt is, denn ſo ſteht er drinne. Empfehle mich für ein andermal!“
Franziska trat der Weiſung gemäß in das Polizeibureau und brachte dem Beamten ſchüchtern ihre Bitte vor.
„Benedikt Zrovnal! Benedikt Zrovnal! Hahahaha –! Hören Sie, Wilke, iſt das nicht ein ganz großartiger Scherz? Benedikt Zrovnal! Hahahaha! Nach Benedikt Zrovnal auf einer Polizeiwache zu fragen! Koſtbar, köſtlich! Iſt mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen! Wollen Sie uns etwa uzen, kleiner Schäker?“
Und der würdige Vertreter der ſtädtiſchen Ordnung gab mit einem erneuten Ausbruche ſeiner Heiterkeit ſeinem Schreiber das Signal, ebenfalls auf dieſen großartigen Scherz einzugehen.
Franziska ſtand in der peinlichſten Verlegenheit vor dem Holzgitter, hinter dem ſich die beiden luſtigen Kerle im Scheine einer Gasflamme auf ihren dreibeinigen Schemeln wanden und dabei alle Künſte eines Equilibriſten ſpielen laſſen mußten, um nicht herunter zu fallen.
O Gott, war denn ſchon eine Frage nach ihrem Vater ſo lächerlich? In was für einer Rolle mußte er hier auftreten? Ihr ſchwebte aus ihren Kindertagen das blaugelbe Amtskleid des ſtädtiſchen Narren von Angerbeck vor, das ſie nie von der Erinnerung an ihre tote Mutter loszulöſen vermochte, und eine Träne rollte ihr über die Wange.
Der ältere Beamte faßte ſich zuerſt ſoweit, daß er von ſeinem Dreibein nach den gewagteſten Produktionen ſeiner Gelenkigkeit wie ein gewöhnlicher Menſch herabrutſchte, an das Gitter trat und die Frageſtellerin nun näher ins Auge faßte, deren Jugend, Schönheit und – Schüchternheit nun doch einen ſichtlichen Eindruck auf den alten Knaben machten.
„O verzeihen Sie, meine Dame“, ſagte er, mit einem letzten Erſtickungsanfall kämpfend, „daß mich Ihre Frage ſo heiter ſtimmte. Aber deshalb kommt man doch nicht in eine ſonſt ſo verabſcheute Polizeiwache, um zu erfahren, wo Benedikt Zrovnal zu finden ſei! Entweder wollen Sie ſich einen Jokus mit mir machen, oder Sie müſſen denn wildfremd in Hamburg und heute erſt hier angekommen ſein.“
„Das bin ich auch, mein Herr, das iſt ja auch der Fall“, antwortete das Fränzchen mit geſenktem Haupte, denn dieſe Worte waren durchaus nicht geeignet, ihre Befürchtungen betreffs ihres Vaters zu vermindern.
„Ja–a, das iſt dann ganz etwas Anderes! Nach Benedikt Zrovnal aber hätten Sie jeden beliebigen Gaſſenjungen und jedes Dienſtmädchen fragen können, Sie wären auf das genaueſte berichtet worden.“
„O ſagen Sie mir, bitte, Beſcheid!“
„Gewiß, gewiß, mein wertes Fräulein! Sofort!“
Damit zwängte der ziemlich behäbige Herr ſich durch eine ſchmale Klappe der trennenden Holzſchranke. „Sehen Sie, da brauchen wir in unſerm Regiſter nicht erſt nachzuſchlagen.“ Er öffnete die Tür der Amtsſtube und legte ſeinen rechten Zeigefinger an ſein rechtes Ohrläppchen.
„Pſt! Hören Sie die große Drehorgel durch? Nicht die quäkende mit den Wienern in Berlin! Halt, jetzt hören Sie es ganz deutlich: O ſelig, o ſe–e–li–ig, a–ein Ki–i–ind noch zu ſein! Haben Sie’s heraus?“
„Ja, die Melodie kann ich recht wohl unterſcheiden“, ſagte Franziska, der allmählich der Verdacht auſſtieg, es mit einem Irrſinnigen zu tun zu haben.
„Gut, dann iſt Ihnen geholfen. Der Mechanismus iſt erſt vor einer halben Stunde auf die Arie eingeſtellt worden, nicht wahr, Wilke?“
„Allerdings, es fehlen ſogar noch fünf Minuten.“
„Sie haben daher noch reichlich eine halbe Stunde Zeit, ehe etwas Anderes drankommt. Aber ſchon in zehn Minuten haben Sie gewonnenes Spiel, und Ihre Beſuchsſtunde haben Sie auch famos gewählt, abends um zehn Uhr iſt Benedikt Zrovnal immer anzutreffen, um zehn Uhr morgens wohl ſelten. Gehen Sie alſo immer in dieſer Richtung fort, hier quer über den Zeughausmarkt, dann weiter geradeaus den Tönen nach, die Sie auf den Spielbudenplatz ziehen werden, wie der Rattenfänger von Hameln die lieben Kleinen in den Berg am Weſerfluſſe. Und wenn alle andere Muſik vor dem dröhnenden Zarenliede verſtummt, dann ſind Sie am Ziele, und wenn Sie den Benedikt Zrovnal kennen, dann haben Sie ihn auch, andernfalls fragen Sie den erſten beſten, und er wird ihn Ihnen zeigen. – Engagement? Wie?“
Die letzten Sätze und beſonders die Frage belehrten Franziska in entſetzlicher Klarheit, daß der Geiſteszuſtand des Beamten nicht normaler ſein konnte. Nach dem Vernommenen wäre ihr wahrhaftig eine unheilbare Verrücktheit desſelben wünſchenswerter erſchienen. Sie wußte jetzt, daß ihr Vater auch hier in Hamburg ein ſonderbares, abenteuerliches Leben führen mußte, und dieſe Gewißheit trieb der Tochter die Schamröte auf die Stirn. Verwirrt ſtammelte ſie einige Dankesworte und eilte über den Platz in der ihr von dem dienſtwilligen Herrn vorgeſchriebenen Richtung.
„Hm, ſchade um das hübſche Lärvchen, Wilke“, ſagte der Polizeimann und ſchloß die Bureautür, nachdem er dem jungen Mädchen ſolange nachgeſehen hatte, bis es in der Dunkelheit verſchwunden war. „Ich möchte aber wiſſen, wozu er ſie verwenden will.“
Ein beſſerer Führer hätte unſerm Fränzchen wirklich nicht beigegeben werden können, als die Muſik. Am Ende des weiten Zeughausmarktes, der nicht dazu geeignet war, das rege Leben auf ihm zuſammenzuraffen und in engen Schranken zu halten, ward aus den vereinzelten Geſtalten, die ebenfalls von dem Getöſe der Luſtbarkeiten wie die Motten vom Lichte angelockt wurden, ein ſtarkes Gedränge und Geſchiebe.
Unſerm Fränzchen war jetzt alles Andere gleichgültig, ſie ließ ſich mit dem Strome weitertreiben. Führte er ſie doch ihrem Ziele entgegen, das ſie, nur ſie allein, unter dieſen Tauſenden kannte. Mochten die vergnügungshungrigen, dem Augenblick lebenden Nebenmenſchen – für ſie jetzt nur Nebenſachen – ſie auch für eine ihresgleichen halten! Ja, es war ihr ſogar lieb ſo! Hier war ſie vor beſonderen Beläſtigungen ſicherer, als ſie es in den weniger gefüllten Straßen geweſen war. Keiner ſah neben ſich, alles eilte vorwärts, den erwarteten Freuden, dem Gewinne, dem Laſter entgegen.
O ſelig, o ſelig, ein Kind noch zu ſein! Gab es je einen ſchneidenderen Hohn als dieſes Lied Meiſter Lortzings an dieſem Orte, das ihr immer näher, immer ſtärker wie Poſaunenton in die Ohren gellte? Ach, ſie war auch die einzige unter den Tauſenden, die es vernahm!
Der Spielbudenplatz war erreicht, das Gedränge löſte ſich etwas auf, die einen blieben vor dieſem, die andern vor jenem einladenden Zelte ſtehen.
Da – wie eine Erſcheinung von oben – vor ihr in den Lüften – ſich vom dunkeln Abendhimmel ſcharf abzeichnend, leuchtend und flimmernd, huſchte etwas vorbei, einem hellen Meteor gleich, – ſein Name – ihr Name – ihrer toten, im finſtern Grabe ruhenden Mutter Name: Zrovnal – in großen von ſtrahlenden Lämpchen gebildeten Buchſtaben, hoch über dieſer tauſendköpfigen Menge der großen Stadt Hamburg!
Der Atem ſtockte ihr, ſie mußte ſtehen bleiben und die Hand auf das Herz drücken, in das der Name ſich eingebrannt hatte wie ein glühender Sklavenſtempel.
Da kam er wieder, und jetzt wußte ſie, was ihr Vater war: – ein Karuſſellbeſitzer.
Mit der Angabe, ob ihr nun dieſe Entdeckung angenehm war oder nicht, können wir leider unſern Bericht nicht vervollſtändigen, denn das wußte ſie ſelbſt nicht. Die lange heimlich an ihr nagende Ungewißheit, die ſich in den letzten Tagen, Stunden und Minuten zur Qual geſteigert hatte, war jedenfalls mit einem Male von ihr genommen, und ſie ſtand nun vor dieſem gelöſten Rätſel und konnte wieder aufatmen. O, ſie hätte es ja noch viel, viel ſchlimmer treffen können, ſie brauchte ſich nur umzuſchauen hier in den Buden und Spelunken von Sankt Pauli!
Wie einſt als Kind auf dem Schüttenhofe von Angerbeck, bei den Flachsrotten am Bache, ſo ſtand ſie jetzt, die Hände auf dem Rücken verſchlungen, vor dem kreiſenden, gewaltigen und doch ſo luftigen Rundbau mit ſeinem Flitterkram, ſeinen Sammetdraperien, ſeinen Gazewölkchen, den Gold- und Silberfranſen, den wunderlichſten Fahrzeugen in allerhand Formen und Farben, den ſtolzen Schimmeln, den feurigen Rappen, dem einzigen, majeſtätiſchen, mähnenumwallten Könige aus Syriens Wüſten.
Der hundertfache Schein der ſtillhängenden und der ſich drehenden Lampen floß durcheinander und ſpiegelte ſich wieder in ihren glänzenden braunen Augen.
Sie hatte vergeſſen, daß ſie hier in Hamburg, in Sankt Pauli, mitten in dem modernen Sodom ſtand, deſſen Getriebe nur wie aus weiter Ferne an ihr Ohr ſchlug, und das ſie doch von allen Seiten umflutete wie die Brandung der Nordſee da draußen das Felſeneiland, das ſie erſt heute verlaſſen. War das erſt heute geweſen?
Und in die Märchenwelt klang’s hinein in vollen brauſenden Akkorden: O ſelig, o ſelig, ein Kind noch zu ſein! Wahrhaftig, ſie ſummte das Lied mit, das ihr Frau Ottilie mit ihrer ſchönen Stimme ſo manchesmal vorgeſungen hatte, abends in der Eckſtube der ſtillen Apotheke zu Angerbeck.
Sie mußte ſich erſt aus ihrer Träumerei mit der Mahnung reißen, weshalb ſie hierher gekommen. Daß ihr Vater, ihr leiblicher Vater, den ſie ſeit zehn Jahren nicht wiedergeſehen, an den zu denken ſie ſich gewöhnt hatte wie auch an eine Geſtalt aus einem halbvergeſſenen Kindermärchen, Kindertraume, ihr jetzt ſo nahe ſein ſollte, war ihr noch unfaßlich, und ſie hob abermals ihre Augen zu den leuchtenden Buchſtaben empor.
Da ward ſie noch durch eine weniger zarte Art an die Wirklichkeit gemahnt. Das Karuſſell ſtand. Junge Burſchen und Mädchen, derbe rotwangige Schiffsleute und dralle Vierländerinnen, ſchäbige Geſtalten mit zweifelhaften Gaunergeſichtern, ſpitzengarnierte Dämchen mit einladenden Blicken und einnehmendem Weſen, verwahrloſte und vor der Zeit abgearbeitete oder abgelebte Kinder beiderlei Geſchlechts, alles ſprang, drängte, ſchob, kletterte vor und neben ihr, die einen, ihre innegehabten Plätze zu verlaſſen, die andern, die geräumten zu gewinnen.
In fürchterlicher Enge ſtand das Fränzchen, ward vorwärtsgetrieben bis an den Rand des Ringelſpiels und ſuchte nun mit angſtvollen Blicken zwiſchen den Beinen der Pferde hindurch ihren Vater. Der Mann, der die Kurbel der Orgel handhabte, war es nicht. Rückſichtsloſe Ellenbogen ſtießen ſie zur Seite. Da kam ihr als einzig rettender Gedanke, ſelbſt auf die von neuem in Bewegung geratende Plattform zu ſpringen und ſich einen Platz zu erobern.
„O Gott! Was würde meine Gräfin ſagen!“ Noch ſchwankte ſie. Da hörte ſie dicht an ihrem Ohre ein Flüſtern. Wie von einer Schlange gebiſſen ſchnellte ſie auf, vernahm hinter ſich noch ein freches Lachen, umklammerte den Hals des erſten beſten Pferdes, – und fort ging’s in kreiſendem Wirbel, daß ihr die Sinne ſchwanden und ſie in die gaffende Menge zurückgeſchleudert worden wäre, hätte ſie nicht eine hilfreiche Hand unterſtützt und ihr in den Sattel geholfen.
Es war die eines phantaſtiſch aufgeputzten Mädchens mit rotem Röckchen, ſchwarzſamtenem Mieder und hübſchem Geſichte, welches (das Mädchen nämlich!) als edle Weiblichkeit ihre Schuldigkeit tat und darauf während der Fahrt von einem zum andern ging, die landläufige Hamburger Scheidemünze in Empfang zu nehmen.
Franziska ſaß, nachdem auch ſie ſich nach dieſer Seite hin ihrer Pflicht entledigt und ſich, ſo gut es anging, in die ganz eigentümliche und höchſt unſchickliche Lage, in die ſie auf ſo merkwürdige Weiſe wider ihren Willen geraten war, gefunden hatte, hoch zu Roß. Wieder hatte ſie den eigentlichen Zweck ihres Hierſeins vergeſſen. Sie hielt die neben ihrem Pferde niederführende eiſerne Tragſtange krampfhaft umklammert, ſie fühlte, daß jetzt rings um ſie her ein hundertköpfiges Ungeheuer auf den Augenblick wartete, der ſie ihm wieder ausliefern mußte, und ſchaudernd empfand ſie die begehrlichen Blicke, denen ſie ſich ſo offen ausſetzte.
Sie wandte ſich mit Anſtrengung ab von der Menge und hielt ihre Augen auf das Innere der Rundbahn gerichtet und merkte es nicht, daß ihr zwei andere dunkle Augen bei jeder Drehung aus dieſem Innern heraus geſpannt folgten.
Der in Wirklichkeit feſtſtehende Kern des Gebäudes ſchien in immer tolleres Kreiſen zu geraten, ſodaß ſie nicht mehr imſtande war, Einzelheiten zu unterſcheiden. Nur die große prunkvolle Orgel hob ſich immer wieder hervor, huſchte aber ebenſo ſchnell wie alles Übrige vorüber.
Endlich kam der gefürchtete Augenblick, die Glocke ertönte, die Bewegung ließ nach, ihr Pferd ſtand. Im Umſehen waren die Plätze neben ihr leer, die einige Knaben innegehabt hatten; ſie ſaß allein noch. Was ſollte ſie tun? Hinunterſpringen in die Menge? Lieber hätte ſie ſich von dem Küſtenrande Helgolands ins toſende Meer geſtürzt! Bleiben? Zu ihrem neuen Entſetzen balgten ſich ſchon zwei rüde Kerle um die Ehre ihrer nächſten Nachbarſchaft. So wollte ſie ſich wenigſtens der vor ihr ſtehenden noch unbeſetzten Kutſche verſichern; ſie glitt aus dem Sattel.
Da fühlte ſie ihr Handgelenk umfaßt. Mit einem Auſſchrei verſuchte ſie ſich loszureißen, das hübſche Mädchen mit dem roten Röckchen und dem ſchwarzen Mieder aber hielt ſie lachend feſt und zog die Erſtaunte von der Ringbahn hinab, nicht nach außen, ſondern nach innen.
„Hier haben wir ſie, Herr!“
Über einen kleinen pultartigen Tiſch ſtreckte ſich ihr eine Hand entgegen, und ein großer, dunkelgekleideter, ſchwarzbärtiger Mann erhob ſich und ſchaute ſie mit ſeinen dunklen Augen forſchend und doch lächelnd an.
„Vater?!“
„Milá Františko“, flüſterte er zärtlich. „So hat miláček, mein Herzblatt, doch den Weg zum Vater gefunden. Diky Bohu! Gott ſei Dank! Ich wußte wohl, daß du kommen würdeſt, und habe dich ſchon ſeit Wochen erwartet, aber jetzt, zu dieſer Stunde nicht.“
Sie ſtand ſchüchtern vor ihm und konnte nur ſtammeln: „Es ging nicht anders, lieber, lieber Vater!“
„Dobře! Gut, mein Kind. Schlüpfe hier hinein und mache dir’s bequem, eine Stunde noch mußt du aushalten, dann gehen wir zuſammen.“
Er ſchlug eine ſchwere Sammetportière auseinander und ließ ſie hinter ihr fallen. Darauf ſetzte er ſich, als ob nichts geſchehen wäre, wieder an ſein Tiſchchen, rief dem Orgelmanne einen Befehl zu, beugte ſich über ſein aufgeſchlagenes Rechnungsbuch und hielt die Fahrgäſte zählend im Auge. –
Fränzchen ſaß in einem runden von einer Lampe erleuchteten Gemache auf dem lederüberzogenen Sofa wie im Traume. War ſie denn wirklich in der ehrbaren würdigen Apotheke zu Angerbeck erzogen und aufgewachſen und ſaß jetzt hier mitten im laſterhaften Strudel Hamburgs, gleichſam im Zentrum desſelben? Ihre Gedanken drehten ſich wieder in tollem Wirbel wie alles draußen um ſie her.
Da tönte von neuem die Glocke, und dicht hinter ihr, nur durch den Vorhang getrennt, brauſte die Orgel wieder auf. Franziska lauſchte. Das war nicht mehr die Zarenarie, aber bekannt war ihr’s auch! O das war ja das alte böhmiſche Lied, das ſie der Vater einſt gelehrt!
„O života jaro, jak krásné jsi bylo,
jak daleko ležíš, o rodiště mé.
Mi nekvetou radosti žádné v cizině,
lidé jsou studení, mé srdce prázdné.
O Frühling des Lebens, wie wareſt du ſchön!
Wie weit liegſt du, Heimat, auf ſonnigen Höhn.
Mir lacht in der Fremde die Freude nicht mehr,
die Menſchen ſind kalt, und mein Herz iſt leer.“
Wie oft mochte der Böhme in Hamburg ſein Heimweh in dieſem Liede haben ausklingen laſſen! Der Tochter des Karuſſellbeſitzers aber war das Herz übervoll von allem, was hinter ihr lag und um ſie her! Es war zu viel. Und als ſie ſich nun mit einem Male geborgen wußte in dieſem kleinen, inmitten des toſenden Lebens faſt traulichen Raume, unter dem ſicheren Schutze ihres wiedergefundenen Vaters, da erlahmte auch ihre Spannkraft. Sie lehnte ſich an die harten Kiſſen und ſchluchzte, und die alte Weiſe klang klagend dazwiſchen, umrauſchte ſie mit ihren verſchlungenen Tönen und trug das weinende Kind auf den Fittichen des Traumes weit hinweg über das tolle Getriebe von Sankt Pauli und über die große Stadt Hamburg.
Benedikt Zrovnal ſtand nach einer Stunde unſchlüſſig vor dem lieblichen Bilde, das ſich ihm auf ſeinem Lager bot. Die im Schlafe lächelnde Unſchuld hatte es noch nicht getragen, obwohl es in den Branntwein-, Spiel- und anderen Buden von ſo manchem Zeuge geweſen war. Das dachte Benedikt Zrovnal, und ſeine ganze ihn umgebende Talmi-Herrlichkeit deuchte ihm nicht würdig genug, dieſes echte Kleinod zu faſſen. Nachdem er ſich noch einen Augenblick an dem ſüßen berauſchenden Anblicke ſeines Fränzchens gelabt hatte, drückte er einen Kuß auf die reine Stirn ſeiner ſchlafenden Tochter.
Verwirrt ſprang ſie auf und hielt ihre verträumten Augen erſtaunt auf die hohe dunkle Geſtalt gerichtet. Dann aber kam ihr das Verſtändnis zurück, und ſie flog in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters und barg ihr Köpfchen an ſeiner breiten Bruſt.
„Vater, iſt es denn wirklich und wahrhaftig wahr, daß ich dich gefunden?“
„Ja, Kind, mir kommt es ſelbſt wie ein Traum vor, obwohl ich ſchon wußte, daß du kommen würdeſt.“
„Du wußteſt, daß ich kommen würde? Vater, wie iſt das möglich! Noch nicht einmal meine Gräfin weiß darum.“
„O Františko“, lachte der Böhme, „glaubteſt du wirklich, daß ich ſo in Unkenntnis über mein miláček hätte ſein mögen, wie mein Herzblatt über mich? Mein Freund Alwin Pfitzner aus Annaberg hat mir immer getreulich Bericht von dir gegeben und, Gott ſei Dank, immer guten geben können. Er hat mir auch geſchrieben, wie du aus ihm herausgepreßt haſt, wo du mich finden konnteſt.“
„Und ſchwer genug iſt mir das geworden! Aber – o – ich habe hier wohl die ganze Nacht verſchlafen? Himmel, was wird meine Gräfin von mir denken! Ich bin ihr ja fortgelaufen aus unſerm Hotel am Jungfernſtieg, und kein Menſch weiß, wo ich bin! Ich muß zu ihr zurück, ich kann ſie nicht erzürnen, auf keinen Fall darf ich das jetzt, nachdem ſie ſo gütig war. Morgen früh müſſen wir ja abreiſen nach Angerbeck!“
Die letztere Erwägung brachte ſie nun glücklich darauf, aus welchem Anlaß ſie heute abend noch ihren Vater unter ſo großen Schwierigkeiten erforſcht hatte.
„Ehe ich aber gehe, muß ich dir etwas geben, Vater!“
Sie brachte aus ihrer Taſche die zerknitterten Briefe Frau Ottiliens und des Rektors hervor und legte ſie auf den Tiſch. „Das mußt du ſofort leſen, Vater!“
„Alles, wie ſich’s gehört, nacheinander, Fränzchen. Erſt wollen wir ſehen, was unſere Anna bringt.“ Das hübſche Mädchen mit dem roten Röckchen und dem ſchwarzen Mieder trat herein mit einem Handkörbchen und lächelte Franziska freundlich an.
„Es iſt gut, Anna, ich danke. Nun geh nach Hauſe und bitte deine Mutter, daß ſie mir meine kleine Reiſetaſche packt wie gewöhnlich.“
Er entnahm dem Korbe eine Flaſche Wein, entkorkte ſie und ſchenkte zwei Gläſer voll.
„Vítám tě, ſei gegrüßt, meine Tochter!“
Das Fränzchen tat wirklich einen herzhaften Zug, noch nie hatte ihr der Wein geſchmeckt wie jetzt. Ihn hatte aber auch ein Schiff aus Spanien gebracht.
„Und nun mache dich ſelbſt über das weitere her, Kind, mir kannſt du auch ein Häppchen vorlegen, während ich dir mit dieſen Briefen den Willen tue.“
Er ſetzte ſich auf das Sofa und vertiefte ſich in die Schreiben, und Franziska belegte zierlich die Weißbrötchen, reichte ihm eins und aß ſelbſt tapfer darauf los, in dem kleinen Raume in ihrer Aufregung auf und ab gehend, wobei ſie ihren Vater verſtohlen betrachtete.
O gewiß! Sie hätte ihn unter Tauſenden herausgefunden. So ſtand er getreulich in ihrer Erinnerung, nur das lange Haupthaar war kürzer geſchoren und nicht mehr ganz ſo dunkel und der Bart länger und dichter geworden, und die Krähenfüßchen an den Augenwinkeln kamen ihr fremd vor, und die Stirn war ein klein wenig höher frei, und es lagerte ſo etwas über ihr, nicht etwa Falten, was ſie nicht mehr ſo glatt erſcheinen ließ, dafür aber feſter, männlicher. Im allgemeinen konnte ſie mit ihrem Vater wohl zufrieden ſein, er machte einen ganz anderen Eindruck, als ſie – gefürchtet hatte, eigentlich einen ſehr noblen, wie ein vornehmer Graf! Ihrer Gräfin ihrer war ſicher nicht ſo ſtattlich geweſen. O, ſeiner zu ſchämen brauchte ſie ſich durchaus nicht, des war ſie ſicher! Die Augen, die er jetzt von den Briefen erhob, waren aber ganz und gar die alten.
„Da, kleine Bachſtelze, ſtecke das nun wieder ein, ich weiß jetzt alles.“
„Und?“, fragte Franziska, vor ihm ſtehen bleibend und beide Hände auf ſeine Schultern legend. „Sieh, Vater, ich hätte vielleicht von anderer Seite Hilfe annehmen und bringen können, aber dir durfte ich nicht vorgreifen. Wenn einer ein Recht dazu hat, meinen guten Pflegeeltern zu helfen, ſo biſt du es.“
„Sage lieber: Pflicht, Kind.“ Er zog ſie auf ſeine Knie nieder und küßte ſie zärtlich. „Natürlich bringen wir beide die Sache in Ordnung, wir ganz allein. Noch nicht einmal den Juſtizrat Former brauchen wir vorläufig dazu.“
„Aber das Geld, Vater! Du haſt doch Geld dazu nötig! Und von – Herrn Kruſius habe ich ein lateiniſch Sprichwort gelernt: Bis dat, qui cito dat. Das heißt: Doppelt gibt, wer ſchnell gibt.“
„Natürlich, du kleines gelehrtes Haus! Und es iſt wahrlich die höchſte Zeit dazu, wie ich aus den Briefen erſehen habe. Vor morgen früh können wir aber doch nicht fahren, und das Geld des Juſtizrats brauchen wir auch nicht dazu. Sieh mal da!“
Er holte aus ſeiner Bruſttaſche das in ſchwarzes Leder gebundene Kontobuch ſeines wirbelnden Geſchäfts, das ſich da drin zu ſtarren Zahlen konzentriert und kriſtalliſiert hatte.
„Auf den Deckel habe ich auch einen lateiniſchen Spruch drucken laſſen, den mir der alte Apotheker mit auf den Weg gegeben hat. Und wahrlich, wenn je ein Rezept probat erfunden worden, ſo iſt es das geweſen.“
„Quaerenda pecunia primum est“, las Fränzchen.
Aus der Sofaecke holte er einen ledernen, umfangreichen, von ſeinem Inhalte ſtraffen Beutel hervor und ſchüttelte ihn lächelnd, daß es klirrte. „Die heutige Tageskaſſe, Kind; das Geſchäft hat ſich mal wieder gemacht. Der gute Pán Kruſius ſollte nur jeden Monat einen einzigen ſolchen Tag im Handverkauf haben, ſo wäre ihm geholfen. Und die beſte Einnahme von heute abend ſteckt noch nicht einmal mit drin“, lachte er ihr zu, um gleich darauf recht ernſt zu werden. „Und doch, Mädchen, habe ich noch nie meine Armut ſo geſpürt, wie ſeit einer Stunde. Die Apotheke zu Angerbeck iſt trotz aller Trübſal ein Schatzhaus geweſen. – Deiner polniſchen Gräfin gönne ich ihr Glück aber gar nicht! Komm, wir wollen aufbrechen.“
Im Scheine einer einzigen trübſeligen Laterne ſaß neben der jetzt verſtummten Orgel der Mann, der ſie am Abend gedreht hatte. Sonſt lag der vor kurzem noch ſo glänzende, feenhaft erleuchtete Raum düſter und unheimlich da, und geſpenſterhaft tauchten die ſtarren Geſtalten der Pferde auf und malten unſichere Schatten auf dem großen grauen Laken, mit dem die ganze Runde nach außen hin abgeſchloſſen war.
Benedikt Zrovnal griff in ſeinen Lederſack und reihte dem Manne ungezählt eine Handvoll Münzen. „Da, Jarken, nimm! Habe heute eine Extraeinnahme gemacht. Halte gute Wacht! Morgen werde ich den Paulſen ſchicken, denn ich werde einige Tage nicht zu haben ſein.“
„Da wünſche ich dem Herrn viel Pläſier“, grinſte Jarken und ſteckte ſchmunzelnd das Geſchenk ein. „Sie brauchen keine Sorge zu haben, Herr, das Geſchäft geht immer zur Zufriedenheit fort.” Er leuchtete ſeinem Herrn und deſſen junger Tochter, daß dieſe den Ausweg fand, und zog ſich in die Rotunde zurück.
Benedikt Zrovnal bot Franziska ſeinen Arm und ging mit ihr über den Platz, der jetzt leer geworden war. Nur aus einer Singſpielhalle tönte noch Muſik und der dazugehörige Lärm, und vor ihrem Eingange ſchimpfte ein an die friſche Luft geſetzter Betrunkener darüber, daß man ihm trotz ſeines großen Durſtes das Bier verweigere.
An der Reeperbahn ſtand ein kleines Häuschen. Vor dieſem blieb Benedikt ſtehen und zog ſeinen Hausſchlüſſel hervor.
„Hier wohne ich, Fränzchen, ſeit ich in Hamburg bin; erſt nahm man mich als Mieter und armen Teufel auf, und jetzt erträgt man mich als Hausherrn. Auf einige Minuten nur möchte ich dich bitten, einzutreten, du wirſt doch auch Hamburg nicht verlaſſen wollen, ohne einen Blick in deines Vaters Wohnung getan zu haben.“
Auf der Treppe kam ihnen eine Frau in mittleren Jahren mit einer Lampe entgegen. „Sind Sie es, Herr Zrovnal, und bringen Sie ſie mit?“
„Jawohl, Frau Paulſen, da haben wir ſie auch zu Hauſe.“
Er nahm im rechten Augenblicke die Lampe an ſich, denn bei dem Knicks, den Frau Paulſen vor ſeine Tochter hinſetzte, nachdem ſie ihr in das Geſicht geleuchtet hatte, liefen alle drei Gefahr, jämmerlich zu verbrennen.
„O, Herr Zrovnal, meine Anna hat mir ſchon erzählt, wie ſchön das Fräulein wäre, aber ſo hätte ich mir’s ja doch nicht gedacht! Ihnen ganz aus dem Geſichte geſchnitten, aber auch viel –“
„Wo ſteckt Paulſen?“, unterbrach der Böhme ſie barſch.
„Ich muß ſagen, es iſt ein Glück zu nennen, daß mein Alter ſich wieder mal draußen am Hafen herumtreibt! Na, ich glaube, der wäre mir jetzt vollends übergeſchnappt vor lauter Wonne, das Fräulein nur anzuſehen! Und womit kann ich den Herrſchaften nun dienen?“
„Zunächſt damit, daß Sie meiner Tochter nichts in den Kopf ſetzen“, erwiderte Benedikt mit Vaterſtolz, „und zweitens, daß Sie Ihrem Manne morgen den Befehl erteilen, mich bis auf weiteres zu vertreten; ich muß verreiſen.“
„Ja, ja, das iſt mir ſehr recht, der Mann verbummelt mir ſonſt bloß in den vier Wochen, wo er hier mal wieder vor Anker liegt. Aber morgen wollen doch Fräulein Tochter nicht ſchon wieder fort?“
„Nein, morgen nicht, ſondern heute noch. Nun, darf ich bitten, Fränzchen?“
Franziska ſah ſich mit großen Augen in dem einfachen Gemache um, bis dieſe an einer Stelle haften blieben und ſie einen Ruf der Überraſchung ausſtieß. Ihr Vater ſtand mit wehmütigem Lächeln neben ihr und hob die Lampe zur Wand empor, an der in einem ſchwarzen Rahmen ein Ölgemälde hing. Ein Engel, von verklärendem Lichte umfloſſen, ſchwebte aus dem offenen Grabe eines Friedhofs und breitete ſeine Hände ſegnend über ein kleines Mädchen, das in ſeinem Kleidchen Blumen trug, dies Grab damit zu beſtreuen.
Auf den erſten Blick erkannte Franziska das liebe wie aus einer höheren Welt herniederſchauende Antlitz ihrer Mutter und ſich ſelbſt. O, konnte ſie noch einen Augenblick zweifeln an ihrem Vater? Sie ſtand vor ſich ſelbſt beſchämt da, und Tränen rannen ihr von den Wangen.
„Sieh, Fränzchen, auf dieſen Augenblick habe ich mich ſeit manchem Jahre gefreut. Es iſt das Erſte geweſen, was ich mit meinen Erſparniſſen mir erworben habe. So hat der Künſtler nach dem Wachstuchbilde, das uns Paní Kruſius einſt machen ließ, meine Gedanken annähernd dargeſtellt.“
Benedikt hatte die Lampe auf den Tiſch geſtellt und ſich in den Hintergrund des Zimmers zurückgezogen, Franziska aber ſaß vor dem Bilde und konnte die Augen nicht abwenden. Da ertönte die alte Geige ihres Vaters, zuerſt unter weichen, innigen Strichen, dann in leidenſchaftlich wirren Akkorden, bis dieſe ſich wieder auflöſten und klärten zu dem alten Liede ſeiner Heimat und Jugend: O života jaro.
Als aber der letzte Hauch verklungen war und Benedikt ſein Inſtrument hinlegte, konnte ſich Franziska nicht länger halten. Sie flog auf ihren Vater zu und warf ſich an ſeine Bruſt, und er hielt ſie umſchlungen, und eine Träne netzte den Scheitel ſeines Kindes.
Endlich machte er ſich ſanft los. „Nun müſſen wir doch an das Geſchäftliche gehen, Fränzchen, du leuchteſt mir wohl dabei.“
Sie folgte ihm bereitwillig mit dem Lichte in ſein anſtoßendes Schlafgemach. „Hier wollen wir den Talisman heben, mit dem wir die ganze Apotheke zu Angerbeck vor allen böſen Feinden ſchützen können, ſo Gott das übrige dazu tut.“ Er ſchloß die ſchwere eiſerne Tür eines Geldſchrankes auf und verſah ſich mit allem, was ihm nötig erſchien.
„So, Kind, das erſetzt mir auch im Notfalle alles weitere Gepäck. In fünf Minuten bin ich reiſefertig.“
„Und du willſt wirklich mit uns reiſen, Vater?“
„Gewiß, Närrchen, das will ich! Es ſind ſchon andere Leute mit Gräfinnen auf und davon gegangen als zu einigem Vermögen gekommene Karuſſellbeſitzer.“
„Aber Vater! Wie kannſt du –“
„Pſt, Kind, verleugnen kannſt du mich nicht mehr. Mit wem anders könnteſt du dich in Hamburg wohl bis Mitternacht umhergetrieben haben, wenn nicht mit deinem Vater?“ – –
In der Singſpielhalle war immer noch Leben, und vor ihr warteten in trübſeliger verſchlafener Stimmung einige Droſchkengäule und die dazu gehörigen Kutſcher noch auf Verdienſt. Benedikt Zrovnal ermunterte das nächſte Paar, hob ſeine Tochter in das Gefährt und fuhr mit ihr nach dem Jungfernſtieg davon.
Wir können ihm nun getroſt überlaſſen, ſeine Tochter gegen das hämiſche Grinſen des Oberkellners Jean zu ſchützen und ſich am andern Morgen in gebührender Weiſe der Gräfin Milowska – die zum Glück während der Nacht nach ihrer verpflichteten Geſellſchafterin kein Verlangen getragen hatte – vorzuſtellen. Nach einem „Hahnewackel“, den er ſich im Gaſtzimmer des Hotels geben ließ, übernahm er bei den Damen das Amt eines Reiſemarſchalls.
Mit dem Eilzuge der Gedanken aber laſſen wir unſere Hamburger Reiſegeſellſchaft weit hinter uns und kommen im nächſten Kapitel unſerer Geſchichte wieder dorthin zurück, von wo wir ausgegangen waren – nach Angerbeck.
Dreißigſtes Kapitel.
Herr Tobias Kruſius lobt das Braunochſenpflaſter und fährt aus. Im Schloſſe zu Angerbeck iſt es nicht geheuer. Die grüne Taſſe aus Braſilien tut ihre Schuldigkeit. Röschen Sonnenburg.
Die Apotheke zu Angerbeck lag an dem ſchönen Sommermorgen, an dem wir ſie wieder aufſuchen, in eitel Licht und Sonnenſchein, wenn auch mancher trübe Tag über ihr altersgraues Sandſteindach dahingegangen war. Und das Schloß zu Angerbeck hockte wie eine lichtſcheue Eule immer noch in ſeinem ſelbſt an einem ſo freundlichen Morgen dunklen Hohlwege. Der Verkehr zwiſchen beiden Häuſern hatte ſich immer nur auf die vierteljährliche Mietzahlung der Witwe Wehrbein beſchränkt, das heißt, wenn letztere genügend bei Kaſſe war, was nicht zu oft vorkam.
Doktor Kraft hatte Herrn Tobias Kruſius zum erſtenmale erlaubt, ſich in einem bequemen Rollſtuhle an die weiche warme Luft und in das erquickende Sonnenlicht fahren zu laſſen. Und niemand anders als Alwin Pfitzner hatte es ſich ausbedungen, ihm dieſen Liebesdienſt zu erweiſen. Frau Ottilie hatte ihm ihren Eheherrn unter der Bedingung anvertraut, ihn nicht in den Garten zu bringen, denn ſie fürchtete von einem ſolchen Beſuche eine Rückkehr der Lähmungserſcheinungen, und zwar mit gutem Grunde. Sie ſelbſt hatte heute in der Frühe einen ſtarrkrampfähnlichen Anfall überwinden müſſen, als ſie in den Garten gekommen war, Vietsbohnen für die Mittagsmahlzeit abzunehmen.
Schlimmer hätte ein ſüdruſſiſcher Heuſchreckenſchwarm auch nicht in den Weizen- und Kukuritzfeldern wüſten können, als Herr Tränenreich vor Tagesgrauen in den Roſenbeeten gewirtſchaftet hatte. Selbſt an den kaum erſchloſſenen Knospen des „gelben Richard“ war der Würgengel nicht vorbeigegangen, die Roſenſtöcke waren bis auf die Stämme abgeſchroten. Herr Tränenreich hatte nämlich heute einen beſonderen Tag! Die Geſellſchaft „Reſſource“, deren Vergnügungsvorſtand er war, – einen beſſeren Griff hätte man nicht machen können – war mit drei Leiterwagen vollzählig auf einer Landpartie, und die Damen wollten alle bedacht ſein, die reiferen Schönheiten mit voll erblühten Roſen, die jungen und jüngeren Mägdlein mit Knospen.
Wie konnte aber Herr Tränenreich ſeinen Poſten als Proviſor verlaſſen und ſich der notleidenden Bevölkerung Angerbecks entziehen? Sehr einfach dadurch, daß er dem Sohne des Hauſes, Fritz Kruſius, der ſich ſeit einigen Tagen auf ſeinem Erholungsurlaube befand, die Offizin und pharmazeutiſche Praxis großmütig überließ.
Nun, die Apotheke zu Angerbeck atmete an dieſem Morgen ordentlich auf!
Als Herr Tobias Kruſius von Frau Ottilie aus ſeiner Schlaf- und Krankenkammer in die Offizin geführt ward und er, anſtatt Herrn Tränenreich müßig auf dem Sofa, ſeinen Sohn geſchäftig hinter dem Rezeptiertiſche fand, färbte ſich ſein bleiches Angeſicht, und begeiſtert rief er aus: „Frau, liebe Ottilie, der Traum meines Lebens hat ſich erfüllt! Wie ſingt Jacopo Sannazaro, vulgo Actius Sinzerus? ‚Pezzo del cielo in terra caduto!‘ Ein Stück Himmel auf die Erde gefallen. O Frau, ſieh dir da den Jungen an! Habe ich dir nicht immer geſagt, er wird erſt noch?“
Fritz ſprang hinter dem Arbeitstiſche hervor und half der Mutter, den Vater auf dem Sofa bequem unterzubringen. Das eben vernommene Lob hatte ihm das Blut ins Geſicht getrieben. Frau Kruſius aber hielt nur mit Mühe hinter einem Lächeln ihre Tränen zurück, denn ach, wie bald nur mußte dies Stückchen Himmel verſchwinden vor den grauen Wetterwolken, die über die Apotheke zu Angerbeck heraufzogen.
Was ſie ſelbſt in dieſer letzten böſen Zeit gelitten hatte, war auch nicht ſpurlos an ihr vorübergegangen, es hatte ihr früher rabenſchwarzes Haar ſehr merklich an den Schläfen gebleicht und ihre Geſtalt niedergebeugt. Nur die blauen Augen blitzten noch trotzig dem Schickſal entgegen.
„Emplastrum oxycroceum, Junge?“, fragte Herr Tobias, nach dem Rezeptiertiſche hinüberſchnüffelnd, an dem ſich Fritz weiter zu ſchaffen machte.
„Ja, Vater, die letzte Stange war ſchon angeriſſen.“
„Kinder, die ſchmale Schieblade mit dem Braunochſenpflaſter haltet in beſonderen Ehren! Fritz, ziehe ſie nie ohne das Gefühl der Dankbarkeit heraus! Das Braunochſenpflaſter hält noch, wenn alle Stränge reißen, die ganze Apotheke zu Angerbeck zuſammen, und es hat in dieſen vierzig Jahren und etlichen manches verſchmiert und dicht gemacht. Jedwede Läſion an Mann, Weib, Kind und Vieh wird in Angerbeck zunächſt mit Emplastrum oxycroceum verſchmiert, und es freut mich, daß du gerade dieſes auf Vorrat anfertigſt. Mache mir nur den Tiſch gehörig naß, daß nichts anklebt, ich denke, du biſt mit den Marmorplatten in eurer Hofapotheke doch ein bißchen verwöhnt.“
„Mann, ſorge dich nicht, der Junge wird ſchon ſeine Sache machen. Pfitzner wartet hölliſch aufgedonnert mit einer karierten Buſenſchleife ſchon ſeit einer Stunde draußen, laß ihn nicht länger zappeln. Ich habe ihm geſagt, er ſollte erſt nach Sankt Severin hinaus und dann den Kirchberg hinauf fahren. Heute morgen muß eine prächtige Ausſicht dort oben ſein, die haſt du lange genug entbehren müſſen, armer Tobias.“
„Gut, Ottilie, laß den Triumphwagen vorfahren, bringt mich hinaus nach Sankt Severin“, ſcherzte Herr Tobias und ſtemmte ſein geſundes Bein auf, ſich zu erheben. „Ich glaube, ſeit dreißig Jahren habe ich den Kirchberg um dieſe Stunde nicht erſtiegen, und jetzt werde ich ihn ſogar mit Equipage nehmen! Ja, die Zeiten beſſern ſich.“
Er humpelte zwiſchen Frau und Sohn hinaus und wurde von Alwin Pfitzner ſo behutſam in Empfang genommen wie ein Säugling. „Wir könnten eigentlich durch den Garten fahren“, meinte Herr Kruſius, als er im Fahrſtuhle wohlverpackt ſaß. Aber Alwin war auf dem Poſten und brauchte nicht auf das Augenplinken Frau Ottiliens zu warten.
„Niſcht fir uhngut, awer im Garten war ich heite ſchont zweemal, Herr Aptheker, wenns Se mr den Gefallen tun täten, ich mechte liewer itze mal naus ins Freie“, wandte er beſcheiden ein und rollte, ohne eine Erwiderung abzuwarten, den Stuhl auf die Straße. „Beh a beh kommen mr ooch noch nein, awer itze ſchprechen mir mit Schillern: ‚Von’n Mächen reißt ſich ſchtolz der Tnawe!‘ Morchen, Frau Apthekern! Mei Chef wärd wohl gleich ſeine Aufwartung machen un zum Kaffeetrinken erſcheinen.“
„Guten Morrrgen, Herr Magiſtrat, grratulierre ganz gehorſamſt zu Dero erſter Ausfahrt!“
„Ah, ich danke, lieber Wachmeiſter! Ihnen ſieht man ja die Freude auf hundert Schritt an, daß Sie froh ſind, mich um dieſe Zeit nicht mehr umbetten zu müſſen. Ich bin’s aber auch, Ihr Arreſtant möchte ich wahrhaftig nicht ſein. O die blauen Flecke!“ Herr Kruſius befühlte ſich am ganzen Leibe, ſoweit das ſeine Lähmung zuließ. „Aber Ihre martialiſchen Griffe ſind gewiß doch eine heilſame Maſſage geweſen.“
„Iſt ſehr gern geſchehen, Herr Magiſtrat, wenn’s nur geholfen hat! Daß Sie ſich indeſſen dieſem ſächſiſchen Windhunde mit Haut und Haaren überliefern, gefällt mir nicht! Wie leicht möchte er Sie – mit Erlaubnis zu ſagen – in den Hohlweg beim Schloſſe ſchmeißen!“
„Keine Sorge, lieber Drückeferken, ich weiß, Sie haben ſo einen alten Groll auf ihn. Geben Sie mir lieber den Anzeiger da gleich jetzt, ich leſe ihn unterwegs. Ordentlich hungrig bin ich darauf, einmal wieder etwas aus der großen Welt zu erfahren.“
„Dazu haben der Herr Magiſtrat den Anzeiger nicht nötig, die große Welt fällt perſönlich in Angerbeck ein! Melde gehorſamſt, daß ſich geſtern abend im Schloſſe ein Spükeding gezeigt hat und ſich die geſamte Nachbarſchaft ſeitdem in großer Aufregung befindet.“
„Ein Spuk? Drückeferken, Sie ſind wohl auf Ihre alten Tage nicht mehr recht klug!“
„Die geſamte Bevölkerung des Angers iſt aus Rand und Band, Herr Magiſtrat. Der Schlowake, der Tater, der Pritſchenmeiſter von anno damals ſoll dort umgehen, nachdem ihn in der wilden Walachei die Bären zerriſſen haben, oder, nach anderen, nachdem ihm der Deubel den Hals umgedreht hat. Noch andere ſagen, er wäre leibhaftig wieder zu Lande aus Kalifornien mit einem Malterſack voll Goldkörnern! Was die jüngere Generation iſt, ſo iſt dieſe von ihren p. p. Müttern bei nachtſchlafender Zeit aus der Wiege geriſſen und auf den Armen hochgenommen, auf daß ſie auch das Licht ſehen ſollte, das lange bis nach Mitternacht geſchienen hat aus der Giebelſtube, die ſeit zehn Jahren kein Menſch mehr betreten, und ſie noch in ihren alten Tagen erzählen kann von der Spükgeſchichte im Schloſſe. Die Wehrbeinen aber, die ja jetzt ganz allein drin kampiert, weildeſſen ihre Kinder alle flügge geworden ſind, und die wegen ihrer Taubheit nichts gehört hat, die haben ſie auch aus den Federn geholt und in der Nachbarſchaft untergebracht, daß ſie doch mit dem Geiſte nicht unter einem Dache hauſen ſollte. An die erleuchtete Stube aber hat ſich niemand getraut.“
Alwin Pfitzner lachte hinter dem Rücken des Apothekers in ſich hinein, Herr Kruſius aber murmelte: „Fränzchens Vater? O, ſollte er wirklich – Ach, Fränzchen, warum biſt du nicht bei uns?“
„Nu eben, Herr Aptheker, die Kleene tut uns iwerahl fehlen“, ſagte der Sachſe und ſchritt mit ſeinem Krankenſtuhle ſo wacker aus, daß der Wachmeiſter Mühe hatte, mitzukommen. „Die hätte den Geiſt ihres Vaters ganz alleene gebannt!“ – Herr Theophil Xylander hatte am Abend vorher vor ausverkauftem Hauſe den Hamlet in Szene gehen laſſen und der bewährten Kraft Alwin Pfitzners neben der Rolle eines Boten, eines Edelmannes, eines Totengräbers, eines Prieſters und des krähenden Hahnes auch den Geiſt von Hamlets Vater auf der Terraſſe von Helſingör anvertraut. – „Die Kleene hätten Se ſollen vor die Kammertire treten un ahnpochen laſſen, der Geiſt hätte ihr heflich geeffnet. ‚Ich bin deines Vaters Geiſt, verdammt, auf eine Zeitlang, nachts zu wandern, und tags gebannt, zu faſten in der Glut, bis die Verbrechen meiner Zeitlichkeit hinweggeläutert ſind.‘ Mir empfehlen uns, Herr Drickeberger!“
„Halt! Einen Augenblick! Herr Wachmeiſter, trinken Sie heute auf meine Geſundheit bei Karl Sanders ein oder zwei Allersheimer, und wenn wir von unſerer Ausfahrt zurückkehren, ſo begleiten Sie uns von Amtswegen nach dem Schloſſe, wir werden dem Spuk ſchon auf den Grund kommen.“
„Zu Befehl, Herr Magiſtrat, wird gewiſſenhaft beſorgt werden.“ –
Auch wir können Herrn Tobias Kruſius nicht weiter auf ſeiner erſten Ausfahrt begleiten, ſondern müſſen uns im Intereſſe des Fortgangs und der Vervollſtändigung unſerer Geſchichte in die Apotheke zurück oder vielmehr in die Laube des Gartens begeben, trotz der Verwüſtung Herrn Tränenreichs; denn hier hatten ſich Frau Ottilie und Herr Xylander Dinge zu ſagen, die wir uns nicht entgehen laſſen dürfen.
„O Gott, das Leben iſt doch ſchön! Ein wunderbarer Morgen, Frau Kruſius“, ſagte Herr Theophil Xylander mit einem tiefen Atemzuge, legte ſich behaglich in dem grünen Gartenlehnſtuhle hinten über und betrachtete das grüne Rankengewirr und die zartroten Röschen über ſeinem Haupte.
„Lebt nicht das Märchen vom Dornröschen wieder auf in Angerbeck?“
Frau Ottilie las einzelne der abgefallenen Blütenblättchen von der ſchneeweißen Tiſchdecke ab und ſchob ihrem Gaſte auf dem kleinen Präſentierteller den Kaffee näher.
„Mit dem tauſendjährigen Schlafe haben Sie nicht ſo ganz unrecht, Herr Xylander, und auch nicht mit den ſtachlichten Dornen. Was aber die Roſen anbetrifft – oh, die Knospen dort oben hat der Mosjöh wohl ſitzen laſſen müſſen, die waren ihm zu hoch, und die hier unten waren ihm nicht gefüllt genug – rosa canina nennt ſie mein Mann, gemeine Hundsroſe. So, nun laſſen Sie nicht kalt werden.“
„Ich fühle mich immer tiefer ſinken in Ihre Schuld, Frau Kruſius, nicht zum wenigſten durch Ihre Gegenwart, mit der Sie mir meinen Morgentrank verſüßen“, ſagte der Direktor galant und verneigte ſich. „Wie komme ich nun gerade dazu, dieſe ſchöne Taſſe, dieſes Prachtexemplar von einer Taſſe in Gebrauch nehmen zu dürfen?“
„Von einer Schuld ſchweigen Sie nun endlich ſtill, Herr Xylander.“ Sie ſetzte ſich ihm gegenüber und legte die ſonſt ſo geſchäftigen Hände in den Schoß. „Durch Ihr überreichliches Koſtgeld, das ich von Ihnen annehmen muß, haben Sie mir gänzlich das Recht entzogen, das ruhig anzuhören. Aber auf die Taſſe werde ich näher eingehen, und ihr allein haben Sie es zuzuſchreiben, daß ich jetzt daſitze, als hätte ich weiter nichts zu tun. Von Hannchen hätte ich die Taſſe nicht in den Garten hinaustragen laſſen, ſie iſt mir ein liebes, unerſetzliches Andenken. Auf der alten Welt kann ſich außer Ihnen niemand rühmen, aus ihr getrunken zu haben.“
Ordentlich erſchrocken fuhr der Direktor auf: „O Himmel, jetzt begreife ich, es iſt die Taſſe des Herrn Friedrich von Schlabrendorf!“
Frau Ottilie Kruſius ſaß mit hellaufleuchtenden Augen da, ſonſt aber hätte ihr niemand eine beſondere Erregung anmerken können. Sie ſtrich ſich die ſchwarze Wollſchürze glatt und ſagte: „Ich wußte es ja, ich wußte es ja, daß ich Ihnen nicht umſonſt die Taſſe über den Tiſch zuſchieben würde. Sehen Sie, gerade heute habe ich ſie Ihnen gebracht, denn der rechte Augenblick iſt da. Mein Mann iſt im Schutze Ihres närriſchen Akteurs und im warmen Sonnenſcheine gut aufgehoben, die Offizin iſt ebenfalls in guten Händen, der alberne Menſch von Proviſor wird von ſeiner weiblichen Bedeckung wohl auch nicht vor Nacht loskommen, und ein Stündchen wird mir das hereinbrechende Schickſal doch noch gönnen und uns ungeſtört laſſen. Jetzt müſſen Sie mir Rede ſtehen, nachdem der Rektor Bartels Ihnen von mir aus der Schule geſchwatzt hat. Denn kein Menſch weiter wußte um dieſe Taſſe.“
„Laßt uns einſehn,
daß Unbeſonnenheit uns manchmal dient,
wenn tiefe Pläne ſcheitern; und das lehr uns,
daß eine Gottheit unſre Zwecke formt,
wie wir ſie auch entwerfen.“
Mit dieſen Worten entnahm der Theaterdirektor mit großer Feierlichkeit der Tiefe ſeines Rockſchoßes ein umfangreiches Paket, mit einem blauen Bande umſchnürt und mit einem großen Siegel verſchloſſen, auf dem die Heroenmaske der Melpomene geheimnisvoll und unheimlich grinſte.
„Verehrte Frau!
‚Jetzt iſt kein fremder Mund mehr zwiſchen uns,
Wir ſtehn einander ſelbſt nun gegenüber.‘
Ich kann nicht anders, als auf das alte und ſchrecklich abgebrauchte und doch immer noch vollgültige Wort des däniſchen Prinzen von geſtern abend zurückzugreifen:
,Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden,
als eure Schulweisheit ſich träumt, Horatio.‘
Was hat Sie heute, gerade heute bewogen, mir dieſe Taſſe herzuſchieben, in demſelben Augenblicke, wo ich darüber nachgrübelte, wie ich Ihnen am beſten dieſes Vermächtnis einer verlorenen, vielleicht längſt abgeſchiedenen Seele übergeben könnte? Ich habe aus Ihrer Taſſe getrunken. So löſen Sie dieſes alte Siegel, das ich heute vor fünfundzwanzig Jahren auf die Bandenden gedrückt habe. Sie ſind die Einzige, die dazu berechtigt iſt, wie Ihnen die Aufſchrift: ‚An Ottilie Diederichs‘ ſagt.“
Frau Ottilie hielt das Paket in ihrem Schoße und ſtrich darüber hin, wie vorher über ihre ſchwarze Schürze, als könnte ſie mit dieſer Bewegung Ordnung bringen in die Gedanken, die hinter ihrer weißen Stirn in wirrer Haſt ſich überſtürzten.
„Herr Xylander, ehe wir den Finger an dieſes da und die vergangenen Zeiten legen, muß ich Ihnen mitteilen, was die Gegenwart von mir heiſcht. O, ich horche heute mit Bangen auf jedes Wagenrollen und zittere, es möchte draußen vor unſerer Tür plötzlich abbrechen! Und doch bitte ich Gott, es möchte geſchehen, ehe mein Mann zurückkehrt. Nicht bloß der verwüſteten Roſenbeete wegen habe ich ihn hinaus nach Sankt Severin geſchickt, wo ihm kein Wagen begegnen wird, auch nicht der ſchwarze Leichenwagen, der ganz eingeroſtet und vergeſſen im Spritzenhauſe auf ſeinen nächſten Siegeszug lauert in dieſem ſo überaus geſunden Angerbeck. Ich will den erſten Anſturm über mich ergehen laſſen, daß mein Mann nicht Veranlaſſung gibt, dieſes Vehikel doch wieder einmal einzuſchmieren. Heute, am erſten Juli, ſoll uns die Apotheke zu Angerbeck genommen werden!“
„O meine liebe, liebe Frau Wirtin! Wenn eins dies Schickſal von Ihnen wenden kann, ſo iſt es das Bündel unter Ihren Händen. Öffnen Sie es, öffnen Sie es ohne Zaudern! Wenn die Krankheit verzweifelt iſt, kann ein verzweifelt Mittel nur helfen oder keins!“
Frau Kruſius ſchüttelte leiſe das Haupt und legte ihre Hand nicht an die Verſchnürung.
„Ich habe Ihnen den Ausweis meiner Berechtigung, dieſes Siegel einer Vergangenheit zu löſen, noch nicht erbracht, mein Herr. Durch die Taſſe habe ich Ihnen den mir teuren Namen Schlabrendorf entlockt. Erwarten Sie nicht eine Gegenleiſtung von mir? Es ſcheint mir ſo.“
„Scheint, gnädige Frau? Nein, iſt, mir gilt kein ſcheint!“
Da Xylander die grüne Laube ganz und gar für Helſingör und ſich für Hamlet anſah, ſo ließ auch Frau Ottilie Horatio für ſich ſprechen: „Es braucht kein Geiſt vom Grabe herzukommen, um das zu ſagen: Röschen Sonnenburg.“
„Richtig, ihr habt recht!“
„Nun, was mich betrifft, ſo brauche ich dem, was Ihnen der Rektor erzählt haben wird, nichts hinzuzufügen. Sagen Sie mir alſo, was dieſe alte Geſchichte zum Abſchluß bringt.“
„Iſt ſie ſchon abgeſchloſſen? Spielt ſie noch fort? Das weiß ich nicht. Nur eine Epiſode kann ich ſchildern. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich nur wenige Mitarbeiter, drei, vier, fünf Perſonen bildeten die kleine Singſpielgeſellſchaft, mit der ich in meinem Heimatlande Sachſen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zog. Und ich muß ſagen, die heitere Erato brachte mir zwar weniger Ehre, dafür aber um ſo mehr klingende Münze ein, mehr als ihre ernſtere Schweſter, der ich mich ſpäter in die Arme warf. Sie wirkte auch anſteckend erheiternd auf ihren Jünger, und ſo trieb mich einſt der Übermut dazu, meine Kunſtbude in der Stadt Meißen, meiner Heimat, aufzuſchlagen. Meine Eltern waren zwar längſt geſtorben, aber Jugendbekannte und Schulfreunde gab’s noch genug, die denn auch maſſenweiſe nach dem Platze am ‚Goldenen Horn‘, einem Gaſthauſe am Ufer der Elbe, wo damals die Volksbeluſtigungen abgehalten wurden, ſtrömten, um ihren alten Freund Gottlieb Hölzchen – wie ich eigentlich getauft bin – in Nahrung zu ſetzen, der eine ſo ganz andere Carriere als ſie eingeſchlagen hatte. Und das Geſchäft blühte fabelhaft.
Ich wurde kühner und reiſte nach Dresden, um mein Perſonal zu vergrößern. Auf dem Nachweisbureau aber hatte ich kein Glück und ſchlenderte mißmutig über die Brühlſche Terraſſe, denn ich hatte noch ein Stündchen Zeit, bis das Schiff, mit dem ich nach Meißen zurückkehren wollte, abfuhr. Hier kam mir der Zufall zu Hilfe. In den Anlagen fiel mir eine junge Dame auf, eine reizende, graziöſe Blondine, die ſich bei meinem Nahen erſchrocken von einer Bank erhob, und der ich unſchwer anſah, daß ſie geweint hatte.
Ein gewiſſes Intereſſe und eine, ich muß es leider geſtehen, ſchnell erwachte Luſt am Abenteuerlichen trieb mich an, ihr zu folgen, ſie nicht aus den Augen zu verlieren. Es ward mir das nicht leicht, denn ſie ſchien meine Abſicht bemerkt zu haben und ſprang mehr, als ſie ging, die große Treppe hinab und miſchte ſich in das Menſchengewühl, das von und nach der Brücke ſtrömte. Ich war genötigt, wenn ſie mir nicht ganz entgehen ſollte, auf halber Höhe der Treppe ſtehen zu bleiben, um ſie wenigſtens mit den Blicken weiter verfolgen zu können. Kaum aber ſah ich, daß ſie das Gedränge nur durchquerte und über den freien Platz dem italieniſchen Dörfchen zuſtrebte, ſo eilte auch ich weiter und hatte das Glück, ſie wieder zu Geſicht zu bekommen, als ſie eben die Stufen, die nach dem Landungsplatze der Meißner Dampfer hinabführen, betrat. Das kam mir nun ſehr gelegen, denn ich hoffte, ſie auf dem Schiffe anzutreffen, das mir ſelbſt zur Rückfahrt dienen ſollte. Das Verdeck war jedoch noch ſo leer, daß ich auf den erſten Blick feſtſtellen konnte, ſie war nicht dort. Ich fragte den dienſthabenden Kondukteur nach der blonden Dame, und dieſer wies mich auf den ſchmalen Steig, der an der alten Feſtungsmauer entlang dicht am Waſſer ſtromabwärts führt. Es blieb mir noch faſt eine halbe Stunde bis zur Abfahrt übrig, und ſo folgte ich dem Winke, auch auf die Gefahr hin, für zudringlich gehalten zu werden oder die Zeit zu verſäumen.
Denn dieſer Weg, den die Dame eingeſchlagen hatte, kam mir ſehr verdächtig vor, ihre Flucht aus der heiteren, belebten und eleganten Gegend der Stadt in dieſe Einſamkeit erſchien mir faſt wie eine Flucht aus dem Leben überhaupt. Der ſchmale Pfad – er war eigentlich nicht mehr als ein Abſatz an der Mauer, war ſonſt nur für die Pomätſcher, die böhmiſchen Kahnzieher da.“
„Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche“, fiel hier Frau Ottilie ein, „obwohl Sie gerade weitſchweifig genug erzählen und ich hier wie auf Kohlen ſitze – Sie wiſſen ja, warum – aber merken Sie ſich das böhmiſche Wort für meinen Mann. Die Etymologie desſelben hilft ihm glücklich über heute nachmittag hinweg. Und nun ſtecken Sie ſich nur ruhig eine Zigarre an, daß Sie nicht immer ſo nervös ſehnſüchtig an Ihrer Bruſttaſche herum zu greifen haben, das lenkt Ihre Gedanken nur unnötig ab. – Und nun mit Volldampf voraus zum Kern der Sache! Die rätſelhafte blonde und graziöſe Dame, die den Weg für die Böhmaken gegangen oder geſchwebt war – Sprenkel für die Droſſeln – und der Sie nachſchlichen, hieß alſo Fräulein Roſa Sonnenburg, und Sie retteten ſie vom ſchlammigen Tode, demſelben, den Ophelia erlitt. War’s nicht ſo, Herr?“
„Ja, ſo war’s“, gab Herr Xylander zur Antwort, ohne ſich aus ſeiner Ruhe bringen zu laſſen. „Im kleinen Oſtragehege fand ich ſie und ſuchte ſie dem Leben zu erhalten, wenn ſie auch meinen Bemühungen mit jungfräulichem Stolze, der ihr nicht ſchlecht ſtand, aber verteufelt wenig Berechtigung hatte, entgegentrat. Ich redete ihr erſt ſehr beſcheiden, dann eindringlich, dann erhaben, dann grob zu, ich verſprach ihr alles Mögliche und Unmögliche, gaukelte ihr künftige Größe, Ruhm, Reichtum vor, ja, ich glaube ſogar, ich bot ihr damals ſchon die Ehe an. Zunächſt aber ſuchte ich ſie zu bereden, im geheimen mein Geſchäftsintereſſe im Auge behaltend, bei mir als Primadonna einzutreten, denn ihre melodiſche Sprechweiſe verriet gutes Gehör und gute Stimme. Dem Mutigen gehört die Welt, ſie traute doch ſchließlich meinem ehrlichen Geſichte. Ich kehrte mit ihr Arm in Arm zum Leben und Landungsplatze zurück.
Das Schiff war natürlich längſt an uns vorbeigedampft, aber ich hatte es in meiner Aufregung gar nicht bemerkt. Ich kann nicht ſagen, daß mir dieſe Entdeckung unlieb war; zu tun hatte ich an dem Abende nichts. Und ſo konnten wir in Muße die Angelegenheiten meiner neuen Schutzbefohlenen beſprechen, zu welchem Zwecke ich mit ihr auf der Elbterraſſe Einkehr hielt. Sie war mit einer engliſchen Herrſchaft von Hannover nach Dresden gekommen und wohnte mit dieſer im Hotel Bellevue, hatte wenigſtens bis dahin dort gewohnt. Denn an dem Tage war es zwiſchen ihrer Mrs. Soundſo und ihr zu einem Auftritte gekommen, infolgedeſſen ſie fortgelaufen war. Die Schuld ſchob ich natürlich der engliſchen Dame zu, denn welcher Herr hätte jemals gegen ein junges hübſches Mädchen Partei ergriffen, das ihm hilflos vertraut, und in das ſich zu verlieben er auf dem beſten Wege iſt! Ich ging auf die Bitte Röschens – ſie hatte mir natürlich auch ihren Namen anvertraut – ins Hotel hinüber, um ihre Sachen bringen zu laſſen, war aber immer noch in gewiſſer Angſt, ſie möchte mir während meiner Abweſenheit wieder entlaufen oder gar ins Waſſer ſpringen. Ich atmete erleichtert auf, als ich ſie an demſelben Tiſche wiederfand; denn was ich mir in ihr eigentlich aufgeladen hatte, darüber war ich mir in meiner ungewohnten, durch ihre Neuheit eigentümlich reizenden Lage noch gar nicht klar.
Wir fuhren mit dem letzten Schiffe ab. Es war ein wunderbar milder Abend, und als die Sterne über uns aufgingen und das Schiff die Stadt hinter ſich hatte und nun den großen Bogen des Stromes nahm, wo links die uralten düſteren Alleen des Oſtrageheges in tiefem Schweigen ſich weithin ausdehnten und rechts die weißen Marmorfiguren und phantaſtiſchen Freitreppen des vergeſſenen Luſtſchloſſes Übigau geheimnisvoll herüberleuchteten und von den ſchönen Gräfinnen Koſel und Königsmark ſich alte Schäferidylle zuflüſterten – o meine Frau Kruſius! was war das für ein wonnevoller, merkwürdiger, höchſt merkwürdiger Abend, wie – wie – Ach, lachen Sie mich alten Kerl nicht aus! Ich finde wahrhaftig in meinem ganzen Repertoire kein einzig Wort, das auf dieſen Abend paſſen könnte!
Ich ſaß mit meinem Röschen auf der Bank hinter dem Radkaſten, ich hielt es in meinen Armen und hatte es mit meinem Mantel umſchlungen. Das Rauſchen und Plätſchern des ſchäumend dahinſchießenden Waſſers, das gleichmäßige Peitſchen der Schaufelräder, die uns ihre zitternde Bewegung mitteilten, – ach, ich empfinde ſie heute noch wohlig –“, hier „leineweberte“ der alte Theaterdirektor auf ſeinem Gartenſtuhle – „das war mir die ſchönſte, lieblichſte Muſik! Ach, ſo bis ans Ende der Welt fahren zu können, wünſchte ich mir damals. Die Schaufelräder taten aber doch ihren letzten Schlag, und ich mußte meine Begleiterin ans Land bringen und für ſie ein Zimmer im Gaſthofe beſtellen, denn eine andere Unterkunft zu ſuchen, war nicht mehr möglich. Ich ſelbſt aber trank in meinem Glücke noch einige Schoppen Schieler.“
„Na, der Katzenjammer blieb denn nach dieſem ſchönen Abende wohl auch nicht aus?“
Herr Xylander ſtrich ſich in großer Verlegenheit die ſpärlichen ergrauten Haarſträhnen über der ſpiegelblanken Glatze in Ordnung und ſeufzte. „Er blieb allerdings nicht aus, Madam, und dauerte etwas länger als gewöhnlich, ſo ungefähr fünfundzwanzig Jahre! – Ich muß ihr nachrühmen, daß ſie von uns beiden die Verſtändigere war. Sie rückte unſer beiderſeitiges, ganz haltloſes Verhältnis zurecht, indem ſie darauf beſtand, trotz meiner Einwendungen, in meinem Enſemble als Sängerin ſich ihr eigenes Brot zu verdienen. Und wahrlich, ſie verdiente es, nicht bloß das ihrige, ſondern auch das meinige.“
„Ja, eine ſchöne Stimme hatte Röschen Sonnenburg“, fiel Frau Ottilie ein, die über dieſe ſchwärmeriſche Erzählung des alten Junggeſellen ihre eigenen Nöte des Lebens vergeſſen zu haben ſchien, und der die Erinnerungen an die alten Zeiten nun doch über den Kopf wuchſen. „Wir ſangen ſchöne Duette in Bovenden, Herr Xylander, ſie hatte einen herrlichen Sopran, und ich begleitete ſie gern mit meinem bißchen Alt und auf meinem Pianoforte.“
„In Meißen aber ließ ich ſie doch nicht auftreten, wir gingen in die Lauſitz und von dort nach Schleſien. Unſere Säle wurden übervoll, ich hatte mein gutes Auskommen, und ſo dachte ich allen Ernſtes daran, meine erſte Sängerin zu heiraten. Aber nur kurze Zeit ſollte dieſes Hoffen auf künftiges Glück dauern. Faſt unmerklich erſt, aber immer fühlbarer ſpäter, drängte ſich ein Etwas zwiſchen uns. Roſa erſchien mir verändert, ich wußte nicht zu ſagen, wodurch, auch nicht, wann ich dieſe Wahrnehmung gemacht hatte. Sie wurde launiſch, behandelte mich oft mit unverdienter Kälte, um bald darauf in heißer Leidenſchaftlichkeit in Tränen auszubrechen. Sie vertrug ſich mit den übrigen Mitgliedern meiner Truppe nicht mehr, und mir erwuchſen allerhand Widerwärtigkeiten daraus, denn ich konnte ihr nicht immer beipflichten, ohne ungerecht zu werden. Auch ihre Stimme verſagte dann und wann, ihr Spiel ließ nach, ſie fing an zu kränkeln. Wenn ich ihr ſanfte Vorſtellungen machte, nahm die alte Lohſen – meine Wirtſchafterin, die nun auch ſeit einigen Jahren das Zeitliche geſegnet hat – ſie mir gegenüber unter allerhand verſteckten Andeutungen in Schutz, bis mir endlich die Augen über ihren Zuſtand aufgingen. – O, welche Seelenqual habe ich in jener Zeit erlitten, – es iſt nicht auszuſagen!“ –
Der Direktor Theophil Xylander ſaß da mit gefalteten Händen zwiſchen den Knien, ſeine Zigarre war ihm längſt entfallen, er bückte ſich nicht danach. Frau Ottilie ſaß ebenfalls ſtill und ſah ſcheu und voller Mitgefühl hinüber zu dem alten, ehrwürdigen, kahlen Haupte, das ſo tief vornüberhing.
„O Frau Kruſius“, nahm endlich der Erzähler wieder das Wort, „was müſſen Sie von mir denken, daß ich mir erlaube, Ihnen von ſolchen Dingen zu ſprechen.“
„Dummes Zeug“, erwiderte Frau Ottilie, um ihre eigene Rührung zu verſtecken, „ich glaube, wir ſind beide alt genug dazu, dem Menſchlichen auf den Grund zu gehen. Sie werden doch von mir nicht erwarten, daß ich wie ein zimperliches Göſſel davonlaufe. Kommen Sie nun auf dies Bündel zu, ich werde Ihnen ein Stück weiterhelfen. Röschen Sonnenburg ſah alſo – Mutterfreuden entgegen, wenn anders man von Freuden in dieſem Falle reden darf.“
„Ich mußte ſie in Hirſchberg in Schleſien im Krankenhauſe zurücklaſſen. Es war eine bittere, ſchmerzliche Trennung! Ich blieb trotz alledem und trotz ihrer entſchiedenen Abweiſung bei meinem Vorſatze, ſie ſpäter heimzuführen, denn – ich liebte ſie. Ich meinte es wahrhaftig ehrlich! Geſellſchaftliche Nachteile hatten wir fahrenden Leute, als außerhalb der Geſellſchaft ſtehend, ja nicht zu befürchten“, lachte er bitter auf. „In unſerer Abſchiedsſtunde beichtete ſie mir alles, ihr früheres Leben. Einen Engel gab’s darin, und das waren Sie, und einen Teufel, und das war – nein, ich will den Namen nicht in einem Atem mit dem Ihrigen nennen. Sehen Sie, Frau Kruſius, in jener Stunde hörte ich zuerſt Ihren Namen, Ihren Mädchennamen. Als ich das letzte Mal nach Angerbeck kam, hatte ich noch keine Ahnung, daß Madam Kruſius mit Ottilie Diederichs identiſch ſei. Das erfuhr ich zuerſt durch das Titelblatt Ihrer Zauberflöte. Damals war es mir unmöglich, mit Ihnen zu ſprechen. Sie entſchuldigen wohl jetzt mein wenig rückſichtsvolles Benehmen.“
Frau Ottilie Kruſius geborene Diederichs mußte ſich erſt die Augen wiſchen, ehe ſie den Direktor zu ſeinem weiteren Berichte antreiben konnte. „Und dies Paket, Herr Xylander?“
„Ja ſo, ich war noch nicht zu Ende, aber erlaſſen Sie mir, weiter zu ſprechen. Das möge dieſes Blatt für mich tun. Ich erhielt es nebſt jenem Pakete durch die Poſt, es iſt das letzte Lebenszeichen von ihr.“
Frau Ottilie las das Papier, das er ihr aus ſeiner Brieftaſche reichte:
„Mein treuer Freund! Lange bin ich in meinem Entſchluſſe, dich für immer zu verlaſſen, ſchwankend geweſen und habe manche ſchlafloſe Nacht gelegen und darüber gegrübelt, was das beſte wäre. Aber ich ſehe ein, es muß ſein. Ich bin nicht würdig, ein ſo ehrliches Gemüt, ſo ohne Falſch, fürs Leben an mich zu feſſeln, du würdeſt zu ſchwer darunter leiden und mich zuletzt doch verachten müſſen. Ich gehe von hier zu meinen Verwandten und werde vor der äußerſten Not geſichert ſein. Mein Knabe ſchlummert ſo ſüß neben mir, und wer weiß, welchem Schickſale entgegen durch die Sünde der Eltern! Auch ihn muß ich verlaſſen, auch ihm kann ich nicht bieten, was eine Mutter ihrem Kinde ſchuldig iſt. Den Urheber ſeines Daſeins und meines Elends kennſt du. Auch er kann das Kind nicht erziehen, aber die Mittel dazu kann und ſoll er liefern. Und daß er’s tut, dazu ſende ich dir ſeine Briefe, Verſprechungen und Treuſchwüre. Sie können dir nötigenfalls als Zwangsmittel gegen ihn dienen. Bewahre dieſe Schriftſtücke fünfundzwanzig Jahre auf, denn alsdann wird mein Sohn, wenn ihn Gott am Leben läßt, mündig und imſtande ſein, ſich ſelbſt zu helfen. So biſt du immer noch des Mannes ſicher. Nach dieſer Zeit aber übergib ſie Ottilie Diederichs, denn ſie iſt die einzige außer dir, nach deren Mitgefühl ich hungere. Sollte dir dies aus irgend einem Grunde unmöglich ſein, ſo verbrenne alles, denn ich hoffe zu Gott, der ſelbſt den Schächer am Kreuze annahm, daß durch ſeine Gnade und Barmherzigkeit die Schatten zwiſchen uns ohne dies dem Lichte weichen müſſen. Dir aber, lieber treuer Freund, Dank, Dank, Dank! Röschen Tränenreich.“
Frau Ottilie ſtieß ſchreckensbleich einen Schrei aus und fuhr ſich mit beiden Händen an die Schläfen. Und jetzt war es Herr Theophil Xylander, der ſeine wiedergewonnene Faſſung bewahren und gebrauchen mußte.
„Es war ihr angenommener Künſtlername, unter dem ich den kleinen Knaben in des Waiſenhauſes Regiſter eintragen ließ. Den Vater habe ich gehörig kneifen laſſen, ohne daß er eine Ahnung davon hatte, von wem es ausging, und er hat ſeine erzwungene Pflicht getan nach ſeiner Weiſe. Der heutige Tag iſt deſſen ein beredtes Zeugnis, Frau Kruſius. Er hat ſein Junges verſorgt wie der Kuckuck und ſein Ei Ihnen ins Neſt gelegt, das er gefunden, obwohl es ſo ſchön in der Roſenhecke verſteckt hing.“
„Das Fränzchen hat er ſchon hinausgedrängt, und nun kommen wir dran!“, ſtöhnte angſtvoll Frau Ottilie.
„Und ſo lohnte ich Ihnen Ihre Gaſtfreundſchaft“, warf der Direktor grimmig drein. „Ich ſäge mir den grünen Aſt, auf dem ich geſeſſen, ſelber ab! Reißen Sie das Siegel auf, Madam, mein Recht an dem Dinge da iſt abgelaufen, und Sie können es beſſer gebrauchen als ich!“
Einunddreißigſtes Kapitel.
Nochmals Röschen Sonnenburg. Herr Kruſius hat keinen Kredit mehr auf dem Keller. Der Herr Geheimrat von Spitznas trieft von Süßigkeiten und wird von Theophil Xylander eingeſeift.
Frau Ottilie ſaß noch immer am Gartentiſche und hielt ihren Kopf zwiſchen den aufgeſtützten Händen und ſeufzte ſchwer.
„Mein armer Mann! Mein armer Mann! Gutes wollte ich ihm antun, und nun verfolgt ihn das Unglück auf Schritt und Tritt um meinetwillen. O, es iſt ja nur der alte Haß dieſes böſen Geiſtes gegen mich, da ihm Schlabrendorf entrückt iſt. Wie ruhig hätte mein Tobias hier in Angerbeck ſitzen können, wenn ich nicht wäre, wenn ich mich nicht vermeſſen hätte, in ſein Geſchick mit meiner Hand eingreifen zu wollen!“
„Was du auch erwählt,
du würdeſt edel ſtets und deiner würdig
gehandelt haben, – aber Reue ſoll
nicht deiner Seele ſchönen Frieden ſtören“,
murmelte der Direktor Xylander. „Frau Kruſius, öffnen Sie das Siegel!“
Sie aber ſtreckte erbleichend beide Arme hilfeheiſchend nach ihm aus, denn auf der Straße näherte ſich jetzt das Rollen eines Wagens.
„Verlaſſen Sie mich nicht in dieſer ſchweren Stunde, Xylander, er kommt – hören Sie – da hält der Wagen vor dem Hauſe!“
„Nun, zum Kuckuck! So werde ich den Teufel beſchwören, wenn Sie es nicht tun! Ich werde ihm ſelber ſeinen Dreck vor die Naſe halten und ihm ſagen, daß wir, Sie und ich, ſein ſauberes Geheimnis kennen. Sie ſollen ſehen, er wird aus der Apotheke zum Schornſtein hinaus wollen und nichts weiter darin hinterlaſſen als eine gehörige Doſis Asa foetida und ſeinen Schwefelgeſtank!“
Der Wagen ſetzte ſich wieder in Bewegung, und im Hauſe, auf dem Hofe hörte man Stimmen; Schritte näherten ſich auf dem Kieswege des Gartens, leichte, flüchtige Füße huſchten heran. Frau Ottilie ſaß in ihrem Lehnſtuhle und preßte die Briefe krampfhaft gegen ihr hochſchlagendes Herz. „Röschen Sonnenburg, muß ich dir’s denn antun?!“
Da flog eine jugendliche ſchlanke Geſtalt in die Roſenlaube und umſchlang ſtürmiſch Frau Ottiliens Knie, und ein brauner Mädchenſcheitel lag ihr unter den Händen.
„Mütterchen, Mütterchen!“
„Mein Gott, Franziska, mein Fränzchen! O Gott, bringſt du uns die Hilfe, das Glück?“ Sie warf die Briefe uneröffnet auf den Tiſch und hob des Mädchens Haupt zu ſich empor und küßte die reine Stirn, ſah in die hellen braunen Augen und weinte und lachte in eins und hatte über die Seligkeit dieſes Augenblicks alle Not und den alten Theaterdirektor Theophil Xylander gänzlich vergeſſen.
„Mütterchen, Fritz ſagt, dem Vater geht es beſſer? Und wir kommen noch nicht zu ſpät?“
„Ja, Kind, der Vater iſt heute ausgefahren und wird nun wohl bald wiederkommen. O, wenn ihm nur die Freude, die große, große Freude nicht ſchadet!“
Und Frau Ottiliens Hand fuhr immer wieder über den braunen Scheitel, wie ſie kurz vorher mit den Papieren Röschens getan hatte in ihrem Schoße. Ja, wer ſah nach dem alten Theaterdirektor! Und doch wäre dieſer wahrlich jetzt des Anſehens wert geweſen in ſeiner Hilfloſigkeit! Er war zurückgewichen bis in den äußerſten Winkel der Laube, wo die Roſenranken von beiden grünen Wänden ſich ineinander ſchlangen, und griff mit den Händen hinter ſich und achtete es nicht, daß die ſcharfen Dornen ihn blutig ritzten. Seine ſpärlichen Haare ſträubten ſich, und ſeine großen Augen waren ſtarr auf den Eingang gerichtet, auf eine andere Frauengeſtalt, die da, für Frau Kruſius noch unſichtbar, ihm erſchienen. Und mit Grabesſtimme ſprach er aus ſeiner Ecke heraus: „Erſcheinet auch ein Geiſt bei hellem Tage?“
Das machte nun doch Frau Ottilie aufmerkſam auf ihn. Sanft ſchob ſie Franziska zurück, erhob ſich und ſchaute ihren alten Freund verwundert an.
Aber da wurden ſchon wieder ihre Knie umſchlungen, und ihr zu Füßen lag eine fremde Frau. Sie mußte ſich an der Tiſchkante halten und ſchaute betroffen und fragend auf den Direktor und auf Fränzchen.
„Gnädige Frau Gräfin“, rief das Fränzchen erſchrocken, „was iſt Ihnen? Mutter, es iſt ja die Gräfin Milowska!“
„Frau Kruſius!“, rief zu gleicher Zeit Herr Xylander, „es iſt Roſa, es iſt wahrhaftig Röschen Sonnenburg!“
Vei dem Tone ſeiner Stimme richtete ſich die Kniende jäh auf.
„Theophil! O mein Gott, auch er! Ottilie, ſtoße mich nicht von dir! Ich würde nie gewagt haben, mich vor dir zu zeigen, wenn –“
„Halt!“, wehrte ihr Frau Ottilie, „kein Wort weiter!“ Sie nahm Franziska bei der Hand und führte ſie zur Laube hinaus, die beiden in großer Beklemmung ſich ſelbſt überlaſſend. Draußen aber ſagte ſie: „Kind, du ſiehſt, wie ich überraſcht bin von eurem Beſuche ſo kurz vor Mittag. Fränzchen, es iſt nicht hübſch von mir, dich gleich wieder in Anſpruch zu nehmen, obwohl du kaum das Haus betreten. Aber es geht nicht anders! Geh doch gleich in die Küche und ſchicke Hannchen fort und ſorge dafür, daß wir alle heute zu eſſen bekommen. Laß dir von Fritz Geld geben, ziehe ihn nötigenfalls zu Rate – oder auch lieber nicht – wir könnten wegen ſeiner Albernheiten ſonſt ganz vor leeren Tellern ſitzen. Na, mach’s, wie du denkſt. Ach, mir ſchwindelt ja wohl der Kopf!“
Das Fränzchen ſchoß erſtaunt, doch ſehr bereitwillig davon, ohne ihrer Pflegemutter irgendwie etwas übelzunehmen, und dieſe kehrte in die Laube zurück. Ihre beiden Gäſte ſtanden ſich gegenüber und hielten ſich an den Händen, aber der Tiſch mit der Taſſe Friedrich von Schlabrendorfs und den Briefen und Liebesſchwüren des Herrn von Spitznas war zwiſchen ihnen.
Gräfin Milowska oder Röschen Sonnenburg gab jetzt die Rechte des Direktors frei und wandte ſich von neuem an die Hausfrau.
„Ottilie, noch einmal verſichere ich, nie wäre ich vor dich getreten, wenn ich nicht durch Franziska deine, eure Not erfahren hätte, obwohl auch meine Seele ſich ſonſt noch ſehnte. – – Ich habe deines Vaters Liebe und Gaſtfreundſchaft genoſſen und ſie mit Undank gelohnt. Durch mich haſt du in deinem Leben viel Leid erfahren müſſen. O, ich will dir nicht grauſam die alten Wunden aufreißen. Vielleicht aber kann ich als Gräfin Milowska in etwas ſühnen, was ich als Roſa Sonnenburg gefehlt habe. Dem Rektor Bartels, unſerm alten treuen Hauslehrer, hatte ich mich entdeckt. Er hat mir von neuem ſein Vertrauen geſchenkt und mir das Fränzchen, euer liebes Pflegekind, in die Hand gegeben. Nun, du wirſt das Kind ebenſo rein wieder von mir nehmen können, wie du es von dir gelaſſen haſt! Willſt auch du mir vertrauen und vergeben?“
Der fürſtliche Theaterdirektor wußte nicht, wohin er ſeine Augen richten ſollte, als er die beiden Frauen ſich jetzt in den Armen liegen und ihre Tränen fließen ſah. Er räusperte und ſchneuzte ſich vernehmlich und gab ſich dann der nutzbringenden Hantierung hin, von den heurigen Roſenſchößlingen die Blattläuſe abzuleſen.
„Kann es dich verſöhnen, Ottilie, daß auch ich unſäglich Leid ertragen mußte? Daß eine Mutter verlangte nach ihrem Kinde, fünfundzwanzig Jahre lang? Ach, Ottilie, welch eine wunderbare Fügung, daß ich gerade unter deinem Dache meinen Sohn finden ſoll! Und wie werde ich ihm entgegentreten, wie wird er mich aufnehmen? Wie habe ich mich geſehnt nach dieſem Wiederſehen, und wie bangt mir davor! Du Gute, Reine, könnteſt du mir doch nur einen kleinen Teil deines Reichtums ſchenken!“
Herr Theophil Xylander konnte ſich nicht enthalten, ſeine Beſchäftigung zu unterbrechen, den kahlen Kopf zu ſchütteln und zu ſeufzen: „Alſo ſpricht Salomo: ‚Mancher iſt arm bei großem Gut, und mancher iſt reich bei ſeiner Armut.‘“
„Ach, ich rede jetzt nur von mir, Ottilie, und ich bin doch vor allem gekommen, dir zu helfen.“
„Sieh, Röschen“, lächelte jetzt Frau Kruſius noch unter Tränen des Mitleids, „Herr Xylander und ich waren gerade dabei, wie zwei erfahrene Alchimiſten, dich als Nothelfer zu beſchwören! Herr Direktor, ich meine, unſer Experiment iſt uns über Wiſſen und Verſtehen gelungen. Iſt es nicht gut, daß wir Roſa das Päckchen mit intaktem Siegel übergeben können?“
Gräfin Milowska warf einen verwunderten Blick auf das beſprochene Bündel.
„Roſa, Gräfin Milowska, heute iſt der erſte Juli, an dem ich die Briefe unter Siegel legte, zum fünfundzwanzigſten Male wiedergekehrt“, ſagte Theophil Xylander.
Der erſte Juli! Die beiden Frauenherzen hatten jedes ſeine eigenen angſtvollen Gedanken, aber jedes gewann es doch über ſich, mit dem anderen zu fühlen.
Frau Kruſius drückte der Gräfin die Hand und ſagte: „Herr Xylander hat mir vor einer Stunde alles erzählt, du armes Herz.“
Und die Gräfin Milowska ſagte: „Ich war geſtern bei Rektor Bartels und Juſtizrat Former und weiß alles, was dich bedrückt, du armes Herz! Und der – der Herr Obermedizinalrat iſt wahrhaftig unterwegs, wir haben aber mit unſeren munteren Braunen ſeine elenden Mietgäule wenigſtens um eine halbe Stunde überholt. Fränzchen kannte ihn ſofort – ich – freilich dann auch. Lange wird er nicht mehr auf ſich warten laſſen, doch mag er kommen! Mich ſoll er gerüſtet finden, vor dem brauche ich die Augen nicht niederzuſchlagen.“
Frau Kruſius ließ betrübt den Kopf hängen. „Ja, Röschen, du nicht, aber mein armer Tobias und ich.“
„Kopf hoch, Ottilie! Du wirſt doch mit mir nicht die Rolle tauſchen wollen, du, mein altes, ſtolzes Mädchen. Würdige mich nur der Ehre deines Vertrauens, und wir werden den böſen Feind zuſammen aus dem Felde ſchlagen! Und wenn wir die Apotheke zu Angerbeck nach außen hin geſichert haben, dann – können wir von ihren inneren Angelegenheiten reden.“
„Herr Xylander, ich werde nun doch um meinen Mann beſorgt. Er wäre ja beſſer nicht bei dem, was kommen muß! Aber er iſt mir zu lange an der Luft, es wird ihm doch nichts Schlimmes widerfahren ſein?“
„Darüber ſeien Sie ruhig, Frau Wirtin, ich kenne meinen Alwin Pfitzner, er wird ihn ſchon auf das rechte Stichwort aus den Kuliſſen ſchieben und auf dem Plane erſcheinen laſſen.“
Vorläufig aber erſchien auf dem Plane Herr Wachmeiſter Samuel Drückeferken.
„Melde gehorſamſt, Frau Magiſtrat, daß der Herr Magiſtrat bitten laſſen um das letzte halbe Dutzend Rüdesheimer aus dem kleinen Keller, und in einer halben Stunde wären er ſelbſten zur Stelle.“
„I du meine Güte, Drückeferken, ich glaube beinahe, Sie ſind ſchon betrunken!“
„Erlaube mir gehorſamſt, ich bin noch nicht betrunken, Madam. Herr Magiſtrat haben alte Bekannte getroffen, unter anderen den Herrn Rektor Bartels, und ſie ſitzen auf dem Keller bei Karl Sanders. Der aber will keinen Wein herausrücken, weil er – mit Erlaubnis zu ſagen, Madam – nicht mit in die Konkursmaſſe geraten will, und die anderen Herren laſſen der Herr Magiſtrat nicht bezahlen.“
„Alſo ſo weit iſt es ſchon mit uns gekommen!“, ſagte Frau Ottilie ganz geknickt.
„Mit Ihnen weniger, Madam, aber mit dem frechen Patron von Kellerwirt! Und die Herren, laſſen der Herr Magiſtrat ſagen, werden mit zu Tiſche kommen.“
„So! Auch das noch! – Es iſt gut, Drückeferken, laſſen Sie ſich den Wein von Hannchen in einen Korb packen, hier iſt der Kellerſchlüſſel. Der Mosjöh Tränenreich iſt ja zum Glück nicht –“
Frau Kruſius brach erſchrocken ab mit einem Blick auf die Gräfin, die aber von Theophil Xylander ſo in Anſpruch genommen war, daß ſie dieſe Bemerkung überhört hatte. „Ich laſſe die Herren bitten, Drückeferken. Wieviel werden mir denn die Ehre geben?“
„Nun, ich denke wohl, zwei, Frau Magiſtrat.“
„Alſo Herr Rektor Bartels und? –“
Der Wachmeiſter war ſchon im Paradeſchritt außer Hörweite.
„Herr Xylander, reichen Sie Roſa – der Gräfin Milowska – Ihren Arm, und ich bringe meine Taſſe vor dem Sturme in Sicherheit. Die Laube hier iſt doch nicht der Ort, die bevorſtehende Haupt- und Staatsaktion abzuwickeln. Was das nun wieder mit dem Manne iſt! Vielleicht hat der Rektor ſehr zur Unzeit ſo einen Sanskrit- oder Zendmenſchen aus der Hauptſtadt mitgebracht.“
Kaum hatte Frau Ottilie ihre Taſſe geborgen und ſich in die Küche begeben, um für den nochmaligen Zuwachs ihrer Tiſchgeſellſchaft ihre Zurüſtungen zu treffen, als wirklich das erwartete Gefährt vor der Haustüre anhielt, dem der Geheime Obermedizinalrat von Spitznas entſtieg.
Ohne anzuklopfen ſtürmte er in die Offizin, und ſeine erſte Schandtat war, daß er Fritz und Fränzchen, die ſein Kommen gar nicht beachtet hatten, auseinander ſcheuchte. Die Verbeugung des jungen Gehilfen beachtete er gar nicht, ſondern umkreiſte, während das Mädchen eiligſt unter die Fittiche ihrer Pflegemutter entfloh, mehrere Male den Rezeptiertiſch und warf ſich dann in das im Hintergrunde immer noch vorhandene Sofa, ſo daß das alte Geſtell krachte.
„Äh – alſo Sie, junger Mann, praktizieren hier in angenehmer Kurzweil – ich will doch – nicht hoffen, daß – äh, äh – Herr – Herr –“
„Herr Tränenreich?“
„– daß Herr Tränenreich fort iſt?“
„Herr Tränenreich hat für heute Urlaub genommen, Herr Geheimrat, er macht eine Landpartie.“
„Eine Landpartie? Na, das muß ich ſagen, idylliſche Zuſtände hier in dieſem Angerbeck! Wahrhaftig die höchſte Zeit, daß wir dem ein Ende machen! Und Ihr Alter?“
„Dreiundzwanzig Jahre, Herr Geheimrat.“
„Zum Teufel! Warten Sie mir nicht etwa mit abgedroſchenen Anekdoten aus Witzblättern auf! Wo Ihr Vater ſteckt, will ich wiſſen!“
„Mein Vater? Ja ſo, Herr Geheimrat. Der iſt ausgefahren.“
„Hahaha! Auch ausgefahren! Sehr gut, junger Mann!“
Herr von Spitznas ſchnellte aus den Roßhaarkiſſen auf und rannte in entgegengeſetzter Richtung um den Rezeptiertiſch herum, zog dabei in nervöſer Haſt hier und dort eine Schublade desſelben heraus und ſchmetterte ſie, ohne einen Blick auf den Inhalt geworfen zu haben, wieder hinein. „Er überläßt die Offizin alſo Ihnen?“ Krach!
„Allerdings, Herr Geheimrat, Sie waren ja dabei, als ich mein Gehilfenexamen ſo glänzend beſtand.“
„Unverſchämt werden Sie noch, junger Menſch?!“ Krach!
Nun hatte es mit dem Rezeptiertiſche aber ſeine beſondere Bewandtnis. Er enthielt etwa in Kniehöhe eine von hinten nach vorn durchgehende Schublade, an beiden Enden mit einem Knopfe zum Anfaſſen verſehen. Der Apotheker entnahm ihr an der Hinterſeite des Tiſches die ſtählernen Spatel, deren er benötigte, den verſchiedenen Salbenbüchſen den Inhalt zu entnehmen, und Hannchen legte die gereinigten Inſtrumente an der vorderen Seite wieder hinein. So kam keiner dem andern ins Gehege.
Herr von Spitznas aber, dem dieſe ſinnreiche Einrichtung ein Myſterium war, kam ſich ſelbſt in die Quere. Denn als er gerade dieſe Schublade auf ihren Inhalt prüfen wollte und nichts darin fand als die unſchuldigen Spatel, ſtieß er ſie ſo grimmig zurück, daß ſie mit ihrer ſchweren Belaſtung, zumal ſie durch ſehr häufigen Gebrauch glatt geworden war, an der anderen Seite weit über das Ziel hinausſchoß und um die Hälfte ihrer Länge hervorſtand. Die natürliche Folge war, daß der Reviſor, der nun erſt recht auf ſeinem Umlaufe in Schwung gekommen und blind darauf losrannte, ſo jämmerlich mit den Schienbeinen an das kurz zuvor noch nicht dageweſene Hindernis prallte, daß er mit einem Schreckens- und Schmerzensſchrei kopfüber ſchoß und mit ſeinen Stiefelabſätzen die Waage nebſt ſämtlichen Gewichten und den meſſingenen Mörſer ſamt der Keule von der Tiſchplatte hinwegfegte.
Ein Kartätſchenſchuß oder eine krepierende Bombe hätten kaum eine zerſtörendere Wirkung in der Offizin hervorbringen können, als dieſer Hagel von eiſernen und meſſingenen Geſchoſſen. Und da die ganze Ladung unglücklicherweiſe die Kolonnen des Regiments Syrupus dezimiert hatte, ſo ſchwamm der Geheimrat förmlich wie eine Bienenlarve in dem Fruchtſafte von Althea, Mandeln, Perubalſam, Kirſchen, Kamillen, Zitronen, Krokus, Süßholz, Mohn, Rhabarber, Himbeeren, Senna mit Manna und Gummiarabicum.
Das Raſſeln der Spatel, das Geklirr der zerſchmetterten Büchſen und Gläſer, das Gekrach des großen Mörſers, das Geſchrei des Reviſors und das mitleids- und reſpektloſe Gewieher des jungen Gehilfen drang mit ſolch entſetzlicher Deutlichkeit durch die ganze Apotheke zu Angerbeck, daß Frau Kruſius, die ſowieſo ſchon ängſtlich auf jeden Laut von drüben gehorcht hatte, die Gräfin Milowska und der Theaterdirektor aus der Eckſtube, Hannchen und Franziska aus der Küche hervorbrachen und ſich angſtvoll vor der Tür der Offizin zuſammendrängten.
„I du barmherziger Himmel“, rief Frau Ottilie ſchreckensbleich, „er ſchlägt den Jungen tot!“
Herr Theophil Xylander aber ſchaute vorſichtig durch das Schiebefenſter. „Frau Kruſius, faſſen Sie ſich! Es ſcheint das Umgekehrte der Fall zu ſein. Der Junge wird ihn doch nicht in Wahrheit niedergeſchlagen haben? Der Geheime liegt nämlich da hinter dem Tiſche auf den Dielen und neben ſeinem Kopfe die Mörſerkeule.“
„Fritz ein Mörder!!“, jammerte ſie. „Das hat nun noch gefehlt! O, er hat ihn gereizt, zum Jähzorn getrieben!“
„Aber hören Sie, Verehrteſte, ſo lacht doch kein Mörder.“
Frau Kruſius war ſchon vorgerückt, auf alles gefaßt, und ſtand in der Offizin und ſchlug die Hände über dem Kopfe zuſammen.
„Fritz! Herr Geheimrat! Um Gottes Barmherzigkeit willen, was geht hier vor?“
Von dem Geheimrat war vorläufig nichts zu erfahren, denn er war dem Erſtickungstode nahe und hatte genug zu tun, Mund und Naſe, Augen und Ohren unter einer dicken Schicht ſüßlichen Klebſtoffes herauszuarbeiten. So mußte ſich Frau Ottilie mit dem wenigen begnügen, wozu Fritz noch Luft fand.
„Herr Geheimrat – iſt da – über die Schieblade – gefallen – geſtolpert –, alles mit zum Teufel – alles auf ihn drauf – alles in die Rabuſe – hahahaha! Recipe Syrupi Sarsaparillae compositi partes centum, Syrupi Rhei partes ducentas, und vor allem – – – hahahaha – Mucilaginis Gummi arabici partes trecentas! Miscetur, detur, signetur! Hahahaha – Herrn Geheimrat von Spitznas zum Gurgeln! Fränzchen, das überſteigt bei weitem unſere Blutegelaffäre, aber die Bieſter würden ſich hierbei auch nicht ſchlecht ausnehmen!“
„Infamer Bengel! Du biſt doch ganz von Gott verlaſſen! Herr Direktor, Röschen, Hannchen! Helft mir doch, ihn aus der Suppe und den Scherben zu ziehen und ihn auf die Beine zu ſtellen! Ach du mein Schöpfer, er zieht Fäden! Hannchen, ſchnell, Waſſer, Schwamm und Seife!“
„Herr Geheimrat, Ihre Rockſchöße geben das feinſte Taffetas adhaesivum, vulgo Engliſch Pflaſter!“, brüllte der junge Pharmazeut ſeinem höchſten Chef in die verklebten Ohren.
„Luft – Luft!“, keuchte Herr von Spitznas, als man ihn endlich abgeweicht und hochgewuchtet hatte.
Frau Ottilie war nun doch diejenige, welche Klärung in dieſes Chaos brachte. Zuerſt nahm ſie dem unglückſeligen Opfer ſeines blinden Eifers behutſam die verklebte Brille von der Naſe, erſchrak aber dabei nicht wenig, denn es hatte ganz den Anſchein, als ob ſie an den Gläſern ihm beide Augäpfel mit den daran hängenden Sehnerven aus dem Kopfe zerrte. Aber der in warmes Waſſer getauchte Schwamm ſtellte bald die Sachlage richtig, drang bis auf den Grund vor, und Herr Geheimrat von Spitznas ſah mit ſeinen kurzſichtigen Augen unſicher ſeine Umgebung an.
„Herr Xylander“, wandte ſich Frau Kruſius an dieſen, „Sie ſind der Vernünftigſte und Älteſte, helfen Sie doch Herrn von Spitznas bei ſeiner weiteren Toilette. Warten Sie, hier iſt der Schlafrock meines Mannes. Laſſen Sie ihn den Rock ausziehen, Hannchen ſoll ihn abwaſchen und ausbürſten und an den Herd hängen, den Rock meine ich. Was würden ſonſt Ihre Frau Gemahlin und Ihre Fräulein Töchter von der Apotheke zu Angerbeck denken, Herr Geheimrat! Wir ziehen uns jetzt zurück.“
Der Theaterdirektor ging mit der größten Bereitwilligkeit an die ihm geſtellte Aufgabe.
„Engel und Boten Gottes, ſteht mir bei! Sei du ein Geiſt des Segens, ſei ein Kobold, bring Himmelslüfte oder Dampf der Hölle, ſei dein Beginnen boshaft oder liebreich, ich rede doch mit dir.“
„Äh, äh – ha, iſt das nicht – mein Herr Schauſpieler, laſſen Sie mich in Ruhe, bleiben Sie mir vom Halſe!“, ſchrie der Geheimrat, als er aus dieſem anzüglichen Zitate unſchwer entnahm, wem er unter die Hände geraten war, und wer ihn jetzt einſeifte.
„Der Geiſt der Medizin iſt leicht zu faſſen“, erwiderte ruhig Mephiſtopheles Xylander.
„Halten Sie ſtille, mein Herr, Ihnen trieft zähes Ambra und Harz aus den Augen. Sie werden nichts lieber fahren laſſen, Herr, als ich von Ihnen nehme. So, den Rock hätten wir auch glücklich abgeweicht!
Wenn der Mantel fällt, muß der Herzog nach!“
„Hören Sie nicht, Sie ſollen ſich zum Teufel ſcheren, Sie elender Komödiant!“
„Bin ſchon dabei, Herr!
Ach, alter Freund, wie iſt dein Geſicht betroddelt, ſeit ich dich zuletzt ſah! Du wirſt doch hoffentlich nicht in den Bart murmeln?“
„Nein, dieſe Frechheit überſteigt doch alles!“
„Knurre nicht, Pudel!
Dem Hunde, wenn er gut gezogen,
wird ſelbſt ein weiſer Mann gewogen!
Pſcht, pſcht, Herr Geheimrat! – Unwiſſende verwirren, ja betäuben die Faſſungskraft des Auges und des Ohres. – Hier haben Sie jetzt auch ein Handtuch!
Ich hege Taubenmut, mir fehlt’s an Galle.
Herrn Kruſius’ Schlafrock liegt ebenfalls bereit, ſo können Sie ſich’s recht bequem machen wie der Wolf im Schafskleide. Mein Hüon, mein Gatte, im Schlafrock von Watte! Beliebt es Ihnen nun, den Damen Ihre Aufwartung zu machen? Ein Pentagramma iſt hier nicht auf der Schwelle.“
Zweiunddreißigſtes Kapitel.
Schluß.
In der Eckſtube lag die Gräfin Milowska weinend an der Bruſt Ottiliens und ſtammelte unter Schluchzen: „Ottilie, wie jämmerlich und erbärmlich muß ich dir erſcheinen! Ich möchte vor Scham vergehen, daß ich mich an dieſen Menſchen weggeworfen habe!“
„Armes Herz, armes Herz, ich kann dir wohl deine wilden Schmerzen nachfühlen. Dir hat er das Leben vergiftet, und mir hat er’s ſauer genug gemacht. Friedrich von Schlabrendorf hat ihn richtig gezeichnet, aber laſſen wir das Vergangene. Durch ſeine Lächerlichkeit hat er dir auch das traurige Wiederſehen erleichtert, und ich muß ſagen, von mir iſt ein Bann genommen. Von dieſem Auſtritte an hat er für mich auch ſeine Erhabenheit verloren.“
„Ich werde ihn vollends klein machen, darauf verlaß dich, und beſſer und wirkſamer, als ihr es mit ſeinen alten vergilbten Papieren zuwege gebracht hättet. Das gibt mir Kraft, den Ekel zu überwinden und ihm nochmals entgegenzutreten.“
Die Tür ging auf, und Herr Xylander komplimentierte den ein wenig hinkenden Geheimrat, mit dem braunen Schlafrocke des Apothekers angetan, herein.
„Er iſt Ihnen ein wenig zu lang, mein Herr, verdeckt aber ſo den Pferdefuß beſſer.“
Herr von Spitznas ſchoß dem fürſtlichen Theaterdirektor durch ſeine geſäuberten Brillengläſer nochmals einen Blick tödlichen Haſſes zu und wand ſich dann wie ein brauner Ohrwurm über die Schwelle.
„Verzeihen Sie, meine Damen, äh – äh, daß ich – gezwungen bin, – äh – mich Ihnen auf dieſe Art zu zeigen, aber – Sie wiſſen – die Offizin ſieht durch den Unfall ſo deſolat aus, und Ihre Magd hat ſie dazu gänzlich unter Waſſer geſetzt –“
„O, laſſen Sie, Herr Geheimrat, hoffentlich hat das Malheur nur für meines Mannes Büchſen nachteilige Folgen. Sie ſehen ſo reizend gemütlich aus! Darf ich Ihnen meine Freundin vorſtellen – Gräfin Milowska.“
Herr von Spitznas ſtutzte ein wenig, als ſein Blick mitten in ſeiner Verbeugung demjenigen der Dame begegnete, doch der Name ſchien ihn zu beruhigen.
„Äh – äh, ſehr angenehm. Frau Kruſius, wie ich hörte, iſt der Herr Gemahl nicht zu Hauſe, und ich möchte – äh – ich habe –“
„Bis Ihr Rock getrocknet iſt, wird ſicher mein Mann da ſein, es iſt ja ſeine erſte Ausfahrt. Ihren Wagen habe ich nach dem Keller geſchickt, denn ſo lange konnten wir den Kutſcher doch nicht warten laſſen. Nehmen Sie alſo mit unſerer Geſellſchaft einſtweilen fürlieb.“
„Sehr liebenswürdig! Äh – es geht alſo dem Herrn Gemahl beſſer. Das freut mich aufrichtig, denn ich habe, äh – mit ihm einiges zu beſprechen, das – ich möchte nicht hinter dem Berge halten – das – äh – nicht gerade erfreulicher Natur ſein dürfte.“
„O, machen ſich der Herr keine Sorgen, mein Mann wird den Verluſt der Büchſen als ein ſolcher ertragen, doch – da höre ich ihn wahrlich ſchon kommen.“
Die Haustürglocke hatte geklingelt, die Räder des Fahrſtuhls und die Schritte mehrerer Männer hörte man auf dem Sande des Hausflurs knirſchen. Draußen jubelte Fränzchen laut auf. Dann ward die Tür vom Wachmeiſter Samuel Drückeferken weit aufgeſtoßen. Dieſer und Alwin Pfitzner faßten an jedem Türpfoſten Poſto, und Herr Apotheker Tobias Kruſius fuhr in der Haltung eines Triumphators in die Eckſtube ſeiner Frau ein, geſchoben von einem fremden Herrn mit ſchwarzem Bart und Haupthaar, der mit ſeinen dunkeln Augen die Anweſenden frei anblitzte. Ihm folgte der Rektor Eberhard Bartels, mit einer grünen Botaniſiertrommel behängt, der nach einer höflichen Verbeugung gegen die Gräfin auf Frau Ottilie zuſchritt und ihr als alter Freund die Hand ſchüttelte.
Leider aber mußte er die Erfahrung machen, daß ihm ſeine alte Freundin nur flüchtige Beachtung ſchenkte, denn ihre Blicke hingen mit Verwunderung an dem fremden Manne.
Herr Kruſius bemerkte es und ſchlug mit ſeiner geſunden Rechten klatſchend auf das Leder ſeines Fahrſtuhles. „Ja, wer bringt mich da, Ottilie? Du haſt mich mit dem Fränzchen überraſcht, und ich kann nicht dahinten bleiben! Der König Midas iſt’s in höchſteigener Perſon, mit Schätzen, mit Gold, mit unermeßlichem Reichtum!“
„Und wohl auch mit Eſelsohren!“, fiel Frau Kruſius ein, denn jetzt hatte ſie ihren früheren Stößer Benedikt Zrovnal erkannt. „Mann, Mann! Haſt du etwa doch das plutokratiſche Tier aus ihm gemacht?“
Der alte Apotheker kam zu keiner Antwort, denn ſoeben hatte er die fremde Dame entdeckt.
„Ja, Tobias, hier darfſt du auch die Gräfin Milowska begrüßen, die uns unſer Fränzchen wiedergebracht hat.“
„Wie kommt mir ſolcher Glanz in meine Hütte? Gnädige Frau Gräfin, willkommen, willkommen! Ich danke Ihnen für die Ehre! Der Fritz ſoll heute aus Zucker und Pomeranzenſaft –“
Er kam mit ſeinem Biſchofrezepte auch nicht zu Rande, den ihm blieb buchſtäblich der Mund offen ſtehen, als er jetzt auch noch den geſtrengen Herrn Geheimrat von Spitznas mit häßlichem Lächeln, das noch von Zucker und Pomeranzenſaft triefte, ſehr derangierter Wäſche und ſeinem (des Apothekers!) eigenen braunen Schlafrocke ſich aus der Sofaecke erheben ſah.
„Hurra! Hurra! Auch der Herr Geheimrat noch! Auf daß mein Haus voll werde!“, ſchrie er mehr, als die Rückſicht auf ſeine Gäſte es eigentlich zuließ. „Frau! Liebe Frau Ottilie! Unſer Haus iſt voll, voll, voll! Behalten wir nicht recht, ich, mein alter braver Cardilucius, mein Herzenshaupthecht, und ſein Gewährsmann, der Doktor Minderer in ſeiner Kriegsarzney? Herr Geheimrat, wie lautet es in ſeinem fünften Kapitel von den Peſtzeiten? ‚Wenn die Luft vergiftet iſt und ein Geißbock vorhanden, ſo reibe dich an ihn! Darfſt dich den Geſtank nicht irren laſſen‘!“
„Mann, Mann! O Himmel, es hat ſich ihm auf das Gehirn gelegt! Mann, ich beſchwöre dich, ſprich nicht weiter!“
„Nein, liebe Ottilie“, lächelte Herr Kruſius, aus einem ſehr klaren Gehirne heraus, „das andere überſchlage ich aus ſchuldigem Reſpekt vor der Frau Gräfin und füge nur den Schluß an: ‚Denn wenn etwas ſo voll iſt, daß nichts mehr drein gehet, ſo muß alles Übrige hauſſen bleiben.‘“
„Die unausbleibliche Folge der Apoplexie“, ſagte achſelzuckend der Herr Geheimrat. „Nicht wahr, mein lieber Kruſius, ich nehme mich – äh – äh – in der Tat etwas ſonderbar aus.“
„Gewiß, Herr Obermedizinalrat, etwas ſehr ſonderbar!“, erwiderte Herr Tobias mit einem ſo ſtark ſpöttiſchen Tone, daß Frau Ottilie ihren Mann gar nicht wiedererkannte.
„Himmel, wie kommen Sie in meinen Schlafrock, es hat ja den Anſchein, als ob Sie ein alter, lieber Hausfreund wären.“
„O bitte, ſehen Sie mich auch heute als einen ſolchen an, und daß ich’s bin, wollen Sie daraus erkennen, daß ich Sie auffordere – äh – werte Frau Kruſius, die Offizin iſt wohl wieder zu betreten – mit mir hinüber zu kommen, denn ich – äh, äh – ich möchte die Verhandlung, zu der ich – äh – leider gezwungen bin, doch lieber mit Ihnen – verſtehen Sie, aus Rückſicht –“
„Nein, nein, Herr Geheimrat, Sie brauchen durchaus keine zarten Rückſichten zu nehmen! Die Herrſchaften hier könnten doch ſonſt auch denken, ich hätte mir etwas zu Schulden kommen laſſen!“
„O, das ſei ferne! Im Gegenteil nehme ich durchaus nicht Anſtand, Ihnen das ehrendſte Zeugnis auszuſtellen, aber – äh – es gibt –“
„Was es ſonſt noch gibt, Herr Geheimrat“, lachte der alte Tobias vergnügt, „davon iſt ganz Angerbeck unterrichtet, und warum wollen Sie die Herrſchaften hier zurückſetzen? Herr Rektor, ich rufe Sie als Zeugen auf! Was haben Sie an Ihrem erſten Ferientage als mein Gaſt erleben müſſen? Welches Testimonium paupertatis hat mir der lichtſcheue Apanthrop auf dem Keller ausgeſtellt? Warum hat mir Karl Sanders den Wein verweigert?“
Frau Ottilie hatte „ihren armen Tobias“ doch bei weitem unterſchätzt! Sie hatte geglaubt, ſich dem ganzen Anſturm des Schickſals entgegenſtemmen zu müſſen, und nun bot ihm Tobias ſeine freie Mannesbruſt dar und behandelte den gefürchteten Widerſacher als Bagatelle! Und ihr Erſtaunen ſollte noch wachſen!
„Schießen Sie los, Herr Geheimrat! Heraus mit den Wiſchen, heraus mit Ihren Schuldverſchreibungen, heraus mit der hypothekariſchen Forderung, heraus mit der Sprache, Sie alter verehrter Hausfreund!“
Wie ein Donnerſchlag fuhr’s der Verſammlung in die Glieder, nur Benedikt Zrovnal ſtand aufrecht und ruhig lächelnd hinter dem Fahrſtuhle ſeines alten Herrn.
Der Reviſor klopfte in nervöſer Haſt an den Seiten des braunen Schlafrocks herum.
„Frau Kruſius, Herr Schauſpieler, ich muß Sie verantwortlich machen für den Verluſt meiner Brieftaſche!“
Theophil Xylander aber trat hoheitsvoll („jeder Zoll ein Kenig“, flüſterte Alwin Pfitzner an der Tür dem Wachmeiſter zu) aus dem ſchweigenden Kreiſe vor den Geheimrat und durchbohrte ihn mit ſeinen ſtahlblauen Augen. „Jetzt zeigt Ihr Euer wahres Geſicht, bis jetzt war’s nur die Larve! Wachmeiſter Drückeferken, holen Sie den Rock dieſes Herrn von der Leine. Mag er ſich ſeine Uriasbriefe ſelbſt aus der Latwerge klauben!“
Damit wandte er ihm den Rücken und ſtellte ſich wieder an die Seite des Rektors. Drückeferken erſchien mit dem tropfenden Kleidungsſtücke und hielt es mit ſpitzen Fingern dem Geheimrat hin, und dieſer ſtürzte ſich wie ein Aasgeier in die Eingeweide und brachte richtig ſeine Brieftaſche zum Vorſcheine.
„Herr Kruſius, ſchreiben Sie Ihren Ruin dem Schmarotzervolke zu, von dem Sie ſich ausbeuten ließen! Länger Schonung gegen Sie zu üben, wäre unverantwortlicher Wahnſinn! Sie ſind, wie ich heute wieder zur Genüge ſehe, ein unverbeſſerlicher Phantaſt.“
„Herr Geheimrat, Beleidigungen meiner Gäſte muß ich mir verbitten. Sind Sie bereit zum Geſchäfte?“
„Gewiß! Zunächſt bitte ich um Begleichung dieſer Kleinigkeiten“, höhnte Herr von Spitznas mit teufliſchem Grinſen, „o, ich hole Sie ſchon herunter von Ihrem hohen Pferde.“
Die Gräfin Milowska machte jetzt eine Bewegung nach dem Tiſche zu, doch Frau Ottilie hielt ſie am Arme zurück. Der Apotheker aber winkte wie ein Fürſt und rief:
„Nun, mein Großſchatzmeiſter! Quaerenda pecunia primum est. Prüfen Sie die Zettel und zahlen Sie!“
Benedikt Zrovnal entnahm nun ebenfalls ſeiner Taſche ein Buch – es war das mit des Apothekers Sprüchlein gezierte –, trat hinter dem Stuhle hervor, warf einen Blick auf die Schuldverſchreibungen und zahlte gleichmütig den Betrag in vollgültigen Noten der Hamburger Bank vor dem überraſchten Reviſor auf den Tiſch.
Nicht nur der Herr von Spitznas war überraſcht. Gräfin Milowska verfärbte ſich und mußte ſich zitternd auf den Arm Frau Ottiliens ſtützen. „Sieh, Ottilie, ich werde nicht für würdig befunden, die alte Schuld zu ſühnen! O Gott, ich bin ja hier gänzlich überzählig!“
„Tobias, von ihm? Mit ſeinem Gelde willſt du die Apotheke zu Angerbeck halten!“
„O nein, liebe Frau, mit dem meinigen“, lächelte Herr Kruſius wie bei einem kleinen allerliebſten Scherze. „Ich habe mich ihm nicht mit Haut und Haaren verſchrieben, wie Ihnen, Herr Geheimrat. Frau, Herr von Spitznas, die Ländereien an der neuen Bahn, den öden Heideſtrich, den ich Ihrer gütigen Vermittelung verdanke – Sie wiſſen doch, bei der Separation – habe ich mit allen noch ungehobenen Schätzen verkauft und zwar an dieſen Herrn. Angerbeck bekommt ſeine Asphaltgruben wie Limmer! Angerbeck bekommt Zuzug, bekommt doch ſeinen Bahnhof, hebt ſich, und mit ihm hebt ſich ſeine Apotheke, die Apotheke zu Angerbeck!“
„Zrovnal, ich möchte mir doch erlauben, Sie nach dem Erwerb dieſes Geldes zu fragen!“
„Ach, Frau“, antworte Tobias an ſeines alten Stößers ſtatt, „ich habe mich lange mit ihm über den Wert oder Unwert ſeines Vermögens geſtritten, aber er hat mich nach allen Regeln der Logik geſchlagen! Eine halbe Stunde eher hätten wir da ſein können und brauchten jetzt unſere lieben Gäſte nicht länger auf das Eſſen warten zu laſſen, doch – erſt das Geſchäft, dann der Genuß.“
„Benedikt Zrovnal, ich verlange zu wiſſen, wie Sie zu dieſem Gelde gekommen ſind!“
„O ſehr einfach durch mein Karuſſell zu Sankt Pauli, Madam Kruſius, erſt als Pächter, dann als Eigentümer.“
„Alſo mit den Karuſſelldreiern ſoll die Apotheke zu Angerbeck bezahlt werden!“
„Nein, Madam, mit den Karuſſelldreiern habe ich Ihnen in meinem eigenen Vorteil Ihr Land abgekauft, mit den Karuſſelldreiern ſoll dieſer vornehme Herr hier abgefunden werden. Ihm werden ſie wohl nicht zu ſchmierig ſein.“
„Ja, Herr Geheimrat“, warf Theophil Xylander dazwiſchen, „wer Geld hat, kann den Teufel tanzen laſſen!“
„Übrigens möchte ich mir die Gegenfrage erlauben, Paní Kruſius, welches Geld man wohl fröhlicher und leichteren Herzens ausgeben kann, das von unglücklichen, kranken, ſterbenden oder gar ſchon geſtorbenen Leuten oder das von luſtigen, lachenden, geſunden, lebensfrohen Burſchen, Mädchen und geputzten Kindern, von denen man’s zum Spaße, zum Vergnügen bekommen hat.“
„Zahlen Sie in Gottes Namen, Zrovnal.“
„Nicht wahr, liebe Frau, er hat dich auch aus dem Felde geſchlagen?“
An der Tür flüſterte Alwin Pfitzner dem Wachmeiſter Drückeferken zu: „Samuehl, dieſer Freind meiner Jugend tut mich weeß Tneppchen in äne Salzſaile verwandeln“, denn die beiden hatten auf dem Keller Brüderſchaft gemacht.
Herr von Spitznas mußte alſo über den Empfang der Karuſſelldreier dankend quittieren. Dann aber ſetzte er ſeine Fauſt feſt auf den Tiſch. „Herr Kruſius, unſere Privatangelegenheiten wären geordnet, und das iſt mir lieb.“
„Mir auch“, ſagte Herr Kruſius ruhig.
„Denn nun ſehe ich mich veranlaßt, mit Ihnen als Vorgeſetzter im Disziplinarwege zu verhandeln, – ich habe geſehen –“. Herr Geheimrat vergaß ganz ſein ſtereotypes Äh, äh.
„Halt! Ottilie, laß mich! Jetzt komme ich doch noch zu Worte!“
Die Gräfin Milowska hatte ſich von Frau Ottilie losgemacht und ſtand jetzt vor dem Reviſor.
„Mein Herr! Hüten Sie ſich, Ihren alten Schurkereien eine neue folgen zu laſſen! Herr Rektor Bartels und Herr Xylander, Sie haben die Güte, mit dieſem Herrn zu gehen. Ottilie, du ſtellſt wohl ein Zimmer zur Verfügung.“
„Kommen Sie herauf in meine Stube!“, herrſchte der Theaterdirektor den verblüfften Reviſor an, der wieder einen unſicheren Blick auf die fremde Dame warf. Schnell aber faßte er ſich.
„Verrückter Komödiant, was fällt Ihnen ein!“, rief er aufſpringend.
Da beugte ſich die Gräfin ein wenig vor. „Herr von Spitznas, kennen Sie mich?“
Der Geheimrat ſtarrte ſie an. Wie von einem Blitzſtrahl getroffen taumelte er in die Sofaecke zurück.
„Folgen Sie dieſen Herren! Sie werden Ihnen meine Bedingungen vorſchreiben. Und dann – befreien Sie uns wohl von Ihrer Gegenwart.“
Der Rektor Bartels ſchwang ſeine grüne Botaniſiertrommel in Ermangelung von etwas anderem durch die Luſt.
„Hurra! Friedrich von Schlabrendorf, deine Hetzpeitſche ſitzt! Hurra, mein Friedrich! Du biſt gerächt! Und Sie, mein werter Herr Xylander, hat doch noch der alte Rektor an Schlauheit übertroffen! Sehen Sie, ich habe meine Geſchichte aus dem Letzten Seufzer ohne Sie weiter geſponnen. O, dieſer erſte Ferientag, dieſer erſte Juli hat alle Unbilden meines Lebens ausgeglichen!“
Der Reviſor raffte ſich auf und ſtürzte dem alten Schauſpieler nach, daß die beiden Türſteher erſchrocken auseinanderwichen, denn die flatternden langen Schöße des braunen Schlafrocks und der ihm auf den Schultern hängende eigene Rock gaben dem Geheimrat das unheimliche Ausſehen einer ungeheuren Fledermaus.
Herr Kruſius ſaß ſtarr und umſchloß mit ſeiner geſunden Rechten die lahme Linke. Kaum konnte er ſich zu dem Ausruf ermannen: „Herr Geheimrat, mein Schlafrock! – Ottilie, Frau Gräfin, was für Sachen ſind das nun wieder?“
„Herr Kruſius, halten Sie ſtille bis morgen, halten Sie ſtille – um meinetwillen! Morgen wird Ihnen Ihre Frau alles erklären. Und du, Ottilie, laß deinen armen Mann und uns nicht länger mit dem Eſſen warten.“
„Mir vollkommen aus der Seele geſprochen, gnädige Frau! Drei Flaſchen hat Drückeferken wieder mitgebracht, Frau. Überlaß ihm und ſeinem neuen Freunde Pfitzner eine, und die letzten beiden kommen auf den Tiſch.“ –
Die Plätze der noch abweſenden Herren blieben nicht lange leer, denn bald ſtürmte der Reviſor in ſeinem noch nicht getrockneten Rocke zum Hauſe hinaus.
Die Apotheke zu Angerbeck hatte ſchon manches geſehen, aber einen aufregenderen, verworreneren Vormittag als den heutigen, als den dieſes erſten Juli noch nie. Und ein Wunder war es darum nicht, daß trotz der beiden letzten Flaſchen Rüdesheimer bei Tiſche ein Rückſchlag eintrat. Das allerwenigſte zur Unterhaltung trugen Franziska und Fritz bei, weil ſie mehr unter als über der Tafel mit einander zu tun hatten. War es übrigens nur ein angenehmer Zufall, daß der Sohn des Hauſes zur Linken der Schloßprinzeſſin ſaß? Wir können es kaum glauben, denn plötzlich brachte Herr Tobias Kruſius trotz aller Vorſicht ſeiner Frau das Glas derſelben an ſich, hielt es ſeinen Tiſchgenoſſen zum Anſtoßen hin, platzte mitten in die ſchwüle Stimmung mit der Proklamation eines jungen Brautpaares hinein und kümmerte ſich nicht im geringſten um die einesteils verdutzten, andernteils purpurübergoſſenen Geſichter ſeiner Umgebung.
Fritz und Fränzchen zuckten nicht zuſammen, ſondern auseinander, Frau Ottilie aber rief: „Tobias, du biſt ja heute einmal im Zuge mit deinen Überraſchungen, aber hat dir denn der Herr im Himmel heute ſo ſichtbarlich geholfen, um dich nun ganz zu verlaſſen! Wie kannſt du mir die Kinder ſo in Verlegenheit bringen!“
Er klopfte ihr auf die Schulter. „Sei ganz ruhig, Ottilie, du haſt lange genug in der Apotheke zu Angerbeck das Wort geführt, laß nun auch andere Leute einmal dazu kommen. Habe ich dir nicht immer geſagt: Der Junge wird erſt noch? Und das Fränzchen iſt ſchon! Zrovnal, ſchneiden Sie nicht ein ſo eiferſüchtig Geſicht! Mädchen, komm her und gib mir einen Kuß! Krásná slečinko, dej mně hubičku heißt es ja wohl auf böhmiſch, Zrovnal? O, über die inchoativen Verben müſſen Sie mir heute nachmittag noch eine Vorleſung halten! So, Kind, übe dich an mir altem unverfänglichen Kerl! Ottilie, ſie wird nach dir die Frau Apotheker Kruſius zu Angerbeck, und die Apotheke wird mit und unter ihr aufblühen!“
Er läutete gewaltig mit der Tiſchglocke, und aus der Küche ſtürzten das alte Hannchen, der Wachmeiſter Drückeferken und ſein neuer Freund Alwin Pfitzner.
„Leute, Gefolge“, ſchrie ſie der Apotheker an, die Hand Ottiliens, die ihm den Mund zuhalten wollte, umklammernd, „trinkt auf das Wohl der beiden Kinder da, die unter dem Tiſche ihren Lebensbund feſtgeſchloſſen haben, damit ſie endlich wiſſen, wohin ſie gucken ſollen!“
Das Faktotum des Theaterdirektors grinſte das Fränzchen an, daß ſeine Mundwinkel wieder einmal hinter die Ohrläppchen zurückwichen. „Na, Freilein Fränzele, wer hat die richtige Ordre un das Stichwort gegewen? Wiſſen Se noch, gen’n Tag ufn Bahnhofe zu Firſtenberk? Sankt Pauli! O mein Freind Drikeberger, ich bin weeßderhole heite iwerſterniert!“
Der Rektor Bartels erhob und räuſperte ſich und klopfte ans Glas zum Zeichen, daß er an dieſem denkwürdigen Tage eine Rede zu halten beabſichtige.
Aber – „halt!“, warf ihm Frau Ottilie entgegen. „Bartels, Ihre Rhetorik in Ehren, Sie mögen ſich Ihre Worte recht ſchön geſetzt haben, aber heute iſt ſchon zu viel geredet worden, und wir, liebe Roſa, haben immer noch nicht unſer Penſum erledigt, und der Herr Zrovnal muß ſich ſchon bis morgen gedulden. Setzen Sie ſich alſo ruhig wieder hin! Aber Sie, Drückeferken, tun mir nun den Gefallen und legen mit Hand an, daß wir meinen Mann ins Bett kriegen! Der halbe Tag war ſchon zu viel für ihn. Fränzchen, jetzt läßt du mal das alberne Händedrücken unter dem Tiſchlaken und hilfſt Hannchen mit abtragen und Kaffee kochen! Junge, paß auf’s Geſchäft! Die Haustür geht ſchon zum dritten Male.“
So trieb die Frau des Hauſes die Gäſte der Apotheke zu Angerbeck an dem merkwürdigſten Tage ihrer Geſchichte kurzerhand auseinander, und wir müſſen ihr, wie immer, auch dabei recht geben.
Denn wenn der Rektor Bartels noch irgendwie den hohlen Bauch ſeiner grünen Botaniſierbüchſe mit Vertretern der Orchideen, Lilia- und Caprifoliaceen füllen wollte, mußte er gleich nach dem Kaffee Abſchied nehmen. Und wenn Herr Theophil Xylander heute abend noch, wie die Theaterzettel an den Hausecken ankündigten, als Niklas Graf von Zriny, Ban von Kroatien und Obriſt von Szigeth, würdig den Heldentod ſterben und Alwin Pfitzner im feindlichen türkiſchen Lager als des Großtürken Soliman Leibarzt und in der Feſtung als des Obriſten Kammerdiener Franz Scherenk auftreten und zuletzt im gegebenen Moment das Schloß in die Luft ſprengen wollte, ſo taten ſie ebenfalls gut, ſich zu ſammeln und die Aufregung dieſes Tages niederzukämpfen.
Herr Xylander zog ſich demnach zurück, und Alwin Pfitzner ließ ſich von Fritz in der Offizin mit einem Gemiſch von chlorſaurem Kali und Schwefelblumen zum Mordbrenner ausrüſten.
Frau Ottilie und die Gräfin Milowska ſaßen, als abends die Ruhe in die Apotheke eingezogen war, im gedämpften Lichte des grünen Lampenſchirms beiſammen, der auch von unſerem Berichte allabendlich den allzu grellen Schein getreulich abgehalten. Sie waren allein. Benedikt Zrovnal hatte ſeine Tochter ins Theater geführt, der alte Apotheker ſchlummerte ſanft in ſeiner Kammer, und Fritz hütete die Offizin.
Der Nachmittag war ja nicht mehr lang geweſen, aber der Gräfin war er immer noch als eine Ewigkeit der Qual vorgekommen, wenn ſie bedachte, was ihr noch an dieſem Abende oder in dieſer Nacht bevorſtand, ehe ſie ihre Miſſion in dieſem Hauſe erfüllt hatte. Sie ſeufzte ſchwer und las das Sprüchlein des grünen Schirmes wie ein Stoßgebet:
„Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat ſich geneigt.“
„Roſa, du haſt in dem Abſchiedsbriefe an Herrn Xylander geſchrieben, daß du nach meinem Mitgefühl hungerteſt. Siehe, ich bin hier, und mein Herz ſteht dir offen.“
Da lehnte ſich die Gräfin Milowska an Frau Ottiliens Bruſt. „Wenn du auch den Brief kennſt, ſo liegt mein ſündhaftes, verfehltes und armſelig ödes Leben ganz vor dir. Mir ſelbſt iſt heute erſt das volle Erkennen gekommen, in welchem Elend ich durch eigenen Leichtſinn ſchmachtete.“
„Röschen, hier über dir hängt der Wahlſpruch der frommen Herzogin Juliane:
‚Alles hat ja ſeine Zeit,
Freud und Leid.
Gut Gewitter, böſe Stunden
werden wechſelweis erfunden.
Dennoch geht es, wie Gott will.
Halte ſtill!‘
O, der böſen Stunden ſind genug geweſen, die ich unter dieſem Wahlſpruche bei Tag und bei Nacht verſeufzt habe! Und ich habe ſtill halten müſſen und mit der Herzogin meine Hoffnung auf Gott geſetzt. Hat er nicht heute ein gut Gewitter geſchickt und die Luft gereinigt, daß wir wieder frei aufatmen können? Unter dieſem Wahlſpruche weg ging auch einſt der Mann, der uns heute wieder ins Haus wie ein rettender Engel zurückgekommen iſt, obwohl er bloß ein Karuſſellbeſitzer! Er hat ja einen kurioſen Lauf durch dieſe närriſche Welt gemacht vor und nach Angerbeck, wo er ſich nun zu einem Fabrikbeſitzer aufſchwingen will. Sankt Pauli in Hamburg mag wohl nicht der geeignetſte Ort auf Erden ſein, den Seelenfrieden der Herzogin Juliane zu finden. Vernünftiger aber iſt dieſer Mann doch geweſen als mancher andere, vor der Schwelle nach dem Wunderlande Kalifornien ſtehen zu bleiben und ſein Geld diesſeits des Ozeans reichlicher zu verdienen als drüben. Und das bilde ich mir doch ein, den Spruch, den ich ihm damals mit auf den Weg gab, hat er nicht vergeſſen, und der hat ihn hochgehalten, daß er nicht das plutokratiſche Tier geworden, wie ich befürchtete.“
„Nein, er iſt ein Mann, vor dem ich Achtung habe, obwohl er mich um die Freude gebracht, euch mehr helfen zu können. Ich habe ihm, wenn auch nicht ſein älteres, ſo doch ſein beſſeres Recht laſſen müſſen. Sieh, das iſt wieder die bittere Frucht meiner Schuld, daß ich mich nicht herauswagte, nicht offen zu dir kam. O, was habe ich gelitten unter dem Zwieſpalt meines Herzens!“
„Erleichtere es und dann – halte ſtill! Leid und böſe Stunden haſt auch du genug erfahren!“
„Ja, Ottilie, du Gute, Starke, hilf mir tragen! Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, floh ich von Hirſchberg vor ihm, der mich trotz meines Fehltritts innig liebte, und vor mir ſelbſt, daß ich nicht doch, meiner Schwachheit folgend, ihn mit in mein Unglück zog. Ich kam nach Breslau zu einem Bruder meiner verſtorbenen Mutter. Er war ſelbſt in keiner glänzenden Lage, nahm mich aber doch auf und beſchäftigte mich als Verkäuferin in ſeinem Parfümerieladen. Dadurch lernte mich der Graf Milowsky kennen, der hier perſönlich ſeine Einkäufe zu machen pflegte, denn er war – dir darf ich’s ſagen – trotz ſeiner Jahre ein recht eitler Herr. Mit der Schrulle des Alters verliebte er ſich in mich, und da ich jede unehrenhafte Annäherung entſchieden abwies, hielt er bei dem Onkel um meine Hand an. Die Jugendträume von Glück und Liebe hatte ich zu Grabe getragen, er war mir gleichgültig, und doch ward ich ſein Weib. Er war reich, und ich konnte meinen Verwandten ihre Güte lohnen. An der polniſchen Grenze hatte er ein Gut, und dorthin nahm er mich mit, denn er hatte die große Welt ſatt, nachdem er ſie bis auf die Hefe gekoſtet hatte. Ich bin kaum mehr geweſen, als die Pflegerin ſeines Alters. Ich muß ſagen, meine Pflicht gegen ihn habe ich nach Kräften getan, denn ich ſah dieſe Zeit als eine mir von Gott auferlegte Buße und Strafe an, und zwar als eine noch ſehr gnädige und mäßige! Auch die Verhältniſſe ſeines Gutes, die unter ſeiner Abweſenheit und Krankheit gelitten, habe ich, ſo gut ich das verſtand, in Ordnung gebracht. Nach fünf Jahren ſtarb er in meinen Armen und hinterließ mir ſein ganzes Beſitztum, da erbberechtigte Verwandte nicht aufzufinden waren. Ich verpachtete das Gut an den früheren Verwalter.
Mit meiner Freiheit kehrte auch mein Schwanken zurück. Die Sehnſucht, die Liebe zogen mich an, die Scham hielt mich zurück. Ich habe Xylander oft auf der Bühne wiedergeſehen und mich an ſeinem geiſtvollen Spiele erhoben, aber ich bin ihm nie nahe getreten. Immer hoffte ich, durch ihn von dem Verbleib meines Kindes zu hören, aber ich habe nie gewagt, ihn anzuſprechen, ja, ich hütete mich ſogar ängſtlich vor ſeinen Blicken. Zuletzt ließ ich mich in Fürſtenberg nieder. Hier erfuhr ich, daß der Rektor Bartels unſer früherer Hauslehrer aus Bovenden war. Ihm entdeckte ich mich endlich und erfuhr, wo du warſt. Durch die Aufnahme Franziskas glaubte ich euch nützen zu können. Ach, damals ahnte ich ja nicht, daß ich ſie vor meinem eigenen Sohne in Schutz nehmen mußte, den ich heute noch – O Gott, Ottilie, mir ſchwindelt es, ſteh mir bei!“
Frau Ottilie nahm beide Hände Roſas und drückte ſie feſt. „Verzage nicht, halte ſtill!“
„Ottilie, du kennſt ihn. Wie iſt er? Wie ſoll ich meinem Sohne entgegentreten, nach dem doch mein Herz ſchreit?“
„Halte ſtill! Dein Sohn wird dich mit Freuden aufnehmen. Er iſt zwar ein wenig, nein, ich will ganz aufrichtig ſein, er iſt ziemlich leichtfertig! Bedenke, unter weſſen Einfluß er geſtanden hat, ſeit er das Waiſenhaus verlaſſen. Aber einen guten Kern hat er doch noch. O, unter meinen Händen hat er ſich ſchon formen laſſen, und auf Seiten des Geheimrats ſteht er gewiß nicht trotz deſſen Protektion. Was er an uns geſündigt, daran iſt nur ſein Leichtſinn ſchuld. Ich wette, er beſtreut deinen Pfad mit Roſen. Unſern Garten hat er heute in der Frühe gründlich für ſeine Damen geplündert.“
„Der Schlingel!“, rief die Gräfin, aber es klang ſchon ein bißchen mehr Zuverſichtlichkeit heraus.
„Roſa, wenn du wünſcheſt, ſo werde ich den jungen Herrn zuvor ins Gebet nehmen und ihn gebührend vorbereiten auf ſein Glück, eine liebende Mutter zu haben, die ihm eine Apotheke kaufen wird, denn eine geregelte ernſte Tätigkeit iſt dem Bengel ſehr vonnöten.“
„Ottilie, ich wagte dich ja nicht darum zu bitten! Ja, wenn du das wollteſt! O, wie ſoll ich dir das danken!“
„Und dann – Ottilie – Herrn Xylander habe ich heute meinen Abſchiedsbrief zum zweiten Male gegeben, wollen wir uns das Herz nicht ſchwerer machen, als es ſchon iſt. Schicke heute abend noch nach dem Keller und beſtelle meinen Wagen zu morgen früh; beim erſten Tagesgrauen fahren wir.“
Frau Ottilie nickte nur ſtumm und ging, Herrn Tränenreich zu erwarten. – – –
Am andern Morgen in der Frühe hielt der Wagen der Gräfin Milowska vor der Haustür. Herr Tränenreich brachte ſeinen Koffer und half ſeiner Mutter beim Einſteigen. Dann ſtand er und ſchüttelte lange Frau Ottiliens Hand, bis auch er einſtieg.
Das Schluchzen der Frauen erweckte nicht die ſchlafende Apotheke zu Angerbeck. Als aber der Wagen hinter der nächſten Straßenbiegung verſchwand, erſchien Herr Theophil Xylander mit zugeknöpftem Rocke und hochgeſchlagenem Kragen in der Tür.
Frau Ottilie wiſchte ſich die Augen und ſagte bloß: „Sie ſind fort.“
Da fuhr ſich auch der fürſtliche Theaterdirektor mit dem Ärmel flüchtig über das alte Geſicht und erwiderte, indem er der Treppe zuſchritt: „Die Komödie iſt aus, laßt den Vorhang fallen.“
Ende.